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Pierre, der einzig und allein daran dachte, der Sache ein Ende zu machen, wollte bereits am nächsten Tage ans Werk gehen. Aber eine gewisse Unsicherheit hatte ihn ergriffen. Bei wem sollte er zuerst anklopfen, welche Persönlichkeit sollte er zuerst besuchen, wenn er in einer so verwickelten und so eitlen Gesellschaft alle Fehler vermeiden wollte? Da er beim Oeffnen seiner Thür im Korridor zufällig Don Vigilio, den Sekretär des Kardinals, bemerkte, bat er ihn, einen Augenblick zu ihm ins Zimmer zu treten.
»Sie sollen mir einen Gefallen erweisen, Herr Abbé. Ich vertraue mich Ihnen an; ich brauche einen Rat.«
Er fühlte, daß dieser kleine, magere Mann mit der safrangelben Hautfarbe, der immer vor Fieber zitterte, bei seiner übertriebenen und furchtsamen Verschwiegenheit über alles unterrichtet war, mit allem in Verbindung stand. Er schien ihn bisher beinahe zu fliehen, zweifellos um der Gefahr einer Bloßstellung zu entgehen. Dennoch war er bereits seit einiger Zeit weniger scheu und seine schwarzen Augen stammten auf, wenn er seinem Nachbar begegnete, als hätte ihn die Ungeduld, von der jener verzehrt werden mußte, weil er so lange Zeit zur Unthätigkeit verurteilt war, selbst ergriffen. Er versuchte auch nicht, der Unterredung auszuweichen.
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie in eine solche Unordnung eintreten lasse,« fuhr Pierre fort. »Heute früh habe ich wieder Wäsche und Winterkleider aus Paris erhalten. Stellen Sie sich vor, ich bin mit einem kleinen Handkoffer für vierzehn Tage gekommen, und nun bin ich bald drei Monate hier, ohne weiter zu sein als am Morgen meiner Ankunft.«
Don Vigilio schüttelte leicht den Kopf.
»Ja, ja, ich weiß.«
Pierre erklärte ihm nun, daß er sich, nachdem Monsignore Nani ihm durch die Contessina hatte sagen lassen, er möge, um sein Buch zu verteidigen, handeln und alle Welt besuchen, in großer Verlegenheit befinde; denn er wisse nicht, nach welcher Ordnung er seine Besuche regeln solle, um aus ihnen einen Nutzen zu ziehen. Müsse er zum Beispiel vor allem Monsignore Fornaro besuchen, den mit dem Bericht über sein Buch betrauten Prälaten, dessen Namen man ihm mitgeteilt hatte?
»Ah!« rief Don Vigilio erbebend, »Monsignore Nani ist also so weit gegangen! Er hat Ihnen den Namen preisgegeben!... Ah, das ist noch mehr, als ich erwartete!«
Er vergaß sich und setzte, von Leidenschaft hingerissen, hinzu:
»Nein, nein, fangen Sie nicht mit Monsignore Fornaro an. Statten Sie zuerst einen höchst demütigen Besuch beim Präfekten der Indexkongregation, bei Seiner Eminenz dem Kardinal Sangumetti, ab; denn wenn er es eines Tages erfährt, würde er es Ihnen nie verzeihen, daß Sie einem andern Ihre erste Huldigung darbrachten.«
Er hielt inne und fügte mit leiser Stimme, von einem leichten Schauer seines Fiebers geschüttelt, hinzu:
»Und er würde es erfahren; man erfahrt alles.«
Dann ergriff er beide Hände des fremden jungen Priesters, als rege sich eine plötzliche Tapferkeit der Sympathie in ihm:
»Mein lieber Herr Froment, ich schwöre Ihnen, daß ich mich sehr glücklich schätzen würde, wenn ich Ihnen etwas nützen könnte, denn Sie sind ein argloses Herz und thun mir zuletzt wirklich leid. Aber Sie dürfen nichts Unmögliches von mir verlangen. Wenn Sie wüßten, wenn ich Ihnen alle Gefahren anvertrauen würde, die uns umgeben! ... Aber so viel glaube ich Ihnen noch heute sagen zu können: rechnen Sie in keiner Weise auf meinen Herrn, Seine Eminenz den Kardinal Boccanera. Er hat Ihr Buch mehrmals in meiner Gegenwart vollständig gemißbilligt. Er aber ist ein Heiliger, ein Ehrenmann, und wenn er Sie auch nicht verteidigt, so wird er Sie doch nicht angreifen, sondern aus Rücksicht auf seine Nichte, die Contessina, die er anbetet und die Sie beschützt, neutral bleiben. Wenn Sie ihn also sehen, verteidigen Sie sich nicht; das würde zu nichts führen und könnte ihn reizen.«
Pierre wurde durch diese Mitteilung nicht allzu sehr betrübt, denn er hatte gleich bei seiner ersten Unterredung mit dem Kardinal und in den wenigen Achtungsbesuchen, die er ihm seither abgestattet, begriffen, daß er an ihm stets nur einen Gegner haben würde.
»Ich werde ihn also aufsuchen, um ihm für seine Neutralität zu danken,« sagte er.
Aber da wurde Don Vigilio wieder von allen seinen Aengsten ergriffen.
»Nein, nein, thun Sie das nicht! Er wird vielleicht erraten, daß ich mit Ihnen darüber gesprochen habe, und was für ein Unglück wäre das für mich! Meine Stellung wäre erschüttert. Ich habe nichts gesagt, ich habe gar nichts gesagt! Besuchen Sie zuerst die Kardinäle, alle Kardinäle. Wir wollen annehmen, daß ich sonst nichts gesagt habe! Nicht wahr?«
Und er wollte an diesem Tage nicht weiter sprechen. Er verließ erschauernd das Zimmer, indem er den Korridor mit seinen flammenden Augen voll Unruhe nach rechts und links durchspähte.
Pierre verließ sofort das Haus, um sich zum Kardinal Sanguinetti zu begeben. Es war zehn Uhr; er hatte also Aussicht, ihn zu treffen. Der Kardinal bewohnte neben der Kirche S. Luigi de Francesi, in einer dunklen und engen Straße, den ersten Stock eines kleinen, bürgerlich eingerichteten Palastes. Das war nicht die Riesenruine von fürstlicher Größe und Schwermut, bei der der Kardinal Boccanera beharrte. Die einstigen, vorschriftsmäßigen Galaräume waren wie der ganze Haushalt eingeschränkt worden. Es gab hier weder einen Thronsaal mehr, noch einen unter einem Baldachin aufgehängten großen roten Kardinalshut, noch einen gegen die Wand gekehrten, das Kommen des Papstes erwartenden Lehnstuhl. Zwei in einander gehende, als Vorzimmer dienende Gemächer, ein Salon, in dem der Kardinal empfing – und alles ohne jeden Luxus, sogar ohne Bequemlichkeit. Die Mahagonimöbel stammten aus der Empirezeit, die Tapeten und Teppiche waren staubig, durch den langen Gebrauch verblichen. Uebrigens mußte der Besucher lange läuten, und als endlich ein Diener die Thür halb öffnete, indem er ohne Uebereilung seine Weste anzog, gab er nur die Antwort, daß Seine Eminenz seit gestern in Frascati sei.
Pierre erinnerte sich nun, daß der Kardinal Sanguinetti in der That ein Suburbikarbischof war. Er hatte in Frascati, seinem Bistum, eine Villa, in der er manchmal einige Tage zubrachte, wenn ein Ruhebedürfnis oder eine politische Ursache ihn dazu bewog.
»Wird Seine Eminenz bald zurückkommen?«
»O, das weiß man nicht. Seine Eminenz ist leidend und hat den Auftrag gegeben, ja niemand hinauszuschicken, der ihn belästigen könne.«
Als Pierre sich wieder auf der Straße befand, war er durch diesen ersten Querstrich ganz außer Fassung gebracht. Sollte er sich, da es jetzt so Eile hatte, ohne weiteres Zögern zu Monsignore Fornaro begeben? Die Piazza Navona war dicht daneben. Aber er erinnerte sich, daß Don Vigilio ihm anempfohlen hatte, zuerst die Kardinale zu besuchen; plötzlich hatte er eine Eingebung und beschloß sofort zum Kardinal Sarno zu gehen, dessen Bekanntschaft er an den Montagabenden Donna Serafinas zuletzt gemacht hatte. Trotz seines freiwilligen Zurücktretens hielt ihn alles für eines der mächtigsten und furchtbarsten Mitglieder des heiligen Kollegiums; das hinderte seinen Neffen Narcisse jedoch nicht, zu erklären, daß er keinen Menschen kenne, der für Fragen, die seiner gewöhnlichen Beschäftigung fremd waren, stumpfer sei, als sein Oheim. Wenn er auch nicht in der Indexkongregation saß, so könnte er doch einen guten Rat geben, und vielleicht durch seinen großen Einfluß auf seine Kollegen wirken.
Pierre begab sich geradewegs in den Palast der Propaganda, wo er, wie er wußte, den Kardinal treffen mußte. Dieser Palast, dessen schwere Fassade von der Piazza di Spagna aus sichtbar ist, ist ein ungeheures, kahles und plumpes Gebäude, das einen ganzen Winkel zwischen zwei Straßen einnimmt. Pierre, dem sein schlechtes Italienisch schadete, verirrte sich darin, stieg Treppen hinan, die er wieder hinabsteigen mußte und ging durch ein wahres Labyrinth von Treppen, Gängen und Sälen. Endlich war er so glücklich, auf den Sekretär des Kardinals zu stoßen, einen jungen Priester, den er bereits im Palazzo Boccanera gesehen hatte.
»Aber gewiß, ich glaube wohl, daß Seine Eminenz Sie empfangen wollen wird. Sie thaten sehr wohl daran, um diese Stunde zu kommen, denn Seine Eminenz ist jeden Vormittag hier. Bitte, mir zu folgen.«
Nun kam von neuem eine Reise. Kardinal Sarno, der lange Zeit Sekretär der Propaganda gewesen, führte jetzt in seiner Eigenschaft als Kardinal den Vorsitz bei der Kommission, die den Kultus in den dem Katholizismus neu eroberten europäischen, afrikanischen, amerikanischen und ozeanischen Ländern organisirte. Unter diesem Titel besaß er hier ein Arbeitskabinet, Bureaux, eine ganze Administration, wo er mit der Besessenheit eines Beamten herrschte, der auf seinem Ledersessel alt geworden ist, ohne je aus dem engen Kreise seiner grünen Scharteken herausgetreten zu sein, ohne von der Welt etwas anderes zu kennen als den Anblick der Straße, deren Fußgeher und Wagen vor seinem Fenster vorüberzogen.
Am Ende eines dunklen Korridors, der auch am hellen Tage von Gashähnen beleuchtet werden mußte, ließ der Sekretär seinen Gefährten auf einem Bänkchen zurück. Nach Verlauf einer guten Viertelstunde kehrte er mit seiner diensteifrigen und liebenswürdigen Miene zurück.
»Seine Eminenz ist beschäftigt – eine Konferenz mit Missionaren, die abreisen sollen. Aber sie wird gleich zu Ende sein; er hat mir aufgetragen, Sie in sein Kabinet zu führen, wo Sie ihn erwarten sollen.«
Als Pierre in dem Kabinet allein war, betrachtete er neugierig dessen Einrichtung. Es war ein ziemlich geräumiges Zimmer, ohne jeden Luxus mit einer grünen Papiertapete ausgeschlagen und mit grünen Damastmöbeln mit schwarzem Holzgestell ausgestattet. Die beiden, auf eine schmale Seitengasse gehenden Fenster erhellten die nachgedunkelten Wände und den verblichenen Teppich mit trübem Licht; außer zwei Pfeilertischen befand sich nichts in dem Zimmer, als neben einem Fenster ein Schreibtisch, ein einfacher, schwarzer hölzerner Tisch mit abgenützter Moleskinplatte. Sie war übrigens so belastet, daß sie unter den Akten und Wischen verschwand. Einen Augenblick trat er näher und betrachtete den durch den Gebrauch eingedrückten Lehnstuhl, den ihn beschützenden Wandschirm, das alte, mit Tinte bespritzte Tintenfaß. Dann begann er in der schweren, toten Luft, die ihn bedrückte, in der großen, beunruhigenden Stille, die nur von dem gedämpften Getöse der Straße gestört wurde, ungeduldig zu werden.
Als Pierre sich aber entschloß, leise auf und ab zu gehen, stieß er auf eine an der Wand hängende Karte, deren Anblick ihn beschäftigte und derart mit den unermeßlichsten Gedanken erfüllte, daß er alles vergaß. Diese farbige Karte war die der katholischen Welt, die ganze Erde, die aufgerollte Weltkarte, auf der die verschiedenen Farben die Gebiete bezeichneten je nachdem sie dem siegreichen, unbeschränkt herrschenden oder dem noch immer im Kampf mit den Ungläubigen befindlichen Katholizismus gehörten. Die letzteren Länder waren je nach der Organisation in Vikariate oder Präfekturen in Klassen geteilt. War das nicht in bildlicher Darstellung das ganze, uralte Streben des Katholizismus nach der Weltherrschaft, die er seit der ersten Stunde angestrebt, die anzustreben und zu verfolgen er durch alle Zeiten hindurch nie aufgehört hat? Gott hat seiner Kirche die Welt gegeben; aber sie muß davon Besitz ergreifen, da der Irrtum noch immer beharrlich herrscht. Daher rührt der ewige Kampf, daher werden die Völker noch in unseren Tagen den feindlichen Religionen streitig gemacht, wie zur Zeit, da die Apostel Judäa verließen, um das Evangelium zu verbreiten. Während des Mittelalters bestand die große Aufgabe darin, das eroberte Europa zu organisiren; man konnte nicht einmal den Versuch zu einer Versöhnung mit den orientalischen Dissidentenkirchen machen. Dann brach die Reformation los, ein Schisma folgte dem andern – die eine protestantische Hälfte Europas und der ganze orthodoxe Orient mußten wieder erobert werden. Aber mit der Entdeckung der neuen Welt war der kriegerische Eifer wieder erwacht; Rom strebte darnach, diese zweite Hälfte der Erde in seinen Besitz zu bekommen. Missionen wurden geschaffen und gingen aus, Gott diese gestern noch unbekannten Völker zu unterwerfen; denn er hatte sie gleich den anderen Rom geschenkt. So hatte sich die große, gegenwärtige Spaltung der Christenheit von selbst gebildet: auf der einen Seite sind die katholischen Nationen, diejenigen, bei denen der Glaube bloß aufrecht erhalten werden mußte, die unumschränkt von dem im Vatikan untergebrachten Staatssekretariat geleitet werden – aus der andern Seite die schismatischen oder einfach heidnischen Nationen, die zur Wiege zurückgeführt oder bekehrt werden müssen, die die Kongregation der Propaganda zu beherrschen bemüht war. Dann mußte sich auch diese Kongregation behufs Erleichterung der Arbeit in zwei Zweige teilen: in den orientalischen, eigens mit den orientalischen Dissidentensekten betrauten, und in den lateinischen Zweig, dessen Macht sich über alle anderen Missionsländer erstreckt. Es ist ein unermeßliches Gesamtwesen erobernder Organisation, ein ungeheures Netz mit starken, dichten Maschen, das über die Welt geworfen war und keine einzige Seele entschlüpfen lassen durfte.
Erst jetzt, vor dieser Karte, erhielt Pierre eine deutliche Vorstellung von dieser seit Jahrhunderten arbeitenden und zum Aufsaugen der Menschheit geschaffenen Maschine. Die Propaganda, von den Päpsten reich ausgestattet und über ein beträchtliches Einkommen verfügend, erschien ihm wie eine abgesonderte Macht, wie ein Papsttum im Papsttum; er begriff nun, warum den Präfekten der Kongregation der Name »roter Papst« gegeben wurde. Ueber welche unbegrenzte Macht verfügte denn nicht der Eroberer und Beherrscher, dessen Hände von einem Ende der Welt bis zum andern reichten? Der Kardinalsekretär besaß Mitteleuropa, einen so kleinen Punkt der Erdkugel; aber besaß er nicht alle übrigen, unendlichen Räume, die fernen, fast noch unbekannten Länder? Die Ziffern besagten es ja: Rom herrschte unbestritten nur über zweihundert Millionen römisch-apostolischer Katholiken, wahrend die Schismatiker, die des Orients und die der Reformation, falls man sie zusammenzählte, bereits diese Zahl überschritten. Und was für ein Sprung, wenn man die Milliarde von Ungläubigen hinzufügte, deren Bekehrung noch ausstand! Diese Ziffern machten ihn plötzlich derart betroffen, daß ein Schauer ihn durchlief. Wie, war es also wahr? Es gab gegen fünf Millionen Juden, gegen zweihundert Millionen Mohammedaner, mehr als siebenhundert Millionen Brahmanen und Buddhisten, abgesehen von den hundert Millionen anderer Heiden aller Religionen, insgesamt eine Milliarde, gegen die die Christen nicht mehr als vierhundert Millionen ausmachten! Und auch diese unter sich gespalten, im fortwährenden Kampf befindlich – eine Hälfte mit Rom, die andere Hälfte gegen Rom! War es möglich, daß Christus in achtzehn Jahrhunderten nicht einmal ein Drittel der Menschheit erobert hatte, und daß Rom, das ewige, das allmächtige Rom nur den sechsten Teil der Völker als unterworfen berechnete? Unter sechs Seelen eine einzige gerettet – welch erschreckendes Verhältnis! Aber die Karte sprach die ungeschliffene Wahrheit: das mit rot bezeichnete Reich Roms war nur ein verlorener Punkt, wenn man es mit dem mit gelb bezeichneten Reiche der anderen Götter, den endlosen Gebieten verglich, die die Propaganda noch zu unterwerfen hatte, Die Frage war nun: wie vieler Jahrhunderte bedurfte es noch, damit die Verheißung Christi erfüllt, die gesamte Erde seinem Gesetz unterworfen, und die religiöse Gesellschaft die bürgerliche wieder erlangen würde, um nur noch einen Glauben und ein Reich zu bilden? Und von welchem Erstaunen wurde man angesichts dieser Frage, angesichts dieser zu beendigenden wunderbaren Aufgabe ergriffen, wenn man an die heitere Ruhe Roms, an seine geduldige Hartnäckigkeit dachte, die nie gezweifelt hat, die heute weniger denn je zweifelt! Es ist mit seinen Bischöfen und mit seinen Missionaren immer an der Arbeit, vermag nicht zu ermüden und schafft in der unbedingten Ueberzeugung, daß nur Rom allein eines Tages der Herr der Welt sein werde, sein Werk ohne Stocken, gleich wie die unendlich kleinen Teilchen die Welt geschaffen haben.
Ach, dieses fortwährend auf dem Marsch befindliche Heer! Pierre sah und hörte, wie es in dieser Stunde jenseits der Meere durch alle Kontinente hindurch die politische Eroberung im Namen der Religion vorbereitete und sicherte. Narcisse hatte ihm erzählt, mit welcher Sorgfalt die Botschaften die Thätigkeit der Propaganda in Rom überwachen mußten; denn die Missionen waren oft nationale Werkzeuge von entscheidender Macht. Die kirchliche Herrschaft sicherte die weltliche, die eroberten Seelen gaben die Körper. Es fand daher ein unaufhörlicher Kampf statt, bei dem die Kongregation die Missionare Italiens oder der verbündeten Nationen, deren siegreiche Occupation sie wünschte, begünstigte. Sie war stets auf ihre französische Nebenbuhlerin, die Propagation de la foi eifersüchtig, die ihren Sitz in Lyon hat, ebenso reich, ebenso mächtig wie sie ist und mehr energische und mutige Männer besitzt. Sie begnügte sich nicht damit, ihr einen beträchtlichen Tribut aufzuerlegen, sondern überbot, opferte sie überall, wo sie ihren Sieg fürchtete. Zu wiederholtemnalen wurden französische Missionare, französische Orden verjagt, um italienischen oder deutschen Mönchen Platz zu machen. Diesen geheimen politischen Intriguenherd hinter dem zivilisatorischen Eifer des Glaubens erriet jetzt Pierre in dem düstern, staubigen, nie von der Sonne erheiterten Gemache. Sein früherer Schauer hatte ihn wieder ergriffen, dieser Schauer über Dinge, die man kennt, die einem eines Tages plötzlich ungeheuerlich und erschreckend erscheinen. Mußte dieses in der ganzen Welt organisirte, mit ewigem Starrsinn in der Zeit und im Raum arbeitende Werkzeug der Eroberung und Gewalt nicht die Weisesten verstört, nicht die Tapfersten erbleichen machen? Es begnügte sich nicht damit, die Seelen zu fordern, sondern arbeitete an seiner künftigen Herrschaft über alle Menschen, verfügte über sie, da es sie noch nicht an sich nehmen konnte, und trat sie dem weltlichen Herrn ab, der sie ihm aufbewahren sollte. Welch wunderbarer Traum! Rom wartet in lächelnder Ruhe auf das Jahrhundert, da es die zweihundert Millionen Mohammedaner und die siebenhundert Millionen Brahmanen und Buddhisten in ein einziges Volk aufgesaugt haben, dessen geistlicher und weltlicher König es im Namen des triumphirenden Christus sein wird!
Ein Geräusch von Husten bewog Pierre, sich umzudrehen; er fuhr zusammen, als er den Kardinal Sarno erblickte, dessen Eintritt er nicht gehört hatte. Daß er ihn so vor dieser Karte antraf, war ihm, als hätte man ihn bei etwas Bösem, beim Verletzen eines Geheimnisses ertappt. Eine tiefe Röte überzog sein Gesicht.
Aber der Kardinal, der ihn mit seinen glanzlosen Augen starr betrachtet hatte, ging an seinen Schreibtisch und ließ sich, ohne ein Wort zu sprechen, auf seinen Lehnstuhl niederfallen. Mit einer Handbewegung hatte er ihn von dem Ringkuß entbunden.
»Ich wollte Eurer Eminenz meine Ehrfurcht bezeigen ... Ist Eure Eminenz leidend?«
»Nein, nein, es ist noch immer dieser verwünschte Schnupfen, der mich nicht verlassen will. Und dann habe ich im Augenblicke so viel zu thun!«
Pierre blickte ihn an; in dem fahlen Lichte, das zum Fenster hereinfiel, sah er mit seiner linken, höheren Schulter so siech, so verwachsen ans! In seinem ausgemergelten, erdfahlen Gesicht war nichts Lebendiges mehr, nicht einmal der Blick. Er erinnerte sich an einen seiner Oheime in Paris, der, nachdem er dreißig Jahre in dem Bureau eines Ministeriums zugebracht hatte, diesen toten Blick, diese pergamentartige Haut, diesen müden Stumpfsinn des ganzen Wesens besaß. War es also möglich, daß dieser Mann, dieser kleine, ausgetrocknete, in seiner schwarzen, rotbordirten Sutane schwimmende Greis der Herr der Welt war, und ohne Rom verlassen zu haben, in solchem Maße die Karte der Christenheit in sich besaß, daß der Präfekt der Propaganda nicht die geringste Entscheidung traf, ohne seine Meinung zu hören?
»Setzen Sie sich einen Augenblick, Herr Abbé. Sie kommen also zu mir auf Besuch, Sie haben eine Bitte an mich zu stellen.«
Und während er sich anschickte, zuzuhören, blätterte er mit seinen mageren Fingern in den vor ihm angehäuften Akten; er warf einen Blick auf jedes Stück, wie ein General, ein Taktiker von tiefer Gelehrsamkeit, dessen Heer sich in der Ferne befindet und das er aus der Tiefe seines Arbeitszimmers zum Siege führt, ohne je eine Minute zu verlieren.
Pierre, ein wenig befangen, weil er den selbstsüchtigen Zweck seines Besuches so klar formulirt sah, entschloß sich, der Sache ein rasches Ende zu machen.
»In der That, ich erlaube mir, zu Eurer Eminenz zu kommen, um von Eurer Eminenz hohen Weisheit Rat zu erbitten. Eurer Eminenz ist es nicht unbekannt, daß ich in Rom bin, um mein Buch zu verteidigen. Ich würde sehr glücklich sein, wenn Eure Eminenz mich leiten, mir mit Dero Erfahrung beistehen wollten.«
Er erzählte mit kurzen Worten, wie die Angelegenheit stand und verteidigte sich. Aber so wie er weiter sprach, sah er, daß der Kardinal das Interesse an der Sache verlor, an etwas anderes dachte und ihn nicht mehr verstand.
»Ach ja, Sie haben ein Buch geschrieben – es war einmal abends bei Donna Serafina die Rede davon ... Das ist unrecht, ein Priester soll nichts schreiben. Wozu? ... Und wenn die Indexkongregation es verfolgt, so hat sie gewiß recht. Was kann ich dabei thun? Ich bin kein Mitglied der Kongregation. Ich weiß nichts, gar nichts.«
Pierre, über diese Verschlossenheit, diese Gleichgiltigkeit verzweifelt, bemühte sich vergebens, ihn aufzuklären, zu rühren. Er bemerkte, daß dieser Geist, der in dem Gebiete, auf dem er sich seit vierzig Jahren bewegte, so ausgedehnt und scharfsinnig war, sich verstopfte, sobald man ihn aus seiner besonderen Thätigkeit herausführte. Er war weder wißbegierig noch geschmeidig. Aus den Augen des Kardinals schwand vollends jeder Lebensfunke, der Schädel schien sich noch mehr zusammen zu drücken, die ganze Physiognomie nahm ein düster albernes Aussehen an.
»Ich weiß nichts, ich vermag nichts,« wiederholte er. »Ich empfehle nie jemand.«
Dennoch machte er eine Anstrengung über sich.
»Aber Nani steckt ja dahinter. Was rät Ihnen Nani?«
»Monsignore Nani war so liebenswürdig, mir den Namen des Berichterstatters, Monsignore Fornaro, zu nennen. Er ließ mir gleichzeitig sagen, daß ich ihn besuchen möge.«
Der Kardinal schien überrascht zu sein und gleichsam zu erwachen. In seine Augen kehrte wieder etwas Glanz zurück.
»Ah, wirklich, wirklich! ... Nun, wenn Nani das gethan hat, so hat er eben eine Idee ... Besuchen Sie Monsignore Fornaro.«
Er hatte sich aus seinem Lehnstuhl erhoben und verabschiedete den Besucher, der sich mit einer tiefen Verbeugung bedanken mußte. Uebrigens setzte sich der Kardinal, ohne ihn bis zur Thür zu geleiten, sofort wieder nieder und in dem toten Gemach war nichts mehr zu hören, als das leichte, trockene Geräusch seiner knochigen, in den Akten blätternden Finger.
Pierre folgte gehorsam dem Rate. Er beschloß auf dem Rückweg in die Via Giulia über die Piazza Navona zu gehen. Aber in der Wohnung Monsignore Fornaros sagte ihm ein Diener, daß sein Herr eben ausgegangen sei und daß er, um ihn anzutreffen, frühzeitig, gegen zehn Uhr, vorsprechen müßte. Er konnte also erst am nächsten Vormittag empfangen werden. Vorher hatte er Sorge getragen, Erkundigungen über den Prälaten einzuziehen und wußte nun das Notwendige über ihn: er war in Neapel geboren, hatte seine Studien bei den Barnabitenvätern dieser Stadt begonnen, in Rom, im Seminar fortgesetzt und war endlich lange Zeit Professor an der gregorianischen Universität gewesen. Dermalen war Monsignore Fornaro Rat mehrerer Kongregationen, Kanonikus von S. Maria Maggiore, wurde von dem unmittelbaren Ehrgeiz verzehrt, das Kanonikat von St. Peter zu erlangen und hegte den fernen Traum, eines Tages Sekretär des Konsistoriums zu werden – ein Amt, das zur Kardinalswürde, zum Purpur führte. Ein bedeutender Theologe, setzte er sich nur dem einzigen Vorwurf aus, daß er manchmal der Literatur opfere; er schrieb nämlich für religiöse Revuen Artikel, die er so klug war, nicht zu zeichnen. Er galt auch für sehr weltlich.
Sobald Pierre seine Karte abgegeben hatte, wurde er empfangen und vielleicht wäre ihm der Verdacht gekommen, daß er erwartet werde, wenn der ihm zu teil gewordene Empfang nicht die aufrichtigste, mit ein wenig Unruhe gemischte Ueberraschung bewiesen hätte.
»Herr Abbé Froment, Herr Abbé Froment,« wiederholte der Prälat, indem er die Karte ansah, die er in der Hand behalten hatte. »Bitte gefälligst einzutreten ... Ich war im Begriffe, alle abweisen zu lassen, denn ich habe eine sehr dringende Arbeit. Aber das thut nichts, nehmen Sie Platz.«
Aber Pierre blieb bezaubert, bewundernd vor diesem schönen, großen und starken Manne stehen, der mit seinen fünfundfünfzig Jahren blühte. Rosig, glattrasirt, mit kaum ergrautem Lockenhaar, besaß er eine gefällige Nase, feuchte Lippen, schmeichelnde Augen, alles, was die römische Prälatenschaft an Verführerischem und Schmückendem aufzuweisen vermag. In seiner schwarzen Sutane mit dem lila Kragen sah er selbst sehr sauber, einfach elegant, wirklich prächtig aus, und sein großes, mit einem bei dem römischen Klerus heutzutage sehr seltenen Geschmack eingerichtetes, wohlriechendes Empfangszimmer, das von zwei breiten, auf die Piazza Navona gehenden Fenstern heiter erleuchtet wurde, umgab ihn mit einem Rahmen von guter Laune und wohlwollender Aufnahme.
»Setzen Sie sich doch, Herr Abbé Froment, und sagen Sie mir gefälligst, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft.«
Er hatte sich mit naiver, rein gefälliger Miene wieder gesetzt und Pierre wurde plötzlich angesichts dieser natürlichen Frage, die er doch voraussehen hätte müssen, sehr befangen. Sollte er geradewegs auf die Sache losgehen, den heiklen Beweggrund seines Besuches eingestehen? Er fühlte, daß das noch der rascheste und würdigste Weg wäre.
»Mein Gott, Monsignore, ich weiß, daß das, was mich zu Ihnen führt, nicht üblich ist. Aber man hat mir diesen Schritt angeraten und es schien mir, daß es zwischen ehrlichen Leuten nie von Uebel sein kann, die Wahrheit in gutem Glauben zu suchen.«
»Was denn, was denn?« fragte der Prälat mit vollkommen unschuldiger Miene, ohne zu lächeln aufzuhören.
»Nun, ganz ehrlich; ich habe erfahren, daß die Indexkongregation Ihnen mein Buch, ›Das neue Rom‹ mit dem Auftrag übergeben hat, es zu prüfen. Ich erlaube mir nun, mich für den Fall vorzustellen daß Sie einige Erklärungen von mir zu verlangen hätten.«
Aber Monsignore Fornaro schien nichts mehr hören zu wollen. Er griff mit beiden Händen an seinen Kopf und wich, wenn auch noch immer höflich, zurück.
»Nein, nein, erzählen Sie mir das nicht, fahren Sie nicht fort. Sie würden mir einen ungeheuren Verdruß bereiten ... Wenn Sie wollen, nehmen wir an, daß man Sie getäuscht hat, denn man darf nichts wissen, man weiß auch nichts, die anderen ebenso wenig wie ich ... Bitte, reden wir von diesen Dingen nicht mehr.«
Glücklicherweise verfiel Pierre, der die entscheidende Wirkung des Namens des Assessors beim S. Offizio bemerkt hatte, auf den Gedanken, zu antworten:
»Gewiß, Monsignore, ich habe nicht die Absicht, Ihnen die geringste Verlegenheit Zu bereiten, und ich wiederhole, ich hätte mir nie erlaubt, Sie zu belästigen, wenn Monsignore Nani selbst mir nicht Ihren Namen und Ihre Adresse mitgeteilt hätte.«
Auch diesmal trat eine sofortige Wirkung ein; nur ergab sich Monsignore Fornaro mit einer leichten Anmut, die er in alles legte, was er that. Er gab übrigens nicht sofort nach, sondern sehr schalkhaft, in Uebergängen.
»Wie, Monsignore Nani ist also der Insdiskrete! Ich werde ihn schelten, ich werde böse werden! ... Und was weiß er denn davon? Er gehört nicht zur Kongregation, er kann irregeführt worden sein ... Sie werden ihm sagen, daß er sich geirrt hat, daß ich mit Ihrer Angelegenheit gar nichts zu schaffen habe; das wird ihn lehren, daß er keine notwendigen, von allen geachtete Geheimnisse zu enthüllen hat.«
Dann fügte er liebenswürdig mit seinen bezaubernden Augen, mit seinem blühendem Munde hinzu:
»Nun, da Monsignore Nani es wünscht, will ich gerne einen Augenblick mit Ihnen sprechen, mein lieber Herr Froment – unter der Bedingung, daß Sie von mir nichts über meinen Bericht, noch über das erfahren, was in der Kongregation gethan oder gesagt worden sein mag.«
Nun lächelte Pierre seinerseits, denn er bewunderte, wie leicht alles ward, sobald die Form gewahrt wurde. Er begann nun abermals seinen Fall zu erklären und schilderte das tiefe Erstaunen, in das ihn der seinem Buche gemachte Prozeß gestürzt hatte, sowie seine Unkenntnis der Beschwerden, die er noch immer suchte, ohne sie finden zu können.
»Wirklich, wirklich!« wiederholte der Prälat, über so viel Unschuld erstaunt. »Die Kongregation ist ein Gericht und kann nicht vorgehen, wenn eine Angelegenheit nicht bei ihr anhängig gemacht wird. Ihr Buch wird verfolgt, weil man es ganz einfach angezeigt hat.«
»Ja, ich weiß. Angezeigt!«
»Aber gewiß, die Klage ist von drei französischen Bischöfen eingebracht worden – Sie werden mir gestatten deren Namen zu verschweigen – und so mußte die Kongregation an die Untersuchung des beanstandeten Werkes gehen.«
Pierre sah ihn bestürzt an. Von drei Bischöfen angezeigt! Und warum? Zu welchem Zweck?
Dann kam ihm wieder der Gedanke an seinen Beschützer.
»Nun, der Kardinal Bergerot hat mir einen Zustimmungsbrief geschrieben, den ich meinem Buche als Vorwort beigegeben habe. War das nicht eine Bürgschaft, die dem französischen Episkopat genügen hätte müssen?«
Monsignore Fornaro schüttelte schlau den Kopf, ehe er sich zu einer Antwort entschloß.
»Ach ja, gewiß, der Brief Seiner Eminenz, ein sehr schöner Brief. Trotzdem glaube ich, daß es besser gewesen wäre, wenn er den Brief nicht geschrieben hätte – für ihn und besonders für Sie.«
Und da der Priester, dessen Ueberraschung zunahm, den Mund aufmachte und ihn zu einer Erklärung drängen wollte, setzte er hinzu:
»Nein, nein, ich weiß nichts, ich sage nichts ... Seine Eminenz der Kardinal Bergerot ist ein Heiliger, den alle Welt verehrt, und wenn er sündigen könnte, müßte man sicherlich nur seinem Herzen die Schuld daran beimessen.«
Ein Schweigen entstand. Pierre hatte gefühlt, daß sich ein Abgrund öffnete. Er wagte nicht zu beharren und fuhr etwas heftig fort:
»Warum denn also mein Buch, warum nicht die Bücher anderer? Ich habe nicht die Absicht, meinerseits den Angeber zu spielen – aber wie viele Bücher kenne ich, über die Rom die Augen zudrückt und die merkwürdig gefährlicher sind, als das meine!«
Diesmal schien Monsignore Fornaro sehr glücklich zu sein, sich ganz seiner Ansicht anschließen zu können.
»Sie haben recht; wir wissen wohl, daß wir nicht alle schlechten Bücher anklagen können und sind darüber verzweifelt. Man muß an die unberechenbare Menge der Werke denken, die wir zu lesen gezwungen wären. So verdammen wir also die Schlimmsten in Bausch und Bogen.«
Er ließ sich in gefällige Erklärungen ein. Im Prinzip dürften die Buchdrucker kein Buch in Druck legen, ohne vorher das Manuskript dem Bischof zur Billigung vorgelegt zu haben. Aber heutzutage, bei der erschreckenden Produktion der Buchdruckerei begreift man, in welche furchtbare Verlegenheit die Bischöfe gerieten, wenn die Buchdrucker sich plötzlich der Regel unterwerfen würden. Man hätte für diese gewaltige Aufgabe weder die Zeit noch das Geld, noch die nötigen Leute. Die Indexkongregation verdammte daher die erschienenen oder zu erscheinenden Bücher gewisser Kategorien im großen und ganzen, ohne sie prüfen zu müssen; erstens alle sittengefährlichen, alle erotischen Bücher, alle Romane; dann die Bibeln in der Vulgärsprache, denn die heiligen Bücher dürfen nicht ohne Unterschied erlaubt werden, endlich die Zauberbücher, die wissenschaftlichen, geschichtlichen oder philosophischen, dem Dogma zuwiderlaufenden Bücher, die Werke von Ketzern oder einfacher Geistlicher, die die Religion erörtern. Es waren das weise, von mehreren Päpsten überkommene Gesetze, deren Auszug dem von der Kongregation veröffentlichten Katalog der verbotenen Bücher als Vorwort diente; ohne sie würde dieser Katalog, um vollständig zu sein, an und für sich eine Bibliothek angefüllt haben. Mit einem Wort, wenn man ihn durchblätterte, so bemerkte man, daß das Interdikt vor allem Werke von Priestern traf; Rom bekümmerte sich angesichts der Schwierigkeit und Ungeheuerlichkeit der Aufgabe nur darum, sorgfältig über die gute Ordnung der Kirche zu wachen. Das war auch der Fall mit Pierre und seinem Buche.
»Sie begreifen, daß wir nicht für einen Haufen von ungesunden Büchern Reklame machen werden, indem wir sie mit einer besonderen Verurteilung beehren,« fuhr Monfignore Fornaro fort. »Es gibt ihrer bei allen Völkern Legionen und wir hätten weder Papier noch Tinte genug, um sie anzugreifen. Wir begnügen uns damit, von Zeit zu Zeit eines zu treffen, wenn es mit einem berühmten Namen gezeichnet ist, wenn es zu viel Lärm macht oder beunruhigende Angriffe gegen den Glauben enthält. Das genügt, um die Welt daran zu erinnern, daß wir existiren und uns verteidigen, ohne von unseren Rechten oder von unseren Pflichten das Geringste aufzugeben.«
»Aber mein Buch, mein Buch!« rief Pierre. »Was soll diese Verfolgung meines Buches?«
»Ich erkläre es Ihnen, insoweit es mir gestattet ist, mein liebet Herr Frommt. Sie sind Priester, Ihr Buch hat Erfolg, Sie haben eine billige Ausgabe veröffentlicht, die sehr gut geht – ich rede gar nicht von seinem bedeutenden literarischen Wert, dem Hauche echter Poesie, der es durchweht und zu dem ich Ihnen mein aufrichtiges Kompliment mache. Wie wollen Sie da, daß wir unter diesen Bedingungen die Augen über ein Werk zudrücken, in dem Sie auf die Vernichtung unserer heiligen Religion und die Zerstörung Roms antragen?«
Pierre blieb, vor Erstaunen erstickend, mit offenem Munde sitzen.
»Die Zerstörung Roms! Großer Gott, ich will es ja verjüngt, ewig, von neuem als Königin der Welt sehen!«
Seine brennende Begeisterung ergriff ihn wieder; er verteidigte sich, gestand von neuem seinen Glauben; der Katholizismus sollte zur Urkirche zurückkehren, aus dem brüderlichen Christentum Jesu ein erneutes Blut schöpfen, der Papst von aller irdischen Hoheit befreit sein, durch Barmherzigkeit und Liebe über die gesamte Menschheit herrschen, die Welt vor der furchtbaren sozialen Krise, die sie bedroht, retten, um sie zum Reich Gottes, zur christlichen Gemeinde aller zu einem einzigen Volk vereinter Völker zu führen.
»Kann der heilige Vater mich verleugnen? Sind das nicht seine geheimen Ideen, die man zu erraten beginnt? Mein einziges Unrecht bestünde darin, sie zu früh und zu frei ausgedrückt zu haben. Würde ich nicht, wenn man mir gestattete, ihn zu sprechen, sofort die Einstellung der Verfolgung von ihm erlangen?«
Monsignore Fornaro sprach nicht mehr; er begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln, ohne sich über das jugendliche Ungestüm des Priesters zu ärgern. Im Gegenteil, er lächelte mit immer größerer Liebenswürdigkeit, gleichsam höchlich belustigt über so viel Unschuld und so viel Schwärmerei.
»Vorwärts, vorwärts,« antwortete er endlich lustig. »Ich werde Sie nicht aufhalten. Es ist mir verboten, etwas zu sagen ... Aber die weltliche Herrschaft, die weltliche Herrschaft ...«
»Nun, die weltliche Herrschaft?« fragte Pierre.
Der Prälat sprach abermals nicht. Er hob sein liebenswürdiges Gesicht himmelaufwärts und bewegte auf hübsche Weise seine weißen Hände. Als er wieder anhob, geschah es nur, um hinzuzusetzen:
»Außerdem – Ihre neue Religion – denn das Wort, ›neue Religion, neue Religion‹ kommt darin zweimal vor ... O Gott!«
Er regte sich noch mehr auf und geriet derart außer sich, daß Pierre, von Ungeduld ergriffen, ausrief:
»Monsignore, ich weiß nicht, wie Ihr Bericht ausfallen wird, aber ich beteure Ihnen, daß ich niemals daran gedacht habe, das Dogma anzugreifen. Und in gutem Glauben – das geht aus meinem ganzen Buche hervor – wollte ich nur ein Werk des Erbarmens und Heils vollbringen. Es ist recht und billig, auch die Absichten in Anschlag zu bringen.« Monsignore Fornaro war wieder sehr ruhig, sehr väterlich geworden.
»O, die Absichten, die Absichten – –«
Er erhob sich, um den Besucher zu verabschieden.
»Mein lieber Herr Froment, seien Sie überzeugt, daß ich mich sehr geehrt fühle, weil Sie sich an mich gewendet haben ... Natürlich kann ich Ihnen nicht sagen, wie mein Bericht ausfallen wird; wir haben bereits zu viel darüber gesprochen; ich hätte mich sogar weigern müssen, Ihre Verteidigung anzuhören. Sie werden mich nichtsdestoweniger bereit finden, Ihnen in allem gefällig zu sein, was nicht meiner Pflicht zuwiderläuft. Aber ich fürchte sehr, daß Ihr Buch verurteilt werden wird.«
Und als Pierre abermals in die Höhe fuhr, setzte er hinzu:
»Ach ja ... die Thatsachen werden beurteilt, nicht die Absichten. Jedwede Verteidigung ist also nutzlos; das Buch ist da und es ist, wie es eben ist. Sie mögen es erklären, wie Sie wollen, ändern werden Sie es nicht ... Aus diesem Grunde beruft die Kongregation niemals die Angeklagten und nimmt von ihnen nur den einfachen Widerruf an. Das Klügste, was Sie thun könnten, wäre noch, Ihr Buch zurückzuziehen, sich zu unterwerfen. Nein? Sie wollen nicht? Ach, wie jung Sie sind, lieber Freund!«
Er lachte noch lauter über die Bewegung voll Empörung, voll unbezähmbaren Stolzes, die seinem jungen Freunde, wie er ihn nannte, entfuhr. Dann sagte er, an der Thüre angelangt, in einer abermaligen mitteilsamen Regung, indem er die Stimme senkte:
»Hören Sie, mein Lieber, ich will etwas für Sie thun, ich will Ihnen einen guten Rat geben. Ich bin eigentlich nichts. Ich liefere meinen Bericht ab, er wird gedruckt, gelesen, ohne daß Wert darauf gelegt werden muß. Der Sekretär der Kongregation hingegen, der Pater Dangelis vermag alles, sogar das Unmögliche ... Besuchen Sie ihn also im Dominikanerkloster hinter der Piazza di Spagna ... Erwähnen Sie meiner nicht. Auf Wiedersehen, mein Lieber, auf Wiedersehen!«
Betrübt fand sich Pierre auf der Piazza Navona wieder; er wußte nicht mehr, was er glauben und hoffen sollte. Ein feiger Gedanke überkam ihn; wozu sollte er diesen Kampf fortsetzen, bei dem die Gegner unbekannt, ungreifbar blieben? Warum sollte er noch länger steif auf diesem lockenden und trügerischen Rom bestehen? Er würde fliehen, noch heute abend nach Paris zurückkehren, dort verschwinden und die bitteren Enttäuschungen in der Ausübung der demütigsten Nächstenliebe vergessen. Er befand sich in einer jener Stunden der Hilflosigkeit, da die so lange ersehnte Aufgabe plötzlich unmöglich erscheint. Aber inmitten seiner Verwirrung ging er dennoch weiter seinem Ziele zu. Als er auf dem Corso, dann in der Via dei Condotti und zuletzt auf der Piazza di Spagna angelangt war, beschloß er, noch den Pater Dangelis aufzusuchen. Dort befindet sich das Dominikanerkloster, unterhalb von S. Trinità de Monti. Ach, diese Dominikaner! Er hatte nie ohne eine gewisse, mit ein wenig Schreck gemischte Ehrfurcht an sie gedacht. Als was für eine kräftige Stütze des absoluten und theokratischen Gedankens hatten sie sich während Jahrhunderten erwiesen! Ihnen verdankte die Kirche ihre festeste Autorität; sie waren die glorreichen Krieger ihres Sieges. Während der heilige Franziskus Rom die Seelen der Einfältigen eroberte, unterwarf ihm der heilige Dominikus die Seelen der Verständigen und Mächtigen, alle höheren Seelen. Und zwar that er das voll Leidenschaft, mit einem Feuer bewunderungswürdiger Gläubigkeit und Willenskraft, mit allen möglichen Mitteln – durch Predigten, durch Bücher, durch den Druck der Polizei und der Gerichte. Wenn er die Inquisition auch nicht schuf, so machte er sie doch nutzbar; sein sanftes, brüderliches Herz bekämpfte das Schisma mit Blut und Feuer. Er und seine Mönche lebten in Armut, Keuschheit und Gehorsam, den großen Tugenden jener hochfahrenden und ungeregelten Zeiten; er zog durch die Städte, predigte den Gottlosen, strengte sich an, sie zur Kirche zurückzuführen und zeigte sie den geistlichen Gerichten an, wenn sein Wort nicht genügte. Er machte sich auch an die Wissenschaft, wollte sie für sich gewinnen, träumte davon, Gott durch die Waffen der Vernunft und der menschlichen Kenntnisse zu verteidigen, war der Ahne des englischen St. Thomas, der Leuchte des Mittelalters, der alles, die Psychologie, Logik, Politik und Moral in dem Summarium zusammengefaßt hat. So kam es, daß die Dominikaner die Welt erfüllten, indem sie die Lehre Roms auf den berühmten Kanzeln aller Völker verfochten und fast überall mit dem freien Geiste der Universitäten im Kampfe lagen; sie waren wachsame Hüter des Dogmas, unermüdliche Schmiede des Glückes der Päpste, die mächtigsten aller künstlerischen, wissenschaftlichen und literarischen Arbeiter, die das ungeheure Gebäude des Katholizismus, so wie es noch heute besteht, aufgebaut haben.
Aber heute fragte sich Pierre, der dieses Gebäude, das man auf festem Grunde für die Ewigkeit gebaut zu haben meinte, zusammenbrechen fühlte, von welchem Nutzen diese Arbeiter aus einer andern Zeit wohl noch sein konnten? Ihre Polizei und ihre Gerichte waren unter dem Fluch gestorben, ihr Wort ward nicht mehr gehört, ihre Bücher wurden nicht mehr gelesen, ihre Rolle als Gelehrte und Zivilisatoren war angesichts der gegenwärtigen Wissenschaft, deren Wahrheiten das Dogma allerseits immer mehr und mehr erschüttern, zu Ende gespielt. Gewiß, sie bilden noch immer einen einflußreichen und gedeihenden Orden, aber wie weit ist die Zeit, da ihr General als Herr des heiligen Palastes in Rom regierte und in ganz Europa Klöster, Schulen, Unterthanen hatte! Von diesem unermeßlich großen Erbteil bleibt ihnen in der römischen Kurie fortan nichts mehr als einige erworbene Stellen, darunter das Amt eines Sekretärs der Indexkongregation, eine ehemalige Dependenz des S. Offizio, wo sie unumschränkt herrschen.
Pierre wurde sofort zum Pater Dangelis eingelassen. Der Saal war sehr groß, kahl, weiß und von hellem Sonnenlicht überflutet. Es befand sich nichts darin als ein Tisch und einige Schemel; an der Wand hing ein großes, kupfernes Kruzifix. Neben dem Tisch stand der Pater, ein sehr magerer, in die strenge, weite, schwarz und weiße Tracht gehüllter Mann von beiläufig fünfzig Jahren. Die grauen Augen in seinem langen Asketengesichte mit dem schmalen Munde, der schmalen Nase, dem schmalen, störrischen Kinn besaßen einen lästig starren Ausdruck. Im übrigen benahm er sich sehr bestimmt, sehr einfach, eisig höflich.
»Herr Abbé Froment, der Verfasser des ›Neuen Rom‹, nicht wahr?«
Und er ließ sich auf einen Schemel nieder, indem er mit der Hand auf einen andern wies.
»Wollen Sie mir gefälligst den Zweck Ihres Besuches mitteilen, Herr Abbé.«
Pierre mußte nun seine Erklärungen, seine Verteidigung von neuem beginnen und das ward ihm bald um so peinlicher, da er inmitten einer tödlichen Stille, einer tödlichen Kälte sprach. Der Pater rührte sich nicht; er hielt die Hände auf den Knieen verschränkt und die scharfen, durchdringenden Augen auf die des Priesters gerichtet.
Endlich, als dieser innehielt, sagte er ohne Hast:
»Herr Abbé, ich glaubte, Sie nicht unterbrechen zu dürfen, aber ich hatte all das nicht anzuhören. Der Prozeß gegen Ihr Werk ist eingeleitet und keine Macht der Erde vermöchte seinen Gang aufzuhalten. Ich verstehe daher nicht recht, was Sie von mir zu erwarten scheinen.«
»Ich erwarte Güte und Gerechtigkeit,« wagte Pierre mit zitternder Stimme zu antworten.
Ein mattes Lächeln voll hochfahrender Demut erschien auf den Lippen des Mönches.
»Seien Sie ohne Furcht. Gott hat noch immer geruht, mich in meinem bescheidenen Amte zu erleuchten. Uebrigens habe ich gar keine Gerechtigkeit zu üben; ich bin ein einfacher Beamter, der die Prozesse zu ordnen und zu dokumentiren hat. Nur Ihre Eminenzen, die Mitglieder der Kongregation sind es, die über Ihr Buch ein Urteil sprechen werden... Sie werden es sicherlich mit der Hilfe des heiligen Geistes thun und Sie haben dann nichts zu thun, als sich vor ihrem Urteil zu beugen, sobald es von Seiner Heiligkeit bestätigt wird.«
Er brach kurz ab und erhob sich; damit zwang er auch Pierre, sich zu erheben. Es waren also fast dieselben Worte, wie bei Monsignore Fornaro, nur wurden sie hier mit schneidender Bestimmtheit, mit einer Art ruhiger Bravour gesprochen. Ueberall stieß er sich an dieselbe namenlose Kraft, die mächtige, zermalmende Maschine, deren Räder sich unter einander nicht kennen wollen. Ohne Zweifel würde man ihn noch lange Zeit von einem zum andern führen, ohne daß er je das Haupt, den urteilenden und handelnden Willen fände. Und es blieb ihm nichts übrig, als sich zu beugen.
Trotzdem kam ihm vor dem Weggehen der Gedanke, noch einmal den Namen des Monsignore Nani auszusprechen, dessen Macht er jetzt kennen zu lernen begann.
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich unnützerweise gestört habe. Ich bin nur dem wohlwollenden Rate des Monsignore Nani gefolgt, der sich für mich zu interessiren geruht.«
Aber die Wirkung war eine unerwartete. Das magere Gesicht Pater Dangelis' wurde abermals von einem Lächeln erhellt; es war ein Verziehen der Lippen, in dem sich die ironischeste Geringschätzung scharf malte. Er war noch bleicher geworden und seine geistvollen Augen flammten.
»Ah, Monsignore Nani schickt Sie her ... Ei nun, wenn Sie Protektion nötig zu haben glauben, so ist es unnütz, sich an einen andern als ihn selbst zu wenden. Er ist allmächtig ... Besuchen Sie ihn, besuchen Sie ihn.«
Das war die ganze Ermutigung, die Pierre von diesem Besuche heimnahm; er erhielt den Rat, zu dem zurückzukehren, der ihn schickte. Er fühlte, daß er den Boden unter den Füßen verlor und beschloß, in den Palazzo Boccanera zurückzukehren, um nachzudenken und zu verstehen, ehe er weitere Schritte unternahm. Sofort war ihm der Gedanke gekommen, Don Vigilio zu fragen und der Zufall wollte es, daß er den Sekretär noch an diesem Abend, nach dem Abendessen im Korridor traf, in dem Augenblick, als er mit seiner Kerze in der Hand, im Begriffe stand, schlafen zu gehen.
»Ich hätte Ihnen so viel zu sagen! Bitte, lieber Herr Abbé, treten Sie doch einen Augenblick bei mir ein.«
Der Abbé hieß ihn mit einer Geberde schweigen; dann sagte er mit sehr leiser Stimme:
»Haben Sie nicht den Abbé Paparelli im ersten Stock bemerkt? Er ging uns nach.«
Pierre begegnete im Hause oft dem Schleppträger, dessen schlaffes Gesicht und tückisch stöbernde Miene, die ihn einer alten Jungfer im schwarzen Rock ähneln ließen, ihm höchlich mißfielen. Aber er ließ sich durch ihn nicht beunruhigen und war über die Frage überrascht. Uebrigens war Don Vigilio, ohne seine Antwort abzuwarten, an das Ende des Korridors zurückgekehrt und horchte lange Zeit. Dann kehrte er leise wie eine Katze zurück, blies sein Licht aus und trat mit einem Satze bei seinem Nachbar ein.
»So, da sind wir,« murmelte er, als die Thür sich geschlossen hatte. Aber wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir nicht in diesem Salon; gehen wir in Ihr Schlafzimmer. Zwei Wände sind besser als eine.«
Endlich, als die Lampe auf den Tisch gestellt worden war und beide im Hintergrunde dieses farblosen Zimmers saßen, dessen flachsgraue Tapete, ungleiche Möbel, kahler Fußboden und kahle Wände die Schwermut alter, verblichener Sachen besaßen, bemerkte Pierre, daß der Abbé die Beute eines noch heftigeren Fieberanfalles als gewöhnlich war. Sein kleiner, magerer Körper zitterte vor Kälte, und die glühenden Augen in seinem armen, gelben, verwüsteten Gesicht hatten noch nie so dunkel gebrannt.
»Sind Sie leidend? Ich habe nicht die Absicht, Sie zu ermüden.«
»Leidend! Ach ja, mein Leib brennt wie Feuer. Aber im Gegenteil, ich will reden ... Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr! Früher oder später muß man sich das Herz erleichtern.«
Wollte er sich von seiner Krankheit abziehen? Wollte er sein langes Schweigen brechen, um nicht daran den Erstickungstod zu sterben? Er ließ sich sofort die Schritte erzählen, die Pierre in den letzten Tagen unternommen und regte sich noch mehr auf, als er erfuhr, in welcher Art und Weise der Kardinal Sarno, Monsignore Fornaro und Pater Dangelis den Besucher empfangen hatten.
»Ja wohl, ja wohl! Mich wundert nichts mehr, aber trotzdem empört es mich Ihretwegen. Ja, es geht mich nichts an und es macht mich krank, denn es erweckt mein ganzes eigenes Elend!... Auf den Kardinal Sarno, der abseits, stets in der Ferne lebt und nie jemand geholfen hat, darf man nicht zählen. Aber dieser Fornaro, dieser Fornaro!«
»Er kam mir sehr liebenswürdig, sogar wohlwollend vor und ich glaube wirklich, daß er infolge unserer Unterredung seinen Bericht sehr mildern wird.«
»Er! Je zärtlicher er sich gezeigt hat, desto mehr wird er Sie belasten. Er wird Sie aufessen, er wird sich an dieser leichten Beute mästen. Ah, Sie kennen ihn nicht, den Herrlichen! Er liegt unablässig auf der Lauer, um sein Glück aus dem Unglück armer Teufel zu bauen, deren Niederlage, wie er weiß, den Mächtigen angenehm sein muß! Da ist mir der andere, der Pater Dangelis lieber. Er ist ein schrecklicher Mann, aber wenigstens offen und mutig und ein überlegener Geist. Ich füge hinzu, daß dieser Sie wie eine Handvoll Stroh verbrennen würde, wenn er der Herr wäre ... O, wenn ich Ihnen alles sagen könnte, wenn ich Sie mit mir in die furchtbaren Tiefen dieser Welt eintreten ließe, wenn ich Ihnen die ungeheuerlichen, ehrgeizigen Gelüste, die abscheulichen Verwicklungen der Intriguen, die Bestechlichkeit, die Feigheit, die Verrätereien, sogar Verbrechen zeigen würde!«
Als Pierre sah, wie er sich durch die Flamme eines so tiefen Grolles derart erhitzte, fiel es ihm ein, jene Auskünfte aus ihm herauszulocken, die er bisher vergeblich gesucht hatte.
»Sagen Sie mir wenigstens, wie meine Angelegenheit steht. Als ich Sie gleich nach meiner Ankunft fragte, antworteten Sie mir, daß dem Kardinal noch gar kein Aktenstück zugekommen sei. Aber die Prozeßakten sind zusammengestellt. Sie haben davon Kenntnis, nicht wahr?... Und bei dieser Gelegenheit: Monsignore Fornaro hat von drei französischen Bischöfen gesprochen, die mein Buch angezeigt und dessen Verfolgung gefordert haben sollen. Drei Bischöfe! Ist das möglich?«
Don Vigilio zuckte heftig die Achseln.
»Ah, Sie sind eine schöne Seele! Mich wundert es, daß es nur drei sind ... Ja, mehrere Akten Ihres Prozesses sind in meinen Händen; übrigens konnte ich mir wohl denken, was das für ein Prozeß sein konnte, Ihr Prozeß. Die drei Bischöfe sind erstens der Bischofs von Tarbes, der offenbar die Rache der Väter von Lourdes ausführt, dann die Bischöfe von Poitiers und Evreux, beide wegen ihrer ultramontanen Intransigenz bekannt, leidenschaftliche Gegner des Kardinals Bergerot. Der letztere ist, wie Sie wissen, im Vatikan, wo seine gallikanischen Ideen, sein sehr liberaler Geist wahre Zornausbrüche erregen, schlecht angeschrieben ... Suchen Sie gar nicht anderwärts; dort steckt das Ganze. Es ist eine Hinrichtung, die die allmächtigen Väter von Lourdes vom heiligen Vater fordern, abgesehen davon, daß man durch Ihr Buch den Kardinal anzugreifen wünscht – dank jenem Zustimmungsbrief, den er Ihnen so unklugerweise geschrieben hat, und den Sie als Vorwort veröffentlichten ... Seit langer Zeit sind die Verdammungen des Index unter Geistlichen oft nichts anderes als im Dunkeln ausgetauschte Keulenhiebe. Die Angeberei herrscht als unumschränkte Gebieterin und dann folgt das Gesetz der Willkür. Ich könnte Ihnen unglaubliche Thatsachen, unschuldige Bücher anführen, die unter hundert anderen gewählt wurden, um einen Gedanken oder einen Menschen zu töten; denn hinter dem Verfasser zielt man fast immer auf einen Höheren und Ferneren. Es ist das ein solches Ränkenest, eine solche Quelle von Mißbrauch, wo der niedrige, persönliche Groll befriedigt wird, daß die Institution des Index zusammenbricht und man sogar hier, in der Umgebung des Papstes, die unbedingte Notwendigkeit fühlt, sie demnächst von neuem zu regeln, wenn man nicht will, daß sie vollständig in Verruf gerät ... Gewiß, ich verstehe es, daß man sich daraus steift, die Weltherrschaft zu bewahren, mit allen Waffen zu regieren. Aber dann müssen es mögliche Waffen sein; dann dürfen sie nicht durch die Unverschämtheit ihrer Ungerechtigkeit empören und durch ihre alte Kinderei nicht ein Lächeln erwecken!«
Pierre hörte zu; ein schmerzliches Erstaunen hatte sein Herz ergriffen. Gewiß, seit er in Rom war, seit er sah, wie die Väter der Grotte hier gegrüßt und gefürchtet wurden, wie sie durch die großen Gaben, die sie dem Peterspfennig sandten, die Herren waren, fühlte er, daß sie hinter der Verfolgung standen; er erriet, daß er jene Seite seines Buches bezahlen werde müssen, wo er feststellte, daß in Lourdes ein sündhaftes Verrücken des Schicksals, ein furchtbares, Zweifel an Gott erweckendes Schauspiel, eine fortwährende Aufreizung zum Kampf stattfinde, die in der wirklich christlichen Gesellschaft von morgen verschwinden würde. Es fehlte ihm jetzt sogar nicht mehr das Verständnis für das Aergernis, das seine eingestandene Freude über den Verlust der weltlichen Herrschaft und vor allem jenes unglückliche Wort von der neuen Religion erregt haben mußte, das an und für sich genügte, die Angeber zu bewaffnen. Was ihn aber in Erstaunen und Verzweiflung versetzte, war die unerhörte Kunde, daß der Brief dem Kardinal Bergerot als Verbrechen angerechnet, daß sein Buch denunzirt und verdammt wurde, um den ehrwürdigen Hirten, den man nicht von vorne anzugreifen wagte, von rückwärts zu treffen. Der Gedanke, daß er den heiligen Mann betrübe, daß er für ihn die Ursache einer Niederlage in seiner feurigen Nächstenliebe sei, war ihm sehr schmerzlich. Und wie traurig, im Hintergrunde dieser Streitigkeiten, wo nur die Liebe zum Armen kämpfen dürfte, die häßlichsten Geldfragen, die im wütendsten Egoismus entfesselten Leidenschaften und Begierden zu finden!
Dann entstand in Pierre eine Empörung gegen diesen verhaßten, albernen Index. Er verfolgte jetzt seine Wirksamkeit, von der Denunziation bis zum öffentlichen Anschlägen der verdammten Bücher. Den Sekretär der Kongregation hatte er eben gesehen – den Pater Dangelis, in dessen Hände die Denunziation gelangte, der daraufhin mit der Leidenschaft des autoritativen und gelehrten Mönches, erfüllt von dem Traum, die Geister und das Gewissen wie in den heroischen Zeiten der Inquisition zu beherrschen, den Prozeß einleitete und die Akten zusammenstellte. Von den geistlichen Räten hatte er einen besucht, den mit der Berichterstattung über sein Buch betrauten, so ehrgeizigen und so liebenswürdigen Monsignore Fornaro; das war ein spitzfindiger Theolog, der nicht verlegen gewesen wäre, Angriffe gegen den Glauben in einer algebraischen Abhandlung zu finden, wenn es die Sorge um sein Schicksal gefordert hätte. Dann kamen die seltenen Versammlungen der Kardinäle, die von Zeit zu Zeit abstimmten und in der schwermütigen Verzweiflung, nicht alle feindlichen Bücher unterdrücken zu können, eines unterdrückten; und endlich billigte und unterzeichnete der Papst das Dekret, was eine reine Formsache war – waren denn nicht alle Bücher strafbar? Aber welch seltsamer und kläglicher Zwinger der Vergangenheit war dieser gealterte, gebrechliche, kindisch gewordene Index! Man fühlte, welche furchtbare Macht er einst gewesen sein mochte, als die Bücher selten waren und die Kirche Blut- und Feuergerichte besaß, um ihre Urteile auszuführen. Dann hatten sich die Bücher so vervielfältigt und der geschriebene, gedruckte Gedanke war ein so tiefer, so breiter Strom geworden, daß dieser Strom alles überschwemmt, alles mitgerissen hatte. Der entartete, von Ohnmacht befallene Index sah sich jetzt auf die eitle Demonstration beschränkt, die gewaltige moderne Erzeugung in Bausch und Bogen zu verdammen, beschränkte das Feld seiner Thätigkeit immer mehr und hielt sich einzig und allein an die Prüfung der Werke von Geistlichen. Aber auch in dieser Rolle war er verdorben, von den schlimmsten Leidenschaften besteckt, in ein Werkzeug der Ränke, des Hasses, der Rache verwandelt worden. Ach, diese Zerstörung, dieses traurige Bekenntnis gebrechlichen Alters, allgemeiner, wachsender Lähmung inmitten der spöttischen Gleichgiltigkeit der Völker! Der Katholizismus, der einstige glorreiche Vermittler der Zivilisation, war dahin gekommen, die Bücher haufenweise in das Feuer seiner Hülle zu weisen! Und welch ein Haufen war das! Fast die ganze Literatur, Geschichte, Philosophie und Wissenschaft der vergangenen Jahrhunderte und des jetzigen! Gegenwärtig werden wenige Bücher veröffentlicht, die nicht unter den Bannstrahl der Kirche geraten würden. Wenn sie die Augen zu schließen scheint, so geschieht es, um der unmöglichen Aufgabe, alles zu verfolgen und alles zu zerstören, aus dem Wege zu gehen; dennoch beharrt sie dabei, den Schein ihrer höchsten Gewalt über die Geister zu bewahren – wie eine sehr alte, ihrer Staaten entsetzte Königin ohne Richter und Henker, die trotzdem fortfährt, eitle, von einer geringen Minderheit angenommene Urteile zu erlassen. Aber man nehme nur an, daß sie, einen Augenblick Siegerin, durch ein Wunder die Herrin der modernen Welt werden würde; man frage sich, was sie aus dem menschlichen Gedanken machen würde, wenn sie Tribunale zum Verdammen, Gendarmen zum Vollstrecken besäße. Man nehme an, daß die Regeln des Index streng angewendet würden, ein Drucker ohne Zustimmung des Bischofs nichts in Druck bringen könnte, alle Bücher sodann der Kongregation überwiesen würden, die Vergangenheit gereinigt, die Gegenwart geknebelt, der geistigen Schreckensherrschaft unterworfen werden würde. Würde das nicht die Schließung der Bibliotheken, die Einkerkerung der langen Erbschaft des geschriebenen Gedankens, die Verrammlung der Zukunft, das vollständige Stocken jeden Fortschritts und jeder Eroberung bedeuten? Ein furchtbares Beispiel dieses verhängnisvollen Experimentes bietet in unseren Tagen Rom mit seinem erkalteten Boden, seinem erstorbenen, durch Jahrhunderte päpstlicher Herrschaft getöteten Mark, Rom, das so unfruchtbar geworden ist, daß nach fünfundzwanzig Jahren des Erwachens und der Freiheit noch kein einziger Mann, kein einziges Werk darin entstehen konnte. Aber wer würde das erkennen – nicht unter den revolutionären, sondern unter den frommen Geistern von einiger Bildung und einigem Umfang? Alles bricht im Kindischen und Thörichten zusammen.
Eine tiefe Stille herrschte und Pierre, den diese Betrachtungen ganz verstörten, machte eine verzweifelte Geberde, als er den stumm vor ihm sitzenden Don Vigilio ansah. Einen Augenblick schwiegen beide in der Unbeweglichkeit des Todes, die aus dem alten, schlummernden Palast aufstieg, inmitten dieses geschlossenen Zimmers, das die Lampe mit ruhigem Licht erhellte. Dann beugte sich Don Vigilio funkelnden Blickes vor und hauchte, von einem leichten Schauer seines Fiebers geschüttelt:
»Sie wissen, hinter allem stecken sie, immer nur sie.«
Pierre, der ihn nicht verstand, geriet über dieses zerstreute, scheinbar ohne Uebergang ausgesprochene Wort in etwas unruhiges Erstaunen.
»Wer sind sie?«
Der abgemagerte, gelb gewordene kleine Priester hatte in diesen Schrei die angesammelte Wut seiner nun losbrechenden Leidenschaft gelegt. Ah, desto schlimmer, wenn er eine neue Dummheit beging! Das Wort war endlich heraus! Dennoch warf er einen letzten Blick voll rasenden Trotzes rings über die Wände. Dann machte er sich Luft in einem langen Wortschwall, der um so unwiderstehlicher war, als er ihn schon lange in sich zurückgedrängt hatte.
»Ach, die Jesuiten, die Jesuiten! ... Sie glauben sie zu kennen und haben nicht einmal eine Ahnung von ihren abscheulichen Thaten oder ihrer unberechenbaren Macht. In allem stecken nur sie, überall sie, immer sie. Sagen Sie sich das, sobald Sie zu verstehen aufhören und verstehen wollen. Wenn Ihnen ein Schmerz, ein Unglück zustoßen wird, wenn Sie leiden, wenn Sie weinen werden, denken Sie sofort: ›Das sind sie, sie stecken dahinter.‹ Ich bin nicht sicher, ob nicht einer unter diesem Bett, in diesem Schrank steckt. Ach, die Jesuiten, die Jesuiten! Sie haben mich, mich verzehrt und verzehren mich noch – sie werden sicherlich nichts von meinem Fleisch oder von meinen Knochen übrig lassen!«
Mit seiner abgebrochenen Stimme erzählte er seine Geschichte, seine hoffnungsvolle Jugend. Er war von kleinem Provinzadel, besaß hübsche Renten und einen sehr lebhaften, sehr geschmeidigen, der Zukunft zulächelnden Geist. Heute wäre er sicherlich Prälat und aus dem Wege zu den hohen Aemtern, aber er hatte das alberne Unrecht begangen, schlecht von den Jesuiten zu sprechen und ihnen bei zwei oder drei Gelegenheiten zuwider zu handeln. Von da an hatten sie, wenn man ihm glauben sollte, alles erdenkliche Unglück auf ihn herabregnen lassen: sein Vater und seine Mutter waren gestorben, sein Bankier hatte die Flucht ergriffen, die guten Stellen entschlüpften ihm, sowie er sich anschickte, sie einzunehmen, das ärgste Mißgeschick verfolgte ihn in seinem heiligen Amte, so daß er sich suspendiren lassen mußte. Erst seit dem Tage, da der Kardinal Boccanera, sich seines Unglücks erbarmend, ihn aufgenommen und in seinen persönlichen Dienst genommen halte, genoß er ein wenig Ruhe.
»Hier ist meine Zuflucht, mein Asyl. Sie verwünschen Seine Eminenz, der nie mit ihnen gehalten hat, aber sie haben noch nicht gewagt, ihn oder seine Leute anzugreifen. O, ich gebe mich keiner Täuschung hin, sie werden mich doch noch erwischen. Vielleicht werden sie unser heutiges Gespräch erfahren und es mich sehr teuer bezahlen lassen. Denn es ist unrecht von mir, zu sprechen – ich spreche wider meinen Willen. Sie haben mir alles Glück gestohlen, sie haben mir alles mögliche Unglück zugezogen – alles, alles, hören Sie!«
Ein wachsendes Unbehagen überkam Pierre.
»Ei,« rief er, indem er sich zu einem Scherz zwang, »die Jesuiten haben Ihnen doch nicht das Fieber zugezogen?«
»Gewiß thaten sie es!« bestätigte Don Vigilio heftig. »Ich habe es mir am Tiberufer zugezogen, als ich eines Abends dort vor Kummer weinte, weil man mich von der kleinen Kirche, die ich versah weggejagt hatte.«
Bisher hatte Pierre an die schreckliche Legende von den Jesuiten nicht geglaubt. Er gehörte einer Generation an, die über Werwölfe lächelte und die spießbürgerliche Furcht vor den berühmten schwarzen Männern, die in den Mauern versteckt waren und die Familien erschreckten, ein wenig albern fand. Für ihn waren das durch politische und religiöse Leidenschaften übertriebene Ammenmärchen. Aus diesem Grunde betrachtete er Don Vigilo bestürzt, denn die Furcht ergriff ihn, ob er es nicht mit einem Irren zu thun habe.
Dennoch zog die außerordentliche Geschichte der Jesuiten an ihm vorüber. Wenn der heilige Franz von Assisi und der heilige Dominikus die Seele und der Geist, die Herren und Erzieher des Mittelalters sind, indem der eine den ganzen menschenfreundlichen, feurigen Glauben der Einfältigen ausdrückte und der andere das Dogma verteidigte, die Lehre für die Verständigen und Mächtigen feststellte, so erschien Ignatius von Loyola an der Schwelle der modernen Zeiten, um die düstere, gefährdete Erbschaft zu retten. Er bequemte die Religion den neuen Gesellschaften an, er gab ihr von neuem das Reich der entstehenden Welt. Von da an schien das Experiment gemacht zu sein; Gott sollte in seinem intransigenten Kampf gegen die Sünde besiegt werden; denn es stand fortan fest, daß die ehemalige Absicht, die Natur zu unterdrücken, im Menschen den Menschen mit seinen Gelüsten, seinen Leidenschaften, seinem Herzen und Blut zu töten, nur zu einer verhängnisvollen Niederlage führen konnte. Die Kirche stand im Begriffe, bei dieser Niederlage unterzugehen, und da sind es die Jesuiten, die sie aus dieser Gefahr reißen, die sie dem Erobererleben zurückgaben, indem sie entscheiden, daß sie jetzt der Welt entgegen gehen muß, da die Welt nicht mehr zu ihr gehen zu wollen scheint. Dann liegt alles. Sie erklären, daß es mit dem Himmel Abkommen gibt; sie beugen sich den Sitten, den Vorurteilen, sogar den Lastern; sie lächeln, sind willfährig, in keiner Hinsicht streng, liebenswürdig, diplomatisch, bereit, die ärgsten Greuel zur größten Ehre Gottes zu drehen. Ihr Sammelruf, ihre nachgiebige Moral – die Moral, die man ihnen zum Verbrechen angerechnet hat – ist, daß alle Mittel dem Zweck heilig sind, wenn der Zweck das Interesse Gottes selbst ist, dargestellt durch das der Kirche. Und deshalb – welch furchtbarer Erfolg! Sie vermehren sich, sie bedecken bald die Erde, werden überall die unbestrittenen Herren. Sie hören Königen die Beichte; sie erwerben ungeheure Reichtümer; sie sind eine so siegreiche Einfallsmacht, daß sie in kein Land, mag es noch so klein sein, den Fuß setzen können, ohne es bald ganz mit seinen Seelen, Leibern, seiner Macht und seinem Reichtum, zu besitzen. Vor allem gründen sie Schulen; sie sind unvergleichliche Gehirnkneter, denn sie haben begriffen, daß die Macht immer dem Morgen, den aufwachsenden Geschlechtern gehört, deren Herr man bleiben muß, wenn man ewig herrschen will. Ihre auf der Notwendigkeit eines Vergleiches mit der Sünde gegründete Macht ist derart, daß sie am Tage nach dem Konzil von Trient den Geist des Katholizismus umwandeln, ihn durchdringen und mit sich identifiziren, die unentbehrlichen Krieger des Papsttums sind, das von ihnen und für sie lebt. Seither gehört Rom ihnen – Rom, wo ihr General so lange befohlen hat, von wo so lange Zeit die Losungsworte jener dunklen, genialen Taktik ausgingen. Sie wurde blindlings von ihrem unzählbaren Heer befolgt, dessen geschickte Organisation, dessen sammetweiche, in der Leitung der armen, leidenden Menschheit erfahrene Hand den Erdball mit einem eisernen Netz bedeckt. Aber das Wunder bei all dem ist noch die verblüffende Lebenskraft der unablässig verfolgten, verdammten, vertriebenen und trotzdem aufrecht stehenden Jesuiten. Seit ihre Macht entschieden wird, beginnt ihre Mißliebigkeit und wird nach und nach allgemein. Ein Hohngeschrei von Verwünschungen, abscheuliche Anklagen, schändliche Prozesse erheben sich gegen sie. in denen sie als Verderber und Uebelthäter erscheinen. Pascal weiht sie der öffentlichen Verachtung. Parlamente verdammen ihre Bücher zum Verbrennen, Universitäten verwerfen ihre Moral und ihre Lehre wie Gift. In jedem Reiche erregen sie solche Unruhen, solche Kämpfe, daß die Jesuitenverfolgung sich organisirt und sie bald von überall verjagt werden. Länger als ein Jahrhundert irren sie umher, werden ausgetrieben, wieder zurückberufen, gehen über die Grenze und wieder zurück, verlassen ein Land inmitten von Haßgeschrei und lehren wieder, sobald Beruhigung eingetreten ist. Zuletzt, nachdem ein Papst sie unterdrückt hatte, – das war ihr höchstes Unglück – wurden sie von einem andern wieder eingesetzt und werden seit jener Zeit so ziemlich geduldet; in dem diplomatischen Zurücktreten, dem freiwilligen Dunkel, in dem sie klugerweise leben, triumphiren sie nichtsdestoweniger mit ruhiger, siegesgewisser Miene, wie Krieger, die die Erde für immer erobert haben.
Pierre wußte, daß sie heutzutage, wenn man nur nach dem äußeren Schein urteilte, aus dem Besitz von Rom vertrieben waren. Sie verwalteten nicht mehr die Jesuitenkirche, leiteten nicht mehr das Collegium Romanum, wo sie so viele Seelen gemodelt hatten, und haben sich, ohne ein eigenes Heim zu besitzen, auf fremde Gastlichkeit angewiesen, bescheiden in das Collegium Germanicum zurückgezogen, in dem sich eine kleine Kapelle befand. Dort lehrten und hörten sie noch die Beichte, aber ohne Aufsehen, ohne die fromme Pracht des Il Gesu, ohne die blendenden Erfolge des Collegium Romanum. Muß man sonach glauben, daß sie aus höchster Gewandtheit, aus List verschwinden, um die geheimen und allmächtigen Herren, der verborgene, alles leitende Wille zu bleiben? Es hieß wohl, daß die Verkündigung der Unfehlbarkeit des Papstes ihr Werk, die Waffe sei, mit der sie sich selbst bewappneten, während sie sich stellten, als bewappneten sie das Papsttum für die nahen, entscheidenden Ausgaben am Vorabend großer sozialer Umwälzungen, die ihr Genius voraussah. Dann war also jene geheime Oberhoheit, von der Don Vigilio mit geheimnisvollem Erschauern erzählte, jene Beschlagnahme der Regierung der Kirche, jene unbekannte und vollständige Herrschaft im Vatikan vielleicht wahr.
Im Geiste Pierres war eine geheime Ideenverbindung entstanden.
»Monsignore Nani ist also Jesuit?« fragte er plötzlich.
Dieser Name schien Don Vigilio wieder seiner ganzen unruhigen Leidenschaft auszuliefern. Er machte eine zitternde Handbewegung.
»Er! O, er ist viel zu schlau, viel zu gewandt, um in den Orden zu treten. Aber er kommt aus jenem Collegium Romanum, wo seine Generation gebildet wurde; er hat den Genius der Jesuiten eingesogen, der so genau zu seinem eigenen paßte. Wenn er auch begriffen hat, wie gefährlich es ist, sich durch eine mißliebige und störende Livree zu kennzeichnen, wenn man frei sein will, so ist er deshalb nicht weniger Jesuit. O, Jesuit bis ins Innerste, bis in die Knochen, bis in die Seele, und zwar aufs vollendetste. Er hat offenbar die Ueberzeugung, daß die Kirche nur siegen kann, wenn sie sich der Leidenschaften der Menschen bedient; dabei liebt er sie aufrichtig, ist im Grunde sehr fromm, ein sehr guter Priester und dient Gott ohne Schwäche für die unumschränkte Macht, die er seinen Dienern gibt. Außerdem ist er bezaubernd, weder einer Roheit noch einer Sünde fähig, wird durch die Reihe der edlen Venetianer, die er hinter sich hat, begünstigt, besitzt durch seine Weltkenntnis, da er in Wien, in Paris, in den Nuntiaturen viel in Gesellschaft verkehrt hat, eine tiefe Einsicht und weiß alles, kennt alles, dank dem heiklen Amte, das er hier seit zehn Jahren als Assessor beim S. Offizio einnimmt ... O, er ist allmächtig! Das ist nicht der verstohlene Jesuit, dessen schwarzer Rock inmitten von Mißtrauen dahingleitet, sondern der Anführer ohne kennzeichnende Uniform, das Haupt, das Gehirn!«
Diese Worte machten Pierre nachdenklich, denn es handelte sich nicht mehr um in den Mauern versteckte Männer, um die düsteren Verschwörungen einer romantischen Sekte. Wenn sein Skeptizismus sich auch gegen diese Märchen wehrte, so gab er doch sehr wohl zu, daß eine bequeme, den Bedürfnissen des Kampfes ums Leben entspringende Moral, wie die der Jesuiten, sich der gesamten Kirche eingeimpft hatte und darin vorherrschte. Die Jesuiten selbst konnten verschwinden, ihr Geist würde sie überleben, da er die Waffe zum Kampf, die Hoffnung auf Sieg, die einzige Taktik war, die die Völker wieder unter die Herrschaft Roms bringen konnte. Der Kampf lag in Wirklichkeit in diesem Versuch einer Anbequemung, die sich zwischen der Religion und dem Jahrhundert vollzog. Von nun an begriff er, wie Männer gleich Monsignore Nani eine ungeheure, entscheidende Bedeutung annehmen konnten.
»Ach, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten!« fuhr Don Vigilio fort. »Er ist überall, er hat seine Hand in allem. Sehen Sie, hier, bei den Boccaneras ist gar nichts vorgegangen, bei dem ich ihn nicht dahinter gefunden habe, bei dem er nicht, je nach Bedarf – den er allein kennt – die Fäden verwirrte und entwirrte.«
Und in dem unversiegbaren Fieber der Mitteilsamkeit, dessen Krisis ihn verbrannte, erzählte er, wie Monsignore Nani sicher an der Scheidung Benedettas gearbeitet hatte. Die Jesuiten haben, trotz ihres versöhnlichen Geistes, stets eine unversöhnliche Haltung gegen Italien eingenommen, entweder weil sie nicht an der Wiedereroberung Roms verzweifeln, oder weil sie die Stunde abwarten, um mit dem wirklichen Sieger zu verhandeln. So hatte denn Nani, schon lange ein Vertrauter Donna Serafinas, dieser geholfen, ihre Nichte zurück zu nehmen und den Bruch mit Prada zu beschleunigen, sobald Benedetta ihre Mutter verloren hatte. Er war es, der, um den Abbé Pisoni, diesen patriotischen Pfarrer, den Beichtvater des jungen Mädchens, den man beschuldigte, diese Heirat bewirkt zu haben, zu verdrängen, Benedetta antrieb, sich den Beichtvater ihrer Tante zu nehmen. Das war der Jesuitenpater Lorenzo, ein schöner Mann mit klaren und wohlwollenden Augen, dessen Beichtstuhl in der Kapelle des Collegium Germanum belagert war. Es schien festzustehen, daß dieses Manöver die ganze Sache entschieden hatte: was ein Pfarrer für Italien gethan hatte, sollte ein Pater gegen Italien rückgängig machen. Aber warum schien nun Nani, nachdem er derart den Bruch vollzogen, einen Augenblick daran das Interesse zu verlieren, so daß er das Gesuch um Annullirung der Ehe gefährden ließ? Und warum beschäftigte er sich jetzt wieder damit, indem er Monsignore Palma laufen ließ, Donna Serafina ins Feld führte und selbst auf die Kardinäle der Konzilskongregation einen Druck übte? Es gab da dunkle Punkte, wie in allem, womit er sich beschäftigte; denn er war vor allem der Mann weitreichender Kombinationen. Man konnte jedoch annehmen, daß er die Heirat Benedettas und Darios beschleunigen wollte, um den abscheulichen Klatschereien der weißen Gesellschaft ein Ende zu machen; denn sie beschuldigte Vetter und Base, daß sie im Palaste selbst, unter dem nachsichtsvollen Auge ihres Oheims, des Kardinals, nur ein Bett besäßen. Vielleicht war aber auch diese um den Preis des Geldes und durch den Druck offenkundigster Einflüsse erreichte Scheidung ein beabsichtigter, zuerst in die Länge gezogener und jetzt beschleunigter Skandal, um dem Kardinal selbst zu schaden, dessen sich die Jesuiten möglicherweise für einen nahen Zeitumstand entledigen mußten.
»Ich neige dieser Annahme sehr zu, um so mehr, als ich heute abend erfahren habe, daß der Papst leidend war,« schloß Don Vigilio. »Bei einem bald vierundachtzigjährigen Greise ist eine plötzliche Katastrophe möglich; der Papst kann keinen Schnupfen mehr haben, ohne daß das ganze heilige Kollegium und die Prälatenschaft in Aufruhr gerät, von dem plötzlichen Kampf der Leidenschaften erregt wird ... Nun haben die Jesuiten die Kandidatur des Kardinals Boccanera stets bekämpft. Sie sollten eigentlich von wegen seines Ranges, seiner Intransigenz bezüglich Italiens für ihn sein, aber der Gedanke, sich einen solchen Herrn zu geben, macht sie unruhig; sie finden, daß er eine unzeitige Rauheit, einen heftigen Glauben, eine Ungeschmeidigkeit besitzt, die heutzutage, in der Zeit der Diplomatie, die die Kirche durchmacht, zu gefährlich wäre ... Es würde mich gar nicht wundern, wenn man versuchen würde, ihn in Mißachtung zu bringen, seine Kandidatur mit Hilfe der verstecktesten und schändlichsten Mittel unmöglich zu machen.«
Ein leichter Schauer der Furcht begann Pierre zu ergreifen. Die Ansteckung des Unbekannten, der im Dunkeln angezettelten finsteren Ränke wirkte inmitten der nächtlichen Stille, inmitten dieses Palastes am Tiber, inmitten des von legendenhaften Trauerspielen ganz erfüllten Rom noch stärker. Und plötzlich machte er eine jähe Schwenkung zu sich selbst, zu seinem persönlichen Fall.
»Aber ich, was soll ich dabei! Warum scheint sich Monfignore Nani für mich zu interessiren? Wieso ist er in den Prozeß verwickelt, der meinem Buche gemacht wird?«
Don Vigilio machte eine weite Geberde.
»Ach, das weiß man nie, das weiß man nie genau! – – Was ich bestimmt sagen kann, ist, daß er von der Angelegenheit nichts gewußt hat, als bis sich die Anzeigen der Bischöfe von Tarbes, Poitiers und Evreux bereits in den Händen des Pater Dangelis, des Indexsekretärs, befanden. Desgleichen habe ich erfahren, daß er sich hierauf bemüht hat, den Prozeß aufzuhalten, da er ihn ohne Zweifel für unnütz und undiplomatisch hielt. Aber wenn bei der Kongregation einmal etwas anhängig gemacht ward, ist es beinahe unmöglich, es rückgängig zu machen, umsomehr da er gegen den Pater Dangelis gestoßen sein muß, der als treuer Dominikaner ein leidenschaftlicher Gegner der Jesuiten ist. In jenem Augenblick ließ er die Contessina an Herrn de la Choue schreiben, damit dieser Sie zu Ihrer Verteidigung herbeieilen heiße und damit Sie während Ihres Aufenthaltes die Gastfreundschaft dieses Palastes annehmen sollten.«
Diese Enthüllung regte Pierre vollends auf.
»Sind Sie dessen sicher?«
»O, ganz sicher. Ich hörte ihn an einem Montag von Ihnen reden und sagte Ihnen ja bereits, daß er Sie genau zu kennen scheine, als hätte er sich einer eingehenden Untersuchung hingegeben. Meiner Ansicht nach hatte er Ihr Buch gelesen, und hat es ihn außerordentlich nachdenklich gemacht.«
»Sie glauben also, daß er meine Ideen teilt? Daß er aufrichtig ist und sich selbst verteidigt, indem er sich bemüht, mich zu verteidigen?«
»O, nein, nein, keineswegs – Ihre Ideen verwünscht er sicherlich, und ebenso Ihr Buch und Sie selbst! Man muß seine Geringschätzung der Schwachen, seinen Haß gegen die Armen, seine Liebe zur Macht, zur Herrschaft kennen, die sich hinter seiner schmeichelnden Liebenswürdigkeit verstecken. Lourdes würde er Ihnen noch überlassen, obwohl darin eine wunderbare Regierungswaffe liegt, aber nie wird er es Ihnen verzeihen, daß Sie auf der Seite der Kleinen dieser Welt sind und sich gegen die weltliche Herrschaft aussprechen. Wenn Sie hören würden, wie er sich mit anmutiger Grausamkeit über Herrn de la Choue lustig macht, den er die elegische Trauerweide des Neukatholizismus nennt.«
Pierre griff mit beiden Händen an seine Schläfen und preßte sich verzweifelt den Kopf zusammen.
»Warum also, warum? Ich bitte Sie, sagen Sie es mir! Warum ließ er mich herkommen, warum wollte er mich in diesem Hause, zu seiner völligen Verfügung haben? Warum führt er mich seit drei Monaten in Rom spazieren, wozu läßt er mich an Hindernisse stoßen, wozu will er mich ermüden, da es ihm doch so leicht war, mein Buch, wenn es ihn stört, vom Index unterdrücken zu lassen? Freilich hätte ich die Sache nicht so ruhig vorübergehen lassen, denn ich war willens, mich nicht zu unterwerfen, meinen neuen Glauben laut zu bekennen, selbst gegen die Beschlüsse Roms.«
Die schwarzen Augen in dem gelben Gesichte Don Vigilios funkelten.
»Eh, vielleicht hat er das eben nicht gewollt. Er weiß, daß Sie sehr intelligent und sehr schwärmerisch sind, und ich habe ihn oft sagen hören, daß man gegen Intelligenz und Schwärmerei nicht von vorne aus kämpfen darf.«
Aber Pierre hatte sich erhoben und hörte nicht einmal mehr zu; wie von der Verwirrung seiner Gedanken gejagt, schritt er durchs Zimmer.
»Hören Sie, ich muß alles wissen und verstehen, wenn ich den Kampf fortsetzen will. Sie werden mir die Gefälligkeit erweisen, mich eingehend über jede der Persönlichkeiten aufzuklären, die mit meinem Prozeß in Verbindung stehen. Jesuiten, überall Jesuiten! Mein Gott, ich sehe es ein, Sie haben vielleicht Recht. Aber Sie müssen mir die Abstufungen schildern. Dieser Fornaro zum Beispiel?«
»Monsignore Fornaro? O, er ist alles, was man will. Aber er ist ebenfalls im Collegium Romanum erzogen worden und seien Sie überzeugt, daß er Jesuit ist. Jesuit durch Erziehung, durch seine Stellung, durch seinen Ehrgeiz. Er brennt darnach, Kardinal zu werden, und wenn er eines Tages Kardinal ist, wird er darnach brennen, Papst zu werden. Alle sind sie Kandidaten der Papstwürde, vom Seminar ab.«
»Und Kardinal Sanguinetti?«
»Jesuit, Jesuit! Verstehen wir uns: er ist es gewesen, dann nicht mehr gewesen und ist es sicherlich von Neuem. Sanguinetti hat mit allen Mächten kokettirt. Lange hat man geglaubt, daß er für die Versöhnung des heiligen Stuhles mit Italien ist; dann hat sich die Lage verschlimmert und er nahm heftig Partei gegen die Usurpatoren. Ebenso hat er sich mehrmals mit Leo XIII. überworfen, dann Frieden mit ihm gemacht und lebt jetzt mit dem Vatikan auf diplomatisch zurückhaltendem Fuß. Mit einem Wort, er kennt nur ein Ziel, die Tiara; aber er zeigt es zu sehr, das nützt einen Kandidaten ab. Im Augenblick scheint sich jedoch der Kampf auf ihn und den Kardinal Boccanera zu beschränken. Aus diesem Grunde hat er sich mit den Jesuiten ausgesöhnt, nützt ihren Haß gegen seinen Nebenbuhler aus und rechnet darauf, daß sie, um diesen zu umgehen, ihn unterstützen werden müssen. Ich zweifle daran, denn ich halte sie für viel zu schlau; sie werden zögern, einen schon so bloßgestellten Kandidaten zu begönnern. Er, der leidenschaftliche, hochmütige Wirrkopf zweifelt nicht, und da er, wie Sie sagen, in Frascati ist, bin ich überzeugt, daß er sich gleich nach der Nachricht von der Erkrankung des Papstes zu einem taktischen Zweck beeilt hat, sich dort einzuschließen.«
»Nun, und der Papst selbst, Leo XIII.?«
Don Vigilio zögerte ein Weilchen; seine Lider zuckten leicht.
»Leo XIII.? Jesuit, Jesuit! O, ich weiß, es heißt, daß er zu den Dominikanern hält, und wenn man will, ist das wahr; er glaubt, von ihrem Geiste beseelt zu sein, hat den heiligen Thomas wieder zu Ehren gebracht, auf seiner Doktrin die ganze geistliche Lehre wieder hergestellt. Aber man kann auch Jesuit sein, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen; der jetzige Papst wird das berühmteste Beispiel dafür sein. Studiren Sie doch seine Handlungen, geben Sie sich über seine Politik Rechenschaft: Sie werden darin die Ausströmung, die Thätigkeit der Jesuitenseele selbst sehen. Das kommt daher, weil er unbewußt davon durchtränkt ist, weil alle Einflüsse, die direkt oder indirekt auf ihn wirken, von diesem Herde ausgehen. Warum glauben Sie mir nicht? Ich wiederhole, sie haben alles erobert, alles aufgesogen – Rom gehört ihnen, von dem niedersten Schreiber an bis zu Seiner Heiligkeit selbst!«
Er sprach weiter und beantwortete jeden neuen Namen, den Pierre anführte, mit dem störrischen, wahnsinnigen Schrei: »Jesuit, Jesuit!« Es schien, daß man in der Kirche nichts anderes mehr sein könne, daß die Wahrheit dieser Erklärung von einem Klerus dargethan wird, der gezwungen war, sich mit der neuen Welt zu vertragen, wenn er seinen Gott retten wollte. Die Heldenzeit des Katholizismus war beendet; er konnte fortan nur noch durch Schlauheit und List, durch Zugeständnisse und Anbequemung leben.
»Und dieser Paparelli – ein Jesuit, ein Jesuit!« fuhr Don Vigilio fort, indem er instinktiv die Stimme senkte. »O, das ist der schreckliche, bescheidene Jesuit, der Jesuit in seiner abscheulichsten Art, als Späher und Verderber! Ich wollte schwören, daß man ihn hergesetzt hat, um Seine Eminenz zu überwachen, und man muß nur sehen, mit welch genialer Fügsamkeit und Hinterlist er seine Aufgabe erfüllt hat: einzig sein Wille herrscht; er öffnet die Thür nur dem, der ihm paßt, benützt seinen Herrn wie sein Eigentum, übt auf jeden seiner Entschlüsse einen Druck aus, kurz, hat ihn durch ein langsames, stündliches Ansichreißen in seinen Besitz bekommen. Ja, dieser einfache, so geringe Abbé, dieser Schleppträger, dessen Amt es ist, wie ein treuer Hund zu den Füßen seines Kardinals zu sitzen, der aber in Wirklichkeit über ihn herrscht und ihn treibt, wohin er will – das ist die Eroberung des Löwen durch das Insekt, das ist das unendlich Kleine, das über das unendlich Große verfügt. – Ach, der Jesuit, der Jesuit! Hüten Sie sich vor ihm, wenn er mit seinem schlaffen, runzligen Frömmlergesicht wie eine alte Frau im schwarzen Rock geräuschlos in seiner ärmlichen Sutane vorübergeht. Sehen Sie nach, ob er nicht hinter den Thüren, in den Schränken, unter den Betten steckt. Ich sage Ihnen, sie werden Sie so auffressen, wie sie mich aufgefressen haben und sie werden Ihnen auch das Fieber, die Pest auf den Hals jagen, wenn Sie sich nicht in acht nehmen!«
Pierre blieb plötzlich vor dem Priester stehen. Er verlor den Boden unter den Füßen. Furcht und Zorn ergriffen ihn vollends. Nach all dem mußten diese außerordentlichen Geschichten wahr sein. Warum sollten es sie denn nicht sein?
»Aber dann geben Sie mir doch einen Rat!« rief er. »Ich habe Sie heute abend doch eigens gebeten, bei mir einzutreten, weil ich nicht mehr weiß, was ich thun soll, weil ich das Bedürfnis fühlte, auf den rechten Weg gewiesen zu werden.«
Er hielt inne und nahm, wie von seiner überströmenden Leidenschaft getrieben, sein heftiges Auf- und Abgehen wieder auf.
»Oder nein, sagen Sie mir nichts. Es ist aus, ich reise lieber ab. Dieser Gedanke ist mir schon früher einmal gekommen, aber in einer Stunde der Feigheit; ich wollte verschwinden, heimkehren, um in meinem Winkel in Frieden zu leben. Jetzt aber, wenn ich gehe, geschieht es als Rächer, als Richter, um von Paris aus in die Welt zu rufen, was ich in Rom gesehen, was man dort aus dem Christentum Jesu gemacht hat – daß der Vatikan in Staub zerfällt, daß ein Leichengeruch von ihm ausgeht, daß es eine alberne Täuschung derjenigen ist, die hoffen, eines Tages eine Erneuung der modernen Seele aus dieser Gruft erstehen zu sehen, wo die Fäulnis der Jahrhunderte schlummert ... O, ich werde nicht nachgeben, ich werde mich nicht unterwerfen, sondern mein Buch durch ein neues verteidigen. Und dieses, dafür stehe ich Ihnen gut, wird in der Welt einigen Lärm machen, denn es wird das Totengeläute einer sterbenden Religion sein, die man eilig begraben muß, wenn man nicht will, daß ihre Ueberreste die Völker vergiften.«
Das ging über Don Vigilio's Verständnis. Der italienische Priester mit seinem beschränkten Glauben, seiner unwissenden Angst vor neuen Ideen, erwachte wieder in ihm. Er faltete entsetzt die Hände.
»Schweigen Sie, schweigen Sie, das ist ja Gotteslästerung. Und dann können Sie ja gar nicht so fortgehen, ohne noch einmal den Versuch zu machen, Seine Heiligkeit zu sehen. Er allein ist souverän. Ich weiß, daß ich Sie überraschen werde – aber der Pater Dangelis hat Ihnen im Spott noch den einzigen guten Rat gegeben: suchen Sie Monsignore Nani wieder auf, denn er allein wird Ihnen die Thür des Vatikans öffnen.«
Pierre fuhr abermals zornig auf.
»Wie, ich soll von Monsignore Nani ausgegangen sein, um zu Monsignore Nani zurückzukehren! Was soll dieses Spiel? Kann ich mich darein fügen, ein Federball zu sein, den alle Schlagnetze einander zuwerfen? Man macht sich über mich lustig!«
Und Pierre sank erschöpft, außer sich, auf einen Stuhl, der dem Abbé, der sich nicht rührte, gegenüberstand. Don Vigilio sah durch das zu lange Wachen erdfahl aus; seine Hände wurden fortwährend von einem leichten Zittern bewegt. Ein langes Schweigen entstand. Dann meinte Don Vigilio, daß er noch eine Idee habe; er war ein wenig mit dem Beichtvater des Papstes, einem Franziskanerpater von großer Einfachheit bekannt und konnte ihn an diesen empfehlen. Vielleicht könnte ihm dieser Pater trotz seiner Eingezogenheit nützlich sein. Es kostete ja nur einen Versuch. Wieder trat Schweigen ein und Pierre, dessen gedankenleerer Blick auf die Wand gerichtet war, unterschied zuletzt das alte Bild, das ihn am Tage seiner Ankunft so tief gerührt hatte. Nach und nach sah er es in dem blaßen Licht der Lampe deutlicher hervortreten und lebendig werden, wie die leibhaftige Verkörperung seines Falles, seiner unnützen Verzweiflung vor der hart verschlossenen Thür der Wahrheit und Gerechtigkeit. Ach, wie ähnelte ihm diese Verstoßene, diese beharrlich Liebende, deren Gesicht nicht zu sehen war, die, in ihr Haar hineinschluchzend, vor Schmerz auf den Stufen dieses Palastes, vor der erbarmungslos geschlossenen Thür niedergefallen war! In ein einfaches Linnen gehüllt, bebte sie vor Kälte; sie verriet nicht ihr Geheimnis, ihr Unglück oder ihre Schuld, den ungeheuren Schmerz der Verlassenheit. Aber er lieh ihr sein eigenes Antlitz hinter diesen auf ihr Gesicht gepreßten Händen; sie wurde seine Schwester wie alle die armen heimlosen, schutzlosen Geschöpfe, die weinen, weil sie nackt und allein sind, die ihre Fäuste bei dem Bemühen abnützen, den Weg über die böse Schwelle der Menschen zu erzwingen. Er vermochte sie nie anzusehen, ohne sie zu beklagen, und an diesem Abend bewegte es ihn so tief, sie immer als Unbekannte, Namenlose, ohne Antlitz und doch in den furchtbarsten Thränen gebadet, wiederzufinden, daß er plötzlich Don Vigilio fragte:
»Wissen Sie, von wem dieses alte Bild ist? Es bewegt mich bis in die Seele, wie ein Meisterwerk.«
Der Priester, von dieser unerwarteten, ohne jeden Uebergang erfolgenden Frage überrascht, hob den Kopf, sah hin und wunderte sich noch mehr, als er das geschwärzte, vernachlässigte Bild in seinem ärmlichen Rahmen betrachtet hatte.
»Wissen Sie, woher dieses Gemälde stammt? Wie kommt es, daß man es in dieses Zimmer verbannt hat?«
»O, es ist nichts!« sagte er mit einer gleichgiltigen Geberde. »Solche alte, wertlose Bilder gibt es hier überall. Dieses hat zweifellos immer hier gehangen. Ich weiß nicht; ich habe es nicht einmal gesehen.«
Zuletzt erhob er sich vorsichtig und diese einfache Bewegung verursachte ihm ein solches Schauern, daß er kaum Abschied zu nehmen vermochte. Seine Zähne schlugen vor Fieber auf einander.
»Nein, begleiten Sie mich nicht, lassen Sie die Lampe in diesem Zimmer. Und nm zu einem Schluß zu kommen: das Beste wäre es noch, wenn Sie sich Monsignore Nani in die Hände geben würden, denn dieser ist doch wenigstens ein hervorragender Mensch. Ich habe es Ihnen ja gleich bei Ihrer Ankunft gesagt, daß Sie zuletzt, ob Sie nun wollen oder nicht thun werden, was ihm beliebt. Wozu also kämpfen? ... Und kein Wort über unser heutiges Gespräch – es wäre mein Tod!«
Er klinkte die Thüren geräuschlos wieder auf, sah mißtrauisch nach rechts und links in das Dunkel des Korridors, dann wagte er sich hinaus und verschwand; er kehrte so leise in sein Zimmer zurück, daß man inmitten des Grabesschlummers des alten Palastes das Huschen seiner Füße nicht einmal hörte. Am nächsten Tage ließ sich Pierre, der vom Kampfbedürfnis wieder ergriffen worden war und alles versuchen wollte, von Don Vigilio an den Beichtvater des Papstes, jenen Franziskanerpater, empfehlen, mit dem der Sekretär ein wenig bekannt war. Aber er traf zufällig auf einen guten Mönch, den peinlich gewissenhaftesten aller Menschen, offenbar hatte man einen sehr bescheidenen und sehr einfachen, gänzlich einflußlosen Mann gewählt, damit er seine allmächtige Stellung beim heiligen Vater nicht mißbrauche. In dem Umstande, daß dieser nur den demütigsten Orden, den Freund der Armen, den heiligen Straßenbettler zum Beichtvater haben wollte, lag auch eine verstellte Demut. Dennoch stand dieser Pater im Rufe eines glaubensstarken Redners; der Papst selbst wohnte, der Regel gemäß von einem Schleier verborgen, seinen Predigten bei, denn, wenn er auch als unfehlbarer Oberpriester sich von keinem Priester belehren lassen durfte, so wurde doch zugestanden, daß er als Mensch trotzdem Nutzen aus guten Worten ziehen könne. Aber abgesehen von dieser natürlichen Beredsamkeit war der gute Pater wirklich ein einfacher Seelenwäscher, ein Beichtvater, der zuhört und absolvirt, ohne sich der Unreinheiten, die er mit den Wassern der Buße fortwäscht, mehr zu erinnern. Als Pierre sah, daß er so wahrhaft arm und nichtig sei, bestand er nicht auf einer Fürsprache, die, wie er fühlte, unnütz gewesen wäre.
An diesem Tage verfolgte ihn die Gestalt des naiven Liebhabers der Armut, des entzückenden Franziskus, wie Narcisse Habert ihn nannte, bis zum Abend. Er hatte sich oft über das Erscheinen dieses, Menschen, Tieren und Dingen so holden, von so brennender Liebe zu den Unglücklichen entflammten neuen Jesus in diesem selbstsüchtigen und genußsüchtigen Italien gewundert, wo nur die Freude Über die Schönheit Königin geblieben ist. Zweifellos haben sich die Zeiten geändert. Welcher Liebeskraft hat es in jener Zeit, während der großen Leiden des Mittelalters bedurft, damit ein solcher dem Volksboden entsprossener Tröster der Einfältigen die Hingabe des eigenen Ich an andere, den Verzicht auf Reichtum, das Grauen vor roher Gewalt, die Gleichheit und den Gehorsam zu predigen begann, die den Weltfrieden sichern mußten! Gleich den Aermsten gekleidet, das graue Gewand über den Lenden von einem Strick zusammengefaßt, Sandalen an den nackten Füßen, ohne Geldbeutel noch Stock, wanderte er dahin. Und er wie seine Brüder führten eine stolze, freie Rede, voll erhabener, poetischer Kraft, voll erhabener Kühnheit der Wahrheit. Sie machten sich überall zu Richtern, griffen die Reichen und Mächtigen an und wagten es, die schlechten Priester, die ausschweifenden, Wucher treibenden und meineidigen Bischöfe anzuzeigen. Ein lauter Schrei der Erleichterung empfing sie; das Volk folgte ihnen in Mengen; sie waren die Freunde, die Befreier aller leidenden Geringen. Rom wurde daher auch anfangs durch diese Revolutionäre beunruhigt und die Päpste zögerten zuerst, den Orden zu ermächtigen; als sie endlich nachgaben, geschah es sicherlich in der Idee, diese neue Macht zu ihrem Nutzen, zur Eroberung des untersten Volkes, der ungeheuren, unbestimmten Masse auszunutzen, deren dumpfes Drohen stets durch alle Zeitalter, selbst durch die Epochen größter Willkür grollend tönte. Von da ab besaß das Papsttum an den Söhnen des heiligen Franziskus ein beständig siegreiches Heer, ein wanderndes Heer, das sich überall, ans allen Straßen, in den Dörfern und den Städten verbreitete, bis an den Herd des Arbeiters und Bauers drang und die einfachen Herzen gewann. Wer vermag sich die demokratische Macht eines solchen Ordens vorzustellen, der aus dem Schoße des Volkes selbst hervorgegangen zu sein schien? Daher stammt seine so rasche Wohlfahrt; die Zahl der Brüder vermehrt sich in wenigen Jahren, allerseits werden Klöster gegründet und der Franziskanerorden reißt die Laienbevölkerung derart an sich, daß er sie durchtränkt und aufsaugt. Der Beweis aber, daß darin ein Erzeugnis des Bodens, ein kräftiges Wachstum des plebejischen Stammes lag, war, daß eine ganze nationale Kunst davon entspringen sollte: der Vorläufer der Renaissance und der Malerei, und Dante selbst, die Seele des italienischen Genius.
Seit einigen Tagen sah Pierre jetzt diese großen Orden von Einst vor sich und stieß sich au ihnen in dem gegenwärtigen Rom. Die Franziskaner und Dominikaner, diese von gleichem Glauben beseelten Nebenbuhler, die so lange gemeinsam für die Kirche gekämpft halten, standen einander noch immer, anscheinend gedeihend, in ihren großen Klöstern gegenüber. Aber es schien, daß die Franziskaner auf die Dauer durch ihre Demut beiseite gedrängt worden waren. Vielleicht kam das auch daher, weil ihre Rolle als Freunde und Befreier des Volkes aufgehört hat, seit das Volk sich durch seine politischen und sozialen Eroberungen selbst befreite. Ein Kampf bestand sicherlich einzig nur zwischen den Dominikanern und den Jesuiten, den Predigern und den Erziehern, die beide den Anspruch bewahren, die Welt nach dem Bilde ihres Glaubens zu kneten. Man hörte die verschiedenen Einflüsse dumpf grollen; es war ein Krieg zu jeder Stunde, dessen ewiger Einsatz Rom, die höchste Macht im Vatikan war. Den ersteren nützte es jedoch wenig, daß der heilige Thomas für sie kämpfte; sie fühlten, wie ihre alte dogmatische Wissenschaft zusammenbrach, und mußten den letzteren, die mit dem Jahrhundert siegten, täglich etwas Boden mehr abtreten. Dann gab es die Karthäuser in ihrem weißen Tuchgewande, die heiligen und reinen Schweigsamen, die Beschaulichen, die sich aus der Welt in ihre Klöster mit den stillen Zellen retten, die Verzweifelten und Getrösteten, deren Zahl gering sein mag, die aber ewig leben werden, wie der Schmerz und das Bedürfnis nach Einsamkeit. Da waren die Benediktiner, die Kinder des heiligen Benedikt, dessen bewunderungswürdige Regel die Arbeit geheiligt hat; sie sind die leidenschaftlichen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiter, die zu ihrer Epoche lange Zeit mächtige Werkzeuge der Zivilisation waren, indem sie durch ihre ungeheuren geschichtlichen und kritischen Arbeiten zur Weltbildung beitrugen. Diese liebte Pierre und bei ihnen hätte er zwei Jahrhunderte früher Zuflucht gesucht; aber trotzdem wunderte er sich, als er sah, daß sie am Aventin ein riesig großes Haus bauten, für das Leo XIII. bereits Millionen hergegeben hat, als ob die Wissenschaft von heute und morgen noch ein Feld gewesen wäre, auf dem sie einten könnten. Wozu? Waren doch die Arbeiter unverändert, sind doch die Dogmen da, um jedwedem den Weg zu versperren, der achtungsvoll vorüber gehen muß, ohne sie vollends niederzureißen. Da war endlich das Gewimmel der geringeren Orden, deren es hunderte gibt: die Karmeliter, die Trappisten, die Minimen, die Barnabiten, die Lazaristen, die Eudisten, die Missionare, die Rekolleten, die Brüder vom Orden der christlichen Lehre, die Bernhardiner, die Augustiner, die Theatiner, die Observanten, die Cölestiner, die Kapuziner – abgesehen von den entsprechenden weiblichen Orden, den Clarissinnen und sonstigen zahllosen Nonnen, so die Schwestern der Heimsuchung und von Golgatha. Jeder Orden hatte sein bescheidenes oder prächtiges Haus; gewisse Viertel Roms bestanden nur aus Klöstern und hinter den stummen Fassaden summte, bewegte sich und intriguirte dieses ganze Volk in dem fortwährenden Kampf der Interessen und Leidenschaften. Die einstige soziale Entwicklung, die sie erzeugt hatte, wirkte seit langer Zeit nicht mehr; trotzdem hingen sie, immer unnützer und schwächer werdend, zu diesem langsamen Todeskampf ausersehen, am Leben – bis zum Tage, da ihnen an der Brust der neuen Gesellschaft auf einmal Luft und Boden fehlen mußte.
Aber Pierre stieß bei seinen nun wieder beginnenden Gängen und Laufereien nicht gerade am meisten mit Mönchen zusammen: er hatte es insbesonders mit dem weltlichen Klerus, jenem römischen Klerus zu thun, den er bald kennen lernte. Eine noch kräftige Hierarchie hielt darin die Klassen und Rangordnungen aufrecht. Auf dem Gipfel, ringsum den Papst, herrschte die päpstliche Familie, herrschten die Kardinäle und Prälaten, die sehr stolz, sehr erhaben und bei ihrer scheinbaren Vertraulichkeit von großem Dünkel waren. Unter ihnen bildete der Klerus der Pfarrer gleichsam ein würdiges, vernünftiges und gemäßigtes Bürgertum, in dem nicht einmal die patriotischen Pfarrer selten waren. Die italienische Occupation hatte, indem sie eine ganze Welt von Beamten, Zeugen der Sitten einsetzte, nach einem Vierteljahrhundert das seltsame Ergebnis gehabt, daß sie das häusliche Leben der römischen Priester läuterte; die Frauen spielten darin einst eine so entscheidende Rolle, daß Rom buchstäblich eine Regierung von Dienstmägden war, die als Herrinnen in den Wirtschaften alter Junggesellen thronten. Endlich existirte jene Plebs des Klerus, die Pierre neugierig studirt hatte: ein wahres Gesindel von elenden, schmutzigen, halbnackten, gleich ausgehungerten Tieren auf der Suche nach einer Messe herumstreichenden Priester, die zuletzt in Gesellschaft von Bettlern und Dieben freiwillig in verdächtigen Schenken strandeten. Aber noch mehr interessirte ihn die flutende Menge der aus der ganzen Christenheit herbeigeeilten Priester – die Abenteurer, die Ehrgeizigen, die Gläubigen, die Narren, die Rom anzog, wie eine Lampe des Nachts die Insekten aus dem Dunkel anzieht. Alle Nationalitäten, alle Schicksale, alle Lebensalter waren vertreten; sie galoppirten unter der Peitsche ihrer Gelüste dahin und drängten sich vom Morgen bis zum Abend um den Vatikan, um die Beute anzubeißen, derentwillen sie gekommen waren. Ueberall fand er sie wieder und sagte sich, ein wenig beschämt, daß er einer von ihnen sei, daß er mit seiner Person die unglaubliche Zahl der Sutanen vermehrte, die in den Straßen zu treffen waren. Ach, diese fortwährende Flut und Ebbe von Schwarzröcken, von Kutten aller Farben in diesem Rom! Die Seminare der verschiedenen Nationen mit ihren häufig spazierengehenden Zöglingen hätten genügt, alle Straßen zu beflaggen; die Franzosen gingen ganz in Schwarz, die Südamerikaner in Schwarz mit blauer Schärpe, die Nordamerikaner in Schwarz mit roter Schärpe, die Polen in Schwarz mit grüner Schärpe, die Griechen in Blau, die Deutschen in Rot, die Römer in Lila, und all die anderen in auf hunderterlei Art gestickten und bordirten Sutanen. Außerdem gab es noch die Brüderschaften, die Bußpriester, die Weißen, die Schwarzen, die Blauen, die Grauen mit verschiedenartig grauen, blauen, schwarzen oder weißen Kutten oder Mänteln. So kam es, daß das päpstliche Rom manchmal wieder aufzuerstehen schien; man fühlte, daß es noch lebendig und zäh war, daß es kämpfte, um in dem gegenwärtigen kosmopolitischen Rom, wo die neutralen Farben und der gleichförmige Schnitt des Kleides sich verwischen, nicht zu verschwinden.
Aber vergebens lief Pierre von einem Prälaten zum andern, verkehrte er mit Priestern und besuchte er Kirchen – er konnte sich an den Kultus, an diese römische Andacht nicht gewöhnen. Wenn sie ihn nicht verletzte, so setzte sie ihn in Erstaunen. Als er an einem Sonntag, einem regnerischen Morgen, in Santa Maria Maggiore eintrat, glaubte er sich in einen, Wartesaal zu befinden; freilich war er mit seinen Säulen und seiner Decke, die denen eines antiken Tempels glichen, dem prächtigen Baldachin seines päpstlichen Altares, dem blendenden Marmor seiner Konfession und vor allem seiner Borghesischen Kapelle von unerhörter Kostbarkeit, aber dennoch schien Gott nicht darin zu wohnen. Im Mittelschiff befand sich keine Bank, kein Stuhl; es war ein fortwährendes Gehen und Kommen von Gläubigen, die es durchschritten, wie man einen Bahnhof durchschreitet, indem sie mit ihren nassen Schuhen das kostbare Mosaikpflaster befeuchteten; Frauen und Kinder saßen aus Müdigkeit auf den Säulensockeln, so wie man sie in dem Gedränge großer Stationen sieht, wenn sie auf ihren Zug warten. Für diese im Vorübergehen eingetretene, herumtrippelnde, aus niederem Volk bestehende Menge las ein Priester im Hintergrunde einer Seitenkapelle eine stille Messe, und vor dieser Kapelle hatte sich eine schmale, lange Reihe von stehenden Leuten gebildet – eine Theateranstellung, die das Schiff der Quere nach versperrte. Bei der Aufhebung verneigte sich alles mit inbrünstiger Miene, dann zerstreute sich die Ansammlung; die Messe war zu Ende. Ueberall, in S. Paul wie in S. Giovanni de Laterano, in allen alten Basiliken wie in S. Peter selbst, war dieselbe Versammlung zu sehen: die Leute hatten es eilig, ließen sich nicht gerne auf Sitzen nieder und machten Gott, außer bei den großen Galaempfängen, nur kurze, vertrauliche Besuche. Bloß in der Jesuitenkirche geriet er an einem andern Sonntagmorgen in eine große Messe, die ihn an die andächtigen Mengen des Nordens erinnerte: dort sah man Bänke, sitzende Frauen, und eine weltliche Wärme herrschte unter der Ueppigkeit der mit Gold, Skulpturen und Malereien bedeckten Wände, die eine wunderbare, fahle Pracht besitzen, seitdem die Zeit ihren allzu grellen, barocken Stil gemildert hat. Aber wie viel leere Kirchen gab es unter den ältesten und ehrwürdigsten! In S. Clemente, S. Agnese, S. Croce di Gerusalemme sah man während der Stunden des Gottesdienstes nur die paar Nachbarn aus dem Viertel. Vierhundert Kirchenschiffe zu bevölkern war selbst für Rom viel, und so gab es welche, die nur an gewissen, bestimmten festlichen Tagen besucht wurden, während viele ihre Thüren nur einmal jährlich, am Namenstage des Heiligen öffneten. Manchmal lebten sie von dem glücklichen Umstand, daß sie einen Fetisch, einen Götzen besaßen, der den menschlichen Leiden hilfreich war; die Kirche Aracoeli befaß den kleinen, wunderthätigen Jesus, »Il Bambino«, der die kranken Kinder heilte; S. Agostino befaß die »Madonna del Parto«, die Jungfrau, die Schwangere glücklich entband. Andere waren wegen ihres Weihwassers, wegen des Oeles in ihren Lampen, wegen der Macht eines hölzernen Heiligen oder einer marmornen Madonna berühmt. Andere schienen vernachlässigt, den Touristen überlassen, dem kleinen Handel der Kirchendiener ausgeliefert zu sein, Museen zu gleichen, die von toten Göttern bevölkert werden. Wieder andere waren störend, wie die im Pantheon untergebrachte Kirche S. Maria Rotonda; sie ist ein runder, einem Cirkus gleichender Saal, wo die Jungfrau offenbar die Mieterin des Olymp ist, Pierre hatte sich auch für die Kirchen der armen Viertel, für S. Onofrio, S, Cecilia, S. Maria in Trastevere interessirt, ohne in ihnen die erhoffte lebhafte Gläubigkeit, die erhoffte Volksflut zu finden. Eines Nachmittags hörte er in der letzten, vollständig leeren Kirche die Sänger mit lauter Stimme einen klagenden Choral inmitten dieser Einöde singen. Ein andermal, als er in S. Crisogono eintrat, fand er die Kirche, zweifellos für ein am nächsten Tage stattfindendes Fest, ganz bekleidet: die Säulen mit Ueberzügen aus rotem Damast, die Portiken mit abwechselnd gelben und blauen, weißen und roten Behängen und Vorhängen. Er floh vor diesem schrecklichen Schmuck, diesem Jahrmarktsflitter. Ach, wie weit ab war er von den Kathedralen, wo er in seiner Kindheit geglaubt und gebetet hatte! Ueberall fand er dieselbe Kirche, die einstige antike Basilika wieder, die von Bernini oder seinen Schülern dem Geschmack des Rom des vorigen Jahrhunderts angepaßt worden war. In der Kirche S. Luigi de Francesi, die einen bessern, nüchterneleganten Stil besitzt, wurde er nur durch die großen Toten, die Helden und Heiligen bewegt, die in fremder Erde unter den Fliesen schliefen. Da er Gotik suchte, besichtigte er zuletzt S. Maria sopra Minerva; diese Kirche war, wie man ihm sagte, das einzige Muster gotischen Stiles in Rom, Aber diese mit Marmor bedeckten Halbsäulen, diese Spitzbogen, die sich nicht aufzuschwingen wagen und mitten im Bogen ersticken, diese sich windenden, zur schweren Majestät eines Domes verdammten Gewölbe bildeten für ihn eine letzte Enttäuschung Nein, nein! Der Glaube, dessen warme Asche hier noch lag, war nicht mehr derselbe, dessen Glut die gesamte Christenheit aus der Ferne ergriffen und verbrannt hatte. Monsignore Fornaro, mit dem der Zufall ihn gerade beim Verlassen von S. Maria sopra Minerva zusammenführte, stand gegen die Gotik auf, die er die reine Häresie nannte. Die erste christliche Kirche war die aus dem Tempel entstandene Basilika; es war eine Lästerung, wenn man die wirtliche, christliche Kirche in der gotischen Kathedrale erblickte, denn die Gotik war nur der verabscheuungswürdige angelsächsische Geist, der aufrührerische lutheranische Genius. Pierre wollte dem Prälaten mit Leidenschaft entgegnen; aber dann schwieg er, aus Furcht zu viel zu sagen. In der That, war das nicht der entscheidende Beweis dafür, daß der Katholizismus die Frucht des römischen Bodens selbst, das von Christentum umgewandelte Heidentum war? Anderwärts ist dieses Christentum in einem verschiedenen Geiste aufgeschossen, so daß es sich empört und am Tage des Schisma gegen die Mutterstadt gewendet hat. Die Seitenwendung setzte sich fort, indem sie sich immer mehr ausbreitete und in der Evolution der neuen Gesellschaften Prägen sich heutzutage, trotz der verzweifelten Anstrengungen, Einigung zu erzielen, die Unähnlichkeiten immer mehr und mehr aus, so daß das Schisma abermals unvermeidlich und nahe erschien. Er, das einst fromme und empfindsame Kind, bewahrte den Basiliken noch einen andern Groll: es fehlten ihnen die Glocken, die schönen großen Glocken, die den Einfältigen so lieb sind. Glocken brauchen Glockentürme und in Rom gibt es keine Glockentürme – nichts als Dome. Entschieden, Rom war nicht die klingende, glockenläutende Stadt Jesu, aus der das Gebet in tiefen Klangwogen zwischen den wirbelnden Schwärmen der Krähen und Schwalben aufstieg.
Trotzdem setzte Pierre, von einer dumpfen Gereiztheit ergriffen, die ihn hartnäckig machte, seine Gänge fort; er fing wieder an. Besuche zu machen und hielt das Wort, das er sich gegeben hatte, trotz aller Wunden jeden einzelnen Kardinal der Indexkongregation aufzusuchen. Nach und nach geriet er auch in die anderen Kongregationen, diese Ministerien der einstigen, päpstlichen Regierung, die heutzutage minder zahlreich sind, aber noch immer ein außerordentliches komplizirtes Räderwerk besitzen; eine jede hat einen Kardinal zum Präfekten, Kardinäle zu Mitgliedern, die Versammlungen abhalten, Ratsprälaten, eine ganze Welt von Beamten. Er mußte mehrmals in die Cancellaria gehen, in der sich die Indexkongregation befindet und verirrte sich in der ungeheuren Menge von Treppen, Gängen und Sälen; gleich beim Portikus des Hofes ergriff ihn der eisige Schauer der alten Mauern und er vermochte es nicht, diesen Palast, das Meisterwerk Bramantes, den reinen Typus der römischen Renaissance, der eine so kahle und kalte Schönheit besaß, zu lieben. Die Kongregation der Propaganda, wo der Kardinal Sarno ihn empfangen hatte, kannte er bereits, und auf seinen Besuchen, auf dieser Jagd nach einflußreichen Beschützern, während er von einem zum andern geschickt wurde, lernte er auch die anderen Kongregationen, die Kongregation der Bischöfe und Ordensgeistlichen, die Riten- und die Konzilskongregation kennen. Er sah sogar flüchtig die Konsistorialkongregation, die Dataria, das heilige Bußgericht. Es war der ungeheure Mechanismus der kirchlichen Verwaltung. Die ganze Welt mußte beherrscht, die Eroberungen mußten erweitert, die Angelegenheiten der eroberten Länder verwaltet, die Glaubens-, Sitten- und Personenfragen beurteilt, Verbrechen untersucht und gestraft, Dispense bewilligt, Gunstbezeigungen verkauft werden. Man kann sich die furchtbare Zahl der Angelegenheiten, die jeden Morgen im Vatikan einlaufen, nicht vorstellen. Es sind die ernstesten, heikelsten, verwickeltsten Fragen, deren Lösung Grund zu zahllosen Nachforschungen und Studien gab. Der große Haufe der aus allen Teilen der Christenheit gekommenen und Rom verstopfenden Besucher, alle diese Briefe, diese Bittschriften, diese Akten, deren Flut sich in allen Bureaux verbreitete und anhäufte, mußten ja Antwort bekommen. Das Wunder war die große, verschwiegene Stille, in der die gewaltige Arbeit gethan wurde; kein Geräusch drang auf die Straße; aus den Tribunalen, den Parlamenten, den Fabriken, wo man heilige und Adlige machte, tönte nicht einmal das leise Zittern der Arbeit, und der Mechanismus war so gut geölt, daß er trotz des Rostes der Jahrhunderte, trotz der tiefen, unheilbaren Abnutzung arbeitete, ohne daß man ihn hinter den Mauern merkte. Lag hierin nicht die ganze Politik der Kirche? Schweigen, so wenig als möglich schreiben, abwarten. Aber wie wunderbar war dieser überlebte und doch noch so mächtige Mechanismus! Und wie war Pierre sich bewußt, daß er inmitten dieser Kongregationen von dem eisernen Netz der unumschränktesten Macht ergriffen wurde, die man je zur Beherrschung der Menschen organisirt hatte! Vergebens stellte er Sprünge, Löcher, ein hohes, den Zerfall ankündigendes Alter fest – er gehörte ihr dennoch, seit er sich in sie gewagt hatte; er wurde gepackt, zerstampft, durch dieses unentwirrbare Netz, dieses endlose Labyrinth von Einflüssen und Ränken gerissen, wo sich Eitelkeit und Bestechlichkeit, Korruption und Ehrgeiz, so viel Elend und so viel Größe regen. Wie fern war er von dem Rom, von dem er geträumt hatte! Und welcher Zorn schüttelte ihn manchmal in seiner Erschöpfung, in seinem Verlangen, sich zu verteidigen!
Mit einemmal erklärten sich Dinge, die Pierre nie begriffen hatte. Eines Tages, als er wieder in dem Palast der Propaganda erschien, sprach Kardinal Sarno mit ihm über die Freimaurerei in einem so kalt-wütenden Ton, daß er plötzlich klar sah. Bisher hatte ihm die Freimaurerei ein Lächeln erweckt; er glaubte ebensowenig an sie wie an die Jesuiten, fand die umlaufenden, lächerlichen Geschichten kindisch und verwies die geheimnisvollen, dunklen Männer, deren geheime, unberechenbare Macht die Welt regieren sollte, in die Legende. Vor allem wunderte er sich über den blinden Haß, der gewisse Leute bethörte, sobald das Wort »Freimaurer« über ihre Lippen kam; ein Prälat, und zwar einer der vornehmsten, der verständigsten hatte ihm mit der Miene tiefer Ueberzeugung versichert, daß bei jeder Freimaurerloge der Teufel in eigener, sichtbarer Gestalt wenigstens einmal im Jahre den Vorsitz führe. Da mußte der einfache Menschenverstand irre werden. Er begriff nun die Nebenbuhlerschaft, den wütenden Kampf der römisch-katholischen Kirche gegen die andere Kirche, die Kirche von gegenüber. Vergebens hielt die erstere sich für die Siegerin – sie fühlte trotzdem in der andern eine Mitbewerberin, eine sehr alte Feindin, die sogar älter zu sein behauptete und deren Sieg immer eine Möglichkeit blieb. Der Zusammenstoß rührte hauptsächlich daher, weil beide Sekten dasselbe ehrgeizige Streben nach der Weltherrschaft, dieselbe internationale Organisation, dasselbe Mittel von dem über die Völker geworfenen Netz, Mysterien, Dogmen, Riten besaßen. Gott gegen Gott, Glaube gegen Glaube, Eroberung gegen Eroberung. Daher beengten sie einander, geradeso wie zwei nebenbuhlerische, zu beiden Seiten einer Straße errichtete Häuser und eine mußte zuletzt die andere töten. Aber wenn ihm der Katholizismus auch gebrechlich, von der Zerstörung bedroht erschien, so verhielt er sich ebenso skeptisch gegen die Macht der Freimaurerei. Er hatte Fragen gethan und eine Untersuchung angestellt, um sich von der Wahrheit dieser Macht in der Stadt Rom, wo die beiden höchsten Mächte einander gegenüber standen, wo der Großmeister dem Papste gegenüber thronte, Rechenschaft zu geben. Man hatte ihm wohl erzählt, daß die letzten römischen Fürsten sich genötigt glaubten, Freimaurer zu werden, um sich das Leben nicht gar zu erschweren, ihre Lage zu verschlimmern und die Zukunft ihrer Söhne zu verrammeln. Aber gaben sie nicht einzig und allein der unwiderstehlichen Gewalt der gegenwärtigen sozialen Evolution nach? Würde die Freimaurerei nicht ebenfalls in ihrem eigenen Triumph, dem Triumph der Ideen der Gerechtigkeit, Vernunft und Wahrheit untergehen, den sie so lange inmitten der Finsternis und Gewaltthaten der Geschichte verteidigt hatte? Es ist eine feststehende Thatsache, daß der Sieg einer Idee die sie verbreitende Sekte tötet und den Apparat, mit dem die Sektirer sich umgeben mußten, um die Einbildungskraft gefangen zu nehmen, nutzlos und ein wenig wunderlich macht. Das Carbonaritum hat niemals den Sieg der von ihm geforderten politischen Ideen überlebt, und an dem Tage, an dem die katholische Kirche, nachdem sie ihr zivilisatorisches Werk gethan, zusammenbrechen wird, wird auch die freimaurerische Kirche von gegenüber verschwinden. Ihr Befreiungswerk wird vollbracht sein. Heutzutage wäre die berühmte Allmacht der Logen ein armseliges, ebenfalls von Überlieferungen gehemmtes, von einem lächerlichen Zeremoniell verdorbenes Eroberungswerkzeug, nichts mehr als ein Band gegenseitiger Verständigung und Hilfe, wenn nicht der starke Hauch der Wissenschaft die Völker hinrisse, und bei der Zerstörung der gealterten Religionen mithelfen würde.
Pierre, von so vielen Gängen und Laufereien erschöpft, bekam nun, trotzdem er wie der Krieger einer Hoffnung, die an Niederlage nicht glauben will, den hartnäckigen Vorsatz hatte, Rom nicht zu verlassen, ohne gänzlich geschlagen zu sein, wieder Angst. Er hatte alle Kardinäle besucht, deren Einfluß ihm von einigem Nutzen sein konnte. Er hatte den mit der Diözese Rom betrauten Kardinal-Vikar gesehen; das war ein Gelehrter, der mit ihm über Horaz sprach, ein etwas wirrer Politiker, der ihn über Frankreich, über die Republik, das Kriegs- und Marinebudget auszufragen begann, ohne sich im geringsten von der Welt um das angeklagte Buch zu kümmern. Er hatte den Groß-Pönitentiarius besucht, den er bereits im Palazzo Boccanera bemerkt hatte; das war ein magerer Greis mit einem fleischlosen Asketengesicht, aus dem er nichts herauszulocken vermochte, als eine lange, tadelnde Rede und strenge Worte gegen die jungen, vom Jahrhundert verdorbenen Priester, die Verfasser verdammungswürdiger Werke. Zuletzt hatte er im Vatikan den Kardinalsekretär aufgesucht; das war gewissermaßen der Minister des Auswärtigen Seiner Heiligkeit, die große Macht des heiligen Stuhles, von dem man ihn bisher ferngehalten hatte, indem man ihn mit den Folgen eines unglücklich ausfallenden Besuches einschüchterte. Er hatte sich seines späten Kommens wegen entschuldigt und den liebenswürdigsten Menschen von der Welt vorgefunden, der durch ein diplomatisches Wohlwollen seine etwas rauhe Außenseite milderte, ihn niedersetzen ließ, mit interessirter Miene ausfragte, anhörte und sogar tröstete. Als er aber wieder auf dem Petersplatz angelangt war, hatte er wohl begriffen, daß seine Angelegenheit auch nicht mit einem Schritt vorwärts gekommen sei und daß, wenn es ihm eines Tages gelänge, den Zutritt zum Papste zu erzwingen, der Weg nicht durch das Staatssekretariat gehen würde. An diesem Abend kehrte er verstört, überreizt, durch die vielen Besuche bei so vielen Leuten zerbrochen in die Via Giulia zurück und war, weil er das Gefühl hatte, gänzlich von dieser Maschine mit den hundert Rädern ergriffen zu werden, so außer sich, daß er sich mit Entsetzen fragte, was er am nächsten Tage thun würde – denn es blieb ihm nichts übrig als verrückt zu werden.
Gerade in diesem Moment begegnete er in einem Korridor Don Vigilio und wollte ihn abermals befragen, einen guten Rat von ihm verlangen. Aber dieser brachte ihn mit einer unruhigen Geberde zum Schweigen, ohne daß er wußte, warum. Er machte wieder seine entsetzten Augen, dann hauchte er ihm ins Ohr:
»Waren Sie bei Monsignore Nani? ... Nun, dann gehen Sie zu ihm, gehen Sie zu ihm. Ich wiederhole, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.«
Er gab nach. In der That, wozu sollte er sich widersetzen? Abgesehen von der Leidenschaft feuriger Nächstenliebe, die ihn zur Verteidigung seines Buches hierhergeführt hatte, befand er sich doch auch zu Experimentszwecken in Rom. Er mußte bis ans Ende der Versuche gehen.
Am nächsten Tage fand er sich allzu zeitlich unter der Kolonnade von S. Peter ein, und mußte dort längere Zeit wartend verweilen. Noch nie hatte er die Ungeheuerlichkeit dieser vier Säulenreihen, dieses Waldes gigantischer Steinstämme, wo übrigens niemand sich ergeht, stärker empfunden. Es ist eine großartige, düstere Wüste. Man fragt sich, wozu ein so majestätischer Portikus gehört? Zweifellos bloß für die Majestät, für den Pomp der Ausschmückung; und darin liegt wieder einmal ganz Rom. Dann ging er durch die Via del S. Offizzio, und gelangte zu dem hinter der Sakristei gelegenen Palazzo del S. Offizzio. Es ist ein einsames Viertel, dessen Stille der Schritt eines Fußgängers, das Rollen eines Wagens nur selten, von Zeit zu Zeit stört. Das einzig Lebendige ist die Sonne, die ihre trägen Strahlen auf das weiß gewordene kleine Pflaster sendet. Man spürt die Nachbarschaft der Basilika, Weihrauchduft, klösterlichen Frieden im Schlummer der Jahrhunderte. In einer Ecke steht der Palast des S. Offizzio. Er ist von drückender und beunruhigender Kahlheit; die eine hohe, gelbe Fassade wird nur von einer einzigen Fensterreihe durchbrochen, während die auf die Seitengasse gehende andere Fassade mit ihrer Reihe von schmäleren Fenstern – Guckfensterchen mit undurchsichtigen Scheiben – noch verdächtiger aussieht. Dieser gewaltige, kotfarbene, gegen Außen fast fensterlose und gleich einem Kerker abgeschlossene und geheimnisvolle Würfel von Mauerwerk schien in dem blendenden Sonnenlicht zu schlafen.
Pierre überlief ein Schauder, über den er dann wie über eine Kinderei lächelte. Die heilige, römische Inquisition, die heilige Kongregation des S. Offizzio, wie sie heutzutage genannt wurde, war nicht mehr die, von der die Legende erzählte – die Lieferantin der Scheiterhaufen, das geheime Gericht, gegen das es keine Berufung gab, das das Recht der Todesstrafe über die gesamte Menschheit besaß. Dennoch bewahrte sie noch immer das Geheimnis ihrer Aufgabe, versammelte sich jeden Mittwoch, urteilte und verdammte, ohne daß das geringste, nicht einmal ein Hauch über die Mauern drang. Aber wenn sie auch fortfuhr, das Verbrechen der Häresie zu strafen, wenn sie sich nicht bloß an Werke hielt, sondern auch Menschen strafte, so besaß sie doch keine Waffen mehr – weder Kerker, noch Schwert, noch Feuer; sie war auf das Protestiren beschränkt und konnte nicht einmal den Ihrigen, den Geistlichen, andere als Disziplinarstrafen auferlegen.
Als er eingetreten und in den Salon Monsignore Nanis geführt worden war, der als Assessor in diesem Palaste wohnte, empfand Pierre eine frohe Ueberraschung. Das Zimmer war sehr groß, gegen Süden gelegen, von hellem Sonnenlicht überflutet und trotz der steifen Möbel, der düstern Farbe der Tapeten herrschte darin eine köstliche Zartheit. Es war als hätte eine Frau darin gewohnt, die das Wunder vollbrachte, den strengen Dingen ihre Anmut mitzuteilen. Es gab keine Blumen in dem Zimmer und doch roch es gut. Ein Zauber ergriff die Herzen gleich von der Schwelle aus.
Monsignore Nani, mit seinem rosigen Gesicht, den blauen, so lebhaften Augen, dem feinen blonden, vom Alter bepuderten Haar, war ihm sofort lächelnd entgegen gegangen und rief, ihm beide Hände entgegenstreckend:
»O, mein lieber Sohn, wie liebenswürdig von Ihnen, mich zu besuchen ... Kommen Sie, setzen Sie sich. Plaudern wir wie ein paar Freunde.«
Und ohne zu warten fragte er mit dem Ausdruck außerordentlicher Zuneigung:
»Wie stehen Sie? Erzählen Sie, sagen Sie mir alles, was Sie gethan haben.«
Pierre, trotz der Mitteilungen Don Vigilios von der Teilnahme, die er zu fühlen glaubte, gerührt und gewonnen, beichtete, ohne etwas auszulassen. Er erzählte seine Besuche beim Kardinal Sarno, bei Monsignore Fornaro, beim Pater Dangelis, berichtete, welche Schritte er bei den einflußreichen Kardinälen, bei allen Kardinälen des Index, beim Großpönitentiarius, beim Kardinalvikar, beim Kardinalsekretär unternommen hatte, schilderte seine endlosen Laufereien von Thür zu Thür, durch den ganzen römischen Klerus, durch alle Kongregationen, durch diesen ungeheuren, thätigen und schweigsamen Bienenstock, in dem seine Füße müde, seine Glieder zerbrochen, sein Gehirn stumpf geworden waren.
Aber Monsignore Nani, der mit Entzücken zuzuhören schien, wiederholte bei jeder Leidensstation dieses Bittsteller-Golgathas:
»Aber das ist ja sehr gut! Das ist ja günstig! O, Ihre Sache macht sich! Wunderbar, wunderbar macht sie sich!«
Er frohlockte, ließ aber übrigens seine unanständige Ironie hervorbrechen. Nur sein hübscher, forschender Blick durchspähte den jungen Priester, um zu erfahren, ob er ihn endlich zu dem Punkte des Gehorsams gebracht habe, zu dem er ihn zu bringen wünschte. War er müde genug, enttäuscht genug und über die Wirklichkeit der Dinge genügend aufgeklärt, so daß man ein Ende mit ihm machen konnte? Hatten drei Monate in Rom genügt, um aus dem ein wenig tollen Schwärmer des ersten Tages einen Weisen, zum mindesten einen Resignirten zu machen?
»Aber, mein lieber Sohn,« fragte Monsignore Nani plötzlich, »Sie erzählen mir ja gar nichts von Seiner Eminenz, dem Kardinal Sanguinetti.«
»Monsignore, das kommt daher, weil Seine Eminenz in Frascati ist. Ich konnte ihn nicht besuchen.«
Da erhob der Prälat, als schiebe er mit dem heimlichen Genuß eines künstlerischen Diplomaten die Lösung noch hinaus, seine kleinen, dicken Hände zum Himmel und rief mit der unruhigen Miene eines Mannes, der alles für verloren hält:
»O, Sie müssen Seine Eminenz besuchen, Sie müssen Seine Eminenz besuchen! Das ist unbedingt notwendig. Bedenken Sie doch: der Präfekt des Index! Wir können erst nach Ihrem Besuch etwas unternehmen, denn wenn Sie ihn nicht gesehen haben, so haben Sie niemand gesehen. Gehen Sie nach Frascati, mein lieber Sohn, gehen Sie nach Frascati.«
Und Pierre konnte nicht anders, als sich beugen.
»Ich werde gehen, Monsignore.«