Heinrich Zschokke
Hans Dampf in allen Gassen
Heinrich Zschokke

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Hans Dampf

Die erste Maßregel war sein breiter und großer Nimrodsorden, den er umhing, als die Ratsglocke zur Bürgermeisterwahl läutete. Er wußte, daß in wohleingerichteten Republiken, wenigstens zu Lalenburg, ein Ende Band im Knopfloch nicht geringere Wirkung mache, als in Monarchien. Ein Mann mit dem Bande konnte zu Lalenburg unmöglich anders als auf dem ersten Platze sitzen, weil man sonst den Fürsten von Luchsenstein zu beleidigen fürchtete. Seine zweite Maßregel war die ungeheure, hundertlockige Allongeperücke, welche wie eine Wolke ihm vom Scheitel herab bis auf Brust und Rücken niederwallte und die Hälfte seiner ansehnlichen Gestalt in Kopf verwandelte.

Als er nun mit wohlabgemessenem Schritte von seinem Hause zur Versammlung des Rates ging, flogen alle Fenster in der Gasse auf, alle geschwätzigen Mäuler verstummend zu, alle Hüte und Mützen ehrfurchtsvoll ab. So außerordentlich war die allgemeine Ehrfurcht, daß keiner der Ratsherren ihm zur Seite zu gehen wagte, sondern in tiefster Höflichkeit immer einen halben Schritt hinter ihm blieb. Auch ward dem Ordensbande, der Staatsperücke und ihm im Ratssaale der vornehmste Platz auf der ersten Bank unter so vielen Zeremonien, Verbeugungen und Kratzfüßen angewiesen, daß von den höflich hinter sich Scharrenden drei Stühle umgeworfen und zwei Ratsgliedern heftig auf die Krähenaugen getreten wurden, was die allgemeine Rührung nicht wenig vermehrte, besonders von Seiten der Getretenen. Auch forderte ihn der stellvertretende Bürgermeister zuerst auf, seine Meinung über die vorzunehmende, wichtige Wahl eines Amtsbürgermeisters vorzutragen.

Nachdem Hans Dampf einige äußerst bescheidene Mienen geschnitten, sich weit herum tief verbeugt hatte, bedauerte er ungemein, daß er in die Verlegenheit gesetzt worden sei, der erste reden zu müssen. Denn ihm fehle es an Kenntnis, Beredsamkeit und Erfahrung; ihm wäre angemessener in dieser Versammlung zu schweigen, zu hören und zu lernen, jeder andere übertreffe ihn in den zu einem würdigen Vortrag gehörigen Erfordernissen und daher verbete er sich die Ehre der ersten Stimme. Die Lalenburger aber überschütteten ihn mit noch größern Lobeserhebungen, fanden an ihm nichts mangelhaft als das Übermaß seiner Bescheidenheit, und nötigten ihn siebenmal zu reden, nachdem er es sechsmal flehentlich abgelehnt hatte. Dies Hin und Herkomplimentieren und dies demutsvolle Zurückweisen einer Ehre, nach der man schnappt, gehörte übrigens in Lalenburg zum bloßen Formenwerk und echt feinen Weltton. Nun setzte sich die Zunge des edeln Hans Dampf in Lauf. Eine halbe Viertelstunde füllte er mit Titulaturen in der Anrede, anderthalb Viertelstunden in Entschuldigungen seiner Unfähigkeit zu reden aus; dann sprach er sehr geläufig von den Tugenden des Seligverstorbenen, dessen Stelle wieder besetzt werden sollte; dann von den Eigenschaften, welche an einer ersten Magistratsperson der Republik nicht fehlen dürfen.

«Herrschen», sagte er, «ist eine große Kunst. Das aber ist die Kunst, daß man nichts verderbe! Denn besser kann man es nicht machen, als der liebe Gott schon alles gemacht hat. Die Uhr geht von selbst, wenn sie aufgezogen ist, darum greift nur nicht in die Räder. Hat der Bauer den Acker einmal besäet, so wird die Saat von selbst aufgehen, wühle er nur nicht vorwitzig wieder im Boden herum. Die Neuerungssucht hat die ältesten Staaten zugrunde gerichtet; wer immer fortläuft, muß endlich einmal ans Ende kommen. Wer nie zu Ende kommen will, bleibe nur stehen. So machten es unsere glorwürdigen Voreltern, o Lalenburger, und so müssen auch wir tun.

«Aller Firlefanz unserer heutigen Staatsklugen und Metaphysiker hilft nichts. Stehen die Throne darum fester? Nein, sie wackeln nur desto ärger. Haltet fest am lieben Alten. Neue Ordnung ist wie neuer Wein, der will Gährung. Alte Ordnung ist wie alter Wein, kräftig, lieblich, klar. Darum ist das Dümmste vom Alten besser, als das Klügste der Neuerer. Wir Menschen bleiben Menschen, und werden trotz aller Mühe nichts anderes, gleich wie die Tiere auch. Die Leute sterben ebensogut, wo studierte Doktoren und große Apotheken sind, als da, wo man weder Doktor noch Apotheker hat. Umgekehrt, dort sterben oft noch mehr, weil Doktor und Apotheker an der natürlichen Ordnung im Menschen bessern und flicken wollen des Geldes willen. Hütet euch vor den Gelehrten. Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr, als die von Weisheit Verblendeten.

«So dachten unsere Vorfahren. Rom und Griechenland gingen unter, Lalenburg steht noch heutigen Tages. Es geht mit den Staaten, wie mit einzelnen Menschen. Kluge Kinder sterben früh. Ein großer Staatsmann läßt es gehen. Alles kommt und macht sich zuletzt doch. Man eile der Natur nicht zuvor. Sie will keine Sprünge. Was heute nicht geschieht, kann morgen geschehen. Ist der Apfel reif, fällt er vom Baum und verlangt nicht, daß ihr zu ihm hinaufklettert. Darum ist es bei uns eine der trefflichsten Staatsmaximen, große Geschäfte an Kommissionen zu weisen, welche die Akten wieder in Zirkulation unter sich setzen, damit sie halb vergessen werden. Halbvergessene Dinge sind wieder neu, und das Neue ergreift man immer mit größerm Eifer, zumal wenn das Neue schon ein alter Freund ist. Zum Schnellsein hilft kein Laufen. Wer am wenigsten tut, hat gewiß am meisten getan. Nur nie zu viel regiert! Wem Gott wohl will, dem gibt er's im Schlaf.

«Die Haupttugend eines Regenten ist, daß er den Gesetzen, auch den schlechtesten, Ehrfurcht zu verschaffen wisse. Wollt ihr, daß man eure Werke ehre, so müsset ihr euch selber beim Volk Respekt zu machen wissen. Daher die Notwendigkeit äußerlichen Ansehens, Glanzes, Pompes bei Königen, Kaisern und andern Fürsten und Staatsmännern. Eine ernste, weise Geberde ist in Republiken wichtiger, als die Weisheit selbst, und eine gute Perücke dem gemeinen Wesen oft ersprießlicher, als ein guter Kopf. Daher zu Lalenburg ein Staatsgrundgesetz seit undenklichen Zeiten: Konsuln und Stadtschreiber sollen Perücken tragen. Das Kleid macht den Mann!

«Das wirksamste Zaubermittel in freien Staaten ist die Heimlichkeit oder das Geheimnisvolle. Damit erwirbt man sich selbst große Bedeutung, dem Amte Achtung, dem Staate Ehre. Ein kluger Staatsmann muß immer Kopf und Herz von Geheimnissen voll, oder doch das Ansehen von dergleichen haben, gleichwie auch ein Eimer darum noch nicht zusammenfällt, wenn er ausgeleert ist. Es schadet gar nichts, wenn man auch im Vertrauen alles erzählt, sobald man nur die Miene hat, das Beste noch zurückbehalten zu haben. Darum besteht Lalenburg immer glänzend, weil wir alle Meister in dieser Kunst sind.

«Das Reden und Plaudern mag man im Ratssaal bei Staatsgeheimnissen allerdings erlauben, doch nicht das Druckenlassen. Gott hat den Mund des Menschen geschaffen, aber nicht die Buchdruckerpresse. Nichts Gefährlicheres für unser Ansehen, als dies heillose Werkzeug, welches der ganzen Welt zur Schau stellt, was wir sind und tun und was wir nicht sind und nicht tun. Kluge Fürsten haben sich schon den Kopf über Zensurgesetze zerbrochen; wir machen es noch klüger und verbieten in unserer Republik den Druck aller Bücher und Zeitungen mit Ausnahme der Gebet- und Gesangbücher und Neujahrswünsche, oder Hochzeits- und anderer Gelegenheitsgedichte. Es ist nun zwar leider wahr, je strenger wir gegen die gottlose Publizität sind, desto größer wird damit der Unfug im Auslande getrieben; und je weniger wir durch den Druck von uns bekannt werden lassen, weil wir zu bescheiden sind, desto mehr schreibt und druckt man von unsern löblichen Lalenburgereien in der Fremde. Doch was wir nicht hindern können, wollen wir geschehen lassen. Wir spielen dagegen den Herren den Possen und lesen ihr Zeug nicht; dann sind wir bei uns selbst wieder in Ehren. Denn was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.»

In diesem Tone sprach Hans Dampf noch lange. Die Leute, weil sie das alles schon auswendig wußten, gähnten eins ums andere, daß ihnen die Augen übergingen; sobald sie aber an die Reihe zum Reden kamen, waren sie unerschöpflich in Lobeserhebungen des großen Mannes, der zuerst gesprochen, rühmten seine tiefen Einsichten und fügten dazu die ganz bescheidene Bemerkung: er habe ihnen ganz aus der Seele geredet und alles, was sie hätten selber sagen wollen, vorweggenommen.

 
In allen Gassen

Und am gleichen Tage ward Hans Dampf zum Konsul der Republik erkoren und ausgerufen. Er beschwor den ganzen Rat mit Tränen, diese Wahl zurückzunehmen und einen Würdigern auszulesen. Allein darauf achtete keiner, denn jedermann wußte, daß diese Tränen und dieses demutsvolle Sträuben zum altertümlichen Zeremoniell der Gewählten gehörten.

Nun erst begann die glänzendste Epoche im Leben des großen Hans Dampf, oder vielmehr, wie ihn schon die Zeitgenossen zu nennen beliebten, Hans Dampf in allen Gassen. Denn er ward die Seele von ganz Lalenburg; steckte überall; kam überall in die Quere; verzettelte und entzettelte alles links und rechts, ohne es zu wissen oder zu wollen. Wo man liebte, war Hans Dampf; wo man zankte, war Hans Dampf; wo etwas schief ging, war Hans Dampf; wo ein Geheimnis zu aller Welt Wissen kam, war Hans Dampf der erste Helfer.

Gleich den Tag nach der Wahl ward er an fünfundzwanzig Orten zu Seinem Viertelhundert Bräuten zu Gaste geladen; ward er – – doch der Geschichtschreiber erschrickt nun selbst vor dem riesenhaften Unternehmen, der Plutarch dieses Helden zu sein. Der Leser erlaube dem Plutarch wenigstens einmal frischen Atem zu schöpfen, um nachher desto kräftiger fortfahren zu können.


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