Emile Zola
Die Treibjagd
Emile Zola

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II.

Es war nach dem zweiten Dezember, als Aristide Rougon mit dem Instinkte der Raubvögel, die von Weitem das Schlachtfeld wittern, auf Paris herniederstieß. Er langte aus Plassans, einer Unterpräfektur des Südens an, wo sein Vater aus dem trüben Wasser der Ereignisse endlich eine schon seit langer Zeit angestrebte Steuereinnehmer-Stelle erreicht hatte. Nachdem er sich, noch jung an Jahren, einfältigerweise kompromittirt hatte, ohne Nutzen oder Ruhm davon zu haben, mußte er sich glücklich schätzen, daß er mit heiler Haut davongekommen. Wüthend über die erlittene Schlappe, langte er in Paris an, fluchte der Provinz, sprach von der Hauptstadt mit der Beutegier eines Wolfes und schwor, daß »er nicht mehr so dumm sein werde« und das giftige Lächeln, mit welchem er diese Worte begleitete, nahm auf seinen schmalen Lippen eine unheimliche Bedeutung an.

Er langte in den ersten Tagen des Jahres 1852 an. Er brachte seine Frau Angèle, eine blonde, langweilige Person, mit sich und setzte sie in einer kleinen, engen Wohnung der Rue Saint-Jacques ab, gleich einem lästigen Möbelstück, dessen er sich je schneller zu entledigen strebte. Die junge Frau hatte sich von ihrer Tochter, der kleinen vierjährigen Klotilde nicht trennen wollen, obgleich der Vater sie gerne bei seiner Familie zu Hause zurückgelassen hätte. Doch hatte er dem Wunsche Angèlens nur nachgegeben, als diese ihre Einwilligung ausgesprochen, ihren Sohn Maxime, einen Knaben von elf Jahren, im Colleg zu Plassans zurückzulassen, über den seine Großmutter zu wachen versprochen. Aristide wollte freie Hände haben; eine Frau und ein Kind däuchten ihm bereits eine erdrückende Last für einen Mann, der entschlossen war, über alle Gräben hinwegzusetzen, auf die Gefahr hin, sich die Rippen zu brechen oder in den Koth zu stürzen.

Noch am Abend seiner Ankunft, während Angèle mit dem Auspacken beschäftigt war, empfand er das dringende Verlangen, durch die Straßen von Paris zu stürmen, mit seinen schweren Schuhen eines Provinzbewohners auf dieses heiße Pflaster zu stampfen, aus welchem er seine Millionen hervorzuzaubern gedachte. Er nahm förmlich Besitz von der Stadt. Er schritt dahin, nur um zu gehen, längs des Fußweges einherwandernd, wie in einem eroberten Lande. Er hatte eine sehr deutliche Vorstellung der Schlacht, die er liefern wollte und es widerstrebte ihm gar nicht, sich mit einem gewandten Einbrecher zu vergleichen, der gleichviel ob durch List oder durch Gewalt sich in den Besitz seines Antheils an den gemeinsamen Reichthümern setzen will, den man ihm boshafterweise bisher vorenthalten. Hätte er das Bedürfniß einer Entschuldigung empfunden, so hätte er sein während zehn Jahren unterdrücktes brennendes Verlangen, sein jammervolles Provinzleben, vor Allem aber seine Fehler angeführt, für die er die ganze Gesellschaft verantwortlich machte. Zu dieser Stunde aber, in seiner Erregung des Spielers, der die begehrlichen Hände endlich auf das grüne Tuch legen kann, war er ganz der Freude hingegeben, einer Freude, die ebensoviel von der Befriedigung eines neidvollen Egoisten, als von den Hoffnungen des unbestraften Hallunken an sich hatte. Die pariser Luft berauschte ihn; durch das Rollen der Wagen hindurch meinte er die Stimmen aus Macbeth zu vernehmen, die ihm zuriefen: Du wirst reich sein! Zwei Stunden beinahe irrte er derart aus einer Straße in die andere, die Freuden eines Mannes genießend, der sich in seinem Laster wälzt. Seit dem glücklichen Jahr, das er als Student in Paris verbracht, war er nicht da gewesen. Die Nacht war hereingebrochen; immer höher flogen seine Träume bei dem lebhaften Lichte, welches aus den mächtigen Scheiben der Kaffeehäuser und Verkaufsläden auf die Straße fiel. Und ohne zu wissen, wohin ihn seine Schritte führten, setzte er seine Wanderung fort.

Als er den Kopf emporhob, befand er sich inmitten des Faubourg Saint-Honoré. In einer nahe gelegenen Gasse, der Rue de Penthièvre, wohnte ein Bruder von ihm: Eugen Rougon. Als Aristide nach Paris kam, hatte er hauptsächlich auf Eugen gerechnet, der als einer der thätigsten Agenten des Staatsstreiches, heute eine geheime Machtstellung innehatte. Er war ein kleiner Advokat, in dem ein großer Politiker stack. Einem Aberglauben, wie er bei Spielern nicht selten, Folge leistend, wollte er nicht an diesem Abend bei seinem Bruder vorsprechen, sondern kehrte langsam nach der Rue Saint-Jacques zurück, wobei er voll dumpfen Neides Eugens gedachte, seine noch vom Staube der Reise bedeckten armseligen Gewänder betrachtete und dann wie um sich selbst zu trösten, seine hochfliegenden Traume von Neuem aufnahm. Doch waren selbst diese Träume bittere geworden. Ein Bedürfniß nach Eroberung hatte ihn ins Freie getrieben, die Lebhaftigkeit der Straßen ihn mit Freude erfüllt und als er nun heimkehrte, befand er sich in gereizter Stimmung, hatte sein Unmuth noch zugenommen infolge des Glückes, welches er durch die Straßen rennen gewähnt, und in Gedanken machte er heiße Kämpfe mit, in welchen er diese Menschen, die ihn auf der Straße gestoßen und fast über den Haufen gerannt, voll hämischer Freude besiegte und hinterging. Niemals noch hatte er einen solchen Hunger, ein so wildes Verlangen nach Glanz und Reichthümern empfunden.

Früh am anderen Tage befand er sich bei seinem Bruder. Eugen bewohnte zwei große, kaum möblirte, unfreundliche Räume, welche Aristide erschreckten. Er hatte erwartet, seinen Bruder von Pracht und Luxus umgeben anzutreffen. Dieser arbeitete vor einem kleinen schwarzen Tische und begnügte sich bei seinem Anblicke lächelnd, mit seiner langsamen Stimme zu sagen:

»Ah! Du bist's? Ich habe Dich erwartet.«

Aristide war sehr ärgerlich. Er beschuldigte Eugen, er habe ihn vegetiren lassen und ihn nicht einmal eines guten Rathes gewürdigt, während er in der Provinz sein Leben verdämmerte. Er würde es sich niemals verzeihen, daß er bis zum zweiten Dezember Republikaner geblieben; dies sei seine offene Wunde, sein ewiger Gewissensskrupel. Eugen hatte ruhig wieder zu seiner Feder gegriffen und als Jener zu Ende gekommen, sagte er:

»Ach was, Fehler lassen sich gut machen und Du hast eine ganze Zukunft vor Dir.«

Er sprach diese Worte so entschiedenen Tones, begleitete dieselben mit einem so durchdringenden Blicke, daß Aristide den Kopf hängen ließ, deutlich fühlend, daß sein Bruder in der Tiefe seiner Seele lese. Dann fuhr dieser mit freundschaftlicher Offenheit fort:

»Du bist gekommen, damit ich Dich irgendwo unterbringe, nicht wahr? Ich habe bereits an Dich gedacht, doch noch nichts gefunden. Du wirst begreifen, daß ich Dich nicht an welchem Platze immer unterbringen kann. Du mußt eine Stelle erhalten, wo Du Deine Rechnung findest, ohne Gefahr für Dich oder mich ... Bitte, nicht aufbrausen, wir sind allein und können uns gewisse Dinge sagen ...«

Aristide entschloß sich zu lachen.

»Oh, ich weiß, daß Du intelligent bist,« fuhr Eugen fort; »und eine zweite zwecklose Dummheit nicht begehen wirst ... Sobald sich eine günstige Gelegenheit darbietet, werde ich Deiner bedacht sein. Solltest Du inzwischen etwas Geld benöthigen, so stehe ich Dir zu Diensten.«

Sie plauderten noch eine Weile über den Aufstand im Süden, welcher ihrem Vater das ersehnte Amt gebracht. Während ihres Plauderns kleidete sich Eugen an. Als er sich auf der Straße von seinem Bruder trennen wollte, hielt er ihn noch einen Augenblick zurück und sagte gedämpften Tones:

»Du würdest mir einen Dienst erweisen, wenn Du nicht in den Straßen herumstreichen, sondern daheim abwarten wolltest, bis ich die versprochene Stelle gefunden ... Es wäre mir unangenehm, wenn ich meinen Bruder in irgend einem Vorzimmer anträfe.«

Aristide hatte einen gewaltigen Respekt vor seinem Bruder, den er für einen ausnehmend klugen Kopf hielt. Er vergaß ihm sein Mißtrauen nicht, so wenig wie seine etwas derbe Offenheit; nichtsdestoweniger verschloß er sich gehorsam in seinen vier Wänden in der Rue Saint-Jacques. Er war mit fünfhundert Francs, welche ihm der Vater seiner Frau vorgestreckt, nach Paris gekommen. Nachdem die Uebersiedelungskosten bestritten worden, waren noch dreihundert Francs geblieben, mit denen man einen Monat auskommen konnte. Angèle war eine starke Esserin, außerdem meinte sie ihren Sonntagsstaat durch ein paar Meter malvenfarbener Bänder auffrischen zu müssen. Dieser der Erwartung gewidmete Monat däuchte Aristide endlos. Die Ungeduld verzehrte ihn. Wenn er sich an's Fenster setzte und unten die Riesenarbeit von Paris rumoren fühlte, so ward er von einem wahnsinnigen Verlangen erfaßt, mit einem Satze in diesen Schmelzofen zu springen, um daselbst mit seinen fieberhaft zuckenden Händen das Gold gleich weichem Wachs zu kneten. Er sog den noch unbestimmten Hauch ein, welchen die große Stadt zu ihm emporsandte, diesen Hauch des jungen Kaiserreichs, welcher bereits den Duft der Alkoven und Spielhäuser, den Dunst der Genüsse durch die Lüfte trieb. Die leichten Dünste, die zu ihm emporstiegen, sagten ihm, daß er sich auf der richtigen Spur befinde, daß das Wild vor ihm einher lief und daß die große kaiserliche Jagd, die Jagd nach Abenteuern, nach den Frauen und nach den Millionen endlich begonnen habe. Seine Nasenflügel zitterten, sein Instinkt der ausgehungerten Bestie fing sofort die Vorzeichen der heißen Jagd auf, deren Schauplatz die Stadt werden sollte.

Zweimal sprach er bei seinem Bruder vor, um diesen anzutreiben. Eugen empfing ihn zornig, erklärte ihm, daß er ihn nicht vergessen habe, daß aber gewartet werden müsse. Endlich erhielt er einen Brief mit der Aufforderung, sich in der Rue de Penthièvre einzufinden. Hochpochenden Herzens, als ginge es zu einem Liebesrendezvous, fand er sich daselbst ein. Er fand Eugen wieder vor seinem unvermeidlichen kleinen schwarzen Pulte sitzen, das in dem großen frostigen Zimmer stand, welches ihm als Bureau diente. Bei seinem Erscheinen hielt ihm der Advokat ein Papier mit den Worten entgegen:

»Gestern wurde Deine Sache erledigt. Du bist zum Wegeaufseher-Gehilfen im Stadthause ernannt worden und wirst ein Jahresgehalt von zweitausendvierhundert Francs beziehen.«

Aristide blieb unbeweglich stehen. Er war blaß geworden und griff nicht nach dem Papier, da er meinte, sein Bruder wolle sich über ihn lustig machen. Er hatte auf eine Anstellung mit wenigstens sechstausend Francs gerechnet. Eugen errieth, was in ihm vorging und sich ihm zuwendend, sprach er zornigen Tones, wobei er die Arme kreuzte:

»Bist Du von Sinnen? Du träumst wohl ungereimtes Zeug wie ein junges Mädchen? Du möchtest ein schönes Haus bewohnen, Dienerschaft haben, gut essen und trinken, in Sammt und Seide gekleidet gehen, in den Armen der Erstbesten schwelgen? Wenn wir Dich und Deinesgleichen gewähren ließen, so würdet Ihr die Kassen leeren, noch bevor sie voll geworden. Du, lieber Gott, habe doch ein wenig Geduld! Sieh, wie ich lebe und nimm Dir wenigstens die Mühe, Dich zu bücken, um ein Vermögen aufzulesen.«

Er sprach voll tiefer Verachtung über die schülerhafte Ungeduld seines Bruders. Seine rauhen Worte verriethen höheren Ehrgeiz, das Verlangen nach unbeschränkter Macht; dieses naive Begehren nach Geld und Reichthum mußte ihm niedrig und kindisch erscheinen. Sanfteren Tones, mit einem feinen Lächeln fuhr er fort:

»Gewiß; Deine Anlagen sind gute und ich will denselben nicht hinderlich sein. Leute wie Du sind kostbar und wir gedenken unsere guten Freunde unter den Gierigsten zu suchen. Sei nur unbesorgt; wir werden reiche Gastfreundschaft üben, damit die Hungrigsten gesättigt werden. Dies ist die einfachste Art und Weise, um zu herrschen ... Doch warte zumindest, bis der Tisch gedeckt ist und befolge meinen Rath: hole Dir Dein Essen selbst aus der Küche.«

Aristide behielt seine unzufriedene Miene bei; der liebenswürdige Vergleich seines Bruders vermochte ihn nicht versöhnlicher zu stimmen. Dies veranlaßt Jenen, zu einer neuerlichen zornigen Ermahnung anzuheben.

»Ich muß wohl bei meiner ersten Meinung bleiben,« rief er aus; »das heißt, Du bist ein Thor ... Alle Wetter! was hofftest Du denn, was dachtest Du, daß ich mit Deiner kostbaren Person anfangen würde? Du hattest ja nicht einmal den Muth, Deine Rechts-Studien zu beenden, sondern vergrubst Dich während zehn Jahre als armseliger Beamte einer Unterpräfektur und langst hier als übelberüchtigter Republikaner an, den der Staatsstreich allein zu bekehren vermochte ... Meinst Du etwa, es stecke bei einem solchen Leumunde das Zeug zu einem Minister in Dir? ... Oh! ich weiß, Du bist entschlossen, Dich mit allen Mitteln emporzuarbeiten! Dies ist allerdings ein großes Verdienst, ich gebe es ja zu und in Berücksichtigung desselben habe ich darnach getrachtet, Dich bei der Stadt unterzubringen.«

Er stand auf, drückte Aristide das Ernennungsschreiben in die Hand und fuhr fort:

»Da nimm; eines Tages wirst Du mir noch danken. Ich selbst habe die Stelle gewählt, denn ich weiß, welchen Nutzen Du aus derselben ziehen kannst... Du brauchst bloß zu sehen und zu hören. Wenn Du Verstand hast, wirst Du begreifen und danach handeln ... Und nun merke Dir, was ich Dir sage. Wir kommen in eine Zeit, in der jeder Erfolg möglich sein wird. Erwirb viel Geld, ich gestatte es Dir; doch nur keine Dummheiten, keinen Skandal gemacht, sonst lasse ich Dich verschwinden.«

Diese Drohung hatte die Wirkung, welche seine Versprechungen nicht herbeizuführen vermocht. Das ganze Fieber der Habgier Aristides entzündete sich bei dem Gedanken an die Reichtümer, von welchen sein Bruder sprach. Es war ihm, als ließe man ihn endlich sich in das Handgemenge stürzen, als hätte er die Erlaubniß erhalten, die Leute zu erwürgen, doch fein säuberlich, ohne zu viel Lärm zu erregen. Eugen gab ihm zweihundert Francs, damit er bis zum Ende des Monates sein Leben fristen könne.

Sodann blieb er eine Weile nachdenklich,

»Ich möchte meinen Namen ändern,« sagte er endlich. »Du solltest ein Gleiches thun ... Wir würden uns freier bewegen können.«

»Wie Du willst,« erwiderte Aristide ruhig.

»Du wirst Dich um nichts zu bekümmern haben, ich übernehme die Durchführung aller Formalitäten ... Willst Du den Namen Sicardot, den Deiner Frau annehmen?«

Aristide blickte zur Decke empor, während er den Namen silbenweise aussprach, wie um den Wohlklang desselben zu beurtheilen.

»Sicardot . . . Aristide Sicardot ... Meiner Treu, nein; das klingt läppisch und riecht ordentlich nach dem Bankerott.«

»So suche etwas Anderes,« sagte Eugen.

»Sicard ganz kurz wäre mir lieber,« nahm der Andere nach einer Pause von Neuem auf. »Aristide Sicard ... nicht schlecht ... wie? sogar ein wenig heiter ...«

Er dachte noch einen Augenblick nach und rief mit einem Male triumphirend aus:

»Ich hab's, ich hab's!... Saccard, Aristide Saccard! ... mit zwei c ... Hehe! der Name duftet nach Geld und man sollte meinen, man zähle lauter Hundertsousstücke.«

Eugen machte einen derben Scherz, indem er seinen Bruder verabschiedend, lächelnd zu ihm sagte:

»Ja man kann mit dem Namen ebenso leicht ins Zuchthaus wie in den Besitz von Millionen gelangen.«

Einige Tage später befand sich Aristide Saccard in den Bureaux des Stadthauses. Dort erfuhr er, daß sich sein Bruder eines bedeutenden Einflusses erfreuen müsse, um seine Ernennung mit Umgehung der gebräuchlichen Prüfungen durchzusetzen.

Für das Ehepaar begann nunmehr die gleichförmige Lebensweise der kleinen Beamten. Aristide und seine Frau nahmen ihre Gewohnheiten von Plassans wieder auf. Nur waren sie aus dem Traume plötzlicher Bereicherung gerissen worden und ihre beschränkten Mittel lasteten umso drückender auf ihnen, als sie dies für eine Probezeit ansahen, deren Dauer sie nicht abzuschätzen vermochten. In Paris arm sein, bedeutete zweifache Armuth. Angèle nahm das Elend mit ihrem bleichsüchtigen Gleichmuthe hin; sie verbrachte ihre Zeit in der Küche, oder auf der Erde liegend, um mit ihrer kleinen Tochter zu spielen und begann erst zu lamentiren, wenn sie beim letzten Zwanzigsousstück angelangt war. Aristide aber fügte sich nur mit den Zähnen knirschend diesem Elend, dieser jammervollen Existenz, in welcher er gleich einem eingeschlossenen wilden Thiere umherraste. Dies war für ihn eine Epoche unbeschreiblicher Leiden; sein Stolz blutete, seine unbefriedigten Wünsche peitschten ihn wie mit Geißelhieben. Seinem Bruder gelang es, sich als Abgeordneter des Arrondissements Plassans in die gesetzgebende Körperschaft entsenden zu lassen und dies vermehrte nur noch sein Leid. Er war sich der Ueberlegenheit Eugens zu sehr bewußt, um auf dieselbe eifersüchtig zu sein; aber er beschuldigte ihn, er habe für ihn nicht Alles gethan, was er zu thun im Stande gewesen wäre. Wiederholt zwang ihn die Noth, an Eugens Thür zu pochen, um eine kleine Geldanleihe zu machen. Eugen bewilligte dieselbe, warf ihm aber in herben Worten seinen Mangel an Willen und Ausdauer vor. Fortab wurde Aristide noch düsterer und verschlossener. Er gelobte sich, von Niemandem auch nur einen Sou mehr zu entlehnen und hielt getreulich Wort. In den letzten acht Tagen des Monats aß Angèle trockenes Brod unter Seufzern und Klagen. Diese Epoche vollendete die furchtbare Erziehung Saccard's. Seine Lippen wurden noch dünner als bisher; er war nicht mehr so dumm, wachend von seinen Millionen zu träumen; seine hagere Gestalt verhielt sich schweigend und drückte nur mehr einen Willen, eine fixe Idee aus, der er unablässig nachhing. Wenn er aus der Rue Saint-Jacques nach dem Stadthause eilte, so schlugen seine abgetretenen Stiefelabsätze klappernd auf das Pflaster und er hüllte sich in seinen abgeschabten Überrock wie in ein Gewand des Hasses, während seine Marderschnauze die Luft der Straßen witterte. Es war das eckige Antlitz des eifersüchtigen, neidischen Elends, welches man durch die Straßen von Paris streichen sieht, seinen Träumen von Glanz und Reichtümern nachhängend.

Zu Beginn des Jahres 1855 ward Aristide zum wirklichen Wegeaufseher ernannt. Als solcher bezog er ein Gehalt von viertausendfünfhundert Francs, Die Aufbesserung trat zu sehr gelegener Zeit ein, denn Angèle fiel täglich mehr ab und die kleine Klotilde war ganz bleich. Er behielt seine kleine, aus zwei Zimmern – dem mit Nußholzmöbeln eingerichteten Speisezimmer und dem in Mahagoni gehaltenen Schlafzimmer – bestehende Wohnung bei, blieb bei seiner streng sparsamen Lebensweise und vermied es, Schulden zu machen; das Geld Anderer wollte er nur haben, wenn er tief in demselben wühlen konnte. So belog er selbst seine Instinkte, indem er die wenigen Sous verachtete, die er jetzt mehr bezog, und blieb weiter auf dem Anstande. Angèle fühlte sich vollkommen glücklich. Sie konnte sich einigen Putz anschaffen und ihre Brosche täglich vorstecken. Der dumpfe Zorn ihres Gatten, seine düstere Miene, die Miene eines Mannes, der über die Lösung eines furchtbaren Problems nachdenkt, däuchte ihr nunmehr unerklärlich,

Aristide befolgte die Nachschläge Eugens: er hörte und sah. Als er sich bei seinem Bruder einfand, um ihm für seine Beförderung zu danken, erkannte jener den Umschwung, der sich in ihm vollzogen und er unterließ es nicht, ihn darob zu beglückwünschen. Der Beamte, den innerlich der Neid verzehrte, war schmiegsam und schmeichlerisch geworden. Binnen weniger Monate wurde er ein vollendeter Komödiant. Seine ganze südliche Schlauheit gelangte zur Geltung und er trieb die Kunst so weit, daß ihn seine Kollegen vom Stadthause für einen guten Jungen ansahen, dem die nahe Verwandtschaft mit einem Deputirten im vorhinein eine bedeutende Stellung sicherte. Diese Verwandtschaft zog ihm auch das Wohlwollen seiner Vorgesetzten zu. So genoß er denn eine Autorität, welche die Bedeutung seines Amtes überragte und ihm gestattete, gewisse Thüren zu öffnen und die Nase in gewisse Schriftstücke zu stecken, ohne daß diese Zudringlichkeit eine üble Auslegung erfahren hätte. Während zweier Jahre sah man ihn durch alle Korridore streichen, sich in allen Sälen aufhalten, tagsüber zwanzigmal aufstehen, um mit einem Kollegen zu plaudern, eine Meldung zu erstatten oder einen Gang durch die Bureaux zu machen, – Spaziergänge, die seine Arbeitsgenossen zu der Bemerkung veranlaßten: »Dieser verteufelte Provençale! Er kann nicht ruhig auf seinem Platze bleiben; der hat Quecksilber in den Beinen!« – In den Augen seiner Vertrauten galt er für einen Faullenzer und der würdige Mann lachte, wenn sie ihm den Vorwurf machten, sein Lebenszweck bestehe darin, der Verwaltung einige Minuten zu stehlen. Niemals beging er den Mißgriff, an den Thüren zu horchen; dagegen verstand er es so trefflich, unversehens die Thüren zu öffnen, mit einem Papier in der Hand, mit nachdenklicher Miene und so leisen, regelmäßigen Schrittes durch die Säle zu schreiten, daß ihm kein Wort der Unterhaltung entging. Dies war eine geniale Taktik und er brachte es so weit, daß man die Unterhaltung gar nicht mehr abbrach, wenn dieser pflichteifrige Beamte vorüberging, der sich stets im Schatten der Bureaux hielt und vollständig seiner Beschäftigung hingegeben schien. Ferner beobachtete er noch eine andere Methode; er war von der verbindlichsten Zuvorkommenheit, machte sich erbötig, seinen Kollegen zu helfen, wenn sie mit ihren Arbeiten im Rückstande waren und stets studierte er mit der größten Aufmerksamkeit die Register und sonstigen Schriftstücke, die sie ihm übergaben. Eine seiner kleinen Sünden war, mit den Bureaudienern Freundschaft zu schließen; ja, er ging so weit, ihnen die Hand zu reichen. Zwischen Thür und Angel stehend, ließ er sich mit ihnen in Gespräche ein, lachte mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten und forderte derart ihre vertraulichen Mittheilungen heraus. Die wackeren Leute beteten ihn an, indem sie sagten: »Das ist Einer, der keinen Stolz kennt!« Gab es irgend einen Skandal, so war er der Erste, der davon Kenntniß erhielt. Und so kam es, daß das ganze Stadthaus nach kaum zwei Jahren keinerlei Geheimnisse mehr für ihn hatte. Das Personal desselben kannte er bis zum letzten Lampenanzünder und die Schriftstücke bis zu den Rechnungen der Wäscherinen.

Für einen Mann wie Aristide Saccard bot Paris zu dieser Zeit ein überaus interessantes Schauspiel. Das Kaiserreich war eben erst proklamirt worden, nach jener famosen Reise, während welcher der Prinz-Präsident den von Erfolg begleiteten Versuch gemacht hatte, den Enthusiasmus einiger bonapartistischer Departements anzufachen. In der Kammer und in den Zeitungen herrschte Ruhe. Die wieder einmal gerettete Gesellschaft beglückwünschte sich, ruhete aus, überließ sich einem Freudentaumel, denn eine kräftige Regierung beschützte sie und enthob sie der Nothwendigkeit, selbst zu denken und ihre Angelegenheiten zu ordnen. Die einzige große Sorge der Gesellschaft bestand darin, auf welche Weise man die Zeit ergötzlich todtschlagen solle. Wie sich Eugen Rougon so treffend ausgedrückt hatte, setzte sich Paris zu Tische und trieb beim Nachtisch flotte Späße. Die Politik verbreitete Schrecken, gleich einer gefährlichen Arznei. Die erschöpften Geister wendeten sich den Geschäften und den Vergnügungen zu. Wer etwas besaß, holte sein Geld hervor und wer nichts besaß, suchte in den Ecken nach vergessenen Schätzen. Es gab in der großen Menge ein dumpfes Beben, ein zunehmendes Klingen der Hundertsousstücke, das silberne Lachen der Frauen, das noch undeutliche Geräusch von Küssen und Tafelgeschirr. In der tiefen Stille der Ordnung, in dem Frieden der neuen Regierung machten sich gar liebliche Töne vernehmbar, goldene und wollüstige Verheißungen. Es schien, als ginge man vor einem jener kleinen Häuser vorüber, deren sorgfältig herabgelassene Vorhänge blos weibliche Schatten sehen und das Klingen der Goldstücke auf der Kaminplatte vernehmen lassen. Das Kaiserreich war im Begriffe, Paris zu dem Freudenhause Europa's zu stempeln. Diese Handvoll Abenteurer, die soeben einen Thron gestohlen, bedurfte einer abenteuerlichen Regierung, anrüchiger Geschäfte, verkaufter Gewissen, feiler Frauen und einer allgemeinen Versumpftheit. Und in der Stadt, in welcher das Blut des Dezember noch kaum getrocknet war, gedieh, anfänglich noch schüchtern, jener Freudenrausch, welcher das Vaterland in die Reihe der entehrten und verlotterten Nationen schleudern sollte.

Schon seit den ersten Tagen fühlte Aristide Saccard diese Fluth der Spekulation herannahen, deren Schauer alsbald ganz Paris überschwemmen sollte. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte er die Fortschritte, die dieselbe machte. Er befand sich in der Mitte des warmen Goldregens, welcher auf die Dächer der Stadt niederfiel. Auf seinen unablässigen Streifzügen durch das Stadthaus hatte er den umfassenden Plan zur Erweiterung und Verschönerung von Paris aufgegriffen, den Plan der Demolirungen, neuen Straßenzüge und der improvisirten Stadtviertel, des ungeheuren Aufgeldes bei Häuser- und Baugründeverkäufen, jenes Planes, welcher an allen Enden und Ecken der Stadt die Kämpfe der Interessen und den übertriebensten Luxus entfesselte. Von da an war seiner Thätigkeit ein Ziel vorgesteckt; zu dieser Epoche kehrte er den guten Jungen hervor. Er setzte sogar etwas Wohlbeleibtheit an und rannte nicht mehr gleich einer mageren Katze, die einer Beute nachstellt, durch die Straßen. In seinem Bureau wurde er gesprächiger und zuvorkommender denn je. Sein Bruder, den er von Zeit zu Zeit besuchte, beglückwünschte ihn ob der Geschicklichkeit, mit welcher er seine Rathschläge ins Praktische übertrug. Als das Jahr 1854 zu Ende ging, vertraute ihm Saccard an, daß er mehrere Angelegenheiten in Aussicht habe, zur Ausführung derselben aber ziemlich bedeutende Vorschüsse benöthige.

»Man sucht sich dieselben zu verschaffen,« sagte Eugen.

»Du hast Recht, ich werde suchen,« erwiderte er ohne jeden Aerger, dem Anscheine nach sogar ohne zu bemerken, daß sich sein Bruder weigerte, ihm diese ersten Vorschüsse zu bewilligen.

Diese ersten Mittel waren es indessen, die ihm jetzt keine Ruhe ließen. Sein Plan war entworfen und reifte mit jedem Tage mehr. Doch vermochte er die ersten paar tausend Francs nicht zu finden, ohne daß sein Wille darum erlahmt wäre. Er blickte den Leuten jetzt nur mehr gereizt und nervös ins Auge, als hätte er in dem erstbesten Passanten auf der Straße Jemanden gewittert, der ihm die gewünschten Gelder vorstrecken würde. Daheim führte Angèle ihre bescheidene, glückliche Lebensweise weiter, während er auf eine günstige Gelegenheit lauerte und sein gutmüthiges Lachen immer unfreundlicher tönte, weil diese Gelegenheit zu lange auf sich warten ließ.

Aristide hatte eine Schwester in Paris. Sidonie Rougon hatte einen Advokatengehilfen in Plassans geheirathet, der sich dann mit ihr in der Rue Saint-Honoré zu Paris niederließ, um einen Handel mit Südfrüchten zu betreiben. Als ihr Bruder sie daselbst aufsuchte, war der Gatte verschwunden und der Laden längst aufgegeben. Sie bewohnte jetzt in der Rue du Faubourg-Poissonnière ein aus drei Räumen bestehendes Halbgeschoß, hatte aber auch den sich unter ihrer Wohnung befindlichen Laden im Erdgeschoß gemiethet, einen engen, geheimnißvollen Laden, in welchem sie einen Spitzenhandel zu betreiben vorgab. Thatsächlich konnte man in einem gläsernen Schaukasten kleine Stückchen verschiedener Spitzenarten auf vergoldeten Messingstäben aufgehängt sehen; das Innere des Raumes aber glich infolge seines glänzenden Wandgetäfels einem Vorzimmer und zeigte keine Spur irgend welcher Waare. Thür und Schaufenster waren mit leichten Vorhängen versehen, die einerseits jeden unberufenen Blick von der Straße abwehrten, andererseits dem Laden das verschwiegene und verschleierte Aussehen eines Warteraumes verliehen, welcher gleichsam die Vorhalle zu einem unbekannten Tempel bildete. Nur selten sah man bei Frau Sidonie eine Klientin vorsprechen und in den meisten Fällen war sogar der Thürdrücker abgenommen. Der Nachbarschaft erzählte sie, sie gehe selbst ihre Spitzen reichen Damen zum Kaufe anbieten. Des Ferneren behauptete sie, Laden und Wohnung im Halbgeschoß, welche durch eine in der Mauer verborgene Treppe mit einander verbunden waren, nur gemiethet zu haben, um Beides besser ausnützen zu können. Thatsächlich verweilte die Spitzenhändlerin stets auswärts und man sah sie wohl zehnmal im Tage mit geschäftiger Miene heimkehren und wieder fortgehen. Im Uebrigen beschränkte sie sich nicht auf den Spitzenhandel; sie verwerthete ihr Halbgeschoß, indem sie dort die verschiedensten Dinge feilbot. Sie hatte daselbst Kautschuckgegenstände, als Mäntel, Schuhe, Galoschen veräußert; dann sah man daselbst eine neue Pommade zur Beförderung des Haarwuchses, orthopädische Apparate, eine automatische Kaffeemaschine, eine patentirte Erfindung, deren Vertrieb ihr viele Mühe verursachte. Als ihr Bruder sie aufsuchte, beschäftigte sie sich mit dem Vermiethen von Klavieren, mit welchen ihre Wohnung ganz angefüllt war; ein Piano stand sogar in ihrem Schlafzimmer, ein recht kokett eingerichtetes Gemach, welches mit der in den übrigen Räumen herrschenden Unordnung sehr auffallend kontrastirte. Sie betrieb ihre zwei Geschäfte mit vollendeter Methode. Die Klienten, die der im Halbgeschoß befindlichen Waaren halber vorsprachen, kamen und gingen durch das Thor, welches das Haus in der Rue Papillon hatte; man mußte in das Geheimniß der kleinen Treppe eingeweiht sein, um die zweifachen Geschäfte der Spitzenverkäuferin zu kennen. Im Halbgeschoß nannte sie sich Frau Touche, so wie ihr Gatte geheißen, während sie über die Thür des Ladens blos ihren Vornamen gesetzt hatte, demzufolge sie zumeist nur Frau Sidonie hieß.

Frau Sidonie war fünfunddreißig Jahre alt; doch kleidete sie sich mit solcher Sorglosigkeit, hatte in ihrem ganzen Gebahren so wenig Frauenhaftes an sich, daß man sie für bedeutend älter gehalten hätte. In Wirklichkeit hatte sie gar kein Alter. Stets trug sie ein schwarzes Kleid, welches durch den Gebrauch weißlich und fadenscheinig geworden und an den in den Gerichtssälen abgenützten Habit eines Advokaten erinnerte. Sie trug einen schwarzen Hut, der ihr bis in die Stirne reichte und ihr Haar verbarg, plumpe Schuhe an den Füßen und so trottete sie durch die Straßen, mit einem kleinen Korb am Arme, dessen Henkel mit Bindfaden umwickelt war. Dieser Korb, den sie niemals von der Hand ließ, barg eine ganze Welt in seinem Inneren. Wenn sie denselben öffnete, kam eine Musterkarte aller möglichen Dinge zum Vorschein: Notizbücher, Brieftaschen, vor Allem aber ganze Bündel gestempelter Papiere, deren unleserliche Schrift sie mit besonderer Geläufigkeit entzifferte. Sie vereinigte Makler und Gerichtsvollzieher in ihrer Person und hatte stets Proteste und gerichtliche Vorladungen bei sich. Wenn sie für zehn Francs Pommade oder Spitzen untergebracht hatte, so erschmeichelte sie sich die Gunst ihrer Klientin und machte sich zu deren Sachwalterin, indem sie an deren Stelle mit den Advokaten, Gerichtspersonen und Gläubigern unterhandelte. So barg denn ihr kleines Körbchen Wochen lang ganze Prozesse, die sie mit sich schleppte, um deren Willen sie sich die denkbar größte Mühe gab, Paris von einem Ende zum anderen durchwanderte, stets mit ihren gleichmäßigen ruhigen Schritten, ohne sich jemals eines Wagens zu bedienen. Nur schwer hätte man zu sagen vermocht, welchen Nutzen sie aus einer derartigen Beschäftigung zog; vorerst ging sie derselben aus reiner Liebe zur Sache nach, aus Neigung für nicht ganz lautere Angelegenheiten, aus Geschmack an Chikanen. Dann aber warf ihr dieselbe eine Menge kleiner Vortheile ab: Diners, die ihr hier und dort angeboten wurden, Zwanzig-Sousstücke, die sich rechts und links erwerben ließen. Das Beste an der Sache waren aber die vertraulichen Mittheilungen, die ihr von allen Seiten gemacht wurden und die ihr zu manch' unverhofftem Vortheil verhalfen. Da sie sozusagen bei fremden Leuten lebte, stets in die Angelegenheiten Anderer eingeweiht war, so bildete sie ein lebendes Nachschlagebuch von Gesuchen und Angeboten. Sie wußte, wo es eine Tochter gäbe, die sofort verheirathet werden mußte, eine Familie, die dreitausend Francs benöthigte, einen alten Herrn, der die dreitausend Francs vorzustrecken bereit wäre, doch nur gegen sichere Bürgschaft und hohe Zinsen. Aber auch delikatere Dinge waren ihr bekannt; so der Kummer einer schönen blonden Dame, die von ihrem Gatten nicht verstanden wurde und die sich darnach sehnte, verstanden zu werden; die geheimen Wünsche einer guten Mutter, die ihre Tochter gerne vortheilhaft untergebracht sehen wollte; die Geschmacksrichtung eines reichen Barons, der eine Vorliebe für kleine Soupers und sehr junge Mädchen hatte. Mit einem matten Lächeln setzte Frau Sidonie diese Gesuche und Angebote in Verkehr, legte zwei Meilen zurück, um die Leute einander näherzubringen; sie schickte den reichen Baron zu der guten Mutter, veranlaßte den alten Herrn, der bedrängten Familie die dreitausend Francs vorzustrecken, fand einen Tröster für die blonde Dame und einen wenig skrupulösen Gatten für die heirathsbedürftige Tochter. Dann aber hatte sie auch große Angelegenheiten, die sie offen eingestand und mit welchen sie den Leuten den Kopf voll schwatzte, wenn ihr dies von Vortheil schien: einen langwierigen Prozeß, mit welchem eine zu Grunde gerichtete vornehme Familie sie betraut hatte und eine Schuld, welche England noch aus den Zeiten der Stuarts an Frankreich zu entrichten hatte und die sich die aufgelaufenen Zinsen mitinbegriffen, auf drei Milliarden belief. Diese Schuld von drei Milliarden bildete ihr Steckenpferd; sie erläuterte die Sache mit einer Fülle von Einzelheiten, wobei sie einen ganzen Lehrgang der Geschichte vortrug und die Röthe der Begeisterung färbte dann ihre sonst wachsbleichen Wangen. Auf dem Gange zum Gerichtsvollzieher oder zu einer Freundin verkaufte sie zuweilen einen Kautschuckmantel, eine Kaffeemaschine, brachte sie ein Stück Spitze unter oder sie vermiethete ein Piano. Dies aber bildete ihre geringsten Sorgen. Darauf eilte sie rasch in ihre Niederlassung zurück, da eine Klientin versprochen, sich dort wegen Besichtigung eines Stückes Seidenspitze einzufinden. Die Klientin langte tatsächlich an und glitt wie ein Schatten in den schweigsamen, verhängten Laden. Und es war nichts Seltenes, daß zur selben Zeit ein Herr durch das Thor der Rue Papillon eintrat, um im Halbgeschoß die Klaviere der Frau Touche zu besichtigen.

Wenn sich Frau Sidonie kein Vermögen erwarb, so lag der Grund darin, daß sie häufig aus reiner Liebe zur Kunst arbeitete. Sie war eine Freundin der Prozesse, vergaß an die eigenen Angelegenheiten für die anderer Leute und ließ sich von den Gerichtsvollziehern aussaugen, was ihr übrigens einen förmlichen Genuß bereitete, den nur solche Leute zu würdigen wissen, die selbst Prozesse zu führen gewohnt sind. Von der Frau war in ihr keine Spur mehr vorhanden; sie war nichts weiter mehr als ein Geschäftsvermittler, eine Maklerin, die man zu jeder Tageszeit auf der Straße antreffen konnte und die in ihrem aller Welt bekannten Korbe die zweideutigste Waare mit sich führte, Alles kaufte und verkaufte, von Milliarden träumte und für eine begünstigte Klientin beim Friedensrichter um einen Nachlaß von zehn Francs bettelte. Klein, mager, blaß, in ihrem ewigen schwarzen Kleide steckend, war sie gänzlich zusammengeschrumpft und wenn man sie längs der Häuser dahineilen sah, hätte man sie für einen als Mädchen verkleideten Laufburschen angesehen. Ihr Gesicht hatte die fahle Farbe des gestempelten Papiers angenommen. Um ihre Lippen spielte ein mattes Lächeln, während ihre Augen in dem Gewirr der Geschäfte und Unterhandlungen aller Art verloren schienen, von welchen sie in Anspruch genommen war. Von bescheidenem, schüchternem Benehmen, roch sie nach dem Beichtstuhle und der Hebammenstube zugleich; sie gab sich sanft und mütterlich wie eine Nonne, die auf alle irdischen Neigungen Verzicht geleistet hat, doch Mitleid für die Leiden des Herzens empfindet. Sie sprach niemals von ihrem Gatten, so wenig wie von ihrer Kindheit, ihrer Familie, ihren Interessen. Einen Gegenstand gab es indessen, den sie nicht verkaufte und das war sie selbst; nicht etwa, als hätte sie sich darob Skrupel gemacht, sondern weil ihr der Gedanke an einen solchen Handel gar nicht kommen konnte. Sie war trocken wie eine Advokatenrechnung, kalt wie ein Wechselprotest, gleichmüthig und brutal wie ein Gerichtsdiener.

Saccard, der frisch aus seiner Provinz angelangt war, vermochte sich für's Erste nicht in die unergründlichen Tiefen der zahlreichen Geschäfte seiner Schwester zu versenken. Da er ehemals während der Dauer eines Jahres seinen Rechtsstudien obgelegen, sprach sie mit ihm eines Tages über die bewußten drei Milliarden, was ihm einen recht armseligen Begriff von ihrer Intelligenz gab. Sie fand sich eines Tages in dem bescheidenen Heim der Rue Saint-Jacques ein, schätzte Angèle mit einem Blick ab und ließ sich erst wieder sehen, wenn ihre Geschäfte sie nach dem Viertel führten oder sie das Bedürfniß empfand, ihre drei Milliarden zur Sprache zu bringen. Angèle glaubte an die englische Staatsschuld; die Maklerin bestieg ihr Steckenpferd und ließ es während einer Stunde lustig Kapriolen schlagen, daß das Gold von allen Seiten herbeizuströmen begann. Dies war sozusagen der Riß in diesem starken Geiste, der süße Wahn, mit welchem sie ihr Leben verschönte, das sie in schmählichem Handeln verbrachte, der magische Köder, an welchem sie sich sammt den leichtgläubigen Personen ihres Kundenkreises berauschte. Da sie überdies an ihrer Ueberzeugung festhielt, sprach sie über diese drei Milliarden schließlich wie über ihr persönliches Vermögen, welches ihr die Richter früher oder später dennoch zuurtheilen müßten und diese Zuversicht umgab ihren armseligen schwarzen Hut, auf welchem einige abgeblaßte Veilchen saßen, deren Stengel bereits den dünnen Messingdraht sehen ließ, mit einem wundersamen Glorienschein. Angèle riß die Augen weit auf. Wiederholt sprach sie ihrem Gatten gegenüber in Ausdrücken tiefer Verehrung über ihre Schwägerin, wobei sie behauptete, Frau Sidonie würde sie Alle vielleicht eines Tages reich machen. Saccard zuckte die Achseln; er hatte das Halbgeschoß und den Laden in der Rue Faubourg-Poissonnière besichtigt und daselbst blos die Anzeichen eines bevorstehenden Bankerotts wahrgenommen. Er wollte die Meinung Eugens über ihre Schwester erfahren; Der aber nahm eine ernste Miene an und beschränkte sich zu erwidern, daß er sie niemals sehe, aber wisse, daß sie sehr verständig sei, allerdings vielleicht auch ein wenig kompromittirend. Als aber Saccard einige Zeit nachher abermals in der Rue de Penthièvre vorsprach, glaubte er das schwarze Kleid der Frau Sidonie von seinem Bruder herauskommen und längs der Häuser dahineilen zu sehen. Er trat eilig näher, konnte das schwarze Kleid indessen nicht wiederfinden. Die Maklerin hatte eine jener schmiegsamen Gestalten, die unter der Menge verschwinden. Dieser Zwischenfall stimmte ihn nachdenklich und von da an widmete er seiner Schwester mehr Aufmerksamkeit. Bald hatte er auch herausgefunden, welche Arbeitslast auf diesem unscheinbaren, bleichen Geschöpfe ruhe, dessen Antlitz gar so nichtssagend dreinblickt. Er begann Achtung für sie zu empfinden. In ihren Adern floß das Blut der Familie Rougon. Er erkannte den Gelddurst, das Bedürfniß nach Ränken, welches bei seiner ganzen Familie charakteristisch war; nur war bei ihr das gemeinsame Temperament, dank der Umgebung, in welcher sie alt geworden, dank diesem Paris, in welchem sie sich des Morgens das harte Brod für den Abend erwerben mußte, in einer Weise entartet, daß dieser merkwürdige Hermaphroditismus des geschlechtlosen Weibes zum Vorschein kam, das Geschäftsmann und Kupplerin zugleich war.

Als Saccard seinen Plan entworfen hatte und an die Beschaffung der ersten Mittel ging, dachte er natürlich an seine Schwester. Sie schüttelte den Kopf und sprach seufzend von ihren drei Milliarden. Aristide aber ließ ihr diese Thorheit nicht ruhig hingehen, sondern kanzelte sie derb ab, so oft sie auf die von den Stuarts kontrahirte Schuld zu sprechen kam; dieser haltlose Traum schien in seinen Augen einer so praktischen Intelligenz zur Unehre zu gereichen. Frau Sidonie, welche die grausamste Ironie geduldig ertrug, ohne daß ihre Ueberzeugungen erschüttert werden konnten, setzte ihm hierauf mit großem Scharfsinn auseinander, daß er keinen Sou auftreiben werde, da er keinerlei Garantie bieten könne. Dieses Gespräch fand vor der Börse statt, an welcher sie sicherlich mit ihren Ersparnissen spielte. Gegen drei Uhr Nachmittags konnte man mit Sicherheit darauf rechnen, sie auf der Seite, wo sich das Postamt befand, am Gitter lehnen zu sehen, wo sie Leuten, die gleich ihr verdächtigen, zweideutigen Gewerben nachgingen, Audienz ertheilte. Als Aristide sich anschickte, seiner Wege zu gehen, murmelte sie bedauernden Tones: »Ach! wenn Du nicht verheirathet wärst! ...« Diese geheimnißvolle Andeutung, deren eigentlichen Sinn er sich nicht erklären lassen wollte, stimmte Saccard ganz besonders nachdenklich.

Monate flossen dahin und der Krimkrieg war erklärt worden. Paris, das sich einen entfernten Krieg nicht anfechten ließ, stürzte sich ungestümer denn je in die Arme der Spekulation und schöner Frauen. Die Fäuste ballend, sah Saccard diese zunehmende Spielwuth mit an, die er ja kommen gesehen. Inmitten der riesigen Schmiede, in welcher die Hämmer das Gold auf dem Ambos bearbeiteten, ward er von Zorn und Ungeduld verzehrt. Wille und Intelligenz arbeiteten mit solcher Gewalt in ihm, daß er in einem fortwährenden Traume lebte, gleich einem Mondsüchtigen, der von einem nie ablassenden Gedanken gequält, am Rande des Daches einherwandelt. Darum war er auch auf's Höchste überrascht und gereizt, als er eines Abends heimkehrend, Angèle krank und im Bette liegend antraf. Sein mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes funktionirendes häusliches Leben wurde gestört und dies erbitterte ihn gleich einer vorbedachten Tücke des Schicksals. Die arme Angèle klagte leise; sie hatte sich offenbar ein heftiges Fieber zugezogen und empfand bald Kälte, bald Hitze. Als der Arzt anlangte, schien er sehr beunruhigt; auf dem Flur draußen sagte er zu dem Gatten, seine Frau habe sich eine Bauchfellentzündung zugezogen und er könne keine Bürgschaft für sie übernehmen. Von da an pflegte Aristide die Kranke ohne zornige Erregung; – er ging nicht ins Amt, verweilte an ihrem Lager und betrachtete sie mit einem unerklärlichen Ausdruck, wenn sie mit fiebergerötheten Wangen, nach Athem ringend, im Schlummer lag. Trotz ihrer erdrückenden Arbeitslast ermöglichte es Frau Sidonie, sich jeden Abend einzufinden, um die Tränke zu brauen, welchen sie eine mächtige Heilkraft zuschrieb. Nebst ihren zahllosen anderen Talenten besaß sie auch das einer Krankenwärterin in hohem Grade; sie war vertraut mit allen Krankheiten und Arzneien, sowie mit den herzbewegenden Gesprächen, die an den Sterbelagern geführt werden. Außerdem schien sie für Angèle eine zärtliche Freundschaft zu empfinden; sie liebte die Frauen mit wahrer Liebe und tausend Schmeicheleien, offenbar des Vergnügens halber, das sie den Männern gewähren. Sie behandelte dieselben mit der zarten Sorgfalt, welche Kaufleute für die kostbaren Artikel ihrer Schaufenster haben, nannte sie »mein Schatz, mein schönes Kind,« löste sich in Liebkosungen um sie auf, wie ein Liebender um den Gegenstand seiner Verehrung. Obschon Angèle eine Person war, aus welcher sie keinen Nutzen ziehen konnte, umschmeichelte sie sie gleich den anderen, aus reiner Gewohnheit. Als sich die junge Frau im Krankenbette befand, äußerte sich die Zuneigung der Frau Sidonie in rührender Weise; ihre Aufopferung erfüllte gleichsam das stille Krankenzimmer. Ihr Bruder sah sie kommen und gehen, mit zusammengepreßten Lippen, gleichsam versunken in stummem Schmerze.

Die Krankheit verschlimmerte sich und eines Abends eröffnete ihnen der Arzt, daß die Kranke die Nacht nicht überleben werde. Frau Sidonie hatte sich schon früh eingefunden und blickte Aristide und Angèle aus ihren halb geschlossenen Augen an, in welchen es von Zeit zu Zeit kurz aufflammte. Als der Arzt gegangen war, schraubte sie die Lampe herab und tiefe Stille trat ein. Langsam hielt der Tod seinen Einzug in dieses warme Zimmer mit der feuchten Luft, in welchem der unregelmäßige Athem der Sterbenden gleich dem gestörten Ticken eines in Trümmer gehenden Uhrwerkes zu hören war. Frau Sidonie braute keine Arzneien mehr und ließ das Uebel sein Werk vollenden. Sie hatte sich vor dem Kamin, neben ihrem Bruder niedergelassen, der erregt mit der Zange in der Gluth stöberte und von Zeit zu Zeit unwillkürlich nach dem Bette hinüberblickte. Dann, gleichsam betäubt von dieser schweren Luft, durch diesen jammervollen Anblick, erhob er sich und ging in das anstoßende Zimmer hinüber. Dort hatte man die kleine Klotilde eingeschlossen, die auf einem Stück Teppich sitzend, mit ihrer Puppe spielte. Seine Tochter lächelte ihm entgegen, als Frau Sidonie, die hinter ihm ins Zimmer glitt, ihn in eine Ecke zog und mit leiser Stimme zu sprechen begann. Die Thür war offen geblieben und man vernahm das leichte Röcheln der Verscheidenden.

»Deine arme Frau,« schluchzte die Maklerin; »ich glaube es ist zu Ende mit ihr. Hast Du gehört, was der Arzt sagte?«

Saccard begnügte sich, traurig mit dem Kopfe zu nicken.

»Sie war eine gute Person,« fuhr die Andere fort über Angèle zu sprechen, als wäre dieselbe bereits todt. »Du wirst reichere, welterfahrenere Frauen finden können, ein solches Herz aber niemals.«

Und da sie innehielt und sich die Augen trocknete, als suchte sie nach einem Uebergange, fragte Saccard kurz:

»Du hast mir etwas zu sagen?«

»Ja, ich habe mich mit Dir beschäftigt, in der bewußten Angelegenheit, und glaube auch gefunden zu haben ... Doch in einem solchen Augenblick ... mir bricht's das Herz.«

Wieder wischte sie sich die Augen und Saccard ließ sie ruhig gewähren, ohne etwas zu sagen. Darauf fuhr sie fort:

»Es handelt sich um ein junges Mädchen, welches man auf der Stelle zu verheirathen wünscht. Das arme Kind ist von einem Unglück betroffen worden; doch ist eine Tante da, die gerne ein Opfer bringen möchte ...«

Sie brach abermals ab, greinend, winselnd, als beweinte sie noch immer die arme Angèle. Sie wollte damit ihren Bruder ungeduldig machen und ihn drängen, Fragen an sie zu richten, damit nicht die volle Verantwortlichkeit des Vorschlages, welchen sie ihm machen wollte, auf ihr laste. In der That wurde Aristide von dumpfem Zorn erfaßt.

»So komm doch zur Sache!« sagte er. »Weshalb will man dieses junge Mädchen verheirathen?«

»Sie kam gerade aus der Pension,« nahm die Maklerin kläglichen Tones von Neuem auf; »ein Mann stürzte sie ins Verderben, als sie bei einer Freundin auf dem Lande zu Besuch war. Erst vor Kurzem machte der Vater die Entdeckung des Unglückes, welches seine Tochter betroffen. Er wollte sie tödten. Um das arme Kind zu retten, machte sich die Tante zur Mitschuldigen und zu zweien erzählten sie dem Vater eine Geschichte, indem sie ihm sagten, der Verführer sei ein rechtschaffener Junge, der nichts sehnlicher wünscht, als seinen Fehler gutzumachen.«

»So wird der Mann das Mädchen heirathen?« fragte Saccard überrascht und gleichsam enttäuscht.

»Nein; das kann er nicht, da er verheirathet ist.«

Eine Pause trat ein. Schmerzlicher als vorhin klang das Röcheln Angèlens durch den Raum. Die kleine Klotilde hatte aufgehört zu spielen und blickte Frau Sidonie und ihren Vater mit den großen, nachdenklichen Kinderaugen an, als hätte sie die Worte verstanden, welche da gewechselt wurden. Nun begann Saccard einige kurze Fragen zu stellen:

»Wie alt ist das Mädchen?«

»Neunzehn Jahre.«

»Seit wann ist sie schwanger?«

»Seit drei Monaten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird eine Frühgeburt erfolgen.«

»Und ist die Familie reich und rechtschaffen?«

»Uralte Bourgeoisie; der Vater war Richter gewesen; Vermögen sehr bedeutend.«

»Wie hoch würde sich das Opfer der Tante belaufen?«

»Auf hunderttausend Francs.«

Abermals trat eine Pause ein. Frau Sidonie greinte nicht mehr; sie war wieder Geschäftsfrau geworden und ihre Stimme hatte den Mollklang einer Verkäuferin, die über einen Handel spricht. Ihr Bruder blickte zur Seite und fügte einigermaßen zögernd hinzu:

»Und was verlangst Du für Dich?«

»Das werden wir später sehen,« erwiderte sie. »Auch Du wirst mir einen Dienst erweisen.«

Sie wartete noch einige Sekunden und da er noch immer schwieg, fragte sie rund heraus:

»Was beschließest Du also? Die armen Frauen sind ganz verzweifelt und wollen um jeden Preis einen Skandal vermeiden. Sie sind entschlossen, dem Vater morgen den Namen des Schuldigen preiszugeben. .. Wenn Du einwilligst, werde ich ihnen durch einen Dienstmann Deine Visitenkarte schicken.«

Saccard schien aus einem Traume zu erwachen. Er zuckte zusammen und wendete sich scheu dem Nebengemach zu, von wo er ein leises Geräusch zu vernehmen geglaubt.

»Aber ich kann ja nicht,« sprach er angstvoll; »Du weißt, daß ich nicht kann ...«

Frau Sidonie blickte ihn fest, mit kalter, verächtlicher Miene an. Das Blut der Rougon, sein brennender Golddurst drang ihm wieder zu Kopfe. Er entnahm seiner Brieftasche eine Visitenkarte und reichte sie seiner Schwester, die dieselbe in einen Umschlag steckte, nachdem sie die Adresse sorgfältig weggekratzt hatte. Darauf eilte sie davon. Es war kaum neun Uhr Abends.

Allein geblieben, lehnte Saccard die Stirne an die kalten Fensterscheiben. Er vergaß sich so weit, daß er mit den Fingern auf der Fensterscheibe zu trommeln begann. Doch war die Nacht so dunkel, die Schatten ballten sich draußen zu so absonderlichen Massen zusammen, daß er ein leises Unbehagen empfindend, in das Gemach zurückkehrte, in welchem Angèle in den letzten Zügen lag. Er hatte sie ganz vergessen und ward von einer furchtbaren Erschütterung erfaßt, als er sie im Bette halb aufgerichtet sah. Ihre Augen standen weit offen und neues Leben schien ihre Wangen und Lippen zu färben. Mit ihrer unvermeidlichen Puppe im Arm, saß die kleine Klotilde am Rande des Bettes; sobald ihr Vater ihr den Rücken gewendet, war sie eiligst in dieses Gemach zurückgetrippelt, aus welchem man sie verwiesen hatte und in welches ihre kindliche frohe Neugierde sie zurückführte. Saccard, der den Kopf voll von den Geschichten seiner Schwester hatte, sah seinen Traum mit einem Male zerstört; ein furchtbarer Ausdruck mochte in seinen Augen liegen, als er nähertrat. Von Entsetzen erfaßt, wollte sich Angèle zurückwerfen, an die Mauer schmiegen; doch es kam der Tod. Diese scheinbare Kräftigung war das letzte Aufflackern der Lampe vor dem gänzlichen Erlöschen gewesen. Die Verscheidende vermochte sich nicht zu regen; immer kraftloser wurde sie, doch hielt sie die weitgeöffneten Augen auf ihren Gatten geheftet, als wollte sie seine Bewegungen überwachen. Saccard, der an eine teuflische Wiedergenesung geglaubt, die das Schicksal in Scene setzte, um ihn in den Fesseln des Elends festzuhalten, beruhigte sich wieder, als er sah, daß die Unglückliche keine Stunde mehr zum Leben habe. Er empfand nichts weiter als ein unerträgliches Unbehagen. Die Augen Angèlens besagten deutlich, daß sie das Gespräch zwischen ihrem Gatten und dessen Schwester gehört habe und daß sie fürchtete, er werde sie erwürgen, wenn sie nicht rasch genug stürbe. Und es lag in diesen Augen auch ein Ausdruck des furchtbaren Erstaunens einer sanften, friedfertigen Natur, die in den letzten Minuten die Entdeckung macht, wie schlecht die Welt sei und die bei dem Gedanken an die langen Jahre erschauert, die sie an der Seite eines Banditen verlebt. Allmälig aber wurde ihr Blick sanfter; sie hatte keine Furcht mehr und verzieh diesem Elenden offenbar, indem sie an den erbitterten Kampf dachte, den er seit so langer Zeit mit dem Schicksal führte. Verfolgt von diesem Blicke der Sterbenden, in welchem ein so beredter Vorwurf lag, mußte sich Saccard an die Möbel stützen, während er die dunkelsten Ecken suchte. Mit einer letzten Anstrengung wollte er aber den Alp von sich abschütteln, der ihn wahnsinnig zu machen drohte und er trat in den Lichtkreis der Lampe. Angèle machte ihm ein Zeichen, er möge nicht sprechen. Dabei blickte sie ihn noch immer mit jenem entsetzten Ausdruck an, welchem sich jetzt ein Versprechen der Vergebung beizugesellen schien. Nun bückte er sich, um Klotilde in die Arme zu nehmen und sie in das andere Zimmer hinüberzutragen. Aber auch dies verwehrte sie ihm mit einer Bewegung der Lippen. Sie verlangte, er möge da bleiben. Langsam wich das Leben von ihr, ohne daß sie den Blick von ihm gewendet hätte und in dem Maße, wie er bleicher wurde, schien ihr Blick sanfter zu werden. Mit dem letzten Seufzer hatte sie verziehen. Sie starb wie sie gelebt, still, ergeben, im Tode sich bescheiden zurückziehend, gleichwie sie im Leben sich stets bescheiden zurückgezogen hatte. Erschauernd stand Saccard vor diesen todten Augen, die offen geblieben waren und die ihn noch in ihrer Unbeweglichkeit zu verfolgen schienen. Leise wiegte die kleine Klotilde – am Rande der Bettdecke sitzend – ihre Puppe und flüsterte ihr zu, sie dürfe Mama nicht wecken.

Als Frau Sidonie zurückkehrte, war Alles zu Ende. Als eine in derlei Dingen bewanderte Person drückte sie mit den Fingerspitzen Angèlens Augen zu, was Saccard ganz ungemein erleichterte. Nachdem sie sodann die Kleine zu Bett gebracht, machte sie das Zimmer im Handumdrehen zu einem Todtengemach. Nachdem sie auf der Kommode zwei Kerzen angezündet und der Todten das Bett-Tuch bis ans Kinn hinaufgezogen, ließ sie einen befriedigten Blick um sich gleiten und streckte sich darauf bequem in einem Fauteuil aus, wo sie bis zum Tagesanbruch schlummerte. Saccard verbrachte die Nacht in dem anstoßenden Gemach, wo er die Traueranzeigen schrieb. Mitunter setzte er in seiner Arbeit aus, um auf einzelnen Papierstreifen lange Zahlenreihen aufzustellen.

Am Abende des Begräbnißtages entführte Sidonie ihren Bruder nach der Rue Papillon, wo sie ihr Halbgeschoß bewohnte. Hier wurden große Entschlüsse gefaßt. Der Magistratsbeamte beschloß, die kleine Klotilde zu einem seiner Brüder, Pascal Rougon zu bringen, der in Plassans als Arzt thätig war und aus Liebe zu seiner Wissenschaft als Junggeselle lebte, sich aber schon wiederholt erbötig gemacht hatte, seine Nichte zu sich zu nehmen, um ein wenig Heiterkeit in sein stilles Gelehrtenhaus zu bringen. Ferner erläuterte ihm Frau Sidonie, daß er nicht länger in der Rue Saint-Jacques wohnen könne. Sie wird ihm für einen Monat ein elegant möblirtes Heim in der Nähe des Stadthauses miethen und dieses Heim in einem bürgerlichen Hause zu finden suchen, damit es den Anschein habe, als gehörten die Möbel ihm. Was die Einrichtung seiner bisherigen Wohnung betrifft, so wird dieselbe verkauft werden, um die letzten Spuren der Vergangenheit verschwinden zu machen. Den Erlös für dieselbe wird er zum Ankaufe eines Vorraths seiner Wäsche und Kleider verwenden. Drei Tage später befand sich Klotilde in der Obhut einer alten Dame, die gerade nach dem Süden abreiste, und triumphirend, mit glänzenden Backen, gleichsam verjüngt und gestärkt durch diese drei Tage, in welchen ihm das Glück zuzulächeln begann, hatte Aristide Saccard in einem im Marais, Rue Payenne gelegenen Hause von strengem, achtunggebietendem Äußeren eine aus fünf Räumen bestehende Wohnung inne, die allerliebst eingerichtet war und in welcher er mit gestickten Pantoffeln umherging. Es war das die Wohnung eines jungen Abbés, der plötzlich nach Italien hatte reisen müssen und dessen Magd Weisung erhalten hatte, einen Miether zu suchen. Diese Magd war die Freundin der Frau Sidonie, die ein wenig dem Pfaffenthum ergeben war. Sie empfand für die Priester dieselbe Liebe wie für die Frauen: eine instinktive Liebe, die vielleicht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Soutane und seidenen Frauenkleidern entdeckt hatte. Nun war Saccard bereit; mit vollendeter Kunst bereitete er seine Rolle vor und sah ohne mit den Wimpern zu zucken, den Schwierigkeiten der Situation entgegen, die er angenommen.

Während der schrecklichen Nacht, da Angèle in den letzten Zügen lag, hatte Frau Sidonie die Lage der Familie Béraud in knappen Worten wahrheitsgetreu geschildert. Das Oberhaupt derselben, Herr Béraud du Châtel, ein stattlicher Greis von sechszig Jahren, war der letzte Sproß einer alten Bürgerfamilie, deren Ahnen weiter zurückreichten, als die gewisser adeliger Familien. Einer der Vorfahren war der Gefährte Etienne Marcel's gewesen. Im Jahre 1793 endete sein Vater auf dem Blutgerüst, nachdem er die Republik mit dem ganzen Enthusiasmus eines Pariser Bürgers, in dessen Adern revolutionäres Blut rollte, begrüßt hatte. Er selbst war einer jener spartanischen Republikaner, die von einer aus lauterer Gerechtigkeit und vernünftiger Freiheit bestehenden Regierung träumen. Nachdem er als Richter alt geworden und als solcher eine berufsmäßige Strenge angenommen hatte, nahm er im Jahre 1851, zur Zeit des Staatsstreiches, seinen Abschied als Gerichts-Senatspräsident, nachdem er sich geweigert hatte, an einer jener gemischten Kommissionen theilzunehmen, welche die französische Rechtspflege entehrten. Seit jener Zeit lebte er einsam und zurückgezogen in seinem Hotel auf der Insel Saint-Louis, welches sich an der Spitze der Insel, dem Hotel Lambert beinahe gegenüber befand. Seine Gattin war noch in jungen Jahren gestorben. Ein geheim gehaltenes Drama, welches eine noch immer blutende Wunde geschlagen, verdüsterte das Antlitz des alten Mannes noch mehr. Er hatte bereits eine achtjährige Tochter, Renée, als seine Frau bei der Geburt einer zweiten Tochter starb. Letztere, die den Namen Christine erhielt, wurde von einer Schwester des Herrn Béraud du Châtel aufgenommen, die an den Notar Aubertot verheirathet war. Renée dagegen kam in's Kloster. Frau Aubertot, die keine Kinder hatte, faßte eine mütterliche Zuneigung zu Christine, die an ihrer Seite heranwuchs. Nachdem ihr Gatte gestorben, brachte sie die Kleine zu ihrem Vater zurück und sie selbst lebte fortan in Gesellschaft des schweigsamen Greises und des lächelnden Blondkopfes. An Renée in ihrer Pension dachte Niemand. Wenn sie während der Ferien nach Hause kam, erfüllte sie das Hotel mit solchem Lärm, daß ihre Tante einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, wenn sie sie endlich in das Kloster zur Heimsuchung Mariä zurückführen konnte, wo sie seit ihrem achten Jahre lebte. Sie verließ das Pensionat erst im Alter von neunzehn Jahren und da sollte sie gleich die schöne Sommerzeit bei den Eltern ihrer guten Freundin Adeline verbringen, die im Nivernais-Lande einen wunderbaren Landsitz ihr eigen nannten. Als sie im Oktober zurückkehrte, war Tante Elisabeth ganz erstaunt, das Mädchen sehr ernst, ja tief traurig zu sehen. Und eines Abends überraschte sie Renée, wie diese sich in krampfhaftem Schluchzen auf ihrem Bette wand und die Thränen eines wahnsinnigen Schmerzes zwischen den Kissen zu ersticken suchte. Eine Beute tiefster Verzweiflung beichtete ihr die junge Dame eine erschütternde Geschichte: ein reicher, verheiratheter Mann von vierzig Jahren, dessen reizende junge Frau gleichfalls zu Besuch anwesend war, hatte ihr auf dem Lande Gewalt angethan, ohne daß sie Widerstand zu leisten vermocht oder gewagt hätte. Das Geständniß schmetterte Tante Elisabeth zu Boden; sie klagte sich an, als wäre sie eine Mitschuldige gewesen; ihre Vorliebe für Christine erschien ihr als ein Verbrechen und sie sagte sich, daß wenn sie auch Renée bei sich behalten hätte, das arme Kind nicht unterlegen wäre. Um diese brennende Gewissenspein, deren Stachel ihre empfindliche Natur noch verschärfte, zu bannen, leistete sie der Schuldigen fortan Beistand; sie beschwichtigte den Zorn des Vaters, dem sie gerade durch das Uebermaß ihrer Vorsicht den traurigen Sachverhalt verriethen und ersann in ihrem Bestreben, ihre vermeintliche Schuld wettzumachen, dieses absonderliche Heirathsprojekt, welches ihrer Ansicht nach Alles in Ordnung bringen, den Vater versöhnen und Renée in die Reihe der rechtschaffenen Frauen stellen würde, ohne daß sie die beschämende Seite, noch die verhängnißvollen Folgen desselben wahrzunehmen schien.

Auf welche Weise Frau Sidonie von diesem vortheilhaften Geschäfte Kenntniß erhielt, konnte niemals festgestellt werden. Die Ehre der Familie Béraud gelangte ebenso in ihren Korb, wie die Wechselproteste aller Dirnen von Paris. Als sie den ganzen Sachverhalt kannte, dachte sie sofort an ihren Bruder, dessen Frau in den letzten Zügen lag. Tante Elisabeth war der festen Ueberzeugung, sie sei dieser sanften, untertänigen Dame zu Dank verpflichtet, die sich mit solchem Eifer für die unglückliche Renée verwendete, daß sie ihr in der eigenen Familie einen Gatten auserkor. Die erste Begegnung zwischen der Tante und Saccard fand in dem Halbgeschoß der Rue du Faubourg-Poissonnière statt. Der Magistratsbeamte, der durch das Thor der Rue Papillon angelangt war, sah Frau Aubertot durch den Laden, über die kleine Treppe anlangen und nun ward ihm der sinnreiche Mechanismus der beiden Eingänge klar. Er legte viel Takt und Zuvorkommenheit an den Tag. Er behandelte die Sache ganz geschäftsmäßig, doch als weltgewandter Mann, der seine Spielschulden ordnete. Tante Elisabeth war bedeutend aufgeregter als er: sie stotterte und wagte gar nicht von den hunderttausend Francs zu sprechen, die sie zugesichert. Er war denn der Erste, der die Geldfrage berührte, mit der Miene eines Advokaten, der die Sache seines Klienten verficht. Seiner Ansicht nach waren hunderttausend Francs eine lächerliche Morgengabe für den Gatten des Fräuleins Renée. Das Wort »Fräulein« betonte er ganz besonders. Außerdem würde Herr Béraud du Châtel einen armen Schwiegersohn geringschätzen und ihn beschuldigen, seine Tochter ihres Vermögens halber verführt zu haben; vielleicht käme er sogar auf den Gedanken, insgeheim eine Untersuchung einzuleiten. Betroffen von der ruhigen, höflichen Sprache Saccard's, verlor Frau Aubertot den Kopf und willigte ein, die Summe zu verdoppeln, als er erklärt hatte, daß wenn er sich nicht im Besitze von zweihunderttausend Francs befände, er es niemals wagen würde, um Renée anzuhalten, da er nicht für einen gemeinen Mitgiftjäger gehalten werden wolle. Die gute Dame entfernte sich ganz verstört, nicht wissend, was sie sich von einem Menschen denken solle, der soviel Würde bekundete und dessenungeachtet einen solchen Handel einging.

Dieser ersten Unterredung folgte ein offizieller Besuch, welchen Tante Elisabeth Aristide Saccard in seiner Wohnung, in der Rue Panenne abstattete. Diesmal kam sie im Namen des Herrn Béraud. Der ehemalige Gerichtsrath hatte sich geweigert, mit »diesem Menschen« zu sprechen, wie er den Verführer seiner Tochter nannte, solange er nicht der Gatte Renée's sei, der er im Uebrigen ebenfalls seine Thür verboten hatte. Frau Aubertot war mit unbeschränkter Vollmacht zur Führung der Verhandlungen ausgerüstet. Die glanzvolle Einrichtung des Beamten erweckte ihre ganz besondere Genugthuung; sie hatte gefürchtet, der Bruder dieser Frau Sidonie, die stets so nachlässig gekleidet ging, sei ein armer Teufel. Er empfing sie in einem tadellosen Hausanzug. Es war das eine Zeit, zu welcher die Abenteurer des 2. Dezember, nachdem sie ihre Schulden bezahlt, ihre abgetretenen Stiefel und an den Nähten zerschlissenen Gewänder in die Gosse warfen, ihre acht Tage alten Bartstoppel abrasierten und ordentliche Menschen wurden. Saccard hatte ein Gleiches gethan; er reinigte sich die Nägel und wusch sich nur mehr mit duftenden Seifen und stark riechenden Parfüms. Er war sehr galant und änderte insoferne seine Taktik, als er eine unglaubliche Uneigennützigkeit bekundete. Als die alte Dame vom Kontrakt sprach, machte er eine Bewegung, wie um zu sagen, daß ihn dies wenig anfechte. Seit acht Tagen studierte er die einschlägigen Gesetzartikel und erwog er diese ernste Frage, von welcher in Hinkunft seine Freiheit als Geschäftsmann abhing.

»Kommen wir doch schon zu Ende mit dieser leidigen Geldfrage,« sagte er. »Meiner Ansicht nach sollte Fräulein Renée freie Verfügung über ihr Vermögen behalten und ich über das meinige. Der Notar wird dies schon besorgen.«

Tante Elisabeth billigte diese Auffassung, denn sie hatte davor gezittert, daß dieser Mann, dessen eiserne Faust sie bereits hinter der Sammtpfote vermuthete, sich auch der Mitgift ihrer Nichte werde bemächtigen wollen. Nun sprach sie auch über diese Mitgift.

»Das Vermögen meines Bruders besteht zum weitaus größten Theile aus Häusern und Liegenschaften,« sprach sie. »Er ist nicht der Mann dazu, um seine Tochter durch Vorenthaltung des ihr zufallenden Antheils zu bestrafen. Er übergiebt ihr einen in der Sologne gelegenen Grundbesitz im Werthe von dreihunderttausend Francs, sowie ein Haus in Paris, welches ungefähr auf zweihunderttausend Francs bewerthet ist.« Saccard war förmlich geblendet, – eine solche Summe hatte er nicht erwartet. Er wendete sich halb zur Seite, um die Blutwelle nicht merken zu lassen, die seine Wangen färbte.

»Dies ergiebt einen Gesammtwerth von fünfhunderttausend Francs,« fuhr die Tante fort; »doch will ich Ihnen nicht verhehlen, daß der Sologner Grundbesitz blos zwei Perzent abwirft.«

Er lächelte und wiederholte die Bewegung, die seine Uneigennützigkeit ausdrücken sollte, als wollte er damit sagen, daß er sich nicht darum kümmere, da er ja auch mit dem Vermögen seiner Frau nichts zu thun haben wolle. In seinem Fauteuil zurückgelehnt, drückte seine Haltung absolute Gleichgiltigkeit aus: er schien zerstreut, spielte mit seinen Pantoffeln und hörte ihr offenbar nur aus Höflichkeit zu, um sie nicht zu verletzen. Frau Aubertot sprach langsam, vorsichtig, in der Einfalt ihres Herzens bemüht, ihn mit keinem Worte zu beleidigen. Und so fuhr sie fort:

»Schließlich möchte auch ich Renée ein Geschenk machen. Ich habe keine Kinder, mein Vermögen fällt eines Tages doch nur meinen Nichten zu und ich werde Herz und Hand nicht verschließen, weil eine derselben heute in Trauer versunken ist. Schon seit langer Zeit sind die Hochzeitsgeschenke beider Schwestern vorbereitet. Das Geschenk, welches für Renée bestimmt ist, besteht aus umfassenden Grundstücken bei Charonne, welche ich auf zweihunderttausend Francs glaube bewerthen zu können. Indessen ...«

Bei dem Worte »Grundstücke« war Saccard ein wenig zusammengezuckt. Unter seiner erheuchelten Gleichgiltigkeit hörte er mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Tante Elisabeth gerieth wieder in Verlegenheit, da ihr offenbar wieder das entsprechende Wort fehlte und erröthend fuhr sie fort:

»Indessen wünsche ich, daß das Eigenthumsrecht dieser Grundstücke auf das erste Kind Renée's übertragen werde. Sie werden meine Absicht begreifen; ich will nicht, daß Ihnen dieses Kind eines Tages zur Last fallen solle. Sollte dasselbe sterben, so verbleibt Renée alleinige Eigenthümerin.«

Er zuckte mit keiner Wimper, nur seine gerunzelten Brauen verriethen, wie erregt er innerlich sei. Die an der Charonne liegenden Grundstücke erweckten eine Fluth von Gedanken in ihm. Frau Aubertot fürchtete, ihn verletzt zu haben, als sie von dem Kinde Renée's sprach und ganz bestürzt schwieg sie stille, nicht wissend, wie sie die Verhandlungen fortführen solle.

»Sie haben mir noch nicht gesagt, in welcher Straße sich das auf zweihunderttausend Francs bewerthete Haus befindet?« fragte er im Tone gutmüthiger Zuvorkommenheit.

»In der Rue de la Pepinière, fast an der Ecke der Rue d'Astorg,« erwiderte sie.

Diese einfachen Worte waren von entscheidender Wirkung auf ihn. Er vermochte sein Entzücken nicht mehr zu meistern und seinen Fauteuil näher rückend, sprach er schmeichelnden Tones, mit seiner provençalischen Zungenfertigkeit:

»Werthe Frau, nun ist's aber genug und wir wollen nicht weiter über dieses häßliche Geld sprechen ... Sehen Sie, ich will offen und rückhaltslos reden, denn ich wäre verzweifelt, wenn ich mir Ihre Achtung nicht erringen würde. Vor ganz kurzer Zeit habe ich meine Frau verloren, ich habe zwei Kinder und gehe praktisch und vernünftig zu Werke. Indem ich Ihre Nichte heirathe, mache ich ein Geschäft, bei welchem Jedermann seine Rechnung findet. Sollten Sie noch irgend welche Vorurtheile gegen mich haben, so werden Sie mir späterhin verzeihen, wenn ich Jedermanns Thränen getrocknet und die Familie bis auf die spätesten Nachkommen reich gemacht haben werde. Der Erfolg ist eine goldene Flamme, welche Alles läutert. Ich will, daß mir Herr Béraud freiwillig die Hand reiche und mir danke.«

Allmälig vergaß er sich und lange sprach er mit spöttischem Egoismus, welcher zeitweise unter seiner gutmüthigen Miene hervorlugte. Er prahlte mit seinem Bruder, dem Deputirten und seinem Vater, der in Plassans ein hervorragendes Amt bekleide. Er eroberte auf diese Weise Tante Elisabeth, die von unwillkürlicher Freude erfüllt, die Wahrnehmung machte, daß das Drama, welches ihr seit einem Monate Kummer und Sorge bereitete, unter den Fingern dieses geschickten Mannes beinahe zur heiteren Komödie wurde. Es wurde vereinbart, daß man am nächsten Tage zum Notar gehen werde.

Kaum hatte sich Frau Aubertot entfernt, als er sich nach dem Stadthause begab, wo er einen halben Tag mit der genauen Durchsicht gewisser ihm bekannten Dokumente verbrachte. Beim Notar erhob er einen scheinbar berechtigten Einwurf. Er sagte, daß er die Befürchtung hege, Renée werde noch bedeutenden Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein, da ihre Mitgift blos aus unbeweglichen Gütern bestehe; seiner Ansicht nach würde es sich empfehlen, zumindest das Haus in der Rue de la Pepinière zu verkaufen, und Rententitres dafür anzuschaffen. Frau Aubertot wollte hierüber Herrn Béraud du Châtel berichten, der sich noch immer in seinen Zimmern verschloß. Saccard widmete sich bis zum Abend wieder seinen Gängen. Er ging in die Rue de la Pepinière und eilte durch die Straßen der Stadt mit der Miene eines Generals, der am Vorabend einer entscheidenden Schlacht steht. Am nächsten Tage berichtete Frau Aubertot, daß Herr Béraud du Châtel Alles ihr anheimstelle. Der Vertrag wurde auf Grundlage der bereits vereinbarten Bedingungen abgeschlossen. Saccard brachte zweihunderttausend Francs mit in die Ehe, Renée besaß eine Mitgift in Gestalt der in der Sologne gelegenen Ländereien und des in der Rue de la Pepinière gelegenen Hauses, welches zu verkaufen sie sich anschickte; sollte ihr erstes Kind sterben, so wird sie alleinige Eigenthümerin des Grundbesitzes bei Charonne bleiben, welchen sie von ihrer Tante erhielt. Der Kontrakt sprach getrennten Güterbesitz aus, welcher jedem der Ehegatten die unabhängige Verwaltung seines Vermögens sichert. Tante Elisabeth, die dem Verlesen der einzelnen Punkte mit größter Aufmerksamkeit gefolgt war, schien von der letzteren Bestimmung ausnehmend befriedigt, da ihr dieselbe die Unabhängigkeit ihrer Nichte und das Vermögen derselben vor jeglichem Angriff zu sichern schien. Saccard lächelte still, als er sah, daß die wackere Dame zu jeder Klausel zustimmend mit dem Kopfe nicke. Die Vermählung sollte in kürzester Zeit stattfinden.

Als Alles geordnet war, begab sich Saccard zu seinem Bruder Eugen, um ihm seine bevorstehende Vermählung mit Fräulein Renée Béraud Du Châtel anzuzeigen. Der Meisterzug erregte die Bewunderung des Abgeordneten.

»Du sagtest mir, ich solle suchen,« bemerkte der Magistratsbeamte; »ich habe gesucht und gefunden.«

Im ersten Augenblick verwirrt, durchschaute Eugen alsbald die Wahrheit. Und liebenswürdigen Tones fügte er hinzu:

»Du bist ein geschickter Mensch und willst mich wohl auffordern, Dir als Trauzeuge zu dienen? Ich bin mit Vergnügen bereit dazu ... Wenn Du willst, setze ich es durch, daß die vollzählige Rechte des Parlaments Deiner Vermählung beiwohnt. Das würde Dir sehr bedeutend zum Vortheil gereichen ...«

Er öffnete die Thür und fügte leiser hinzu:

»Höre 'mal ... Ich möchte mich derzeit nicht zu sehr kompromittiren, denn wir haben da einen Gesetzentwurf, der nur schwer durchzubringen sein wird ... Ist die Schwangerschaft wenigstens nicht zu sehr bemerkbar?«

Saccard warf ihm einen so scharfen Blick zu, daß Eugen beim Schließen der Thür sich sagte: »Dieser Scherz käme mir theuer zu stehen, wenn ich kein Rougon wäre.«

Die Vermählung fand in der Kirche Saint-Louis-en-l'Ile statt. Saccard und Renée sahen sich erst am Vorabend dieses großen Tages. Die Begegnung fand des Abends, bei Einbruch der Nacht statt; Schauplatz derselben war ein Saal im Hôtel Béraud. Sie betrachteten einander neugierig. Seitdem wegen dieser Verbindung unterhandelt wurde, hatte Renée ihre ganze Ausgelassenheit wiedergefunden. Sie war ein großes Mädchen von ausnehmender Schönheit, und mit den unbeschränkten Launen der Pensionärin herangewachsen. Sie fand, daß Saccard klein und häßlich sei; doch verrieth sein Gesicht dessenungeachtet viel Intelligenz und dies mißfiel ihr nicht, zumal sein Benehmen in Ton und Geberde nichts zu wünschen übrig ließ. Er verzog ein wenig das Gesicht, als er sie erblickte; offenbar erschien sie ihm zu groß, jedenfalls war sie größer als er. Sie wechselten einige Worte ohne jede Verlegenheit. Wäre der Vater zugegen gewesen, so hätte er thatsächlich glauben können, daß sie sich seit langer Zeit kannten und einen gemeinschaftlich begangenen Fehltritt hinter sich hätten. Tante Elisabeth, die bei der Begegnung anwesend war, erröthete an Stelle der zukünftigen Eheleute.

Nach der Vermählung, welcher die Anwesenheit Eugen Rougons, der durch eine jüngst gehaltene Rede die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, einen besonderen Glanz verlieh, konnte das junge Paar endlich vor Herrn Béraud Du Châtel erscheinen. Renée weinte, als sie ihren Vater gealtert, ernster und düsterer denn je wiedersah. Saccard, den bisher nichts außer Fassung zu bringen vermocht, konnte sich eines leisen Schauers nicht erwehren, als er in dem kalten, halbdunkeln Gemach den traurig und streng blickenden großen Greis erblickte, dessen durchbohrendes Auge bis in die Tiefe seines Gewissens dringen zu wollen schien. Langsam küßte der alte Mann seine Tochter auf die Stirne, wie um ihr zu sagen, daß er ihr verzeihe und sich darauf zu seinem Schwiegersohne wendend, sprach er einfach:

»Wir haben viel gelitten, mein Herr, und ich rechne darauf, daß Sie sich bemühen werden, Ihr Unrecht wieder gut zu machen.«

Er reichte ihm die Hand; Saccard aber ward sein Unbehagen nicht los. Er sagte sich, daß wenn Herr Béraud du Châtel unter der tragischen Schmach seiner Tochter nicht zusammengebrochen wäre, er mit einem Blick, mit einer Anstrengung alle Machenschaften der Frau Sidonie vereitelt haben würde. Letztere war klüglich auf die Seite getreten, nachdem sie ihren Bruder mit Tante Elisabeth zusammengeführt, und nicht einmal bei der Vermählung zugegen gewesen. Aristide gab sich dem alten Manne gegenüber einfach und ungekünstelt, nachdem er in dem Auge desselben den Ausdruck des Staunens darüber wahrgenommen, daß er in dem Verführer seiner Tochter einen kleinen, häßlichen Mann von vierzig Jahren erblickte. Die Neuvermählten waren gezwungen, die ersten Nächte im Hôtel Béraud zu verbringen. Vor einem Monate etwa war Christine aus dem Hause entfernt worden, damit das vierzehnjährige Kind keine Kenntniß von dem Drama erhalte, dessen Schauplatz dieses Haus bildete, in welchem Ruhe und Stille herrschten wie in einem Kloster. Als sie zurückkehrte, war sie bestürzt bei dem Anblicke des Gatten ihrer Schwester, den auch sie alt und häßlich fand. Nur Renée schien das Alter und die nichtssagende Miene ihres Gatten nicht sonderlich wahrzunehmen. Sie bekundete ihm gegenüber weder Verachtung, noch Zärtlichkeit, behandelte ihn mit einer absoluten Ruhe, hinter welcher blos zuweilen ein Anflug ironischer Geringschätzung hervorlugte. Saccard benahm sich seinerseits mit Festigkeit und Selbstbewußtsein und dank seiner Schmiegsamkeit und Einfachheit gelang es ihm allmälig, Jedermanns Wohlwollen zu erringen. Als sie das Hôtel verließen, um in einem in der Rue Rivoli gelegenen neuen Hause eine prächtige Wohnung zu beziehen, drückte der Blick des Herrn Béraud du Châtel kein Erstaunen mehr aus und die kleine Christine spielte mit ihrem Schwager wie mit einem Kameraden. Renée war jetzt bereits seit vier Monaten schwanger und ihr Gatte gerade im Begriffe, sie auf's Land zu schicken, mit der Absicht, auf irgend eine Weise über das Alter des Kindes ein Märchen zu verbreiten, als sie, wie es Frau Sidonie vorausgesehen, vorzeitig niederkam. Sie hatte sich, um ihre Schwangerschaft zu verbergen, die unter ihren bauschigen Röcken übrigens ganz verschwand, derart geschnürt, daß sie einige Wochen das Bett hüten mußte. Er war ganz entzückt über das Geschehniß; endlich blieb das Glück ihm treu. Er hatte einen Goldhandel abgeschlossen, eine glänzende Mitgift und eine Frau erhalten, die so schön war, daß er binnen sechs Monaten eine Auszeichnung zu erhalten hoffte, und dafür keinerlei Lasten auf sich genommen. Man hatte ihm gegen eine Entschädigung von zweihunderttausend Francs seinen Namen für einen Fötus abgekauft, den die Mutter nicht einmal sehen wollte. Fortan dachte er voll Liebe an die in der Charonne gelegenen Besitzungen; vorläufig aber wendete er seine Aufmerksamkeit ausschließlich einer Spekulation zu, welche die Grundlage seines Reichthums bilden sollte.

Trotz der hohen und geachteten Stellung, welche die Familie seiner Frau inne hatte, nahm er nicht sofort seine Entlassung als Magistratsbeamter. Er sprach davon, daß er vorher gewisse Arbeiten zu beenden und anderweitige Beschäftigung zu suchen habe. In Wirklichkeit aber wollte er bis zu Ende auf dem Kriegsschauplatze bleiben, wo er seine ersten Trümpfe ausspielte. Er war dort zu Haufe und konnte die Karten nach Belieben mischen.

Der Operationsplan des Wegekommissärs war ebenso einfach als praktisch. Nun er mehr Geld in Händen hatte, als er jemals zu besitzen gehofft, um seine Operationen einzuleiten, konnte er seine Pläne im Großen in Scene setzen. Er kannte sein Paris auf's genaueste; er wußte, daß der goldene Regen, der daselbst zu fallen begann, mit jedem Tage dichter werden müsse. Intelligente Leute brauchten nur ihre Taschen zu öffnen. Zu diesen Intelligenten gehörte auch er, der in den Amtsbureaux des Stadthauses in die Zukunft blickte. Seine Thätigkeit hatte ihn gelehrt, was bei Käufen und Verkäufen von Häusern, Grundstücken und sonstigen Liegenschaften gestohlen werden könne. Alle klassischen Kunstgriffe des Betruges waren ihm geläufig; er wußte, wie man für eine Million verkaufe, was blos fünfhunderttausend Francs gekostet; auf welche Weise man das Recht bezahle, die Kassen des Staates zu plündern, der dabei lächelt und die Augen zudrückt; er wußte, wie man ein altes Stadtviertel mit einem Boulevard durchquerend, unter dem stürmischen Beifall der Betrogenen mit sechsstöckigen Häusern Fangball spielt. Und was ihn zu dieser Epoche, da sich der Krebsschaden der Spekulation erst im Anfangsstadium befand, zu einem furchtbaren Spieler machte, war der Umstand, daß er besser noch als seine Vorgesetzten die Zukunft von Gips und Sandstein erkannte, welcher Paris entgegensah. Er hatte so lange herumgestöbert, so viele Symptome beobachtet, daß er ohne Mühe das Bild zu schildern vermocht hätte, welches im Jahre 1870 die neuen Stadtviertel bieten würden. In den Straßen betrachtete er mitunter gewisse Häuser mit einer seltsamen Miene, wie wir Bekannte anschauen, deren uns allein bekanntes Schicksal uns tief rührt.

Zwei Monate vor dem Tode Angèlens hatte er diese an einem Sonntag nach dem Montmartre geführt. Die arme Frau schwärmte für ein Diner im Restaurant und fühlte sich überglücklich, wenn er sich nach einem langen Spaziergange mit ihr in irgend einem Gasthofe niederließ. An jenem Tage speisten sie in einem auf der Spitze des Hügels gelegenen Restaurant, aus dessen Fenstern man Paris sehen konnte, diesen Ozean von Häusern mit bläulichen Dächern, die einer gedrängten Fluth vergleichbar, den ungeheuren Horizont erfüllten. Ihr Tisch stand vor einem der Fenster. Dieser Anblick der Dächer von Paris stimmte Saccard heiter; zum Dessert ließ er eine Flasche Burgunder bringen. Er lächelte in den weiten Raum hinaus und war von einer ganz ungewohnten Liebenswürdigkeit. Immer wieder kehrten seine Blicke ordentlich verliebt zu diesem lebenden, wogenden Meere zurück, aus dessen Tiefe das dumpfe Gemurmel der Menschenmassen empordrang. Der Herbst war bereits gekommen und unter dem weiten bleichen Himmel erstreckte sich in zartem Grau die große Stadt, aus deren unbestimmtem Farbenspiel hier und dort dunkles Grün hervorragte, den breiten Blättern der Seerosen vergleichbar, die auf einer Wasserfläche schwimmen; von einem blutig rothen Dunstkreise umflossen, neigte sich die Sonne dem Untergange zu und während die Tiefe sich mit einem leichten Nebel füllte, senkte sich goldig schimmernder Thau, gleichsam ein goldener Regen auf die rechte Uferseite der Stadt hernieder, da wo die Madeleine-Kirche steht und die Tuilerien enden. Dieser Anblick erinnerte gleichsam an eine Zauberstadt aus Tausendundeiner Nacht, mit ihren Smaragd-Bäumen, Saphirdächern und Wetterfahnen aus Rubinen. Es kam ein Augenblick, da die durch zwei Wolken sich durchwindenden Strahlen so blendend wurden, daß die Häuser zu lodern und zu zerstießen schienen, wie ein Goldbarren in einem Schmelztiegel. »Ach, sieh doch:« sagte Saccard mit kindlichem Lachen; »in Paris regnet es Zwanzigfrancsstücke!«

Auch Angèle begann zu lachen und sagte dann, es dürfte nicht leicht werden, diese Goldstücke aufzulesen. Ihr Gatte aber hatte sich erhoben und sich zum Fenster hinauslehnend, fuhr er fort:

»Das ist die Vendôme-Säule, nicht wahr, die dort so leuchtet. Und da, mehr nach rechts, die Madeleine-Kirche. Ein schönes Viertel, wo es Vieles zu thun giebt. Oh! jetzt wird Alles in Flammen gehüllt sein! Siehst Du? Man sollte meinen, das ganze Viertel siede in der Retorte eines Alchimisten.«

Seine Stimme klang ernst und bewegt. Der Vergleich den er gefunden, schien ihn selbst zu überraschen. Er hatte Wein getrunken, seine gewöhnliche Schweigsamkeit war gewichen und den Arm ausstreckend, um seiner Frau, die neben ihm im Fenster lehnte, Paris zu zeigen, fuhr er zu sprechen fort:

»Ja, ja, ich sagte ganz richtig, mehr als ein Viertel wird zerfließen und Gold an den Fingern der Leute haften bleiben, die unter dem Kessel das Feuer nähren werden! Dieses große, einfältige Paris! sieh doch, wie riesengroß es ist, und wie sanft es einschlummert! Wie dumm sind doch diese großen Städte! Paris hat keine Ahnung von den zahllosen Spitzhauen, die es eines schönen Morgens angreifen werden und gar viele Hôtels der Rue d'Anjou würden bei den Strahlen der untergehenden Sonne nicht so prahlerisch leuchten und funkeln, wenn sie wüßten, daß sie blos drei oder vier Jahre noch zu leben haben!«

Angèle dachte, ihr Gatte scherze blos. Er hatte die Gewohnheit, mitunter auf solch übertriebene und beunruhigende Art zu scherzen. Sie lachte, doch ein wenig erschrocken, als sie sah, daß dieser kleine Mann sich oberhalb des zu seinen Füßen schlummernden Riesen emporreckte und die geballte Faust schüttelte, wobei er die Lippen ironisch zusammenkniff. »Der Anfang ist schon gemacht,« fuhr er fort. »Das ist aber noch nichts. Sieh, dort unten, wo sich die Hallen erheben, hat man Paris in vier Theile geschnitten ...«

Und mit der ausgestreckten geöffneten Hand, die fast einem großen Messer glich, machte er eine Bewegung, als trennte er die Stadt in vier Theile.

»Du meinst offenbar die Rue de Rivoli und den neu angelegten Boulevard?« fragte seine Frau.

»Ja, das große Fensterkreuz von Paris, wie sie es nennen. Der Louvre und das Stadthaus werden blosgelegt. Ein reines Kinderspiel das! Geeignet, um den Leuten Appetit zu machen. Sobald das erste Netz beendet worden, wird der große Tanz beginnen. Das zweite Netz wird die Stadt nach allen Richtungen durchbrechen, um die einzelnen Viertel mit dem ersten Netz zu verbinden. Die Trümmer werden in einem Meer von Kalk und Gips ersticken. Folge ein wenig den Bewegungen meiner Hand. Vom Boulevard du Temple bis Zur Barrière du Trône wird sich der erste Einschnitt hinziehen; nach dieser Seite hin, von der Madeleine bis zum Monceaux-Park ein zweiter; ein dritter nach dieser, ein vierter nach jener Richtung hin; ein Einschnitt hier, ein anderer dort, überall lauter Einschnitte, Paris förmlich von Schwerthieben zerhackt, mit offenen Pulsadern daliegend und hunderttausend Maurern und Erdarbeitern Brod und Arbeit gebend! Paris von herrlichen strategischen Wegen durchzogen, welche die Befestigungen gleichsam mitten in die alten Stadtviertel rücken.«

Die Nacht war gekommen; seine trockene, nervöse Hand aber durchschnitt noch immer die Leere. Angèlen erfaßte ein leichter Schauder angesichts dieses lebenden Messers, dieser eisernen Finger, die ohne Erbarmen die dunkeln Dächer zerstückten. Seit einigen Minuten begannen leise Nebel auch die erhöhten Punkte zu umkreisen und in den zunehmenden Schatten meinte sie entferntes Krachen zu vernehmen, als hätte die Hand ihres Gatten thatsächlich die Einschnitte gezogen, von welchen er sprach, und die Paris von einem Ende zum anderen aufrissen, die Mauern bersten machten, Häuser hinwegfegten und tiefe, offene Wunden und Breschen zurückließen. Diese kleine Hand, die sich einer riesenhaften Beute bemächtigen zu wollen schien, begann sie schließlich zu beunruhigen und während dieselbe ohne jede Anstrengung die ungeheure Stadt in Stücke zerlegte, nahm sie in dem bläulichen Dämmerlichte einen seltsamen Stahlschimmer an.

»Auch ein drittes Netz wird entstehen,« fuhr Saccard nach einer Weile gleichsam zu sich selbst sprechend fort; »doch ist dasselbe etwas entfernter, so daß ich es weniger deutlich sehe. Ich habe nur geringe Anzeichen gefunden – dies aber wird der helle Wahnsinn, ein infernalischer Galop der Millionen werden; Paris wird berauscht und zu Boden geschmettert daliegen.«

Abermals verstummte er, wobei er die Augen fest auf die Stadt gerichtet hielt, in welcher die Nebelmassen immer dichter rollten. Er mochte wohl diese ferne Zukunft zu erforschen suchen, die er noch nicht erfassen konnte. Dazwischen wurde es immer finsterer, die Stadt bot ein immer mehr verschwommenes Bild; man hörte, wie sie tief Athem holte, gleich einem Meere, von welchem nur mehr die blassen Schaumkämme zu sehen waren. Hier und dort konnte man noch eine weißlich schimmernde Mauer unterscheiden und allmälig begannen die gelben Gasflammen die Dunkelheit zu durchbrechen, Sternen vergleichbar, die an dem mit sturmschwangeren Wolken bedeckten Himmel zum Vorschein kommen.

Angèle schüttelte ihr Unbehagen gewaltsam ab und griff den Scherz auf, welchen ihr Gatte beim Dessert gemacht.

»Ja,« sagte sie lächelnd; »es hat Zwanzigfrancsstücke geregnet und nun zählen die Pariser dieselben. Sieh doch die schönen Stöße, die man zu unseren Füßen aufschichtet.« Dabei deutete sie auf die Straßen, die dem Montmartre gegenüber sich hinabsenken und deren Gasflammen ihre goldgelben Flammen gleich aufgeschichteten Metallbarren erscheinen ließen.

»Und dort unten,« rief sie aus, auf ein Geflimmer zahlloser Flammen deutend; »das ist sicherlich die Hauptkassa.«

Saccard lachte über diese Worte. Sie blieben noch eine Weile am Fenster, ganz entzückt über dieses Niederrieseln der »Zwanzigfrancsstücke«, welches ganz Paris in Feuer zu hüllen schien. Als man sich auf den Heimweg begab, bereute Aristide, daß er so viel gesprochen. Er schrieb die Schuld dem Weine zu und bat seine Frau, über die »Dummheiten«, die er gesprochen, Schweigen zu beobachten; er wolle, sagte er, für einen ernsten Mann gehalten werden.

Während sehr langer Zeit hatte Saccard diese drei Netze studiert, welche Straßen und Boulevards bilden sollten und deren Plan er Angèlen in einem Augenblick des Vergessens verrathen hatte. Als diese starb, war es ihm ganz recht, daß sie sein Geschwätz vom Montmartre mit ins Grab genommen. Da, in diesen famosen Furchen, die seine Hand durch den Mittelpunkt von Paris gezogen, ruhten seine Reichthümer und es lag ihm viel daran, seine Gedanken vor Niemandem zu enthüllen, da er sehr wohl wußte, daß es am Tage der Beutetheilung gar viele Raben geben werde, die über die wehrlos daliegende Stadt würden herfallen wollen. Sein erster Plan bestand darin, zu möglichst niedrigem Preise irgend eine Liegenschaft, ein Haus oder ein Grundstück anzukaufen, welches in nicht ferner Zeit der Expropriation anheimfallen würde und durch eine bedeutende Entschädigung einen beträchtlichen Nutzen zu erzielen. Er hätte vielleicht den Versuch gemacht, die Sache ohne Geld durchzuführen, das heißt die Liegenschaft auf Credit zu kaufen, um hernach blos die Differenz einzustreichen, wie man es an der Börse macht. als seine Wiedervermählung erfolgte, die ihm zweihunderttausend Francs eintrug und seine Pläne zur Reife brachte. Nun standen seine Berechnungen fest: ohne selbst zum Vorschein zu kommen, kaufte er unter dem Namen eines Vermittlers seiner Frau das Haus in der Rue de la Pepinière ab und verdreifachte seinen Einsatz dank seiner im Stadthause erworbenen Sachkenntniß und seinen guten Beziehungen zu gewissen einflußreichen Personen. Als ihm Tante Elisabeth die Straße genannt, in welcher sich das Haus befand, war er freudig erregt zusammengezuckt, weil dasselbe gerade inmitten des projektirten Straßenzuges lag, von welchem man einstweilen nur ganz insgeheim in dem Kabinet des Seinepräfekten sprach. Dieser Straßenzug, der Boulevard Malesherbes, nahm seinen Spekulationsgeist völlig gefangen. Man gedachte damit einen alten Plan Napoleons des Ersten zur Ausführung zu bringen, »um, wie die ernsten Leute sagten, den hinter einem Labyrinth enger Straßen, auf den steilen Abhängen der Paris umschließenden Hügel gelegenen und dadurch gänzlich lahmgelegten Vierteln einen natürlichen Ausweg zu bahnen.« Diese offizielle Phrase verrieth selbstverständlich nichts von dem Interesse, welches das Kaiserreich an dem Wirbeltanze der Goldstücke, an diesem Wegschaffen und Zuführen von Erde, Ziegeln und Mörtelwerk hatte, welche das Arbeitervolk unablässig beschäftigen sollten. Eines Tages hatte sich Saccard die Freiheit genommen, bei dem Präfekten jenen famosen Plan von Paris zu besichtigen, auf welchem »die Hand einer hochgestellten Persönlichkeit« mit rother Tinte die Hauptzüge des zweiten Netzes bezeichnet hatte. Diese blutigen Federstriche durchschnitten Paris noch tiefer, als die Hand des Wegekommissärs. Der Boulevard Malesherbes, der prächtige Hôtels in der Rue d'Anjou und Rue de la Ville-d'Évêque niederwerfen und bedeutende Erdarbeiten nöthig machen würde, sollte in erster Reihe in Angriff genommen werden. Als Saccard das Haus in der Rue de la Pepinière besichtigte, gedachte er jenes Herbstabends, jenes Diners, welches er mit Angèle am Montmartre eingenommen und während dessen Dauer bei den Strahlen der untergehenden Sonne ein so dichter Goldregen auf das Madeleine-Viertel niedergegangen. Er lächelte und sagte sich, die goldhaltige Wolke hätte sich über seinem Hofe entladen und nun werde er die vielen Zwanzigfrancsstücke auflesen.

Während Renée in ihrem verschwenderisch eingerichteten Heim der Rue de Rivoli, inmitten dieses neuen Paris, welches sie als Königin kennen lernen sollte, über ihre künftigen Toiletten nachdachte und ihre Rolle als zukünftige große Weltdame studierte, widmete sich ihr Gatte voll andächtigen Eifers seinem ersten großen Geschäfte. Vor Allem kaufte er ihr das Haus in der Rue de la Pepinière ab und zwar durch Vermittelung eines sicheren Larsonneau, den er dabei betreten hatte, wie er gleich ihm in den Bureaux des Stadthauses herumschnüffelte, aber die Dummheit beging, sich dabei überraschen zu lassen, wie er eines Tages auf dem Schreibtische des Präfekten herumkramte. Larsonneau hatte sich seither in einem finsteren, feuchten Hofe der Rue Saint-Jacques als Agent und Vermittler niedergelassen; doch sein Stolz, seine Habgier litten da ganz ungemein. Er befand sich auf demselben Punkte, wie Saccard vor seiner Verheirathung; auch er hatte, wie er sich ausdrückte, »eine Maschine zur Anfertigung von Hundertsousstücken« erfunden, nur mangelte es ihm an den ersten Geldmitteln, um aus seiner Erfindung Nutzen zu ziehen. Er verständigte sich rasch mit seinem ehemaligen Kollegen und machte seine Sache so gut, daß er das Haus für Hundertfünfzigtausend Francs erstand. Renée benöthigte schon nach wenigen Monaten bedeutende Geldsummen und ihr Gatte kümmerte sich nur insoferne um das Geschäft, als er ihr gestattete, das Haus zu verkaufen. Als der Handel abgeschlossen war, ersuchte sie ihn, für sie Hunderttausend Francs anzulegen, welche sie ihm in vollstem Vertrauen übergab, offenbar, um ihn zu rühren und damit er die Augen zudrücke in Bezug auf die fünfzigtausend Francs, die sie für sich behielt. Er lächelte schlau. Es paßte ihm ganz in den Kram, daß sie das Geld zum Fenster hinauswarf; diese fünfzigtausend Francs, die in Spitzen und Schmucksachen verschwendet werden sollten, mußten ihm hundert Perzent einbringen. Er trieb in seinem Entzücken über dieses erste Geschäft die Rechtlichkeit so weit, daß er die hunderttausend Francs seiner Gattin thatsächlich in Papieren anlegte und ihr die Rententitel übergab. Seine Frau konnte dieselben nicht veräußern und er war sicher, die Papiere im Neste zu finden, wenn er sie jemals benöthigen sollte.

»Dies soll für Ihre kleinen Bedürfnisse sein, meine Liebe,« sagte er galant.

Als er das Haus besaß, war er schlau genug, dasselbe innerhalb eines Monats zweimal und zwar stets unter fremden Namen wiederzuverkaufen, wobei der Verkaufspreis natürlich jedesmal immer mehr in die Höhe geschraubt wurde. Der letzte Käufer bezahlte nicht weniger als dreihunderttausend Francs. Während dieser Zeit bearbeitete Larsonneau, der als Vertreter der jeweiligen Eigenthümer fungirte, die Hausbewohner. Er weigerte sich auf's Entschiedenste, den Mietvertrag, zu erneuern, wenn sich dieselben nicht eine bedeutende Erhöhung des Miethzinses gefallen ließen. Die Miether, die von der bevorstehenden Expropriation Kenntniß hatten, waren verzweifelt und nahmen schließlich die Steigerung an, zumal nachdem ihnen Larsonneau mit verständnißinnigem Lächeln mittheilte, daß diese Erhöhung während der nächsten fünf Jahre eine blos scheinbare sein würde. Die Miether, welche Widerstand leisteten, wurden durch Creaturen ersetzt, denen man die Wohnung umsonst gab und die dafür bezeugten und unterschrieben, was man wollte. Auf diese Weise erzielte man einen doppelten Vortheil: die Miethe wurde erhöht und die dem Miether für seinen Kontrakt zufallende Entschädigung kam Saccard zu. Frau Sicardot wollte ihrem Bruder in dem schönen Werke behilflich sein und errichtete in einem Laden des Erdgeschosses eine Klavierniederlage. Bei dieser Gelegenheit gingen Saccard und Larsonneau, von einem wahren Fieber erfaßt, ein wenig zu weit: sie legten Geschäftsbücher an und fälschten die Eintragungen, um den Verkauf der Klaviere auf eine riesige Ziffer hinaufzuschrauben. Mehrere Nächte hinter einander waren sie in dieser Weise beschäftigt und thatsächlich gelang es ihnen, den Werth des Hauses zu verdreifachen. Dank der letzten Verkaufskomödie, dank der Erhöhung der Miethpreise, der falschen Bewohner und des von Frau Sidonie betriebenen Handels, konnte das Haus vor der zur Bemessung der Entschädigungssummen berufenen Kommission auf fünfhunderttausend Francs bewerthet werden.

Das Räderwerk der Expropriation, dieser mächtigen Maschine, die während fünfzehn Jahre in Paris das Unterste zu oberst kehrte, einzelne Menschen ungeheuer reich machte, andere wieder zu Grunde richtete, ist ein überaus einfaches. Sobald die Anlage eines neuen Straßenzuges beschlossen worden, entwirft der Wegekommissär die Eintheilung der Baustellen und schätzt die einzelnen Parzellen ab. Bei Häusern wird nach erfolgten Erkundigungen gewöhnlich die Totalsumme der Miethbeträge kapitalisirt und derart eine annähernde Werthziffer gewonnen. Die aus Mitgliedern des Gemeinderathes bestehende Kommission bietet nun stets einen Betrag, der niedriger ist als diese Ziffer, da sie wohl weiß, daß die Betheiligten mehr verlangen werden und daß man sich bei gegenseitig gemachten Zugeständnissen schließlich einigen werde. Vermag man sich nicht zu verständigen, so wird die Angelegenheit vor ein Schiedsgericht gebracht, das endgiltig über das Angebot der Stadt und die Ansprüche des Eigenthümers oder Miethers des betreffenden Hauses entscheidet.

Saccard, der des entscheidenden Augenblicks halber noch im Dienste der Stadt geblieben, hatte für einen Moment die Frechheit, sich selbst als Mitglied der Kommission anzubieten, als die Arbeiten am Boulevard Malesherbes begannen, damit er sein Haus selbst abschätzen könne. Doch fürchtete er dadurch seinen Einfluß auf die Mitglieder der Entschädigungskommission zu verlieren und darum setzte er es durch, daß einer seiner Kollegen, ein junger Mann mit sanftem, einschmeichelndem Betragen, Namens Michelin, in die Kommission gewählt wurde. Die Gattin dieses Michelin, die von einer entzückenden Schönheit war, sprach zuweilen bei den Vorgesetzten ihres Gatten vor, um diesen zu entschuldigen, wenn er wegen Unpäßlichkeit nicht im Bureau erscheinen konnte. Er war sogar sehr häufig unpäßlich. Saccard hatte die Wahrnehmung gemacht, daß die schöne Frau Michelin, die so geräuschlos durch die halb geöffneten Thüren schlüpfte, eine wahre Großmacht sei; so oft Michelin krank war, erhielt er eine Beförderung, – er machte Karriere, indem er sich zu Bett legte. Als er wieder einmal nicht erschien und seine Frau auf das Bureau schickte, um über sein Unwohlsein zu berichten, begegnete ihm Saccard auf einem der äußeren Boulevards, wo er mit der lieblichen, zufriedenen Miene, die ihn niemals verließ, seine Zigarre rauchte. Dies flößte ihm Sympathie für diesen wackeren jungen Mann, für dieses glückliche Ehepaar ein, welches so verständig und praktisch war. Er bewunderte rückhaltslos jede »Maschine zur Herstellung von Hundertsousstücken«, sobald sie verständig gehandhabt wurde. Als er Michelin's Wahl bewerkstelligt, suchte er dessen reizende Frau auf, wollte sie Renée vorstellen und sprach zu gleicher Zeit über seinen Bruder, den Abgeordneten und berühmten Redner. Frau Michelin verstand und von diesem Tage an hatte ihr Gatte für seinen Kollegen stets ein freundliches, zuvorkommendes Lächeln. Aristide, der den würdigen jungen Mann nicht in seine Pläne einweihen wollte, begnügte sich damit, zufällig an dem Tage anwesend zu sein, da er an der Abschätzung des Hauses in der Rue de la Pepiniere theilnehmen sollte. Er kam ihm dabei zu Hilfe. Michelin, dessen Schädel hohler war, als man denken sollte, hielt sich streng an die Weisung seiner Gattin, die ihm empfohlen hatte, Herrn Saccard in allen Stücken gefällig zu sein. Im Uebrigen argwöhnte er gar nichts und war der Meinung, der Wegekommissär dränge ihn nur, die Sache raschestens abzumachen, um ihn hernach mit sich ins Kaffeehaus zu nehmen. Die Miethskontrakte, die Bestätigungen der Miether, die famosen Bücher der Frau Sidonie wurden ihm von seinem Kollegen vorgelegt und wieder abgenommen, ohne daß er gar die Richtigkeit der Zahlen prüfen konnte, welche jener mit lauter Stimme verlas, Larsonneau war auch zugegen; er behandelte seinen Komplizen natürlich, als würde er ihn gar nicht kennen.

»Sagen Sie fünfhunderttausend Francs,« schloß Saccard seinen Vortrag. »Das Haus ist bedeutend mehr werth ... Und beeilen Sie sich; ich glaube, unter dem Personal des Stadthauses bereitet sich eine große Verschiebung vor und ich möchte mit Ihnen über dieselbe sprechen, damit Sie Ihre Frau unterrichten können.«

So wurde die Angelegenheit erledigt; noch gab es aber einige Befürchtungen. Er besorgte, der Betrag von 500 000 Francs werde der Entschädigungskommission für ein Haus, welches offenkundig einen Werth von nur 200 000 Francs hatte, ein wenig übertrieben dünken. Noch waren Häuser und Grundstücke im Preise nicht so übermäßig in die Höhe getrieben worden und eine Untersuchung hätte ihn in ernstliche Unannehmlichkeiten stürzen können. Er erinnerte sich der Worte seines Bruders: »Nur keinen aufsehenerregenden Skandal, oder ich lasse Dich verschwinden«, und er wußte, daß Eugen der Mann dazu sei, um seine Drohung zu bewahrheiten. Es handelte sich also darum, den Herren von der Kommission Sand in die Augen zu streuen und sie nachsichtig und wohlwollend zu stimmen. Er richtete sein Augenmerk auf zwei einflußreiche Männer, die er sich durch die Art und Weise, wie er sie in den Korridoren grüßte, zu Freunden gemacht hatte. Die sechsunddreißig Mitglieder des Munizipalrathes wurden über Antrag des Präfekten vom Kaiser selbst sorgfältig unter jenen Senatoren, Abgeordneten, Advokaten, Aerzten und Großindustriellen ausgewählt, die sich am tiefsten vor der Macht beugten; vor Allen aber waren der Baron Gouraud und Herr Toutin-Laroche dank ihrem glühenden Eifer der Gunst der Tuilerien würdig.

Den Baron Gouraud können wir mit wenigen Strichen kennzeichnen: als Belohnung für die Lieferung verdorbenen Zwiebacks für die große Armee von Napoleon dem Ersten zum Baron ernannt, war er der Reihenfolge nach unter Ludwig XVIII., unter Karl X., unter Louis-Philippe Pair und unter Napoleon III. Senator gewesen. Er war ein bedingungsloser Verehrer des Throns, dieser mit Sammt überzogenen vergoldeten vier Bretter, unbekümmert darum, wer sich auf demselben befand. Bei seinem ungeheuren Bauch, seiner Ochsenphysiognomie und seinem ganzen elephantenartigen Auftreten war er ein bezaubernder Schuft, der sich voll Würde an den Meistbietenden verkaufte und die ärgsten Prellereien im Namen von Pflicht und Gewissen verübte. Noch größere Bewunderung erregte der Mann aber durch seine Laster. Es waren Geschichten über ihn im Umlauf, die man nur flüsternd wiedergeben konnte. Seine Ausschweifungen waren geradezu unglaublich und dabei war er trotz seiner achtundsiebenzig Jahre von erstaunlicher Rüstigkeit. Zweimal schon hatte man die schändlichsten Vorkommnisse unterdrücken müssen, bevor sie zu allgemeiner Kenntniß gelangten, damit er seinen gestickten Senatorfrack nicht vor den Geschworenen zu vertheidigen habe. Herr Toutin-Laroche war groß und mager, ehemaliger Erfinder einer zur Kerzenfabrikation sehr geeigneten Mischung aus Talg und Stearin und wünschte nichts sehnlicher, als in den Senat gewählt zu werden. Er folgte dem Baron Gouraud wie dessen Schatten und rieb sich an ihm in der unbestimmten Vorstellung, daß ihm dies Glück bringen werde. Im Uebrigen war er sehr praktisch und hätte sich ein verkäuflicher Senatorsitz gefunden, so wäre ihm kein Preis zu hoch gewesen. Das Kaiserthum sollte diese habgierige Null, dieses schwache Gehirn, welches sich nur auf industrielle Betrügereien trefflich verstand, zur Geltung bringen. Er verkaufte als Erster seinen Namen an eine verdächtige Kompagnie, an eine jener Gesellschaften, die wie Giftpilze auf dem Düngerhaufen der kaiserlichen Spekulationen gediehen. Man konnte zu jener Zeit mächtige Maueranschläge sehen, die in großen schwarzen Buchstaben die Überschrift trugen: »Allgemeine marokkanische Hafengesellschaft« und auf welchen der Name Toutin-Laroche unter Hinzufügung seines Titels als Munizipalrath an der Spitze des Verzeichnisses der Mitglieder des Verwaltungsrathes prangte, unter denen sich weiter aber auch kein bekannter Name mehr vorfand. Dieser Kniff, der seither arg mißbraucht worden, trug treffliche Früchte. Die Aktienkäufer strömten herbei, trotzdem die Frage der marokkanischen Hafenplätze eine sehr wenig geklärte war und die wackeren Leute, die ihr Geld herbeischleppten, hätten selbst nicht zu sagen vermocht, zu welchen Zwecken dasselbe verwendet werden sollte. In hochtrabenden Phrasen sprachen die Plakate von der Errichtung von Handelsstationen längs des Mittelländischen Meeres. Seit zwei Jahren vermochten gewisse Zeitungen diese großartige Operation nicht genügend zu rühmen und zu preisen. die sie jedes Quartal für blühender und erfolgverheißender denn je erklärten. Im Munizipalrathe galt Herr Toutin-Laroche für ein Verwaltungsgenie ersten Ranges; er war einer der starken Geister dieser Körperschaft, und der rücksichtslosen Tyrannei, welche er über seine Kollegen ausübte, kam nur seine hündische Ergebenheit vor dem Präfekten gleich. Schon arbeitete er an der Bildung einer großen Finanzgesellschaft, des Crédit Viticole, die den Besitzern von Weinbergen mit Darlehen unter die Arme greifen sollte, und sprach er über diesen Gegenstand mit einer gewissen Zurückhaltung und wichtigen Miene, die den Neid und die Eifersucht aller Einfaltspinsel erregten.

Saccard gewann die Gunst dieser zwei Persönlichkeiten, indem er ihnen Dienste erwies, bei welchen er sich sehr gewandt den Anschein gab, als wäre ihm die Bedeutung derselben unbekannt. Er führte seine Schwester mit dem Baron zusammen, der damals gerade in eine seiner schmutzigsten Geschichten verwickelt war. Er führte sie zu ihm unter dem Vorwande, seinen Beistand zu Gunsten der geliebten Schwester zu erbitten, die sich schon seit langer Zeit darum bewarb, mit einer Lieferung von Fenster-Vorhängen für die Tuilerien betraut zu werden. Es fügte sich aber, daß sich der Wegekommissär zurückzog und sie mit einander allein ließ, worauf Frau Sidonie dem Baron ihre Bereitwilligkeit kundgab, mit gewissen Leuten zu unterhandeln, die so wenig auf den eigenen Vortheil bedacht waren, daß sie sich nicht geschmeichelt fühlten durch die Freundschaft, deren ein Senator ihre Tochter, ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren, gewürdigt hatte. Bei Herrn Toutin-Laroche operirte Saccard persönlich, indem er in einem Korridor eine Unterredung über den Crédit Viticole mit ihm anknüpfte. Fünf Minuten später nahm ihn das große Verwaltungsgenie, ganz erschrocken und bestürzt über die erstaunlichen Dinge, die er da vernahm, ohne Weiteres unter den Arm und unterhielt sich länger als eine Stunde mit ihm. Saccard gab ihm geradezu bewunderungswürdige Verhaltungsmaßregeln in Bezug auf zukünftige finanzielle Operationen und als Herr Toutin-Laroche von ihm ging, drückte er ihm mit sehr bezeichnender Miene die Hand, wozu er noch verständnißinnig mit den Augen zwinkerte.

»Sie sollen mit dabei sein, murmelte er; Sie müssen mit dabei sein.«

Aristide übertraf sich selbst in dieser Angelegenheit. Er trieb die Vorsicht so weit, daß er den Baron Gouraud und Herrn Toutin-Laroche in Unkenntniß darüber ließ, daß Beide in die Sache eingeweiht seien. Er besuchte Jeden besonders und legte bei ihnen ein Wort zu Gunsten eines seiner Freunde ein, dessen Haus in der Rue de la Pepinière expropriirt werden sollte; er sagte jedem der beiden Biedermänner, daß er über diese Angelegenheit mit keinem anderen Mitgliede der Kommission sprechen werde, daß die Sache unanfechtbar sei, daß er aber bei derselben auf sein ganzes Wohlwollen rechne.

Die Befürchtungen des Wegekommissärs waren gerechtfertigte gewesen und er hatte wohl gethan, seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Als die auf sein Haus bezüglichen Schriftstücke vor die Kommission gelangten, traf es sich, daß ein Mitglied derselben in der Rue d'Astorg wohnte und das betreffende Haus kannte. Dieses Mitglied war entsetzt über den Betrag von 500 000 Francs, welcher seiner Ansicht nach auf weniger als die Hälfte herabgesetzt werden müßte. Aristide selbst hatte die Schamlosigkeit gehabt, 700 000 Francs verlangen zu lassen. Herr Toutin-Laroche, der sich seinen Kollegen auch sonst sehr unangenehm zu machen wußte, war heute von einer geradezu unerträglichen Bosheit. Er gerieth in Zorn und begann die Hauseigenthümer zu vertheidigen.

»Wir Alle sind Hauseigenthümer, meine Herren,« schrie er. »Der Kaiser will ein großes Werk schaffen, knickern wir doch nicht bei solchen Kleinigkeiten. Dieses Haus muß wohl seine 500 000 Francs werth sein, denn einer der unserigen, ein Beamter der Stadt hat diese Ziffer ausgesprochen... Wahrlich, man sollte meinen, wir lebten in den Abruzzen; schließlich werden wir uns noch gegenseitig verdächtigen!«

In seinem Fauteuil liegend blickte der Baron Gouraud mit überraschter Miene verstohlen zu Herrn Toutin-Laroche hinüber, der zu Gunsten der Hauseigenthümer in der Rue de la Pepinière ganz Feuer und Flamme war. Ein Verdacht erwachte in ihm. Da ihn aber dieser heftige Ausfall der Nothwendigkeit enthob, selbst das Wort zu ergreifen, so begnügte er sich zum Zeichen seiner bedingungslosen Zustimmung bei jedem Worte mit dem Kopf zu nicken. Das Mitglied aus der Rue d'Astorg aber leistete entrüstet Widerstand und wollte sich in einer Frage, von welcher es besser unterrichtet war als die anderen Herren, nicht den beiden Tyrannen der Kommission beugen. Herr Toutin-Laroche, der das zustimmende Kopfnicken des Barons wohl wahrgenommen, raffte nun zornig die Papiere zusammen und warf trocken hin:

»Nun gut, wir werden Ihren Zweifeln eine Ende bereiten... Wenn Sie erlauben, nehme ich die Sache auf mich und Baron Gouraud wird mir bei der Untersuchung beistehen.«

»Gewiß,« stimmte der Baron ernst bei; »nichts Verdächtiges darf unseren Beschlüssen anhaften.«

Schon waren die Papiere in den geräumigen Taschen des Herrn Toutin-Laroche verschwunden und der Kommission blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Auf der Straße angelangt, blickten die beiden Biedermänner einander an, ohne zu lachen. Sie waren sich bewußt, Komplizen zu sein und traten nur umso würdevoller auf. Zwei gewöhnliche Geister hätten eine Erklärung mit einander gehabt. Sie aber fuhren fort, die Hauseigenthümer in Schutz zu nehmen und den Geist des Mißtrauens zu beklagen, der sich überall einzunisten begann, als hätte man sie noch hören können. In dem Augenblicke, da sie von einander Abschied nehmen wollten, sagte der Baron lächelnd:

»Ach, lieber Kollege, da habe ich ganz vergessen, daß ich sofort auf's Land abreisen muß. Sie werden wohl die Güte haben, diese kleine Untersuchung ohne mich vorzunehmen... Und vor Allem: verrathen Sie mich nicht; die Herren beklagen sich ohnehin, daß ich mir zu oft Urlaub nehme.«

»Seien Sie ganz unbesorgt,« erwiderte Toutin-Laroche; »ich begebe mich unverzüglich in die Rue de la Pepinière.«

Damit begab er sich ruhig nach Hause, von einer gewissen Bewunderung für den Baron erfaßt, der die schwierigen Situationen so gewandt zu lösen verstand. Er behielt die Papiere bei sich und erklärte in der nächsten Sitzung gebieterischen Tones in seinem, so wie im Namen des Barons, daß man zwischen dem Gebot von 500 000 Francs und der Forderung von 700 000 Francs den Mittelweg einschlagen und 600 000 Francs bewilligen müsse. Keine Stimme des Widerspruches wurde laut. Das Kommissionsmitglied aus der Rue d'Astorg, das offenbar über die Sache nachgedacht hatte, erklärte mit liebenswürdiger Miene, daß es sich getäuscht und geglaubt habe, es handle sich um das angrenzende Haus.

So errang Aristide seinen ersten Sieg. Er vervierfachte sein Betriebskapital und sicherte sich zwei Helfershelfer. Eine Sache blos beunruhigte ihn: als er die famosen Bücher der Frau Sidonie vernichten wollte, fand er sie nicht mehr. Er eilte zu Larsonneau, der ihm rundheraus erklärte, daß er dieselben bei sich habe und auch zu behalten gedenke. Der Andere schien darob gar nicht aufgebracht, sondern sagte blos, er habe sich nur um seines theuren Freundes willen beunruhigt, der viel mehr gefährdet sei als er, da jene Skripturen fast ganz von seiner Hand herrührten; doch sei er vollkommen beruhigt, sobald er dieselben in seinem Besitze wisse. In Wahrheit aber hätte er den »theuren Freund« gerne erdrosselt; er erinnerte sich, daß ein sehr kompromittirendes Schriftstück, ein falsches Inventar vorhanden sei, welches er verfaßt und unbedachterweise in einem der Bücher vergessen hatte. Larsoneau errichtete, nachdem er reich belohnt worden, in der Rue de Rivoli eine Agentur, deren Räumlichkeiten mit dem größten Luxus eingerichtet waren. Saccard gab sein Amt im Stadthause auf und da ihm nunmehr bedeutende Mittel zu Gebote standen, so stürzte er sich kopfüber in die hohe Spekulation, während Renée, von einem Vergnügungstaumel erfaßt, mit ihren Equipagen, Diamanten und Toiletten Paris blendete.

Zuweilen begaben sich Mann und Frau, diese zwei von der brennenden Sucht nach Geld und Zerstreuungen erfüllten Naturen, nach der in eisige Nebel getauchten Insel Saint-Louis und da schien es ihnen immer, als beträten sie eine todte Stadt.

Das zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts erbaute Hôtel Béraud war ein massives, düsteres Gebäude mit schmalen hohen Fenstern, wie sie im Marais-Stadtviertel sehr zahlreich sind und wie man solche an Pensionate, Selterwasser-Fabrikanten und Wein- und Alkoholhändler vermiethet. Es war aber ausgezeichnet erhalten. Auf der an der Rue Saint-Louis-en-l'Ile gelegenen Seite hatte es blos drei Stockwerke, deren jedes fünfzehn bis zwanzig Fuß hoch war. Das etwas niedrigere Erdgeschoß hatte mit mächtigen Eisengittern versehene Fenster, die traurig in die dicken Mauern versenkt waren, und ein abgerundetes Thor, welches fast ebenso breit als hoch, mit einem gußeisernen Hammer versehen, dunkelgrün gestrichen und mit mächtigen Nägeln beschlagen war, die auf den beiden Flügeln Sterne und Rauten bildeten. Dieses Thor war typisch mit seinen Prellsteinen auf beiden Seiten, die halb zurückgelehnt reichlich mit eisernen Schutzreifen versehen waren. Deutlich war zu sehen, daß man ehemals in der Mitte des leicht abschüssigen, mit Kies bestreuten Torweges eine Rinne zur Ableitung des Schmutzwassers angelegt hatte. Doch hatte sich Herr Béraud entschlossen, diese Rinne zuschütten zu lassen, was übrigens das einzige Opfer war, welches er der modernen Architektur brachte. Die Fenster der Stockwerke waren mit kleinen eisernen Ausladungen versehen, die die aus starkem braungebeiztem Holz gearbeiteten Fensterkreuze mit den kleinen grünlichen Scheiben sehen ließen. Bei den Mansarden oben brach das Dach mit einem Male ab und die Dachtraufe setzte ihren Weg allein fort, um das Regenwasser zu den Abflußröhren zu leiten. Und was die strenge Kahlheit der Fassade noch vermehrte, war der gänzliche Mangel an Vorhängen und Fensterläden, den der Umstand, daß die Sonne dieses farblose, melancholische Mauerwerk niemals, zu gar keiner Jahreszeit beschien, erklärlich machte. Diese Fassade lag mit ihrem ehrwürdigen Anstrich, ihrer bürgerlichen Strenge in ewigem Schlummer da, welchen kein Wagengerassel, keinerlei Unruhe des Viertels störte.

Im Innern des Hotels lag ein von Arkaden umgebener viereckiger Hof, der die Place Royale in verkleinertem Maßstäbe darstellend, mit mächtigen Quadern gepflastert war, was die Ähnlichkeit dieses toten Hauses mit einem Kloster noch erhöhte. Dem Vorhofe gegenüber sandte ein Brunnen, ein halb zerstörter Löwenkopf, von dem man nur mehr den halb offen stehenden Rachen sah, durch eine eiserne Röhre einen monotonen, schwerfälligen Wasserstrahl in ein moosüberwuchertes und an den Rändern durch den Gebrauch abgenütztes Becken. Dieses Wasser war kalt wie Eis. Zwischen den Quadern sprießte das Gras. Im Sommer vermochte ein dünner Sonnenstrahl in den Hof zu dringen und dieser seltene Besuch hatte eine Ecke der Fassade gebleicht, während die drei anderen Seiten düster und schwärzlich, von feuchten Flecken überzogen herniederblickten. In diesem Hofe, wo es kühl und still war, wie in einem Brunnenschachte und den nur ein blasses, winterliches Licht erhellte, hätte man sich tausend Meilen von diesem neuen Paris entfernt geglaubt, wo in dem Getümmel der Millionen alle Genüsse winkten.

Ruhig und traurig, kalt und feierlich wie der Hof, waren auch die inneren Räumlichkeiten. Von einer breiten, mit einem eisernen Geländer versehenen Treppe durchschnitten, auf welcher die Schritte und das Räuspern der Besucher wie in einem Kirchenschiffe widerhallten, zogen sich in langen Reihen weite und hohe Räume hin, in welchen die alten Möbel aus dunklem, starkem Holz ganz verloren gingen; das in denselben herrschende Halbdunkel belebten bloß die Tapetenfiguren, deren Umrisse undeutlich wahrzunehmen waren. Hier war der ganze Luxus der alten Pariser Bourgeoisie anzutreffen, ein unbequemer und unverwüstlicher Luxus; Sitze, deren Holz kaum mit etwas Stoff überzogen waren, Betten mit starren, steifen Falten, Kleidertruhen, deren schwerfällige, rauhe Bauart bewies, daß sie nicht zur Aufnahme der zarten, modernen Gewänder bestimmt seien. Für seinen eigenen Gebrauch hatte Herr Béraud Du Châtel einige Räume gewählt, die im düstersten Teile des Hôtels, zwischen dem Hofe und der Straße im ersten Stock lagen. Hier befand er sich in einer Umgebung, deren Ruhe und Halbdunkel trefflich geeignet waren, das Sinnen und Nachdenken zu fördern. Wenn er die Türen öffnete und langsam und ernst durch die feierlichen Räume schritt, so hätte man ihn für eines jener alten Parlamentsmitglieder ansehen können, deren Bildnisse man an den Wänden hängen sah und das gedankenvoll nach Hause kam, nachdem es ein königliches Edikt verhandelt und abgelehnt hatte.

In diesem toten Hause, in diesem Kloster gab es aber ein warmes, lebendurchfluthetes Nest, ein Plätzchen, wohin Sonne und Frohsinn Zutritt hatten, einen Winkel, wo helle Kinderstimmen, Licht und Luft ungehindert anzutreffen waren. Nachdem man eine Menge kleiner Treppen emporgestiegen, zehn oder zwölf Korridore entlang geschritten, hinabgestiegen und wieder hinaufgeklettert war, eine förmliche Reise gemacht hatte, langte man endlich in einem geräumigen Zimmer, in einer Art Belvedere an, welches auf dem Dache, hinter dem Hotel, oberhalb des Quai de Bethune erbaut war. Dasselbe hatte eine vollkommen südliche Lage. Das Fenster war so groß, daß der Himmel mit all' seinen Strahlen, seiner ganzen Luft, seinem gesammten Blau durch dasselbe einzudringen schien. Gleich einem Taubenschlag in die Luft hinausragend, war dieser Raum verschwenderisch mit Blumen ausgestattet; auch enthielt derselbe zahllose Vogelkäfige, aber keinerlei Möbelstück. Bloß auf dem Boden war eine Matte ausgebreitet. Dies war das »Kinderzimmer« und unter dieser Bezeichnung war es im ganzen Hotel bekannt. Das Haus war so kalt, der Hof so feucht, daß Tante Elisabeth befürchtet hatte, der von den düsteren Mauern ausgehende kühle Hauch könnte Christinen und Renée schädlich werden. Gar oft hatte sie die übermütigen Kinder ausgescholten, die unter den Arkaden herumtollten und ein besonderes Vergnügen daran fanden, ihre kleinen Arme in das eisige Wasser der Fontäne zu tauchen. Da war ihr nun der Gedanke gekommen, für die beiden Mädchen diesen speicherartigen Raum einrichten zu lassen, den einzigen Ort, wo die Sonne Zutritt hatte und wo ihre Strahlen seit zwei Jahrhunderten fruchtlos die massenhaften Spinnengewebe erwärmten. Dort brachte sie nun die Kinder unter, gab ihnen eine Matte, Blumen und Vögel. Die Schwestern waren entzückt. Während der Ferien lebte Renée hier, in dem hellen Bade dieser wohltuenden Sonne, die ganz erfreut über die ihr gebotene Zufluchtstätte und über die beiden Blondköpfe zu sein schien, die man ihr geschickt. Das Zimmer wurde ein Paradies, in welchem man blos Vogelgezwitscher und das Plaudern heller fröhlicher Kinderstimmen vernahm. Man hatte ihnen dasselbe als ausschließlichen Besitz überlassen. Sie sagten »unser Zimmer«; dort waren sie ganz daheim und sie gingen so weit, daß sie mit dem Schlüssel hinter sich zusperrten, um sich zu überzeugen, daß sie die alleinigen Herrinen daselbst seien. Wie viel Glück bargen diese vier Wände! Und wie viel zerbrochenes Spielzeug beleuchteten die hellen Sonnenstrahlen auf der Matte!

Die höchste Wonne des Kinderzimmers war aber der weite, unbegrenzte Horizont, Wenn man zu den übrigen Fenstern des Hotels hinausblickte, sah man nichts weiter, als schwarze Mauern, die einige Fuß weit entfernt waren. Von hier aus aber sah man die ganze Seine, ganz Paris von der Cité bis zur Bercy-Brücke, platt und endlos, an eine holländische Stadt gemahnend. Auf dem Quai de Bethune gab es halb versunkene Holzbaracken, Massen geborstener Bretter und Balken, zwischen welchen riesige Ratten ihr Spiel trieben, was die Kinder gerne mitansahen, allerdings von der leisen Furcht beherrscht, die schwarzen Tiere könnten an den Mauern auch zu ihnen emporklettern. Darüber hinaus aber begann das reine Zauberland. Der Kohlenabladeplatz mit seinen Eichenbohlen und Strebemauern und die Constantine-Brücke, die leicht und luftig wie eine Spitze unter den Füßen der Passanten sich wiegte, kreuzten sich in einem rechten Winkel und schienen die ungeheure Masse des Flusses zu bannen und zu beherrschen. Gegenüber grünten die Bäume des Weinmarktes und etwas entfernter die des Jardin des Plantes, die sich bis zum äußersten Horizont erstreckten, während auf dem jenseitigen Ufer der Quai Heinrich IV. und der Quai de la Râpée ihre niedrigen, ungleichen Bauten, ihre Häuserreihen entfalteten, die von oben gesehen, den kleinen Häuschen aus Holz und Pappe glichen, die man den beiden Schwestern zum Spielen gegeben. Im Hintergrunde ragte rechter Hand das bläulich schimmernde Schieferdach der Salpêtrière über die Bäume empor. Mehr in der Mitte bildeten die bis zur Seine hinabreichenden gepflasterten breiten Böschungen zwei lange graue Straßen, auf welchen stellenweise eine Reihe mächtiger Tonnen, ein bespannter Karren, ein mit Holz oder Kohle beladener Wagen zu sehen war. Doch der Hauptreiz, die Seele, welche das ganze Bild belebte, das war die Seine, der lebende Fluß, der von Weitem, unter dem unbestimmten, zitternden Rande des Horizontes wie aus einem Traumlande hervorkommend, geradewegs auf die beiden Kinder zuströmte, majestätisch ruhig, kaum seine mächtigen Fluten aufwühlend, die sich zu ihren Füßen, vor der Inselspitze verbreiterten und gleichsam einzuschlummern schienen. Die beiden Brücken, welche sie überspannten, die Bercy- und die Austerlitz-Brücke, schienen unentbehrliche Hemmketten zu sein, die die Fluten bändigen mußten, um sie zu verhindern, in ihr Zimmer emporzudringen. Die Kinder liebten diesen Riesen, sie konnten sich nicht satt sehen an diesem Strom, an dieser ewig grollenden Flut, die sich auf sie zuwälzte, wie um sich ihrer zu bemächtigen und die sie dann sich zerteilen und nach rechts und links, ins Unbekannte mit der Gelassenheit des gebändigten Titanen verschwinden sahen. An schönen Tagen, an heiteren Morgen waren sie entzückt über die schönen Kleider der Seine; es waren das gar verschiedene Kleider in allen Abstufungen von grün und blau mit seidenen Falten an den Rändern, welche die an den beiden Ufern ankernden Fahrzeuge mit schwarzen Sammtbändern zu verzieren schienen. Weiterhin wurde das Zeug noch kostbarer und bewunderungswürdiger und glich der verzauberten Gewandung aus einem Feenmärchen und hinter dem dunkelgrünen Streifen, welchen die Schatten der Brücken auf das Wasser warfen, kamen wieder goldschimmernde Flächen, ganze Felder, welche aus Sonnenstrahlen gewebt zu sein schienen und in welchen sich der endlose Himmel, die niedrigen Häuserreihen, die Bäume der beiden Parkanlagen spiegelten.

Als Renée heranwuchs und aus dem Pensionat bereits mit Anwandlungen sinnlicher Gelüste heimkehrte, warf sie zuweilen, wenn dieser unbegrenzte Horizont sie ermüdet hatte, einen Blick in die Schwimmschule hinab, welche sich an der Inselspitze befand. Und zwischen den an Leinen aufgehängten Wäschestücken, die die Stelle der Decke vertraten, suchte sie nach den Badehosen tragenden Männern, deren nackte Bäuche zu sehen waren.


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