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XI.

Obwohl Pierre wußte, daß er sich nicht vor elf Uhr bei dem Kardinal Sanguinetti vorstellen könne, war er mit einem Frühzug hinausgefahren und stieg schon um neun Uhr auf dem kleinen Bahnhof von Frascati aus. Er war bereits an einem seiner gezwungen müßigen Tage hier gewesen und hatte den klassischen Ausflug nach den römischen Schlössern gemacht, die von Frascati bis Rocca di Papa, und von Rocca di Papa bis zum Monte Cavo reichen. Er war entzückt und versprach sich zwei Stunden eines beruhigenden Spazierganges auf den nächsten Hügeln des Albanergebirges, auf denen Frascati zwischen Rohr, Oliven und Wein liegt. Es beherrscht das ungeheure rote Meer der Campagna wie von der Höhe eines Vorgebirges, bis zu dem fernen Rom, das, gute sechs Meilen entfernt, wie eine Marmorinsel weiß herüberschimmerte.

Ach, dieses Frascati auf seinem grünen, runden Hügel, am Fuße der waldigen Höhen des Tuskulum, mit seiner berühmten Terrasse, von der man die schönste Aussicht der Welt hat, seinen alten Patriziervillen mit den stolzen, eleganten Renaissancefassaden, den prächtigen, immergrünen, mit Cypressen, Pinien und Eichen bepflanzten Parks! Das war eine Lieblichkeit, eine Lust, ein Zauber, dessen er nie überdrüssig geworden wäre. Er irrte bereits seit mehr als einer Stunde entzückt durch die von alten, knorrigen Oelbäumen begrenzten Straßen, durch die bedeckten Wege, die die großen Bäume der Nachbargüter beschatteten, durch die duftenden Feldpfade, an deren Ende bei jeder Biegung die Campagna sich ins Unendliche sich entfaltete, als er eine unerwartete Begegnung hatte, die ihn anfangs ärgerte.

Er war wieder auf die tiefer gelegenen Baugründe in der Nähe des Bahnhofes herabgestiegen; es waren ehemalige Weingärten, wo sich seit einigen Jahren eine ganze Bewegung neuer Bauten vollzogen hatte. Zu seiner Ueberraschung sah er eine von Rom kommende, sehr korrekte, zweispännige Viktoria neben sich halten und hörte sich beim Namen rufen.

»Wie, Herr Abbé Froment, Sie gehen hier spazieren – und so zeitig?«

Nun erkannte er den Grafen Prada, der, nachdem er ausgestiegen war, den leeren Wagen weiterfahren ließ, während er an der Seite des jungen Priesters die letzten zwei- oder dreihundert Meter zu Fuß zurücklegte. Nach einem herzlichen Händedruck erklärte er seine Geschmacksrichtung.

»Ja, ich benütze selten die Eisenbahn, ich fahre zu Wagen. Das verschafft meinen Pferden etwas Bewegung. Sie wissen, ich habe hier Geschäfte, eine ganze Bautengeschichte, die leider nicht sehr gut geht. Darum muß ich trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit noch häufiger herauskommen, als mir lieb ist.«

Pierre kannte allerdings diese Geschichte. Die Boccaneras hatten die prächtige Villa verkaufen müssen, die ein Kardinal, ihr Ahnherr, hier nach den Entwürfen des Giacomo della Porte in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erbaut hatte. Es war eine königliche Sommerwohnung, mit wunderbaren schattigen Bäumen, Hagebuchenhainen, Wasserbecken, Kaskaden und insbesondere einer Terrasse, die unter allen anderen des Landes berühmt war. Sie ragte wie ein Vorgebirge über die römische Campagna, deren endlose Fläche von dem Sabinergebirge bis zu dem Sande des Mittelmeeres reicht. Bei der Teilung erhielt Benedetta von ihrer Mutter die großen Weingärten unterhalb von Frascati; sie hatte sie Prada als Mitgift zugebracht, gerade in dem Augenblick, da der Steinwahnsinn von Rom auch über die Provinzen fuhr. Prada war daher auf den Gedanken geraten, hier ein ganzes Viertel von bürgerlichen Villen nach dem Muster derjenigen, die die Bannmeile von Paris verstopfen, zu bauen. Aber nur wenige Käufer hatten sich dargeboten, der finanzielle Krach war hinzugekommen, und so liquidirte er mühsam dieses widrige Unternehmen, nachdem er seine Frau gleich nach ihrer Trennung schadlos gehalten hatte.

»Und dann,« fuhr er fort, »mit einem Wagen kommt und geht man, wenn man will, während man ein Sklave der Eisenbahn ist. So habe ich heute vormittag eine Zusammenkunft mit Unternehmern, Sachverständigen, Advokaten und weiß nicht, wie lange sie mich in Anspruch nehmen werden ... Ein wunderbares Land, nicht wahr? Wir in Rom haben Grund, darauf stolz zu sein. Wenn ich auch im Augenblick hier Unannehmlichkeiten habe, so kann ich nicht hierher kommen, ohne daß mein Herz vor Freude klopft.«

Was er nicht sagte, war, daß Lisbeth Kauffmann, seine Freundin, wie er sie nannte, den Sommer in einer der neuen Villen zugebracht hatte. Sie hatte hier ihr anmutiges Künstleratelier aufgeschlagen und wurde von der ganzen Fremdenkolonie besucht; diese duldete die Unregelmäßigkeit ihrer Stellung seit dem Tode ihres Gatten, dank ihrer Heiterkeit und ihrer Malerei, die gerade ausreichte, um sie unabhängig zu machen. Man hatte zuletzt sogar ihre Schwangerschaft hingenommen. Sie war vor vierzehn Tagen nach Rom zurückgekehrt, um dort mit einem dicken Jungen niederzukommen, dessen Erscheinen in den weißen und in den schwarzen Salons die leidenschaftlichen Klatschereien über die bevorstehende Scheidung Benedettas und Pradas wieder entzündet hatte. Die Liebe des Letzteren zu Frascati rührte sicherlich von seinen zärtlichen Erinnerungen und der großen, stolzen Freude her, in die ihn diese Geburt eines Sohnes versetzte.

Pierre, der bei seinem instinktiven Haß vor geld- und beutegierigen Leuten in Pradas Gegenwart stets eine gewisse Befangenheit, eine Art Unbehagen empfand, wollte trotzdem dessen vollkommene Liebenswürdigkeit beantworten, indem er sich nach seinem Vater, dem alten Orlando, dem Helden der Eroberung, erkundigte.

»O, abgesehen von den Beinen, geht es ihm wunderbar! Er wird hundert Jahre alt werden. Der arme Vater! Ich wäre so froh gewesen, wenn ich ihn in diesem Sommer in einem dieser kleinen Häuser hätte unterbringen können! Aber er wollte nicht; er bleibt eigensinnig dabei, Rom nicht zu verlassen; es ist, als fürchte er, daß man es ihm während seiner Abwesenheit wieder wegnehmen könnte.«

Er brach in helles Lachen aus. Er allein erheiterte sich mit diesem Scherzen über die heroische, außer Mode gekommene Zeit der Unabhängigkeit. Dann fügte er hinzu:

»Er hat erst gestern mit mir über Sie gesprochen, Herr Abbé. Er wundert sich, daß er Sie nicht wieder gesehen hat.«

Das kränkte Pierre, denn er hatte begonnen, Orlando mit ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit zu lieben. Seit jenem ersten Besuch war er zweimal bei ihm gewesen, und jedesmal hatte sich der Greis geweigert, über Rom zu sprechen, solange sein junger Freund nicht alles gesehen, alles gehört, alles begriffen habe. Später, wenn der eine wie der andere einen Schluß ziehen könnte, wäre es Zeit dafür.

»O, bitte,« rief Pierre, »sagen Sie ihm gefälligst, daß ich ihn nicht vergesse und daß, wenn mein Besuch auf sich warten läßt, es nur geschieht, weil ich ihn zufrieden stellen will. Aber ich werde nicht abreisen, ohne ihm zu sagen, wie sehr ich von seiner Aufnahme gerührt wurde.«

Beide gingen langsam auf der aufsteigenden Straße weiter; sie zog sich zwischen einigen neuen Villen hin, von denen mehrere noch nicht einmal fertig waren. Als Prada erfuhr, daß der Priester gekommen sei, um sich beim Kardinal Sanguinetti vorzustellen, fing er wieder zu lachen an – sein liebenswürdiges Wolfslachen, das seine weißen Zähne entblößte.

»Freilich, er ist hier, seit der Papst leidend ist ... Ah, Sie werden ihn in einem schönen Fieberzustand treffen!«

»Warum denn?«

»Weil heute vormittag die Nachrichten über die Gesundheit des heiligen Vaters keine guten sind. Als ich Rom verließ, lief das Gerücht um, daß er eine schreckliche Nacht verbracht hätte.«

Er blieb bei einer Krümmung der Straße vor einer alten Kapelle, einer kleinen Kirche, stehen, die sich in einsamer, trauriger Anmut am Saume eines Olivengehölzes erhob. Dicht daneben befand sich ein zerfallendes Gemäuer, zweifellos das ehemalige Pfarrhaus. Ein großer, knorriger Priester, mit plumpem, erdfahlem Gesicht trat daraus hervor und schloß, ehe er sich entfernte, fest die Thür, indem er den Schlüssel zweimal umdrehte.

»Sehen Sie,« fuhr der Graf spöttisch fort, »da ist einer, dessen Herz ebenso heftig klopfen muß. Er geht sicherlich um Nachrichten zu Ihrem Kardinal.« Pierre hatte den Priester überrascht angeblickt.

»Ich kenne ihn,« sagte er. »Es ist sicherlich derselbe, den ich am Tage nach meiner Ankunft beim Kardinal Boccanera gesehen habe. Er brachte ihm einen Korb Feigen, indem er ihn um ein gutes Zeugnis für seinen jungen Bruder bat, den eine Gewaltthat, ich glaube, ein Messerstich, ins Gefängnis gebracht hatte. Der Kardinal schlug ihm übrigens dieses Zeugnis unbedingt ab.«

»Zweifeln Sie nicht, er ist es, denn er kam einst oft in die Villa Boccanera, wo sein junger Bruder Gärtner war. Heutzutage ist er der Schützling, die Kreatur des Kardinals Sanguinetti ... Ach, dieser Santobono ist eine seltsame Figur, wie Sie deren wohl nicht in Frankreich haben. Er lebt ganz allein in dieser zusammenbrechenden Wohnung und versieht die uralte Kapelle S. Maria dei Campi, wohin man nicht dreimal im Jahre zur Messe kommt. Ja, es ist eine wahre Sinekure, die ihm bei seinen tausend Franken jährlich gestattet, als philosophischer Bauer zu leben und den ziemlich großen Garten zu pflegen, den Sie da oben, zwischen den hohen Mauern sehen.«

In der That zog sich die Einfriedigung über den Abhang hinter dem Pfarrhaus nach allen Seiten sorgsam abgeschlossen hin, wie eine Zufluchtsstätte, in die nicht einmal Blicke dringen durften. Es war nichts davon zu sehen, als über der linken Mauer ein prächtiger Feigenbaum, ein Riesenfeigenbaum, dessen hohes Laub sich schwarz von dem klaren Himmel abhob. Prada ging wieder weiter und fuhr fort, von Santobono zu sprechen, der ihn offenbar interessirte. Er war ein patriotischer Priester, ein Garibaldianer. In Nemi, in diesem noch wild gebliebenen Winkel des Albanergebirges, geboren, gehörte er dem Volke an, befand sich noch nahe der Erde, hatte aber studirt und wußte genug Geschichte, um die vergangene Größe Roms zu kennen und von einer Wiederherstellung des römischen Reiches zu Gunsten des jungen Italien zu träumen. Er hatte sich dem leidenschaftlichen Glauben ergeben, daß nur ein großer Papst diesen Traum verwirklichen könne, indem er sich der Gewalt bemächtigte und dann alle anderen Nationen eroberte. Was war einfacher, da der Papst über Millionen von Katholiken gebot? Gehörte ihm nicht die Hälfte von Europa? Frankreich, Spanien, Oesterreich würden nachgeben, sobald sie sähen, daß er mächtig sei und der Welt diktire. Was Deutschland und England, alle protestantischen Nationen betraf, so würden sie unvermeidlich erobert werden; das Papsttum war ja der einzige Damm, den man dem Irrtum entgegensetzen konnte, und dieser würde eines Tages an ihm zerschellen. Trotzdem hatte er sich politisch für Deutschland erklärt, denn er dachte, daß Frankreich zermalmt werden müsse, um sich in die Arme des heiligen Vaters zu werfen. So stießen sich in diesem zornigen Kopfe, in dem die Gedanken brannten und sich durch die ursprüngliche Rauhheit der Rasse schnell in Gewaltthätigkeit verwandelten, Widersprüche und tolle Phantasien. Er war ein Barbar aus dem Evangelium, ein Freund der Armen und Leidenden, aus der Familie jener exaltirten Sektirer, die großer Tugenden und großer Verbrechen fähig sind.

»Ja,« schloß Prada, »er hat sich dem Kardinal Sanguinetti ergeben, weil er in ihm den großen Papst, den Papst von morgen gesehen hat, der aus Rom die einzige Hauptstadt aller Völker machen muß. Auch das geht nicht ohne irgend einen niedrigeren Ehrgeiz ab; vielleicht möchte er zum Beispiel den Titel eines Kanonikus erobern, oder sich bei den kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens helfen lassen, wie an dem Tage, als er seinen Bruder aus der Verlegenheit ziehen mußte. Man setzt seine Hoffnung auf einen Kardinal, wie man auf einen Terno in die Lotterie setzt: wenn der Kardinal als Papst hervorgeht, gewinnt man ein Vermögen ... Darum sehen Sie ihn da drüben mit so langen Schritten einhermarschiren: er hat Eile, zu erfahren, ob Leo XIII. sterben und sein Terno mit Sanguinetti in der Tiara herauskommen wird.«

»Glauben Sie also, daß der Papst in diesem Maße krank ist?« fragte Pierre, von Interesse und Unruhe ergriffen.

Der Graf lächelte und hob beide Arme in die Höhe.

»Ah, wer weiß das? Sie sind alle krank, sobald sie ein Interesse daran haben, es zu sein. Aber ich glaube, er ist wirklich unwohl; es soll eine Gedärmstörung sein, und bei seinem Alter kann das geringste Unwohlsein verhängnisvoll werden.«

Sie legten ein paar Schritte schweigend zurück; dann stellte der Priester abermals eine Frage.

»Dann hätte also der Kardinal Sanguinetti, wenn der heilige Stuhl frei würde, große Aussichten?«

»Große Aussichten! Große Aussichten! Das ist wieder eines der Dinge, die niemand weiß. Wahr ist, daß man ihn unter die möglichen Kandidaten einreiht, und wenn der Wunsch, Papst zu werden, genügen würde, so wäre Sanguinetti sicherlich der künftige Papst, denn er setzt eine außerordentliche Leidenschaft, ein ungestümes Verlangen darein. Dieser höchste Ehrgeiz verzehrt ihn bis auf die Knochen. Das ist sogar seine Schwäche; er nützt sich ab und weiß das. Er muß daher für die letzten Tage des Kampfes zu allem entschlossen sein. Seien Sie überzeugt, wenn er sich in diesem kritischen Augenblick hier eingeschlossen hat, so geschah es, um seine Schlacht aus der Ferne besser zu leiten, während er ein höchst wirkungsvolles Verlangen nach Zurückgezogenheit, nach Abgeschiedenheit erkünstelt.«

Und er verbreitete sich wohlgefällig über Sanguinetti, dessen Ränkesucht, grimmige Eroberungsgelüste und übermäßige, sogar etwas unruhstiftende Thätigkeit er liebte. Er hatte ihn nach seiner Rückkehr von der Wiener Nuntiatur kennen gelernt. Er war in Geschäften sehr bewandert und damals schon entschlossen, die Hand an die Tiara zu legen. Dieser Ehrgeiz erklärte alles – seine Zerwürfnisse und seine Aussöhnungen mit dem regierenden Papst, seine Zärtlichkeit für Deutschland, der eine plötzliche Schwenkung gegen Frankreich folgte, seine wechselnde Haltung gegen Italien. Zuerst äußerte er den Wunsch nach einer Verständigung, dann zeigte er eine unbedingte Intransigenz; keinerlei Zugeständnisse dürften gemacht werden, so lange Rom nicht geräumt sei. Daran schien er fortan festzuhalten; er stellte sich, als bedaure er die schwankende Regierung Leos XIII., als schenke er seine glühende Bewunderung Pius IX., dem großen, heldischen, widerstandskräftigen Papst, dessen gutes Herz unerschütterliche Festigkeit nicht ausschloß. Das sollte heißen, daß er in der Kirche, für die die gefährliche Willfährigkeit der Politik nicht gehörte, die Gutmütigkeit ohne Schwäche herstellen würde. Dennoch träumte er im Grunde von nichts als von Politik und mußte wohl zu einem ganzen Programm gelangt sein; er hielt es absichtlich dunkel, aber es wurde von seinen Schützlingen, seinen Kreaturen mit verzückt geheimnisvoller Miene verbreitet. Seit einem Unwohlsein des Papstes, das sich bereits vom Frühling herschrieb, lebte er in tödlicher Unruhe; denn das Gerücht lief um, daß die Jesuiten, obwohl der Kardinal Boccanera sie gar nicht liebte, sich darin ergeben würden, ihn zu unterstützen. Zweifellos war der letztere rauh, von übertriebener Frömmigkeit, die in diesem Jahrhundert der Duldung gefährlich war – aber gehörte er nicht zum Patriciat, würde seine Wahl nicht bedeuten, daß das Papsttum nie auf die weltliche Herrschaft verzichtete? Von da an war Boccanera in den Augen Sanguinettis der Gefürchtete geworden; er lebte gar nicht mehr, sah sich schon beraubt und brachte seine Stunden damit zu, Kombinationen zu suchen, um sich dieses allmächtigen Nebenbuhlers zu entledigen. Er sparte nicht mit den abscheulichen Geschichten von seiner Willfährigkeit gegen Benedetta und Dario und hörte nicht auf, ihn als den Antichrist darzustellen, dessen Regierung die Zerstörung des Papsttums vollziehen mußte. Seine letzte Berechnung, um die Stütze der Jesuiten wieder zu erobern, bestand also darin, daß er von seinen Vertrauten verbreiten ließ, er werde nicht allein das Prinzip der weltlichen Herrschaft unversehrt erhalten, sondern er verpflichte sich auch, diese Herrschaft wieder zu erwerben. Er hatte einen Plan, den man sich ins Ohr flüsterte – einen trotz scheinbarer Zugeständnisse zu sicherem Sieg führenden, in seinen Ergebnissen niederschmetternden Plan. Er wollte aufhören, den Katholiken das Abstimmen und Kanditiren zu verbieten, zuerst hundert, dann zweihundert, dann dreihundert Mitglieder in die Kammer entsenden, hierauf die savoyische Monarchie umstoßen und eine Art riesiger Föderation der italienischen Provinzen errichten, deren erhabener und höchster Präsident der wieder in den Besitz Roms getretene heilige Vater sein würde.

Als Prada zu Ende war, begann er abermals zu lachen, indem er seine weißen Zähne zeigte, die so wenig dazu beschaffen waren, die Beute loszulassen.

»Sie sehen, wir müssen uns wohl verteidigen, denn er gedenkt uns hinauszuwerfen. Glücklicherweise gibt es bei allen solchen Dingen kleine Hindernisse. Aber solche Träume üben nichtsdestoweniger eine ungeheure Wirkung auf gewisse überreizte Gehirne, wie zum Beispiel das des Santobono. Sehen Sie, das ist einer, den Sanguinetti mit einem Worte, wenn er wollte, sehr weit führen könnte ... Ah, er hat gute Beine! Sehen Sie doch da hinauf! Er ist schon bei dem kleinen Palast des Kardinals angelangt, er tritt ein – jene ganz weiße Villa dort mit den gemeißelten Balkonen.«

In der That erblickte man den kleinen Palast, eines der ersten Häuser von Frascati; es war ein modernes Gebäude im Renaissancestil, dessen Fenster auf die Unendlichkeit der römischen Campagna hinausgingen.

Es war elf Uhr, und da Pierre sich von dem Grafen verabschiedete, um selbst hinaufzugehen und seinen Besuch abzustatten, hielt dieser einen Augenblick seine Hand in der seinen fest.

»Wissen Sie, wenn Sie sehr nett wären, so würden Sie mit mir frühstücken ... Wollen Sie? Suchen Sie mich, sobald Sie frei sind, in dem Restaurant, dort, mit der rosa Fassade auf. Ich werde in einer Stunde meine Geschäfte geregelt haben und entzückt sein, wenn ich nicht allein essen muß.«

Anfangs weigerte, wehrte sich Pierre, aber er besaß gar keine mögliche Ausrede und mußte sich endlich, wider Willen, von dem wirklichen Zauber Pradas gewonnen, ergeben. Sobald sie sich getrennt hatten, brauchte er nur eine Straße zu durchschreiten, um vor der Thür des Kardinals anzulangen. Der letztere war sehr leicht zugänglich, teils aus natürlichem Mitteilsamkeitsbedürfnis, teils auch aus Berechnung, um den Populären zu spielen. Besonders in Frascati öffnete sich seine Thür weit, sogar vor der einfachsten Sutane. Der junge Priester wurde daher sofort vorgelassen; er war über diesen Empfang ein wenig erstaunt, da er sich der schlechten Laune des Bedienten in Rom entsann, der ihm von der Reise abgeraten, weil Seine Eminenz nicht gern gestört werden wollte, wenn er leidend war. In Wirklichkeit war nicht die Rede von Krankheit, denn alles in dieser behaglichen, von Sonnenlicht überfluteten Villa lächelte und glänzte. Der Wartesalon, in dem man ihn allein gelassen hatte, war mit schrecklichen, roten Sammetmöbeln ausgestattet und besaß weder Luxus noch Bequemlichkeit, aber er wurde von dem schönsten Licht der Welt erhellt und ging auf diese außerordentliche, so kahle, so flache Campagna hinaus, die in der fortwährenden Fata Morgana der Vergangenheit eine traumhafte Schönheit ohne gleichen besaß. Darum stellte er sich auch, während er auf das Vorgelassenwerden wartete, an eines der weit offenen, auf einen Balkon gehenden Fenster und versenkte den Blick in das endlose Meer der Wiesen, bis zu dem in der Ferne weiß schimmernden Rom, das der Dom von S. Peter – ein kleiner, funkelnder Fleck, kaum so groß wie der Nagel des kleinen Fingers – ganz beherrschte.

Er war kaum dorthin getreten, als das Geräusch eines Gespräches, dessen einzelne Worte ganz deutlich bis zu ihm drangen, ihn überraschte. Er beugte sich vor und begriff zuletzt, daß es Seine Eminenz selbst sei, der, auf dem Nebenbalkon stehend, mit einem Priester sprach, von dem er nur die Sutane sah. Uebrigens hatte er sofort Santobono erkannt. Seine erste Bewegung war, sich aus Diskretion zurückzuziehen, aber dann hielten ihn die Worte, die er hörte, zurück.

»Wir werden es sofort wissen,« sagte die Eminenz mit ihrer dicken Stimme. »Ich habe Eufemio nach Rom geschickt. Ich habe nur zu ihm Vertrauen. Da kommt der Zug, der ihn zurückbringt.«

In der That erschien aus der riesigen Ebene ein Zug. Er war noch klein, wie ein Kinderspielzeug. Wohl um auf ihn zu lauern, hatte sich Sanguinetti auf das Balkongeländer gestützt und blieb hier stehen, die Augen auf Rom, in die Ferne gerichtet.

Santobono sprach mit Leidenschaft ein paar Worte, die Pierre schlecht hörte; aber gleich darauf fuhr der Kardinal deutlich fort:

»Ja, ja, mein Lieber, eine Katastrophe wäre ein großes Unglück. Ach, möge Gott uns Seine Heiligkeit noch lange bewahren!«

Er hielt inne, und da er kein Heuchler war, ergänzte er seinen Gedanken.

»Wenigstens möge er ihn uns in diesem Augenblick bewahren, denn es ist eine böse Zeit. Ich lebe in der schrecklichsten Angst; die Anhänger des Antichrist haben in der letzten Zeit viel Boden gewonnen.« Santobono entfuhr ein Schrei.

»O, Eure Eminenz werden handeln, werden siegen!«

»Ich, mein Lieber? Was soll ich denn thun? Ich stehe nur zur Verfügung meiner Freunde, jener, die einzig zum Siege des heiligen Stuhles an mich glauben werden. Diese müssen handeln; ein jeder muß nach Kräften arbeiten, um dem Bösen den Weg zu versperren, damit die Guten Erfolg haben ... Ach, wenn der Antichrist regiert –«

Dieses sich wiederholende Wort »Antichrist« beunruhigte Pierre sehr. Mit einemmale erinnerte er sich an das, was der Graf ihm gesagt hatte: der Antichrist – das war der Kardinal Boccanera.

»Mein Lieber, bedenken Sie das: der Antichrist im Vatikan! Er wird mit seinem unversöhnlichen Stolz, seinem eisernen Willen, seiner düstern Sucht nach dem Nichts die Zerstörung der Religion vollziehen; denn es ist kein Zweifel mehr möglich – er ist das von den Weissagungen angekündigte Tier des Todes, das in seinem wütenden Lauf zu der Finsternis des Abgrunds alles mit sich selbst zu verschlingen droht. Ich kenne ihn; er träumt nur von Beharren und Zusammenbrechen, er wird die Säulen des Tempels umfassen und sie erschüttern, um sich und den ganzen Katholizismus unter ihnen zu begraben. Kein halbes Jahr wird vergehen, und er wird von Rom verjagt, mit allen Nationen verzankt, von Italien verflucht sein und das irrende Gespenst des letzten Papstes durch die Welt schleppen.«

Ein dumpfes Murren, ein erstickter Fluch Santobonos folgte dieser erschreckenden Voraussagung. Aber der Zug war auf dem Bahnhof angelangt, und unter den ersten aussteigenden Reisenden erkannte Pierre einen kleinen Abbé, der so schnell ging, daß ihm die Sutane um die Schenkel flog. Es war der Abbé Eufemio, der Sekretär des Kardinals. Als er diesen auf dem Balkon bemerkt hatte, ließ er alle Rücksicht gegen die Menschen fahren und begann die abschüssige Straße herabzulaufen.

»Ah, da ist Eufemio!« rief Seine Eminenz, zitternd vor Angst. »Jetzt werden wir es endlich, endlich erfahren!«

Der Sekretär war unter das Thor getreten und mußte so rasch die Treppe hinaufgestiegen sein, daß Pierre ihn fast gleich darauf atemlos durch den Wartesalon, in dem er sich befand, gehen und dann im Arbeitskabinet des Kardinals verschwinden sah. Dieser hatte den Balkon verlassen, um seinem Boten entgegenzugehen, aber er kehrte bald wieder unter Fragen, Ausrufungen dahin zurück. Die schlechten Nachrichten hatten einen wahren Aufruhr in ihm hervorgerufen.

»Es ist also wahr? Die Nacht war schlecht? Seine Heiligkeit hat keinen Augenblick lang geschlafen? Kolik, hat man Ihnen erzählt? Aber in seinem Alter kann es ja nichts Schlimmeres geben ... Das kann ihn in zwei Stunden wegraffen ... Und die Aerzte, was sagen die?«

Die Antwort drang nicht bis zu Pierre hinüber. Er verstand jedoch, als er den Kardinal fortfahren hörte:

»O, die Aerzte, die wissen nie etwas! Uebrigens, wenn sie nicht mehr reden wollen, so heißt das, daß der Tod nicht mehr fern ist ... Gott, welches Unglück, wenn die Katastrophe nicht um einige Tage hinausgeschoben werden kann!«

Er schwieg, und Pierre fühlte, wie seine Augen von neuem auf Rom da unten ruhten, wie er mit all seiner ehrgeizigen Angst den Dom von S. Peter, den kleinen, funkelnden Fleck inmitten der ungeheuren roten Ebene betrachtete, der kaum so groß war wie der Nagel des kleinen Fingers. Welche Unruhe, welche Aufregung, wenn der Papst tot wäre! Er hätte nur den Arm ausstrecken mögen, um die ewige Stadt, die heilige Stadt, die am Horizont nicht mehr Platz einnahm als ein von einer Kinderschaufel hingeworfener Haufen Kies, in die hohle Hand nehmen zu können. Er träumte bereits vom Konklave, wenn die Thronhimmel der anderen Kardinäle herabsinken und nur der seine unbeweglich, majestätisch ihn mit dem Purpur krönen würde.

»Aber Sie haben recht, mein Lieber,« rief er, zu Santobono gewandt. »Es muß gehandelt werden, es ist für das Heil der Kirche ... Und dann, es ist nicht möglich, daß der Himmel nicht mit uns sein sollte, die einzig und allein seinen Triumph wollen. Wenn es sein muß, wird er im letzten Augenblick den Antichrist niederzuschmettern wissen.«

Nun zum erstenmal hörte Pierre deutlich auch Santobono, der mit rauher Stimme, mit einer Art wilder Entschiedenheit sagte:

»O, wenn der Himmel zögert, wird man ihm helfen!«

Das war alles; er hörte dann nichts mehr als ein wirres Gemurmel. Der Balkon war leer, und Pierre begann wieder in dem sonnigen, von heiterer und köstlicher Ruhe erfüllten Salon zu warten. Plötzlich öffnete sich weit die Thür des Arbeitszimmers, und ein Diener führte ihn hinein. Zu seinem Erstaunen fand er den Kardinal allein, ohne daß er die beiden Priester hatte hinausgehen sehen: sie hatten sich durch eine andere Thür entfernt.

In dem hellen, gelblichen Licht stand der Kardinal mit seinem gefärbten Gesicht, der starken Nase, den dicken Lippen und seinem, trotz seiner sechzig Jahre, jugendlich stämmigen und kräftigen Aussehen neben einem Fenster. Auf seinen Lippen schwebte wieder das väterliche Lächeln, mit dem er aus Politik die bescheidensten Leute empfing. Sofort, nachdem Pierre sich verbeugt und den Ring geküßt hatte, wies er ihm einen Stuhl an.

»Setzen Sie sich, lieber Sohn, setzen Sie sich ... Sie kommen also wegen der unglückseligen Geschichte mit Ihrem Buche. Ich bin sehr, sehr froh, mit Ihnen darüber reden zu können.«

Er selbst hatte sich auf einen Stuhl neben dem auf Rom hinausgehenden Fenster gesetzt, von dem er sich nicht entfernen zu können schien. Während der Priester sich entschuldigte, daß er ihn in seiner Ruhe störe, bemerkte er, daß er ihm gar nicht zuhörte, sondern die Augen von neuem auf da unten, auf die so heiß ersehnte Beute gerichtet hielt. Dennoch bewahrte der Kardinal vollkommen den Schein liebenswürdiger Aufmerksamkeit, und Pierre wunderte sich über die Willenskraft, die dieser Mann haben mußte, um so ruhig, so voll Interesse für die Angelegenheiten anderer zu erscheinen, während ein solcher Sturmwind in ihm brauste.

»Eure Eminenz werden also geruhen, mir zu verzeihen ...«

»Aber Sie haben sehr wohl daran gethan, zu kommen, da meine schwankende Gesundheit mich hier zurückhält ... Es geht mir übrigens ein wenig besser, und es ist sehr natürlich, daß Sie mir Erklärungen zu geben, Ihr Buch zu verteidigen und mein Urteil zu erleuchten wünschen. Ich wunderte mich sogar, daß ich Sie noch nicht sah, denn ich weiß, daß Ihr Glaube stark ist und daß Sie keine Schritte scheuen, um Ihre Richter zu bekehren ... Reden Sie, lieber Sohn, ich höre Ihnen mit aller Freude zu, die es mir bereiten würde, Sie absolviren zu können.«

Pierre ließ sich von diesen wohlwollenden Worten fangen. Eine Hoffnung erwachte wieder in ihm – die, den allmächtigen Indexpräfekten für seine Sache zu gewinnen. Er hielt diesen ehemaligen Nuntius, der zuerst in Brüssel und dann in Wien die Kunst gelernt hatte, Geprellte zufrieden fortzuschicken, indem er ihnen alles versprach, ohne ihnen etwas zu bewilligen, bereits für selten geistvoll, für besonders herzensgut. Darum fand er abermals sein Apostelfeuer wieder, um seine Ideen über das Rom von morgen auseinanderzusetzen – das Rom, von dem er träumte, das von neuem die Herrin der Welt werden würde, wenn es zu dem Christentum Jesu, zu der feurigen Liebe zu den Kleinen und Schwachen zurückkehrte.

Sanguinetti lächelte, schüttelte leise den Kopf und stieß entzückte Ausrufe aus.

»Sehr gut, sehr gut! Vortrefflich! ... Ah, ich denke wie Sie, lieber Sohn! Mehr läßt sich nicht sagen ... Aber es ist ja augenscheinlich, Sie stimmen darin mit allen guten Geistern überein.«

Außerdem, sagte er, rühre ihn die ganze poetische Seite der Sache sehr tief. Zweifellos aus Rivalität liebte er es, gleich Leo XIII. für einen der ausgezeichnetsten Lateiner zu gelten, und hatte Virgil eine besondere, grenzenlose Zärtlichkeit geschworen.

»Ich weiß, ich weiß ... o, ich habe die Stelle über den wiederkehrenden Frühling, der die vom Winter erstarrten Armen tröstet, dreimal gelesen! Aber wissen Sie auch, daß Sie voller lateinischen Wendungen sind? Ich habe in Ihrem Buche mehr als fünfzig Ausdrücke notirt, die man in den Eklogen wiederfinden würde. Ihr Buch ist reizend, wirklich reizend!«

Da er durchaus nicht dumm war und fühlte, daß in diesem kleinen Priester eine große Intelligenz stecke, so wurde zuletzt sein Interesse wach – nicht für ihn, sondern für den Nutzen, der sich vielleicht aus ihm ziehen ließe. In seinem Ränkefieber beschäftigte er sich fortwährend damit, aus den anderen, den Kreaturen, die Gott ihm zusandte, alles zu ziehen, was sie ihm zubrachten, und was seinem Triumph nützlich sein konnte. Er wandte sich einen Augenblick von Rom ab, schaute seinem Gegenüber ins Gesicht und hörte ihm zu, indem er sich fragte, wozu er ihn wohl entweder sogleich, in der Krise, die er jetzt durchmachte, oder später, wenn er Papst sein würde, verwenden könne? Aber der Priester beging abermals den Fehler, die weltliche Herrschaft der Kirche anzugreifen und das unglückliche Wort von der neuen Religion auszusprechen.

Der noch immer lächelnde Kardinal unterbrach ihn mit einer Geberde, ohne etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu verlieren, obwohl sein schon längst gefaßter Entschluß fortan befestigt und entschieden war.

»Gewiß, lieber Sohn, Sie haben in vielen Punkten recht, und ich bin oft mit Ihnen eins – o, vollkommen! ... Aber sehen Sie, Sie wissen zweifellos wohl nicht, daß ich hier der Beschützer von Lourdes bin. Wie können Sie da, nach jener Stelle über die Grotte, verlangen, daß ich mich für Sie, gegen die Väter ausspreche?«

Diese Thatsache, die er allerdings nicht kannte, schlug Pierre zu Boden. Niemand war so vorsichtig gewesen, ihn davon zu unterrichten. In Rom hat jedes katholische Werk der Welt einen vom heiligen Vater bestimmten Kardinal zum Beschützer, der es vertreten und im Notfall verteidigen muß.

»Die guten Väter,« fuhr Sanguinetti sanft fort, »Sie haben ihnen großen Schmerz bereitet. Wirklich, unsere Hände sind gebunden, wir können ihren Kummer nicht noch vergrößern ... Wenn Sie wüßten, wie viele Messen sie uns schicken! Ohne sie würde mehr als einer unserer armen Priester, die ich kenne, Hungers sterben.«

Es blieb nichts übrig, als sich zu beugen. Pierre stieß abermals an diese Geldfrage, an die Notwendigkeit des heiligen Stuhles, sein Budget in guten oder schlechten Jahren zu sichern. Es war immer wieder die Knechtschaft des Papstes, den der Verlust Roms von den Regierungssorgen befreit hatte, aber die gezwungene Dankbarkeit für erhaltene Almosen dennoch an die Erde nagelte. Die Bedürfnisse waren so groß, daß das Geld regierte, die höchste Macht war, vor der alles am römischen Hofe sich beugte.

Sanguinetti erhob sich, um den Besucher zu verabschieden.

»Aber, lieber Sohn, verzweifeln Sie nicht,« fuhr er mit Wärme fort. »Ich habe übrigens nur meine Stimme; ich verspreche Ihnen, die ausgezeichnete Erklärung, die Sie mir gegeben haben, in Anschlag zu bringen ... Und wer weiß? Wenn Gott mit Ihnen ist, wird er Sie retten, sogar gegen unsern Willen!«

Das war seine gewöhnliche Taktik; er hatte das Prinzip, niemals die Leute bis aufs äußerste zu treiben, indem er sie ohne Hoffnung fortschickte. Wozu diesem da sagen, daß die Verdammung seines Buches geschehene Sache sei und daß es das einzig Kluge wäre, es zu verleugnen? Nur ein Wilder, wie Boccanera, konnte noch mit der Flamme des Zornes in solche Feuerseelen blasen und sie der Rebellion zutreiben.

»Hoffen Sie, hoffen Sie!« wiederholte er lächelnd, indem er sich den Anschein gab, eine Menge glücklicher Dinge anzudeuten, die er nicht aussprechen konnte.

Pierre, tief gerührt, fühlte sich wie neu geboren. Er vergaß sogar das Gespräch, das er belauscht hatte, den ehrgeizigen Grimm, die dumpfe Wut gegen den gefürchteten Nebenbuhler. Und dann, konnte nicht bei den Mächtigen der Geist die Stelle des Herzens vertreten? Wenn dieser hier eines Tages Papst ward und wenn er verstanden hatte – würde er da nicht der erwartete Papst sein, der die Aufgabe auf sich nahm, die Kirche der Vereinigten Staaten von Europa, die geistige Herrin der Welt neu zu organisiren? Er dankte ihm bewegt, verbeugte sich und ließ ihn vor diesem weitoffenen Fenster, von wo Rom ihm aus der Ferne, in dem Glanz der Herbstsonne kostbar und schimmernd wie ein Kleinod, wie die Tiara aus Gold und Edelsteinen erschien, weiter träumen.

Es war beinahe ein Uhr, als Pierre und Graf Prada sich endlich zum Frühstück an einen der kleinen Tische des Restaurants setzen konnten, in dem sie ihre Zusammenkunft verabredet hatten. Der eine wie der andere hatte sich durch seine Geschäfte verspätet. Aber der Graf schien sehr heiter zu sein, da er unangenehme Fragen zu seinem Vorteil geregelt hatte, und der Priester selbst, der wieder von Hoffnung erfüllt war, überließ sich der köstlichen Lebensfreude in der Milde dieses letzten schönen Tages. Das Frühstück inmitten des großen, hellen, in Blau und Rosa gemalten, um diese Jahreszeit völlig einsamen Saales, war daher reizend. Amoretten flogen über die Decke, Landschaften, die aus der Ferne an die römischen Burgen erinnerten, schmückten die Wände. Sie aßen lauter frische Sachen und tranken jenen Wein von Frascati, der einen brennenden Erdgeschmack hat, als ob die einstigen Vulkane dem Boden ein wenig von ihrem Feuer zurückgelassen hätten.

Das Gespräch drehte sich lange Zeit um das Albanergebirge, dessen milde Anmut die flache römische Campagna so vorteilhaft und das Auge erfreuend beherrscht. Pierre, der den klassischen Ausflug zu Wagen von Frascati nach Nemi gemacht hatte, stand ganz unter dessen Zauber und sprach noch mit Feuer davon. Da war zuerst der anbetungswürdige, an der Flanke der Hügel auf- und absteigende Weg von Frascati nach Albano; er war mit Rohr, Wein und Oliven bepflanzt, zwischen denen sich fortwährend Ausblicke auf die wogige Unendlichkeit der Campagna eröffneten. Rechts schimmerte weiß das Dorf Rocca di Papa, amphitheatralisch auf einem runden Hügel unter dem von großen, hundertjährigen Bäumen gekrönten Monte Cavo gelegen. Von diesem Punkte der Straße erblickte man, wenn man sich gegen Frascati zurückwendete, hoch oben, am Saum eines Pinienwaldes die fernen Ruinen Tuskulums – große, rötliche, von Jahrhunderten der Sonne verbrannte Ruinen, von denen der grenzenlose Ausblick wunderbar sein mußte. Dann kam man durch Marino, mit der breiten, abschüssigen Straße, der ungeheuren Kirche und dem alten, geschwärzten, halb zerfressenen Palaste der Colonnas. Dann, nach einem Steineichenwald fuhr man längs des Albanosees hin, der ein in der Welt einziges Schauspiel bietet: gegenüber, jenseits des unbeweglichen, einem klaren Spiegel gleichen Gewässers, die Ruinen von Alba Longa; links der Monte Cavo mit Rocca di Papa und Palazzola; rechts Castel Gandolfo, wie von der Höhe eines Felsenufers den See beherrschend. In dem erloschenen Krater, wie am Grunde einer riesigen Schale aus Grün, schlief träg und tot der See; er glich einer Tafel aus geschmolzenem Metall, die die Sonne auf der einen Seite mit Gold oirirtem, während die andere, im Schatten liegende Hälfte, schwarz war. Nun stieg die Straße an, bis zu Castel Gandolfo, das wie ein weißer Vogel auf seinem Felsen zwischen See und Meer hockte und stets, selbst während der brennendsten Stunde des Sommers, von einer Brise erfrischt wurde. Einst war es wegen seiner päpstlichen Villa berühmt, in der Pius IX. gerne lässige Tage verbrachte, wo Leo XIII. jedoch noch nie erschienen ist. Dann stieg die Straße wieder abwärts und die Steineichen fingen wieder an; es waren Steineichen, die wegen ihrer Ungeheuerlichkeit berühmt sind, eine Doppelreihe von Kolossen, von zwei- und dreihundertjährigen Ungeheuern mit gewundenen Gliedern. Endlich gelangte man nach Albano, einer kleinen Stadt, die weniger reinlich und weniger modernisirt ist als Frascati, ein Winkel Erde, der noch ein wenig von dem Duft seiner einstigen Wildheit bewahrt hat. Nun kam noch Arricia, mit dem Palast Chigi, mit wälderbedeckten Hügeln und Brücken, die sich über beschattete Schluchten spannten, dann Genzano, dann Nemi, eines entlegener und wilder als das andere, unter Felsen und Bäumen verloren.

Ach, dieses Nemi! Welch unauslöschliche Erinnerung hatte Pierre von ihm bewahrt! Dieses Nemi am Ufer seines Sees, dieses aus der Ferne so köstliche, so bezaubernde Nemi, das alte Legenden und im Grün der geheimnisvollen Wasser entstandene Feenstädte herausbeschwört! Aber wenn man es zuletzt betritt, ist es von abstoßender Unreinlichkeit, bricht überall zusammen und wird noch von dem Orsiniturm beherrscht, wie von dem bösen Geist der alten Zeit, der dort wilde Sitten, heftige Leidenschaften und Messerstiche aufrecht zu erhalten scheint. Auch dieser Santobono war von hier, dessen Bruder getötet hatte, in dem selbst eine mörderische Flamme zu brennen schien. Seine Verbrecheraugen leuchteten wie glühende Kohlen. Und der See – rund wie ein in diesen Krater, in diese Schale hinabgefallener erloschener Mond! Diese Schale sah noch tiefer und schmaler aus wie der Albanersee und war mit Bäumen von erstaunlicher Kraft und Dichtigkeit bedeckt. Pinien, Ulmen und Weiden ziehen sich in einer grünen Flut von einander erdrückenden Zweigen bis zum Ufer hin. Diese schreckliche Fruchtbarkeit entspringt den fortwährenden Wasserdämpfen, die sich hier unter der brennenden Einwirkung der Sonne entwickeln; die Sonnenstrahlen häufen sich in dieser Höhlung, wie in einem Schmelzofenherd an. Es ist eine heiße, schwere Feuchtigkeit; die Alleen der umliegenden Gärten überziehen sich mit grünem Moos und dichte Nebel erfüllen oft des Morgens die ungeheure Schale mit einem weißen Dampf, wie mit einer rauchenden Hexenmilch von böser Zauberkraft. Pierre entsann sich wohl seines Unbehagens angesichts dieses Sees, in dem inmitten der bewunderungswürdigen Umgebung alte Greuelthaten, eine ganze geheimnisvolle Religion mit abscheulichen Gebräuchen zu schlummern schienen. Er hatte ihn bei Abendanbruch, im Schatten seines Wäldergürtels gesehen; er glich einer trüben, schwarz und silbernen Metallplatte von drückender Unbeweglichkeit und dieses klare, aber so tiefe Wasser, dieses einsame Wasser, auf dem kein Boot zu sehen war, dieses tote, erhabene, gruftähnliche Wasser hatte in ihm eine unbeschreibliche Traurigkeit, eine Schwermut zum Sterben zurückgelassen. Es war die Verzweiflung der großen, einsamen Brunst, wenn Erde und Wasser von dem stummen Schmerz der Keime in beunruhigender Fruchtbarkeit schwellen. Ach, diese dunklen, versinkenden Ufer, dieser düstere, schwarze See, der da unten, am Grunde ruhte!

Graf Prada begann über diesen Eindruck zu lachen.

»Ja, ja, es ist wahr, der Nemisee ist nicht alle Tage fröhlich. Ich habe ihn bei trübem Wetter gesehen; er war bleifarben und die starken Sonnenstrahlen belebten ihn nicht, obwohl sie ihn beleuchteten. Was mich betrifft, so weiß ich, daß ich vor Langeweile zu Grunde ginge, wenn ich gegenüber diesem ganz kahlen Gewässer leben müßte. Aber er hat für sich die Dichter und die romantischen Frauen – solche, die eine große, leidenschaftliche Liebe mit tragischer Lösung anbeten.«

Als dann die beiden Tischgenossen sich erhoben hatten, um den Kaffee auf einer Terrasse zu nehmen, wechselte das Gespräch.

»Gedenken Sie heute abend den Empfang des Fürsten Buongiovanni zu besuchen?« hob der Graf an. »Es wird für einen Fremden ein interessantes Schauspiel sein und ich rate Ihnen, es nicht zu versäumen.«

»Ja, ich habe eine Einladung,« antwortete Pierre. »Ein Freund von mir, Herr Narcisse Habert, ein Attaché unserer Gesandtschaft, hat sie mir verschafft und soll mich übrigens einführen.«

In der That, am selben Abend sollte im Palast Buongiovanni auf dem Corso ein Fest, einer jener seltenen Galaempfänge stattfinden, wie sie nur zwei- oder dreimal im Winter gegeben werden. Man erzählte sich, daß dieser an Pracht alles übertreffen würde, denn er fand zu Ehren der Verlobung Celias, der kleinen Prinzessin, statt. Der Fürst hatte plötzlich, nachdem er, wie es hieß, seine Tochter geohrfeigt und sich selbst bei einem schrecklichen Zornanfall ernstlich der Gefahr eines Schlaganfalles ausgesetzt hatte, vor dem ruhigen und sanften Starrsinn des jungen Mädchens nachgegeben. Er willigte in ihre Heirat mit dem Lieutenant Attilio, dem Sohn des Ministers Sacco, und alle römischen Salons, die weiße Gesellschaft sowie die schwarze, waren darüber außer Rand und Band geraten.

Graf Prada geriet abermals in Heiterkeit.

»Ach, ich versichere Sie, Sie werden ein schönes Schauspiel erleben! Ich bin darüber, meines guten Vetters Attilio wegen, entzückt; denn er ist wirklich ein sehr ehrlicher und reizender Junge. Um nichts in der Welt werde ich den Eintritt meines lieben Oheims Sacco, der endlich das Portefeuille des Ackerbauministers losgehakt hat, in die antiken Salons der Buongiovanni versäumen. Es wird wirklich ein außerordentlicher und prächtiger Anblick sein ... Mein Vater, der alles ernst nimmt, hat mir heute morgen erzählt, daß er deswegen die ganze Nacht kein Auge geschlossen habe.«

Er unterbrach sich, fuhr aber sogleich fort:

»Hören Sie, es ist schon halb drei; vor fünf Uhr werden Sie keinen Zug mehr bekommen. Wissen Sie, was Sie thun müßten? Mit mir im Wagen nach Rom zurückfahren.«

Aber Pierre wehrte ab.

»Nein, nein! Tausend Dank, aber ich dinire mit meinem Freunde Narcisse und darf mich nicht verspäten.«

»Ei, Sie werden sich nicht verspäten, im Gegenteil! Wir werden um drei abfahren und noch vor fünf in Rom sein ... Es gibt keine köstlichere Spazierfahrt, wenn der Tag sich neigt, und ich verspreche Ihnen einen wunderbaren Sonnenuntergang.«

Er war so dringlich, daß der Priester, von so viel Liebenswürdigkeit und guter Laune endgiltig gewonnen, annehmen mußte. Sie verbrachten also eine sehr angenehme Stunde im Gespräch über Rom, Italien und Frankreich. Für einen Augenblick stiegen sie wieder nach Frascati hinauf, wo der Graf noch einmal einen Unternehmer sprechen wollte, und als es drei Uhr schlug, fuhren sie endlich ab, sich neben einander weich auf den Kissen der Viktoria wiegend. Die beiden Pferde gingen in einem leichten Trab. In der That, diese Rückfahrt nach Rom durch die ungeheure kahle Campagna, unter dem weiten, klaren Himmel, an diesem köstlichen Abend, dem schönsten aller Herbsttage, war herrlich.

Aber zuerst mußte die Viktoria im scharfen Trab die Abhänge von Frascati fortwährend zwischen Weingärten und Olivenwäldern hinabfahren. Die gepflasterte Straße war wenig belebt: höchstens ein paar Bauern in alten, schwarzen Filzhüten, ein weißes Maultier, ein mit einem Esel bespannter Karren waren zu sehen. Nur des Sonntags belebten sich die Weinhandlungen und kamen die Handwerker, um in den Landhäusern der Umgegend in Muße ihr Ziegenfleisch zu verzehren. An einer Krümmung des Weges kamen sie an einem monumentalen Springbrunnen vorüber. Eine ganze Schafherde zog vorbei und versperrte einen Augenblick die Durchfahrt. Aber im Hintergrunde der biegsamen Wellen der ungeheuren, roten Campagna erschien stets das ferne Rom in den lila Dünsten des Abends und schien nach und nach, je tiefer der Wagen gelangte, zu versinken. Es kam ein Augenblick, da es in gleicher Linie mit dem Horizont nur noch ein dünner grauer Streif war, der von einigen sonnenbeschienenen Fassaden kaum etwas weiß gefleckt wurde. Dann versank es in die Erde; es ertrank unter der Schlagwelle der unendlichen Felder.

Die Viktoria rollte auf der Ebene dahin und ließ das Albanergebirge hinter sich, während rechts, links und gegenüber das Meer der Prärien und Stoppeln begann. Da rief der Graf, der sich hinausgebeugt hatte:

»Ei, sehen Sie doch, da vor uns, da unten geht unser Mann von heute morgen, Santobono in eigener Person ... Das ist ein Kerl, was? Wie er marschirt! Meinen Pferden wird es schwer, ihn einzuholen.«

Pierre beugte sich ebenfalls hinaus. Ja, es war der Pfarrer von S. Maria dei Campi in seiner langen, schwarzen Sutane, groß und knorrig, wie mit der Axt zugehauen. In dem feinen Licht, der hellen, gelblichen Sonne, die ihn überflutete, bildete er einen grellen Tintenfleck und ging mit einem so regelmäßigen, schweren Schritt, daß er dem einherschreitenden Schicksal glich. Am Ende seines rechten Armes hing etwas herab – ein Gegenstand, der sich schlecht unterscheiden ließ.

Als der Wagen ihn zuletzt erreicht hatte, gab Prada dem Kutscher den Befehl, langsamer zu fahren, und knüpfte ein Gespräch an.

»Guten Tag, Abbé! Wie geht es?«

»Sehr gut, Herr Graf! Tausend Dank!«

»Und wohin laufen Sie denn so wacker?«

»Ich gehe nach Rom, Herr Graf.«

»Wie, nach Rom? So spät!«

»O, ich werde fast ebenso bald dort sein wie Sie. Der Weg macht mir keine Angst; es ist rasch gewonnenes Geld.«

Er versäumte keinen Schritt, wandte kaum den Kopf und verlängerte seine Schritte längs der Räder, so daß Prada, über die Begegnung erfreut, ganz leise zu Pierre sagte:

»Warten Sie, er wird uns unterhalten.«

Dann setzte er mit lauter Stimme hinzu:

»Nun, da Sie nach Rom gehen, Abbé, so steigen Sie doch auf; es ist noch Platz für Sie.«

Santobono nahm die Einladung sofort an, ohne sich weiter bitten zu lassen.

»Mit Vergnügen, tausend Dank! ... Es ist freilich besser, wenn man die Stiefel nicht abnützt.«

Er stieg auf und setzte sich auf den Klappsitz, indem er mit plötzlicher Demut den Platz an der Seite des Grafen abwies, den Pierre ihm höflich überlassen wollte. Die beiden letzteren erkannten endlich in dem Gegenstande, den er trug, einen kleinen Korb, der mit hübsch geordneten und mit Blättern bedeckten Feigen gefüllt war.

Die Pferde hatten wieder einen lebhafteren Trab eingeschlagen und der Wagen rollte auf der schönen, flachen Straße dahin.

»Sie wollen also nach Rom?« hob der Graf wieder an, um den Pfarrer zum Reden zu bringen.

»Ja, ja, ich will Seiner ehrwürdigsten Eminenz, dem Kardinal Boccanera, diese paar Feigen bringen; es sind die letzten dieser Saison, die ich ihm als kleines Geschenk versprochen habe.«

Er hatte den Korb auf seine Kniee gestellt und hielt ihn, wie etwas Zerbrechliches und Seltenes, sorgfältig zwischen seinen groben, knorrigen Händen.

»Ah, die berühmten Feigen von Ihrem Feigenbaum! Es ist wahr, sie sind lauter Honig ... Aber machen Sie es sich doch bequem; Sie werden sie doch nicht bis Rom auf dem Schoß behalten. Geben Sie die Feigen her, ich werde sie in die Lederdecke stecken.«

Er wurde aufgeregt, verteidigte sie und wollte sich unbedingt nicht von ihnen trennen.

»Tausend Dank, tausend Dank ... Sie stören mich gar nicht, sie sind hier sehr gut aufgehoben; so bin ich wenigstens sicher, daß ihnen nichts widerfährt.«

Diese Leidenschaft Santobonos für die Früchte seines Gartens belustigte Prada sehr und er stieß Pierre mit dem Ellenbogen an.

»Und der Kardinal ißt Ihre Feigen gern?« fragte er abermals.

»O, Herr Graf, Seine Eminenz geruht, sie zu vergöttern. Früher, wenn Eminenz den Sommer in der Villa zubrachte, wollte er keine von einem andern Baum essen. Sie begreifen also, da ich einmal seinen Geschmack kenne, kommt es mir nicht darauf an, ihm ein Vergnügen zu machen.«

Aber er hatte einen so scharfen Blick auf Pierre geworfen, daß der Graf die Notwendigkeit empfand, sie einander vorzustellen.

»Der Herr Abbé Froment ist just im Palast Boccanera abgestiegen, wo er seit drei Monaten wohnt.«

»Ich weiß, ich weiß,« sagte Santobono ruhig, »Ich habe den Herrn Abbé bei Seiner Eminenz gesehen – an dem Tage, an dem ich ihm schon einmal zuvor Feigen brachte. Nur waren die weniger reif. Diese sind prachtvoll.«

Er warf einen wohlgefälligen Blick auf den kleinen Korb und seine ungeheuren, mit fahlen Haaren bedeckten Finger schienen ihn noch fester zu fassen. Ein Schweigen entstand, während zu beiden Seiten die Campagna sich endlos ausbreitete. Die Häuser waren seit langem verschwunden; keine Mauer, kein Baum war zu sehen, nichts als die riesigen, wellenförmigen Erhebungen, deren mageres, flaches Gras der herannahende Winter grün zu färben begann. Ein links zum Vorschein kommender Turm, eine halb zerfallene Ruine, nahm plötzlich eine seltsame Wichtigkeit an; er ragte über der flachen, unbegrenzten Linie des Horizonts gerade in den klaren Himmel. Dann zeigten sich rechts, in einem großen, mit Pfählen verschlossenen Park die fernen Silhouetten von Ochsen und Pferden; andere, noch bespannte Ochsen kehrten unter den Stichen des Treibstachels langsam von der Arbeit zurück; ein Pächter, auf einem kleinen, roten Pferde einhergaloppirend, warf einen letzten Blick auf die Arbeitsfelder. Zeitweise bevölkerte sich die Straße. Ein Biroccino, ein sehr leichter Wagen mit zwei großen Rädern und einem einfachen, über die Achse gelegten Sitz, fuhr wie der Wind vorüber. Von Zeit zu Zeit kreuzte sich die Viktoria mit einem Carrotino, dem niedrigen Karren, in dem der Bauer, von einer Art Zelt in lebhaften Farben geschützt, den Wein, das Gemüse, die Früchte der römischen Burgen nach Rom führte. Aus der Ferne hörte man die dünnen Glöckchen der Pferde, die von selbst den wohlbekannten Weg gingen, während der Bauer gewöhnlich fest schlief. Frauen mit geschürzten Röcken, mit bloßem, schwarzem Haar und scharlachroten Brusttüchern kehrten in Gruppen zu dreien und vieren heim. Dann leerte sich die Straße und unter dem runden, unendlichen Himmel, wo die schräge Sonne da unten am Ende dieses leeren, großartig und traurig einförmigen Meeres unterging, begann mehr und mehr die Wüste, ohne daß sich kilometerlang ein Mensch, ein Tier sehen ließ.

»Und der Papst, Abbé?« fragte Prada plötzlich. »Ist er tot?«

Santobono erschrak nicht einmal.

»Ich hoffe, daß Seine Heiligkeit noch viele Tage zum Siege der Kirche zu leben haben wird,« sagte er einfach.

»So haben Sie also heute morgen gute Nachrichten bei Ihrem Bischofe, dem Kardinal Sanguinetti, gehört?«

Diesmal konnte der Pfarrer ein leichtes Erzittern nicht unterdrücken. Man hatte ihn also gesehen? In seiner Eile hatte er nicht einmal diese beiden Passanten bemerkt, die hinter ihm auf der Landstraße einher kamen.

»O,« antwortete er, sich sofort fassend, »man weiß nie recht, ob die Nachrichten gut oder schlecht sind ... Es scheint, daß Seine Heiligkeit eine ziemlich beschwerliche Nacht verbracht hat, und ich thue Gelübde, damit die nächste Nacht besser sei.«

Einen Augenblick schien er sich zu sammeln, dann fügte er hinzu:

»Wenn übrigens Gott die Stunde für gekommen hält, Seine Heiligkeit wieder zu sich zu berufen, so wird er seine Herde nicht ohne Hirten lassen; er wird den Papst von morgen schon gewählt und bezeichnet haben.«

Diese Antwort steigerte noch die Freude Pradas.

»Wirklich, Abbé, Sie sind großartig ... Sie glauben also, daß die Päpste derart durch die Gnade Gottes entstehen? Der Papst von morgen wird oben ernannt, nicht wahr, und wartet einfach? Ich bildete mir ein, daß auch die Menschen sich ein bißchen in die Sache mengen ... Aber vielleicht wissen Sie schon, wer der von der göttlichen Gnade im voraus erwählte Kardinal ist.«

Und er setzte seine billigen, ungläubigen Scherze fort, die den Priester übrigens vollständig ruhig ließen. Der letztere lachte zuletzt selbst, als der Graf, auf die alte Leidenschaft anspielend, mit der das spielsüchtige Volk von Rom bei jedem Konklave auf die wahrscheinlichen Erwählten setzte, meinte, daß er da ein Vermögen gewinnen könne, wenn er um das Geheimnis Gottes wisse. Dann sprach man von den drei weißen Sutanen von drei verschiedenen Größen, die stets in Bereitschaft in einem Schrank des Vatikans hingen: würde man diesmal die kleine, die große oder die mittlere zu verwenden haben? Bei der geringsten ernstlichen Krankheit des regierenden Papstes entstand eine außerordentliche Aufregung, ein heftiges Erwachen aller ehrgeizigen Bestrebungen, aller Ränke, derart, daß es nicht bloß in der schwarzen Gesellschaft, sondern in der ganzen Stadt keine andere Neugierde, keine andere Unterhaltung, keine andere Beschäftigung gab, als die Ansprüche der Kardinäle zu besprechen und den vorauszusagen, der siegen würde.

»Hören Sie 'mal, da Sie es wissen, müssen Sie es mir unbedingt sagen,« fuhr Prada fort. »Wird es der Kardinal Moretta sein?«

Trotz seiner augenscheinlichen Absicht, würdig und unparteiisch wie ein guter, frommer Priester zu bleiben, ereiferte sich Santobono nach und nach und gab seiner inneren Glut nach. Dieses Verhör gab ihm den Rest; er konnte sich nicht mehr halten.

»Moretta! So was! Er ist an ganz Europa verkauft!«

»Also der Kardinal Bartolini?«

»Was Ihnen nicht einfällt! ... Bartolini! Er hat sich ja damit aufgerieben, alles zu wollen und nie etwas zu erlangen!«

»Wird es also der Kardinal Dozio sein?«

»Dozio, Dozio! Ach, wenn Dozio siegen würde, so müßte man für unsere heilige Kirche verzweifeln, denn es gibt keinen niedrigeren oder böseren Geist als ihn!«

Prada hob die Hände, als sei er jetzt mit den ernsthaften Kandidaten zu Ende. Es machte ihm ein boshaftes Vergnügen, den Kardinal Sanguinetti, den sicheren Kandidaten des Pfarrers, nicht zu nennen, um diesen noch mehr zu erbittern. Dann schien er plötzlich das Richtige getroffen zu haben und rief fröhlich:

»Ah, jetzt weiß ich's ... ich kenne Ihren Mann: es ist der Kardinal Boccanera!«

Santobono ward plötzlich mitten ins Herz, in seinem Groll, in seiner patriotischen Ueberzeugung getroffen. Schon öffnete sich sein schrecklicher Mund und er wollte mit aller Gewalt »nein, nein!« schreien, aber es gelang ihm, diesen Schrei zurückzuhalten; schweigend hielt er auf den Knieen sein Geschenk, den kleinen Korb Feigen, den seine Hände zum Zerbrechen zusammendrückten und die Anstrengung, die er machen mußte, hinterließ ihm ein solches Zittern, daß er warten mußte, ehe er mit beruhigter Stimme antworten konnte:

»Seine ehrwürdigste Eminenz, der Kardinal Boccanera, ist ein heiliger Mann, der des Thrones würdig ist; ich würde nur befürchten, daß er in seinem Haß gegen unser neues Italien den Krieg brächte.«

Aber Prada wollte die Wunde noch verschlimmern.

»Diesen acceptiren Sie also; Sie lieben ihn zu sehr, um sich nicht an seinen Aussichten zu erfreuen. Ich glaube, daß wir diesmal bei der Wahrheit sind, denn alle Welt ist überzeugt, daß das Konklave keinen andern ernennen kann ... Nun, er ist sehr groß; so wird die große, weiße Sutane benützt werden.«

»Die große Sutane, die große Sutane,« murrte Santobono dumpf und gleichsam unwillkürlich. »Außer wenn ...«

Er vollendete nicht und blieb von neuem Sieger über seine Leidenschaft. Pierre, der schweigend zugehört, wunderte sich, denn er erinnerte sich an das Gespräch, das er bei dem Kardinal belauscht hatte. Offenbar waren die Feigen nur ein Vorwand, um den Eintritt in den Palazzo Boccanera zu erzwingen, wo nur irgend ein Vertrauter, zweifellos der Abbé Paparelli, dem einstigen Kameraden sichere Auskunft zu geben vermochte. Aber welche Herrschaft über sich selbst besaß dieser Exaltirte bei den ungeordnetsten Bewegungen seiner Seele!

Die Campagna zu beiden Seiten der Straße fuhr fort, ihre Grasflächen ins Unendliche zu entfalten; Prada, der ernst und nachdenklich geworden, schaute hinaus, ohne etwas zu sehen. Er schloß seine Betrachtungen ganz laut.

»Abbé, Sie wissen, was man sagen wird, wenn er diesmal stirbt ... Dieses plötzliche Unwohlsein, diese Koliken, diese verheimlichten Nachrichten ... Die Sache kann recht schlecht ablaufen ... Ja, ja, Gift, wie bei den anderen.«

Pierre fuhr betroffen auf. Der Papst vergiftet!

»Wie, Gift! Schon wieder!« rief er.

Entsetzt betrachtete er die beiden. Gift, wie zu den Zeiten der Borgias, wie in einem romantischen Drama, am Ende unseres neunzehnten Jahrhunderts! Dieses Phantasiegebilde erschien ihm gleichzeitig ungeheuerlich und lächerlich.

Santobono, dessen Gesicht unbeweglich, undurchdringlich geworden war, antwortete nicht. Aber Prada schüttelte den Kopf, und das Gespräch spann sich nur noch zwischen ihm und dem jungen Priester ab.

»Ei ja, schon wieder das Gift ... In Rom ist die Furcht davor noch immer lebendig und sehr groß. Sowie ein Todesfall unerklärlich erscheint, sowie er zu rasch oder unter verdächtigen Umständen erfolgt, hat alle Welt einmütig denselben ersten Gedanken und ruft ›Gift‹. Bemerken Sie auch, es gibt, wie ich glaube, keine Stadt, wo sich häufiger plötzliche Todesfälle begeben, als in Rom; ich weiß nicht recht, aus welchen Gründen – wegen des Fiebers, sagt man ... Ja, ja, das Gift mit seiner ganzen Legende, das Gift, das wie der Blitz tötet und keine Spur hinterläßt, das berühmte Rezept, das sich von Jahrhundert zu Jahrhundert vererbte – unter den Kaisern und unter den Päpsten, bis in unsere bürgerlich demokratischen Tage.«

Dennoch lächelte er zuletzt selbst ein wenig skeptisch über seinen heimlichen, der Rasse und Erziehung entspringenden Schreck. Er führte Thatsachen an. Die römischen Damen entledigten sich ihrer Gatten oder ihrer Liebhaber, indem sie das Gift einer roten Kröte verwendeten. Der praktischere Locustes wandte sich an die Pflanzen und ließ eine Pflanze auskochen, die wohl der Eisenhut sein mußte. Nach den Borgias verkaufte die Toffana in Neapel in kleinen, mit dem Bilde des heiligen Nikolaus von Bari geschmückten Fläschchen ein berühmtes Wasser, dessen Hauptbestandteil zweifellos Arsenik war. Es gab noch außerordentliche Geschichten von Stecknadeln mit plötzlich tötenden Stichen, von einem Becher Wein, der vergiftet ward, indem man darin eine Rose entblätterte, von einer Schnepfe, die mit einem präparirten Messer entzwei geschnitten wurde, und wovon die vergiftete Hälfte einen der beiden Tischgenossen tötete.

»Ich selbst hatte in meiner Jugend einen Freund, dessen Braut in der Kirche am Hochzeitstage tot niederfiel, bloß weil sie an einem Blumenstrauß gerochen hatte ... Warum wollen Sie also nicht glauben, daß das berühmte Rezept sich wirklich überliefert hat und einigen Eingeweihten bekannt geblieben ist?«

»Weil die Chemie zu viele Fortschritte gemacht hat,« sagte Pierre. »Wenn die Alten an geheimnisvolle Gifte glaubten, so kam das daher, weil ihnen alle Mittel zur Analyse fehlten. Heutzutage würde das Gift der Borgia den Naiven, der sich seiner bedienen wollte, geradewegs vor das Kriminalgericht führen. Das sind Märchen und es hält schwer, daß die guten Leute sie noch im Romanfeuilleton dulden.«

»Mir soll es recht sein,« fuhr der Graf mit seinem unbehaglichen Lächeln fort. »Sie haben zweifellos recht ... Aber sagen Sie das doch einmal Ihrem Gastfreund, dem Kardinal Boccanera, der einen alten, zärtlich geliebten Freund, Monsignore Gallo, in seinen Armen gehalten hat, als er im vorigen Sommer binnen zwei Stunden starb.«

»Eine Gehirnkongestion reicht für zwei Stunden aus, und eine Pulsadergeschwulst führt den Tod sogar in zwei Minuten herbei.«

»Das ist wahr, aber fragen Sie ihn, was er sich bei den langen Schauern, dem bleifarbenen Gesicht, den einfallenden Augen, dieser Schreckensmaske gedacht hat, in der er seinen Freund nicht mehr erkannte. Er ist vollständig davon überzeugt, daß Monsignore Gallo vergiftet ward, weil er sein teuerster Vertrauter, sein Ratgeber war, dem er stets Gehör schenkte, da seine weisen Ratschläge eine Bürgschaft des Sieges waren.«

Die Bestürzung Pierres war groß. Er wandte sich direkt an Santobono, dessen aufreizende Unbeweglichkeit ihn vollends beunruhigte.

»Das ist albern, das ist schrecklich! Und Sie, Herr Pfarrer, glauben Sie auch an diese schrecklichen Geschichten?«

An dem Priester zuckte keine Wimper. Er that seine dicken, gewaltsam zusammengepreßten Lippen nicht auf, und wandte seine dunkel flammenden Augen, die er auf Prada gerichtet hielt, von ihm nicht ab. Dieser fuhr übrigens fort, Beispiele anzuführen. Und Monsignore Nazzarelli, den man in seinem Bette gefunden hatte, zusammengeschrumpft und verkalkt wie eine Kohle? Und Monsignore Brando, den es im St. Peter selbst, während der Vesper betroffen hatte, der in der Sakristei, im Priesterornat gestorben war?

»Ach Gott!« seufzte Pierre, »Sie erzählen mir so viel, daß ich zuletzt selber zittere, und in Ihrem schrecklichen Rom nichts mehr als weiche Eier zu essen wagen werde!«

Dieser Scherz erheiterte einen Augenblick den Grafen und ihn. Wahrlich, aus ihrem Gespräch entwickelte sich ein schreckliches Rom – die ewige Stadt der Verbrechen, des Dolches und Giftes, wo seit mehr als zweitausend Jahren, seit der ersten errichteten Mauer, die Sucht nach Macht, die wütende Lust nach Genießen und Besitzen die Hände bewaffnet, das Pflaster blutig gefärbt und Opfer in den Tiber oder in die Erde geschleudert hatte. Meuchelmorde und Vergiftungen unter den Kaisern, Vergiftungen und Meuchelmorde unter den Päpsten – dieselbe Greuelflut wälzte die Toten unter der erhabenen Glorie der Sonne über diesen tragischen Boden.

»Thut nichts,« fuhr der Graf fort, »wer vorsichtig ist, hat vielleicht nicht unrecht. Es heißt, daß mehr als ein Kardinal bebt und Mißtrauen hegt. Ich weiß von einem, der nichts anderes ißt, als Speisen, die sein Koch einkauft und zubereitet. Was den Papst anbetrifft, wenn er unruhig ist, so ...«

Pierre stieß abermals einen Schrei der Betroffenheit aus.

»Wie, der Papst selbst? Der Papst fürchtet sich vor Gift!«

»Allerdings, mein lieber Abbé, man behauptet es wenigstens. Es gibt sicherlich Tage, an denen er sich in erster Reihe bedroht sieht. Wissen Sie nicht, daß in Rom der alte Glaube herrscht, ein Papst dürfe nicht zu alt werden, und daß man ihm hilft, wenn er darauf besteht, nicht rechtzeitig zu sterben? Sobald ein Papst kindisch, sobald er durch seine Altersschwäche eine Last, sogar eine Gefahr für die Kirche wird, ist sein natürlicher Platz im Himmel. Die Sache wird übrigens mit allem Anstand gemacht; der geringste Schnupfen ist ein dezenter Vorwand, damit er nicht länger auf dem Thron St. Peters säumt.«

Bei dieser Gelegenheit fügte er seltsame Einzelheiten hinzu. Ein Prälat, hieß es, der die Befürchtungen Seiner Heiligkeit zerstreuen wollte, hatte ein ganzes System von Vorsichtsmaßregeln ausgedacht, darunter einen kleinen, verschlossenen Wagen für die Vorräte, die für die päpstliche, übrigens sehr frugale, Tafel bestimmt waren. Aber dieser Wagen war beim bloßen Plan geblieben.

»Aber eigentlich muß man ja einmal sterben, besonders wenn es für das Wohl der Kirche ist,« schloß er zuletzt lachend. »Nicht wahr, Abbé?«

Seit einer Weile hatte Santobono, unbeweglich dasitzend, die Blicke gesenkt, als betrachte er endlos den kleinen Korb Feigen, den er mit so viel Sorgfalt wie ein heiliges Sakrament auf den Knieen hielt. Als er nun in so unmittelbarer und so lebhafter Weise befragt wurde, konnte er es nicht vermeiden, die Augen aufzuschlagen. Aber er trat aus seinem tiefen Schweigen nicht heraus und begnügte sich damit, langsam den Kopf zu neigen.

»Nicht wahr, Abbé, Gott allein und nicht das Gift führt den Tod herbei?« wiederholte Prada. »Man erzählt sich, daß das das letzte Wort des armen Monsignore Gallo war, als er in den Armen seines Freundes, des Kardinals Boccanera, verschied.«

Santobono neigte abermals wortlos den Kopf und alle drei schwiegen nachdenklich.

Der Wagen rollte unablässig durch die kahle Unermeßlichkeit der Campagna; die ganz gerade Straße schien ins Unendliche zu gehen. Je mehr die Sonne am Horizont unterging, desto mehr bezeichnete das Spiel von Licht und Schatten die riesigen Wellen des Bodens, die einander derart in rosigem Grün und lila Grau bis zu den fernen Rändern des Himmels folgten. Längs der Straße, rechts und links standen immer nur große, trockene Disteln und Riesenfenchel mit gelben Dolden. Dann zeigte sich einen Augenblick ein bei der Arbeit verspätetes Ochsenviergespann; es hob sich schwarz von der klaren Luft ab und sah inmitten der düstern Einsamkeit außerordentlich groß aus. Weiterhin bildeten Haufen von Schafen, deren scharfen Schweißgeruch der Wind herübertrug, braune Flecken auf dem wieder grün gewordenen Gras. Manchmal bellte ein Hund. Es war die einzige deutliche Stimme in dem heimlichen Schauer dieser stillen Einöde, wo der erhabene Friede der Toten zu herrschen schien. Aber ein leiser Gesang ertönte: Lerchen flogen empor und eine von ihnen stieg sehr, sehr hoch in den hellgoldenen Himmel auf. Und gegenüber, im Hintergrunde dieses reinen, kristallklaren Himmels wuchs Rom mit seinen Türmen und Domen immer größer empor, wie eine Stadt aus weißem Marmor, die durch ein Wunder zwischen dem Grün eines Zaubergartens ersteht.

»Matteo,« rief Prada seinem Kutscher zu, »halte bei der Osteria Romana.«

Dann wandte er sich zu seinen Gefährten.

»Bitte, mich zu entschuldigen, aber ich will nachsehen, ob es dort keine frische Eier für meinen Vater gibt. Er ißt sie leidenschaftlich gern.«

Das Haus erschien und der Wagen hielt. Ganz am Rande der Straße stand eine Art primitives Wirtshaus mit einem hochtönenden und stolzen Namen: Antica Osteria Romana. Es war eine einfache Kärrnerstation, in die sich nur Jäger wagten, um eine Flasche Weißwein zu trinken und dabei einen Eierkuchen und ein Stück Schinken zu essen. Trotzdem drang das kleine Volk von Rom manchmal Sonntags bis hierher, um sich zu erlustigen. Aber unter der Woche, in der ungeheuren, kahlen Campagna, verflossen ganze Tage, ohne daß eine menschliche Seele eintrat.

Der Graf sprang bereits leicht vom Wagen herab, indem er sagte:

»Es wird bloß eine Minute dauern; ich komme sofort zurück.«

Die Osteria bestand nur aus einem langen, niedrigen, einstöckigen Gebäude; der Zugang zu diesem Stockwerk geschah auf einer äußern, aus groben Steinen gebildeten Treppe, die die heiße Sonne verbrannt hatte. Uebrigens war das ganze Gebäude abgenutzt und besaß die Farbe von altem Golde. Im Erdgeschoß befanden sich ein gemeinsamer Saal, eine Remise, ein Stall und Schoppen. Auf der einen Seite, neben einer Gruppe von Schirmpinien – dem einzigen Baume, der auf diesem undankbaren Boden wuchs – befand sich ein Laubengewölbe aus Schilf, unter dem fünf oder sechs hölzerne, mit der Axt zubehauene Tische aufgereiht standen. Dahinter erhob sich, gleichsam als Hintergrund dieses armseligen und düsteren Stück Lebens, das Bruchstück einer alten Wasserleitung, deren gähnende, halb zerfallene Bogen das einzige waren, das die flache Linie des grenzenlosen Horizonts durchschnitt.

Aber der Graf kehrte plötzlich zurück.

»Hören Sie, Abbé, Sie werden wohl ein Glas Weißwein annehmen, nicht wahr? Ich weiß, Sie sind ein bißchen Winzer und hier gibt es ein Weinchen, das man kennen muß.«

Santobono stieg, ohne sich bitten zu lassen, ruhig ebenfalls aus.

»O, ich kenne ihn, ich kenne ihn! Es ist ein Marinowein, der in einem noch magereren Boden gebaut wird, als bei uns in Frascati.«

Aber da er seinen Korb Feigen noch immer nicht losließ und mittrug, wurde der Graf ungeduldig.

»Nun, den haben Sie doch nicht nötig! Lassen Sie ihn doch im Wagen!«

Der Pfarrer antwortete nicht, sondern schritt weiter, wahrend Pierre sich ebenfalls zum Aussteigen entschloß; er war neugierig, eine Osteria, eine dieser Volksschenken zu sehen, von denen man ihm erzählt hatte.

Prada war hier bekannt; sofort erschien eine alte, große, ausgetrocknete Frau, die trotz ihres armseligen Rockes von königlicher Haltung war. Das letztemal hatte sie zuletzt ein halbes Dutzend frischer Eier gefunden und diesmal wollte sie auch nachsehen, ohne im voraus etwas zu versprechen; denn man wußte es nie, die Hennen legten aufs Geratewohl in alle Ecken.

»Gut, gut, sehen Sie nur nach. Man soll uns eine Flasche Weißwein bringen.«

Alle drei traten in den gemeinschaftlichen Saal. Es war darin schon ganz Nacht geworden. Obwohl die heiße Jahreszeit vorbei war, hörte man schon von der Schwelle aus das dumpfe Summen der Fliegenschwärme. Ein herber Geruch von saurem Wein und ranzigem Oel preßte die Kehle zusammen. Sobald sich ihre Augen ein wenig an das Dunkel gewöhnt hatten, konnten sie das große, geschwärzte, verpestete und mit Bänken und Tischen aus dickem, kaum gehobeltem Holz, einfach möblirte Zimmer unterscheiden. Es schien leer zu sein, so vollständige Stille herrschte darin; nur die Fliegen flogen herum. Dennoch saßen zwei Männer, zwei Vorübergehende, stumm und unbeweglich vor ihren vollen Gläsern. Auf einem niedrigen Stuhl neben der Thür, in dem bißchen Tageslicht, das durch sie hereinfiel, saß die Haustochter, ein mageres, gelbes Mädchen; sie zitterte vor Fieber und hielt beide Hände zusammengedrückt, müßig zwischen den Knieen.

Der Graf, der das Unbehagen Pierres fühlte, schlug vor, den Wein draußen auftragen zu lassen.

»Es wird viel angenehmer sein. Es ist ja so milde!«

Und das Mädchen mußte, da die Mutter Eier suchte und der Vater in einem nahen Schuppen ein Rad ausbesserte, sich frostzitternd erheben, um die Flasche Wein und drei Gläser zu einem der Tische in dem Laubengewölbe hinauszutragen. Sie steckte die sechs Centesimi für die Flasche ein und kehrte wortlos, mit mürrischer Miene, weil sie eine solche Reise hatte machen müssen, auf ihren Platz zurück.

Als alle drei sich am Tische niedergelassen hatten, füllte Prada fröhlich die Gläser, trotz des Flehens Pierres, der wie er sagte, nicht im stande war, Wein während der Mahlzeiten zu trinken.

»Pah, pah, Sie werden schon mit uns anstoßen. Nicht wahr, Abbé, das Weinchen ist fein? ... Nun, auf das Wohl des Papstes, da er leidend ist!«

Santobono schnalzte, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hatte, mit der Zunge. Er hatte den Korb behutsam, mit väterlicher Sorgfalt neben sich auf den Boden gestellt, nahm nun den Hut ab und atmete tief auf. Der Abend war wirklich köstlich; eine wunderbare Himmelsreinheit, ein ungeheurer, zart goldener Himmel lag über dem endlosen Meer der Campagna, die im Begriffe war, in erhabener Unbeweglichkeit und Ruhe einzuschlummern. Und der leichte Wind, dessen Hauch durch die große Stille strich, hatte einen köstlichen Geruch von Gras und Feldblumen.

»Mein Gott, wie angenehm ist es!« murmelte Pierre bezaubert. »Welche Einöde ewiger Ruhe, in der man die übrige Welt vergessen kann!«

Aber Prada, der die Flasche geleert hatte, indem er das Glas des Pfarrers von neuem füllte, unterhielt sich, ohne etwas zu sagen, sehr über ein Abenteuer, das anfangs nur er allein bemerkte. Er machte den jungen Priester durch einen Blick aufmerksam und von nun an verfolgten sie beide in fröhlicher Mitschuld die dramatischen Wechselfälle. Ein paar magere Hennen strichen auf der Suche nach Cikaden in dem rötlichen Grase um sie herum. Nun hatte eine dieser Hennen, eine kleine, schwarze, fein glänzende, äußerst unverschämte Henne, den am Boden stehenden Korb Feigen bemerkt und näherte sich ihm keck. Als sie jedoch ganz daneben war, bekam sie Angst und wich zurück. Sie steifte den Hals, drehte den Kopf und ließ ihr rundes Auge funkeln. Zuletzt bekam die Leidenschaft die Oberhand und da eine Feige zwischen ein paar Blättern hervorguckte, näherte sie sich ohne Hast, indem sie die Füße sehr hoch hob; plötzlich versetzte sie der Feige einen tüchtigen Schnabelhieb und durchlöcherte sie, so daß der Saft herausfloß.

Prada, glücklich wie ein Kind, konnte jetzt in das Lachen ausbrechen, das er mit großer Mühe unterdrückt hatte.

»Achtung, Abbé, hüten Sie Ihre Feigen!«

Santobono hatte just sein zweites Glas mit zurückgebogenem Kopf und himmelwärts gerichteten Augen, in frommer Zufriedenheit ausgetrunken. Er fuhr auf, sah hin, begriff sofort, als er die Henne erblickte und nun folgte ein wahrer Zornausbruch. Unter heftigen Geberden stieß er schreckliche Schmähungen aus. Aber die Henne, die in diesem Augenblick nochmals mit dem Schnabel zufuhr, ließ die Feige nicht los, pickte sie auf und trug sie mit flatternden Flügeln so rasch und in so komischer Weise fort, daß Prada und selbst Pierre über die ohnmächtige Wut Santobonos, der sie einen Augenblick mit drohender Faust verfolgte, bis zu Thränen lachten.

»Das haben Sie nun davon, daß Sie den Korb nicht im Wagen ließen,« sagte der Graf. »Wenn ich Sie nicht aufmerksam gemacht hätte, so würde die Henne alles aufgefressen haben.«

Der Pfarrer setzte, ohne zu antworten, noch immer dumpfe Verwünschungen vor sich hinmurmelnd, den Korb auf den Tisch, hob die Blätter auf und ordnete die Feigen von neuem kunstvoll, um das Loch auszufüllen; dann, als er die Blätter wieder zurecht gelegt und das Unheil gut gemacht hatte, beruhigte er sich.

Es war Zeit zum Weiterfahren; die Sonne senkte sich am Horizont, die Nacht war nahe. Der Graf wurde daher ungeduldig.

»Nun, wo sind die Eier!«

Und da er die Frau nicht zurückkommen sah, machte er sich auf die Suche nach ihr. Er trat in den Stall, blickte dann in die Remise, aber die Frau war nicht zu finden. Nun ging er hinter das Haus, um einen Blick in den Schuppen zu werfen. Aber hier hielt ihn plötzlich etwas Unerwartetes auf. Auf dem Boden lag die kleine, schwarze Henne, leblos, tot. Am Schnabel sah man nur einen dünnen lila Blutstrom, der noch immer floß.

Zuerst war er bloß erstaunt. Er bückte sich und berührte sie. Sie war warm, weich und schlaff, wie ein Lappen. Zweifellos ein Schlaganfall. Aber gleich darauf wurde er furchtbar bleich. Die Wahrheit überkam ihn und ließ ihn erstarren. Wie in einem Blitz stieg vor ihm der kranke Leo XIII. auf – dann Santobono, wie er zu dem Kardinal Sanguinetti um Nachrichten eilte, und hierauf nach Rom ging, um dem Kardinal Boccanera den Korb Feigen zum Geschenk zu bringen. Und er erinnerte sich der Gespräche seit Frascati, über den eventuellen Tod des Papstes, die möglichen Kandidaten auf die Tiara, die legendenhaften Giftgeschichten, die die Umgebung des Vatikans noch in Schrecken versetzten; er sah den Pfarrer wieder vor sich, wie er voll väterlicher Sorgfalt sein Körbchen auf den Knieen hielt; er sah die kleine, schwarze Henne wieder vor sich, wie sie in den Korb pickte und mit einer Feige im Schnabel davon lief. Die kleine Henne lag da, tot, vom Blitz getroffen.

Seine Ueberzeugung stand sofort unumstößlich fest. Aber er hatte nicht einmal die Zeit, sich zu fragen, was er thun solle, denn eine Stimme hinter ihm rief:

»Sieh da, die kleine Henne! Was hat sie denn?«

Es war Pierre; er hatte Santobono wieder einsteigen lassen und dann ebenfalls die Runde um das Haus gemacht, um sich die Bruchstücke der halbzerfallenen Wasserleitung unter den Schirmpinien mehr in der Nähe anzusehen.

Noch zitternd, als wäre er der Schuldige, antwortete Prada mit einer Lüge; er hatte sie nicht vorher bedacht und gab einer Art Instinkt nach.

»Sie ist tot ... Stellen Sie sich vor, es hat hier eine Schlacht gegeben. Gerade als ich kam, hatte sich jene andere Henne – die Sie dort unten sehen – auf diese hier gestürzt, um die Feige zu bekommen, die sie noch immer hielt. Sie schlug ihr mit einem Schnabelhieb den Schädel ein ... Sie sehen, das Blut fließt noch.«

Warum sagte er das? Er wunderte sich selbst, während er diese Dinge erfand. Wollte er also Herr der Situation bleiben, niemand ins Vertrauen ziehen, um dann nach seinem Gefallen zu handeln? Was ihn bewegte, war gleichzeitig eine schüchterne Befangenheit vor dem Fremden, eine persönliche Neigung zu Gewaltthätigkeit, die seiner ehrlichen Empörung etwas wie Bewunderung beimischte, und ein heimliches Bedürfnis, die Sache vom Standpunkt seines persönlichen Interesses zu untersuchen, ehe er einen Entschluß faßte.

Ein ehrlicher Mann war er; er würde es sicherlich nicht zulassen, daß man Leute vergiftete.

Pierre, der gegen Tiere mitleidig war, sah die Henne mit jener leisen Bewegung an, die ihm jede plötzliche Unterdrückung des Lebens verursachte. Er nahm die Geschichte ganz natürlich hin.

»Ach, diese Hennen! Sie sind unter sich von einer albernen Wildheit, der die Menschen kaum gleichkommen! Ich hatte bei mir zu Hause einen Hühnerhof und keine von ihnen konnte sich den Fuß verletzen, ohne daß alle anderen, wenn sie Blut fließen sahen, auf sie lospickten und sie bis auf die Knochen auffraßen.«

Prada entfernte sich sofort. Just suchte ihn auch die Frau, um ihm vier Eier zu übergeben, die sie mit großer Mühe in den Winkeln des Hauses ausgenommen hatte. Er beeilte sich, sie zu bezahlen, und rief Pierre, der noch zögerte:

»Beeilen wir uns, beeilen wir uns! Jetzt werden wir erst bei dunkler Nacht in Rom sein.«

Im Wagen trafen sie Santobono, der ruhig wartete. Er hatte seinen Platz auf dem Klappsitz wieder eingenommen, lehnte das Rückgrat fest gegen den Kutschersitz, hatte seine langen Beine unter sich gezogen und hielt auf den Knieen abermals den kleinen, so zierlich geordneten Korb Feigen, den er mit seinen groben, knorrigen Händen beschützte, als sei er etwas Seltenes und Zerbrechliches, dem das geringste Rütteln der Räder hätte schaden können. Seine Sutane bildete einen großen, dunklen Fleck. In seinem derben, erdfarbenen Gesicht – dem Gesichte eines Bauern, der dicht an dem wilden Boden hängen geblieben ist und von den paar Jahren des Theologiestudiums nur wenig geschliffen wurde – schienen einzig die Augen zu leben. Sie leuchteten mit einer dunklen, verzehrenden Flamme der Leidenschaft.

Als Prada ihn so entschieden, so ruhig dasitzen sah, überlief ihn ein leiser Schauer. Dann sagte er, sobald die Viktoria wieder über die ganz gerade und endlose Straße rollte:

»Nun, Abbé, das war ein Glas Wein, das uns gegen die böse Luft schützen wird. Wenn der Papst es uns nachthun könnte, würde er sicherlich von seinen Koliken genesen.«

Aber Santobono gab statt aller Antwort nur ein dumpfes Murren von sich. Er wollte nicht mehr sprechen und schloß sich, wie von der herannahenden, trägen Nacht überkommen, in ein vollständiges Schweigen ein. Prada schwieg ebenfalls, indem er die Augen auf ihn gerichtet hielt und sich fragte, was er thun solle.

Die Straße beschrieb eine Wendung, dann rollte der Wagen immer weiter und weiter über eine endlose Chaussee, deren weißes Pflaster sich in einer Linie bis ins Unendliche zu ziehen schien. Diese weiße Straße nahm jetzt eine Art Leuchten an und entrollte ein schneeiges Band, während die ungeheure Campagna zu beiden Seiten nach und nach in einen feinen Schatten versank. In den Höhlungen der riesigen Wellen des Bodens häufte sich die Finsternis an; eine lila Flut schien sich davon auszubreiten, bedeckte überall das niedrige Gras und erweiterte die Ebene ins Unabsehbare, wie ein entfärbtes Meer. Alles verschmolz; es war nichts mehr da als die undeutliche, neutrale Schlagwelle von einem Ende des Horizonts zum andern. Die Wüste hatte sich wieder geleert; der letzte Karren fuhr träge vorüber, das letzte Klingeln heller Glöckchen verhallte in der Ferne, kein Wanderer, kein Tier war mehr zu sehen, Farben und Töne starben, alles Leben versank in Schlaf, in den heitern Frieden des Nichts. Rechts zeigten sich noch immer da und dort Bruchstücke einer Wasserleitung; sie glichen Schwanzstücken von Riesentausendfüßern, die die Sense der Jahrhunderte abgeschnitten hat. Dann kam links abermals ein Turm, dessen hohe, düstere Ruinen den Himmel wie mit einem schwarzen Pfahl versperrten; andere Stücke von Wasserleitungen übersetzten die Straße und kamen auf dieser Seite, indem sie sich von der untergehenden Sonne abhoben, zu ungeheurer Geltung. Ach, diese unvergleichliche Stunde – die Dämmerstunde in der römischen Campagna, wenn alles darin verschwimmt und sich vereinfacht, die Stunde der nackten Unermeßlichkeit, der Unendlichkeit und Einfachheit! Nichts, nichts ist zu sehen als die runde, flache Linie des Horizontes, nichts als der Fleck, den eine vereinzelte aufrechtstehende Ruine bildet, doch dieses Nichts ist von erhabener Majestät und Größe.

Aber da unten, links, gegen das Meer zu, ging die Sonne unter. Wie eine glühende, blendend rote Kugel senkte sie sich an dem reinen Himmel. Sie tauchte langsam hinter den Horizont und man sah keine anderen Wolken als Feuerdämpfe, als ob das ferne Meer plötzlich bei der Flamme dieses königlichen Besuches aufgekocht wäre. Gleich darauf, als die Sonne verschwunden war, wurde dieser Winkel des Himmels von einer Blutlache gerötet, während die Campagna grau wurde. Am Ende der entfärbten Ebene war nichts mehr vorhanden als dieser Purpursee, dessen Glut man allmälich hinter dem schwarzen Bogen der Wasserleitung ersterben sah; auf der andern Seite hoben sich die zerstreuten, noch rosa Bogen hell von dem zinnfarbenen Himmel ab. Dann verzogen sich die Feuerdämpfe, und der Westen erlosch vollends in tiefer, wilder Schwermut. An dem beruhigten, nun aschblauen Firmament entzündete sich ein Stern nach dem andern, während die Lichter des noch fernen, gegenüber, gleich mit dem Horizont befindlichen Rom wie Leuchtfeuer funkelten.

Und inmitten der nachdenklichen Stille seiner beiden Gefährten, inmitten der unendlichen Trauer des Abends fuhr Prada, selbst von unsagbarer Angst ergriffen, fort, sich zu fragen, was er thun solle. Seine Augen wichen nicht von Santobono; das Gesicht des Pfarrers versank in der Nacht, aber er saß ruhig da und ließ seinen großen Körper vom Wagen schaukeln. Er wiederholte sich, daß er die Leute nicht derart vergiften lassen könne. Die Feigen waren sicherlich für den Kardinal Boccanera bestimmt, und eigentlich lag ihm wenig an einem Kardinal mehr oder weniger an einem möglichen Papst, dessen künftige, historische Wirksamkeit schwer vorauszusehen war. Bei seinen grimmigen Erobererbegriffen, ganz dem Kampf ums Leben hingegeben, hatte er es stets für das Beste gehalten, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen; abgesehen davon, sah er nichts Böses darin, wenn ein Priester den andern auffraß: das belustigte seinen Atheismus. Er bedachte auch, daß es gefährlich sein könnte, sich in diese abscheuliche Geschichte, in die niedrigen, verdächtigen und unergründlichen Intriguen der schwarzen Gesellschaft zu mengen. Aber der Kardinal befand sich im Palazzo Boccanera nicht allein: konnten die Feigen nicht an die unrichtige Adresse, an andere Personen gelangen, denen man nicht schaden wollte? Dieser Gedanke an einen empörenden Zufall verfolgte ihn jetzt, und ohne daß er seine Gedanken dabei verweilen lassen wollte, stiegen die Gestalten Benedettas und Darios vor ihm auf; trotz seiner Bemühungen, sie nicht zu sehen, kehrten sie wieder und drängten sich ihm auf. Wie, wenn Benedetta, wenn Dario von diesen Früchten aßen? Den Gedanken an Benedetta schob er sogleich beiseite, denn er wußte, daß sie mit ihrer Tante eigenen Tisch führte, daß zwischen den beiden Küchen nichts Gemeinsames bestand. Aber Dario frühstückte jeden Morgen mit seinem Oheim. Einen Augenblick sah er Dario vor sich, wie er von einem Krampf ergriffen wurde und gleich dem armen Monsignore Gallo, mit grauem Gesicht und eingefallenen Augen, binnen zwei Stunden hingerafft, in die Arme des Kardinals sank.

Nein, nein, das war schrecklich! Einen solchen Greuel konnte er nicht zulassen. Sein Entschluß war also gefaßt. Er wollte abwarten, bis die Nacht vollständig hereingebrochen sei, dann ganz einfach den Korb von den Knieen des Pfarrers nehmen und ihn aufs Geratewohl, ohne ein Wort zu sprechen in irgend ein dunkles Loch werfen. Der Pfarrer würde es verstehen. Der andere, der Junge, würde das Abenteuer vielleicht nicht einmal bemerken. Uebrigens lag daran wenig, denn er war fest entschlossen, seine Handlung nicht einmal zu erklären. Er fühlte sich nun ganz beruhigt, als ihm der Gedanke kam, den Korb in dem Augenblick hinauszuwerfen, wo der Wagen, einige Kilometer vor Rom, durch die Porta Furba fahren würde. Im Dunkel dieses Thores würde das sehr gut gehen; man konnte dort nichts sehen.

»Wir haben uns verspätet und werden nun nicht vor sechs Uhr in Rom sein,« fuhr er ganz laut fort, indem er sich zu Pierre wendete. »Aber Sie werden noch Zeit haben, sich anzukleiden und Ihren Freund aufzusuchen.«

Dann wandte er sich, ohne die Antwort abzuwarten, zu Santobono:

»Ihre Feigen werden recht spät kommen.«

»O, Seine Eminenz empfängt bis acht Uhr,« sagte der Pfarrer. »Und dann gehören ja die Feigen nicht für heute abend. Abends ißt man keine Feigen. Sie gehören für morgen früh.«

Er versank wieder in sein Schweigen und sprach nichts mehr.

»Für morgen früh! Ja, ja, gewiß,« wiederholte Prada. »Der Kardinal wird sich damit wirklich regaliren können, wenn niemand ihm dabei hilft.«

Nun sagte Pierre unbesonnenerweise etwas, was er wußte.

»Er wird sie zweifellos allein essen, denn sein Neffe, Fürst Dario, sollte heute nach Neapel abreisen – eine kleine Erholungsreise nach dem Unfall, der ihn einen vollen Monat ans Bett fesselte.«

Er hielt plötzlich inne, denn er bedachte, mit wem er sprach. Aber der Graf hatte seine Verlegenheit bemerkt.

»Nun, nun, mein lieber Herr Froment, Sie kränken mich damit durchaus nicht. Das ist ja schon eine sehr alte Geschichte ... Der junge Mann ist also abgereist, sagen Sie?«

»Ja, außer wenn er seine Abreise verschoben hätte. Ich erwarte nicht, ihn noch im Palaste anzutreffen.«

Einen Augenblick hörte man abermals nichts mehr, als das fortwährende Rollen der Räder. Prada schwieg; er wurde wieder von Unruhe, dem Unbehagen der Unsicherheit ergriffen. In was wollte er sich mengen, da ja Dario nicht in Rom war? Alle diese Betrachtungen ermüdeten ihm den Kopf und zuletzt dachte er ganz laut.

»Wenn er abgereist ist, so muß das der Konvenienz halber geschehen sein, um dem Feste bei den Buongiovannis nicht beizuwohnen; denn die Konzilkongregation hat sich heute früh versammelt, um in dem Prozeß, den die Gräfin gegen mich angestrengt hat, das endgiltige Urteil zu sprechen ... Ja, ich werde sogleich wissen, ob die Annullirung unserer Ehe vom heiligen Vater unterzeichnet werden wird.«

Seine Stimme war etwas heiser geworden; man fühlte, daß die alte Wunde sich wieder öffnete und blutete – die Wunde, die seinem Mannesstolze von der Frau geschlagen worden, die sein war und sich ihm verwehrt hatte, indem sie sich einem andern aufbewahrte. Es war vergeblich, daß seine Freundin Lisbeth ihm ein Kind geschenkt hatte: die Beschuldigung des Unvermögens, diese Beschimpfung seiner Männlichkeit, erstand ohne Unterlaß und schwellte sein Herz mit blindem Zorn. Ein heftiger, plötzlicher Schauer schüttelte ihn, als sei ihm ein wahrer Eishauch über die Haut gelaufen, und plötzlich fügte er, dem Gespräch eine andere Wendung gebend, hinzu:

»Es ist heute abend wirklich nicht warm ... Das ist die böse Stunde in Rom, die Stunde nach Sonnenuntergang, wo man sich sehr leicht ein schönes Fieber holen kann, wenn man sich nicht in acht nimmt ... Da, ziehen Sie die Decke besser über die Beine; wickeln Sie sich sorgfältig ein.«

Dann, während sie sich der Porta Furba näherten entstand wieder Schweigen; es war noch schwerer als vorhin und glich dem unbesiegbaren Schlummer, der die von der Nacht verschlungene Campagna einschläferte. Endlich erschien in dem Licht heller Sterne das Thor: es war nichts anderes als ein Bogen der Acqua Felice, unter dem die Straße hindurchging. Dieser Rest der Wasserleitung schien aus der Ferne mit der ungeheuren Masse alter, halbzerfallener Mauern den Durchweg zu versperren. Dann that sich der riesige, ganz von Schatten erfüllte Bogen wie ein gähnendes Thor auf, und der Wagen fuhr in voller Finsternis, unter noch lauterem Rädergerassel hindurch.

Als sie auf der andern Seite angelangt waren, hielt Santobono den kleinen Korb Feigen noch immer auf den Knieen, und Prada blickte ihn verstört an; er fragte sich, durch welche plötzliche Lähmung seine beiden Hände verhindert worden seien, den Korb zu ergreifen und ins Dunkel zu werfen. Und doch war er noch wenige Sekunden vor dem Einfahren unter der Wölbung dazu entschlossen gewesen. Er hatte ihn sogar noch einmal angesehen, um die Bewegung, die er zu machen haben würde, genau zu berechnen. Was war also in ihm vorgegangen? Er fühlte, daß er die Beute einer wachsenden Unschlüssigkeit, daß er fortan nicht im stande war, etwas Bestimmtes zu wollen, da er in dem heimlichen Gedanken, vor allem sich selbst vollständig zu befriedigen, das Bedürfnis empfand, zu warten. Warum sollte er sich jetzt, da doch Dario zweifellos fort war und die Feigen sicherlich nicht vor dem nächsten Morgen gegessen werden würden, beeilen? Noch an diesem Abend mußte er erfahren, ob die Konzilkongregation seine Ehe annullirt habe – würde er wissen, bis zu welchem Grade die Gerechtigkeit Gottes käuflich und lügnerisch war. Gewiß, vergiften würde er niemanden lassen, nicht einmal den Kardinal Boccanera, an dessen Existenz ihm doch so wenig lag. Aber war dieser kleine Korb nicht seit der Abfahrt von Frascati das schreitende Schicksal? Erlag er nicht, indem er sich sagte, daß er die Macht besaß, es aufzuhalten oder bis ans Ende seines tödlichen Werkes gehen zu lassen, einem unbeschränkten Machtgenuß? Uebrigens gab er sich dem unklarsten aller Kämpfe hin; er suchte nicht mehr nach Gründen, seine Hände waren so gebunden, daß er nicht anders handeln konnte. Ueberzeugt, daß er vor dem Schlafengehen einen Warnungsbrief in den Briefkasten des Palastes werfen würde, war er dennoch glücklich bei dem Gedanken, daß er es nicht thun würde, wenn er ein Interesse daran hätte, es nicht zu thun.

Nun wurde der letzte Teil der Straße inmitten dieser matten Stille, in dem Schauer des Abends zurückgelegt, der die drei Männer erstarrt zu haben schien. Vergeblich kam der Graf, um dem Kampf seiner Betrachtungen zu entgehen, wieder auf den Empfang bei den Buongiovannis zu sprechen, erzählte Einzelheiten, schilderte die Pracht, der man beiwohnen würde – er brachte nur wenige, befangene und zerstreute Worte hervor. Dann bemühte er sich, Pierre zu trösten, ihm die Hoffnung wiederzugeben, indem er von dem liebenswürdigen, so verheißungsvollen Kardinal Sanguinetti sprach; aber obwohl der junge Priester sehr glücklich und in dem Gedanken heimkehrte, daß sein Buch noch nicht verdammt sei und daß er vielleicht, wenn man ihm half, siegen würde, so antwortete er kaum und gab sich ganz seiner Träumerei hin. Santobono sprach nicht, rührte sich nicht; er war gleichsam in der dunklen Nacht verschwunden. Die Lichter Roms hatten sich vervielfältigt; rechts und links erschienen wieder Häuser, anfangs in weiten Zwischenräumen, nach und nach in ununterbrochenen Reihen. Das war die Vorstadt; dann kamen noch Schilffelder, lebendige Zäune, Oelbäume, deren Wipfel die langen Einfassungsmauern überragten, große Portale mit vasengekrönten Pilastern, und endlich kam die Stadt, mit ihren Reihen kleiner, grauer Häuser, ärmlicher Kramladen, elender Schenken, aus denen manchmal Kampfgeschrei und Lärm herausdrang.

Prada wollte seine Begleiter unbedingt in der Via Giulia, etwa fünfzig Schritte vor dem Palaste absetzen.

»Es genirt mich nicht, ich versichere Sie, in keiner Weise ... Da Sie es so eilig haben, können Sie doch nicht die Strecke zu Fuß gehen!«

Die Via Giulia schlief bereits in ihrem hundertjährigen Frieden; sie lag mit der düstern Doppelreihe ihrer Gashähne vollständig einsam, in der Schwermut der Verlassenheit da. Als Santobono ausgestiegen war, wartete er nicht auf Pierre, der übrigens stets durch das kleine, auf das Seitengäßchen gehende Thor ging.

»Auf Wiedersehen, Abbé.«

»Auf Wiedersehen, Herr Graf. Tausend Dank!«

Nun konnten ihm beide mit dem Blicke bis zum Palast Boccanera folgen, dessen altes, monumentales, von schwarzen Schatten erfülltes Thor noch weit offen stand. Einen Augenblick sahen sie seine hohe Gestalt diese Schatten versperren. Dann trat er mit seinem kleinen Korbe ein. Er trug das Schicksal.

 

Ende des zweiten Bandes.


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