Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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22

Europa 1938 hatte die Stille eines Dschungels, in welchem der Tod umgeht. Plötzlich piepste es hektisch: «Bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Blutstropfen!!» – dann ein weisses Verstummen, und das Unheimliche.

Der Einmarsch in Oesterreich, Kolonnen über Nacht, hierauf ein Märzglanz alle die Wochen, ein Wunder von Frühling, in den er einzog, der spät heimkehrende Sohn dieses Landes. «Von ihm aus betrachtet», sagte Martin, «als Erlebnis eines Menschen: Schenkt sich der Heimat, indem er sie der eroberten Grossmacht hinzufügt! Hohenstaufe redivivus. Ergreift Besitz von Schlössern, Klöstern, Weinbergen, Strömen, Gebirgen, Burgen, Wäldern, Eisenbahnen, Kathedralen, Grüften der Genies! Foutiert sich und reiht seine Städte auf.» «Success succeeds, es ist grauenhaft, den Wankelmut zu erleben,» sprach Walther dunkel. «Es ist das Krämerpack, das den Sinn für nutzlosen Tod verloren hat. Europa geht daran zugrunde, dass niemand mehr sterben will.»

Die Morgenblätter des 13. März, eines Samstags, hatten es in dicken Schlagzeilen gebracht. Heisse Weltgeschichte, so nah, versengt die Herzen: Hitler in Linz, in Salzburg, deutsche Truppen am Brenner, Hitler in Wien. Schuschnigg Gefangener im Belvedere. Sie erreichten die deutschen Gaue mit ihren Augen, hier auf dem Irchel, einem einsamen Tafelberg, unter dessen Laubdach die beiden gingen; der Glanz der Bläue erhellte den Buchenbestand, salbeidunkle Dämmerung lag wie ein Meer in der Tiefe, vor die sie zuweilen traten – der Rhein floss da unten in Kehren, Hügel mit Klöstern erhoben sich in den Dunst, der Hohentwil trug seine Ruinenkrone. Das Buchskraut grünte, der Ruf des Kuckucks geisterte in der Stille. Sie konnten es nicht forttragen, allein was war es noch ohne Freiheit, sich darin zu bewegen? Die Höfe da unten, die Weiler mit den schönen Namen Buch und Berg, waren sie noch dasselbe, wenn ihre Gemeindekästen, heuduftend von Jahrhunderten redlicher Volksbeschlüsse, Stempel einer Fremdherrschaft aushingen? Dann lieber nicht leben! Lieber nicht leben als unter Vormundschaft!

Wie er es wieder mit seinem Herzen anglühte, das reine Land von Gras, Baumgärten, Dörfern, Waldkämmen und Schneegebirge! Sein Sorgenkind, das er so oft getadelt!

Es war ihm ein bisschen viel mit dem letzten Blutstropfen renommiert worden; das Scharwenzeln nach allen Seiten . . . «Man müsste das Schweizervolk an seiner Schulter packen können: Nicht schöntun! Wissen was sich schickt und dazu stehen, hau es oder stech es!»

Eine Kriegsgurgel war aus dem Lyriker geworden.

Martin lächelte leicht ungläubig. «Lern dieses Volk der Hirten kennen, Knabe», rezitierte er. «Im übrigen: Er wird's nicht. Er will sein Heiliges römisches Reich deutscher Nation –»

«Eben will er's!»

«Er hat es ja klar umschrieben . . . »

Walther grinste ihm ins Gesicht.

«Bitte!» beharrte Martin. «Es ist das Unheimliche dieses Mannes, dass er Punkt um Punkt seines Programms erfüllt. Programme haben auch andere entworfen; sie blieben Literatur. Mich entsetzt nachgerade die Haltung, ihn all seiner Taten ungeachtet starrköpfig zu ironisieren. Weiss Gott, der hat die traumwandlerische Sicherheit des Künstlers, die er sich selber zuschreibt!»

Und der Kuckuck rief, und die Ferne des Wassers blitzte; die Freunde gingen schweigsam neben einander durch Heidekraut.

Eine Basler Zeitung brachte in jenen Tagen Bylands «Lied vom Morgarten»:

«Sieben Leben spielen Kinder,
Sieben gib mir, lieber Gott!
Wenn sie kommen – sieben Leben,
Sieben gib mir, lieber Gott!»

Der einundzwanzigste, Tag des Triumphes: Die Bundesversammlung erhebt sich im Manifest ihres Unabhängigkeitswillens! Ohne Letzten Blutstropfen, eine Kundgebung von alter schweizerischer Schlichtheit und Kraft. Byland umarmt alle Welt, er kann wieder atmen.

Durch Blust führt Stapfer seine Braut heim. Die Bienen summen ins Landkirchlein.

Und auf einmal das neue Militärgesetz, Verlängerung der Dienstpflicht, Luftschutzmassnahmen, Wehranleihe jubelnd überzeichnet. Das Strafgesetz eidgenössisch, Bekenntnis zur Einheit! Auch Stapfer, der schon im Weltkrieg an der Grenze stand, wird in den sauren Apfel beissen.

Byland magerte in der Unteroffiziersschule zur braunen Schindel ab.

Sein geliebter September auch diesmal voll Waffengerassel!

Stapfer suchte noch immer zu verstehen. «Ich weiss es nicht von Oesterreich – vielleicht wollten sie! Ich weiss es nicht von den Sudeten.»

«Die Sudeten sind nur der Anfang!»

Martin hob die Schultern. «Behauptung.»

Jetzt drehte sich Byland auf dem Absatz herum. «Das heisst man denn doch . . . »

Und am Ende der Auseinandersetzung fuhr sie ihm doch heraus, die schlimme Anspielung auf Stapfers deutsche Frau.

«Junger Mann?» knirschte Martin und rollte die Augen.

Byland lief stracks hinweg, und so hatten die Zeitläufte denn auch die Repräsentation von Verbündeten wie den Pfannenstielern jäh auseinandergebracht.

Am Böhmerwald Spannung zum Reissen.

Chamberlain flog nach Godesberg.

Chamberlain flog nach München. Die Ungeheuerlichkeit einer Woche, da die Menschheit am Munde des Einzigen hängt: Ist Weltkrieg siebzehn Uhr Samstag? Stapfers romantisches Jahrhundert!

Eine Woche lang lebte die Menschheit von Tag zu Tag hinüber mit dem Ziel dieses Samstagabends, die Fabriken gingen, der Ozean warf seine Wogen, man kleidete sich an und aus, die höhere Gerechtigkeit distanziert sich von unseren Händeln, die höhere Gerechtigkeit ist in dem und in dem und in dem, in der Sonne, die niederflattert, im Regengewölk, in der Stille – in der Geisterstille nur ist sie nicht, in dem was die Menschen machen. Byland ist wunderlich gereizt, hat mit den Schülern unverhältnismässige Auftritte. Er ist jetzt ganz allein. Er will mit Vreneli brechen. Vreneli in seiner Not läuft zu Stapfer, es anerkennt keine Feindschaften. «Er verliert den Verstand, er nennt sich Demosthenes und spricht immerzu nur von Alexander!»

Stapfer kennt einen anderen, der sich dieser Tage erschossen hat. Einem Kranken kann er nicht grollen, er fährt ihn mit Taxi in eine Nervenheilanstalt aufs Land hinaus.

Vreneli bleibt, ihn zu hüten. Sie darf es jetzt, sie ist dem Makel entwachsen.

Er braucht sie ja auch wie die Ranke den Stab; sie weiss die heilsame Mitte zwischen Mitteilung und Verschweigen.

Frieden?

Weltfrieden, Weltsonntag?

Es ist ein altes Landhaus in Rüstern. Buchshecken um Rosenbeete. Und kein Wasserzins, der Brunnen schleiert auf Moosbehang.

Manchmal packt ihn die Gier auf ihre Lippen, und Vreneli, der Engel, hält seiner Wildheit ergeben still. Sie hat knapp seine Grösse.

Abermals im März, ein Jahr nach Oesterreich, Punkt für Punkt des Programmes: Der Führer auf dem Hradschin.

Martin Stapfer hatte sein Haus beisammen, einschliesslich des Hundes Bello und eines Rehzicks, welches treppauf und -ab lief. Fischer hatten es aus dem See gezogen. Der Mensch weiss von keinem Besitz mehr wie lange er ihn behält, und das ist vielleicht gerade, was diesem Lande nottat: Sie lockern den Griff um die Dinge; sie wissen, es gibt das, dass eines Tages alles dahingeht, Häuser, ganze Städte mit Wohnungen, Tischen, Schränken, Lichtleitungen, Bibliotheken – mit einem Rucksack zieht man aus in der Richtung der Berge; man kommt vielleicht durch, vielleicht verhungert oder erfriert man, es gibt das, es ist nicht mehr abzuleugnen. Ist Heldentod versichert? Die Kartotheken fliegen von Bomben auseinander, wer weiss, wer das Geld aus den Schutthaufen kratzt!

Tramhäuschen in Trümmern sind nichts mehr, Statuen strahlen noch aus dem Bruchstück die Einheit des Schönen.

Zwar, sie liessen sich nicht ins Bockshorn jagen, das war wieder eine Tugend ihrer Erdhaftigkeit: sie arbeiteten auf eine Landesausstellung hin, die sich denn auch zum Ereignis auswuchs. Die Gestade, die ein Jahrzehnt zuvor plastische Kunst des Erdteils so freundlich beherbergt hatten, blühten von Fahnen und Trachten aller zweiundzwanzig Kantone, deren jeder seinen Ehrentag mit Festspiel und Ovationen erhielt. Zu einer Zeit, da im Disput um Minderheiten ständig der Weltbrand schwelte, Stämme in Völkerwanderungen zusammenströmten, gab die kleine Alpenrepublik das Beispiel der Verträglichkeit unter Sprachen und Glaubensbekenntnissen, empfing Zürich mit Brüderlichkeit die Züge der Tessiner, Basler, Genfer, Thurgauer, Bündner, schwatzten die Eidgenossen, auf einmal erschlossen, von den Weinen ihrer herben Erde vergoldet, in den vier Landessprachen durcheinander. Stapfer und Byland streiften auch durch die Blumenrabatten, stolz auf den Hintergrund des Volksfleisses, diese Hallen von Maschinen, Stoffen, Töpfereien, Uhren, Präzisionswerkzeugen, Schuhen, Schokolade, Konserven, Sämereien – stolz auf all das, doch mit den Augen zuhause in den Baumkronen, auf den Wolkenballen überm See, in der Ferne des silbernen Gebirges, und heiter vom Jenseits der Statuen, die auf Rasen und in Gebüschen, am Wasser und vor Fassaden das Ganze erst zur rechten Festlichkeit erhoben. Alles war über die Massen erfindungsreich angeordnet und ausgenützt, in einer höflichen Weise zugänglich gemacht und bei allem berechtigten Eigenlob doch nirgends protzig oder pathetisch, nicht ohne Selbstverspottung da und dort; der lehrhafte Geist des Landes griff auf die neuesten Mittel, Lautsprecher, Film und Bastelkurzweil, der Jugend war ein Sonderparadies eingerichtet, eilfertig wechselte die Schwebebahn zwischen Stadt und Land, zwischen Gewerbe und Bauerntum über die Bucht hinüber und herüber. Es war keine blosse Messe, es war die künstlerisch überlegte Veranschaulichung eines Ländchens ohne Lebensraum, ohne Kolonien, ohne Meerhäfen, das sein Daseinsrecht nicht anders als mit der Buntheit der Leistung belegen wollte. Das Ueber-Nützliche, die Blüte aus allem, Kunst und Wissenschaft, stellte es mitnichten hintan, baute ihm vielmehr Tempel und gab ihm das letzte Wort überall, wo das Schöne allein noch zu überzeugen vermochte. Unsere Pfannenstieler nahmen sich in der Heimlichkeit ihr Teil von Verdienst daran, dass auch Theater und Kunsthaus, die Buchhandlung und eine Halle des Schrifttums gebührende Würdigung fanden; der Ausdruck von Scheu in den Mienen verriet die Gutwilligkeit, dem bedeutsamen Spiel seinen Platz an der Sonne zu gönnen; ein Bauer mit Buch, ein Kaufmann, über Dichterhandschriften geneigt, ein Handwerksmann, der das Korn einer Bronce befühlte, das war gewiss ein so nobler und schöner Anblick als der Künstler vor Hexereien der Technik, war das, wofür die beiden Eiferer mit etwas zu wenig Glauben alle die Jahre geworben hatten.

Ob es als Bedürfnis blieb?

Ob die gewisse Leichtigkeit zu leben über den Anlass hinaus fortbestand?

Madrid war gefallen, ja. In Genf trieb die Schrecknis eine Wunderblüte nach; die Ausstellung von Meisterwerken des Prados, die sorglich von Höhle zu Höhle geflüchtet worden waren, zeigte Goya, Greco, Velasquez, Tizian, in Goldrahmen von Zentnergewicht, unerhörtes Strandgut, über Gebirge heraufgeschwemmt von der verruchten Zeit, zum Nutzen freilich auch so armer Schlucker wie Stapfer und Byland, denen die Riesengrösse an einem Finger erreichbar wurde. Die wahre Macht und Würde eines Landes strahlte von den Wänden herab götterhaft als eine fast greifbare Stille. Die Menschen gingen darin traumselig benommen und wehmutsvoll angerührt von der Frische Hesperiens, welches sie hier betraten; sie verschleppten seine Luft zusamt einem zarten Heimweh in den Alltag, in die Welt der Verworrenheit. Es ging auf September, hinein in die Hysterie wie nun immer, die Wetterharten nahmen es längst nicht mehr tragisch. Ueber monatelange Verhandlungen, in denen die Westmächte Russland umworben hatten, triumphierte die Berliner Diplomatie mit einem Göttergelächter: mit dem deutsch-russischen Nichtangriffspakt, den sie der erstarrten Welt eines Morgens um die Ohren schlug. Der Krieg aber, wenn er ausbrach, dieser Krieg schlug den Erdteil in Stücke.

Der Schweizer Grenzschutz rückte am Dienstag ein, lediglich vorsichtshalber. In der Morgenfrühe des ersten September schlugen die Deutschen gegen Polen los. Das war ein Freitag, um dessen Mittagsstunde Bern die Generalmobilmachung ausrief. Sogleich begann das Heer zu strömen, von den Bergen herab, im Austausch der Landesteile; Stapfer schwang auch seinen Sack auf den Rücken – «Der arme Byland mit seinem Schätzchen!» klagte Elena. «O, der Schlaumeier ging nicht ohne sich noch schnell zu verloben!» Er hatte das Büblein und seine späte Frau an der Brust, er küsste beide im klaren Bewusstsein, dass es möglicherweise das letzte Mal war; aber alle blieben sie ruhig, Baumgartners gaben die Söhne ruhig von ihrer Hand; die Männer, die auf Wiesenpfaden von ihren Höfen kamen, fühlten sich leicht geniert nur im Ungewohnten der Uniform, und eine leise Kümmernis galt ihrem Gewehr in der Regendrohung der Lüfte mehr als der Wetterwand, deren Sinnbildlichkeit für ihr Gefühl schon beinah einwenig nach Pomp aussah.


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