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Da Benedetta Pierre hatte sagen lassen, daß sie ihn zu sprechen wünsche, ging er an diesem Abend, als es dämmerte, hinab und traf sie in ihrem kleinen Salon in Gesellschaft Celias. Beide plauderten mit einander im Lichte des sich neigenden Tages.
»Weißt Du, ich habe eure Pierina gesehen,« rief das junge Mädchen gerade, als er eintrat. »Ja, ja, und obendrein noch mit Dario. Das heißt, sie mußte ihm aufgepaßt haben; er hat sie bemerkt, als sie in einer Allee am Pincio auf ihn wartete, und lächelte ihr zu. Ich begriff es sofort ... O, was ist das für eine Schönheit!«
Benedetta lächelte ruhig über diese Begeisterung. Aber eine etwas schmerzliche, traurige Falte legte sich um ihren Mund. Denn wenn sie auch sehr vernünftig war, so litt sie doch zuletzt durch diese Leidenschaft, die, wie sie fühlte, sehr naiv und sehr stark war. Daß Dario sich die Zeit vertrieb, da sie sich ihm verweigerte, da er jung und kein Mönch war, begriff sie. Aber dieses unglückliche Mädchen liebte ihn zu sehr, und sie befürchtete, daß er sich vergessen könne; so große Schönheit entschuldigte alles. Sie verriet auch das Geheimnis ihres Herzens, indem sie dem Gespräche eine andere Wendung gab.
»Setzen Sie sich, Herr Abbé ... Sie sehen, wir lästern gerade. Man klagt meinen armen Dario an, daß er alle Schönheiten von Rom ins Unglück stürzt. So erzählt man sich auch, daß man in ihm den Glücklichen sehen muß, der die weißen Rosensträuße schenkt, die Tonietta seit vierzehn Tagen auf dem Corso spazieren führt.«
Celia geriet sofort in Eifer.
»Aber, meine Liebe, das steht doch ganz fest! Anfangs hat man gezweifelt; man sprach von dem kleinen Pontecorvo und Moretta, dem Lieutenant. Du kannst Dir denken, was da geredet wurde ... Heute weiß alle Welt, daß die Flamme Toniettas Dario in eigener Person ist. Uebrigens hat er sie in ihrer Loge in Costanzi besucht.«
Als Pierre sie so reden hörte, erinnerte er sich dieser Tonietta, die der junge Fürst ihm auf dem Pincio als eine der wenigen Halbweltlerinnen gezeigt hatte, mit denen die gute römische Gesellschaft sich beschäftige. Er erinnerte sich auch der galanten Eigenheit, die sie berühmt machte, jener uneigennützigen Laune, die sie manchmal für einen vorübergehenden Geliebten faßte; von diesen nahm sie dann nichts an als jeden Morgen einen Strauß weißer Rosen, so daß, wenn sie dann oft wochenlang hinter einander auf dem Corso mit diesen weißen Rosen erschien, unter den Damen der guten Gesellschaft eine große Aufregung, eine brennende Neugierde auf den Namen des Erwählten und Angebeteten entstand. Seit dem Tode des alten Marquis Manfredi, der ihr seinen kleinen Palast in der Via dei Mille hinterlassen hatte, war die Tonietta wegen ihres tadellosen Wagens und der kostbaren Einfachheit ihrer Kleidung berühmt, die nur von den etwas phantastischen Hüten beeinträchtigt wurde. Es war nun beinahe einen Monat her, daß der reiche Engländer, der sie aushielt, auf Reisen war.
»Sie ist sehr nett, sehr nett,« wiederholte Celia überzeugt mit ihrer reinen Madonnenmiene. Sie interessirte sich nur für Liebessachen. »Und hübsch ist sie mit ihren großen, sanften Augen, o, sehr hübsch! Nicht schön wie Pierina, nein, das ist unmöglich; aber hübsch zum Ansehen, eine wahre Augenweide!«
Benedetta schien mit einer unwillkürlichen Bewegung Pierina wieder zu entfernen; Tonietta hingegen nahm sie hin, denn sie wußte wohl, daß sie nur eine einfache Zerstreuung, eine momentane Augenweide war, wie ihre Freundin sagte.
»Ach,« fuhr sie lächelnd fort, »mein armer Dario richtet sich also mit weißen Rosen zu Grunde! Ich muß ihn damit ein wenig necken ... Wenn unsere Angelegenheiten nicht bald geordnet werden, werden sie mir ihn zuletzt noch stehlen, mir ihn nicht lassen ... Glücklicherweise habe ich die besten Nachrichten. Ja, der Prozeß wird wieder aufgenommen; meine Tante ist eben deswegen ausgegangen.«
Als Celia sich erhob, gerade da Viktorine eine Lampe hereinbrachte, wendete sich Benedetta zu Pierre, der ebenfalls aufgestanden war.
»Bleiben Sie. Ich habe etwas mit Ihnen zu sprechen.«
Aber auch Celia zögerte noch; sie ereiferte sich jetzt für die Scheidung ihrer Freundin, wollte wissen, wie die Sache stand, und ob die Heirat der beiden Liebenden bald stattfinden würde. Zuletzt umarmte sie sie wie toll.
»Du hast also jetzt Hoffnung? Du glaubst, daß der heilige Vater Dir die Freiheit wieder geben wird? O, Liebste, wie freue ich mich für Dich! Wie hübsch wird es sein, wenn Du mit Dario beisammen sein wirst... Ich, Liebste, bin ebenfalls sehr zufrieden, denn ich merke sehr wohl, daß mein Vater und meine Mutter meinen Eigensinn satt bekommen. Erst gestern sagte ich zu ihnen – Du weißt, mit meiner ruhigen Miene: ›Ich will Attilio haben und ihr werdet ihn mir geben‹ Da wurde mein Vater schrecklich zornig, überhäufte mich mit Beleidigungen, drohte mir mit der Faust und schrie, daß, wenn er mir auch einen ebenso harten Kopf vererbt habe, wie den seinen, er ihn doch zerbrechen würde. Und mit einemmale wendete er sich wütend zu meiner Mutter, die schweigend und gelangweilt da saß, und sagte: ›Ei, gib ihr also ihren Attilio, damit sie uns in Frieden läßt.‹ O, wie froh bin ich, wie froh bin ich!«
Ihr lilienreines Madonnengesicht drückte eine so unschuldige und himmlische Freude aus, daß Pierre und Benedetta lachen mußten. Endlich entfernte sie sich in Begleitung der Kammerfrau, die im ersten Salon auf sie wartete.
Als Benedetta mit dem Priester allein war, hieß sie ihn, sich wieder niedersetzen.
»Lieber Freund, man hat mich beauftragt, Ihnen einen dringenden Rat zu erteilen ... Wie es scheint, verbreitet sich das Gerücht von Ihrer Anwesenheit in Rom, und bringt man die beunruhigendsten Geschichten über Sie in Umlauf. Ihr Buch soll ein feuriger Aufruf zum Schisma, Sie selbst sollen nichts als ein ehrgeiziger und lärmender Schismatiker sein, der, nachdem sein Werk in Paris veröffentlicht worden, sich beeilt hatte, nach Rom zu kommen, um es durch Entfesselung eines ganzen schrecklichen Skandals zu lanciren ... Wenn Sie noch immer ein Gewicht darauf legen, Seine Heiligkeit zu sehen, um sich zu verteidigen, so gibt man Ihnen den Rat, sich in Vergessenheit zu bringen, zwei bis drei Wochen vollständig zu verschwinden.«
Pierre hörte verblüfft zu. Ei, wenn man ihn, wie um seine Geduld zu erschöpfen, so von Schlappe zu Schlappe führte, dann würde man ihn ja zuletzt wirklich wütend machen, dann würde man ihn wirklich auf den Gedanken an das Schisma, an einen richtenden und befreienden Skandal bringen! Er wollte widersprechen, protestiren. Dann aber machte er eine Geberde der Erschöpfung. Wozu denn das in Gegenwart dieser jungen Frau, die doch gewiß aufrichtig und gutgesinnt war?
»Wer hat Sie ersucht, mir diesen Rat zu geben?«
Sie antwortete nicht, sondern begnügte sich zu lächeln. Ihm ging eine plötzliche Ahnung auf.
»Monsignore Nani, nicht wahr?«
Nun begann sie, ohne offen darauf antworten zu wollen, gerührt das Lob des Prälaten zu singen. Er willigte jetzt ein, sie in dem endlosem Prozeß behufs Annullirung ihrer Ehe zu leiten und hatte lange mit ihrer Tante, Donna Serafina, darüber beratschlagt; diese hatte sich eben in den Palast des S. Offizio begeben, um ihm über gewisse Schritte, die zuerst eingeleitet worden waren, Bericht zu erstatten. Auch Pater Lorenzo, der Beichtvater von Tante und Nichte, sollte der Unterredung beiwohnen, denn der Gedanke an die Scheidung war im Grunde sein Werk; er hatte die beiden Frauen immer dazu angetrieben, als wollte er den Knoten durchschneiden, den der patriotische Pfarrer Pisoni inmitten so schöner Illusionen geknüpft hatte. Sie wurde immer lebhafter und setzte die Gründe ihrer Hoffnung aus einander.
»Monsignore Nani kann alles. Darum bin ich auch so glücklich, weil meine Angelegenheit in seinen Händen ist ... Lieber Freund, seien Sie auch vernünftig; empören Sie sich nicht, ergeben Sie sich. Ich versichere Sie, daß es eines Tages zu Ihrem Guten sein wird.«
Pierre hielt den Kopf gesenkt und dachte nach. Rom hatte ihn gefesselt; er konnte dort zu jeder Stunde seine immer noch wachsende Neugier befriedigen, und der Gedanke, noch zwei bis drei Wochen hier zu bleiben, mißfiel ihm nicht. Zweifellos fühlte er, daß alle diese Verzögerungen möglicherweise ein Zerstückeln seiner Willenskraft, eine Aufreibung herbeiführen konnten, aus der er geschwächt, entmutigt, nutzlos hervorgehen würde. Aber was hatte er zu fürchten, da er sich immer wieder schwor, nichts von seinem Buche aufzugeben und den heiligen Vater nur zu sehen, um seinen neuen Glauben noch lauter zu beteuern? Er that nochmals ganz leise dieses Gelübde und dann gab er nach. Als er sich entschuldigte, daß er im Paläste Ungelegenheiten machte, rief Benedetta:
»Nein, ich bin entzückt, Sie zu haben! Ich behalte Sie, ich bilde mir ein, daß Ihre Anwesenheit uns allen Glück bringen wird – jetzt, da es sich zu drehen scheint.«
Es wurde nun abgemacht, daß er nicht mehr um St. Peter oder den Vatikan streichen würde, wo der fortwährende Anblick seiner Sutane Aufmerksamkeit erregt haben mußte. Da er gewisse Bücher, gewisse Teile der Geschichte in Rom selbst noch einmal durchzulesen wünschte, versprach er sogar, eine Woche lang den Palast fast gar nicht zu verlassen. Dann plauderte er noch eine Weile, glücklich über die große Stille, die im Salon herrschte, seit die Lampe ihn mit ihrem ruhigen Schein erleuchtete. Es hatte eben sechs Uhr geschlagen; auf der Straße herrschte dunkle Nacht.
»War Seine Eminenz heute nicht leidend?« fragte er.
»Ja wohl,« antwortete die Contessina. »O, nur ein wenig Ermüdung, wir haben uns nicht beunruhigt ... Der Oheim hat mir durch Don Vigilio sagen lassen, daß er sich in seinem Zimmer einschließen und ihn bei sich behalten würde, um ihm Briefe zu diktiren. Sie sehen also, es wird nicht viel sein.«
Wieder trat Stille ein; nicht das geringste Geräusch regte sich in der einsamen Straße oder in dem leeren, alten Palaste, der stumm und träumerisch wie ein Grab war. Aber in diesem Augenblick stürmte jemand mit wirbelnden Röcken und vor Schreck aussetzendem Atem in diesen so sanft schlummernden, nun von der Milde eines Hoffnungstraumes erfüllten Salon. Es war Viktorine, die, nachdem sie die Lampe gebracht und sich entfernt hatte, nun atemlos, entsetzt zurückkehrte.
»Contessina, Contessina –«
Benedetta hatte sich erhoben; sie war plötzlich ganz bleich, ganz kalt geworden, als hätte ein Unglückswind zur Thüre hereingeweht.
»Was? Was ... warum läufst Du so, warum zitterst Du so?«
»Dario, Herr Dario, unten ... Ich bin hinunter gegangen, um nachzusehen, ob man die Laterne unter dem Thor angezündet hat, weil es oft vergessen wird. Und dort, unter dem Thor, im Dunkeln bin ich gegen Herrn Dario gestoßen. Er liegt am Boden, er hat irgendwo einen Messerstich ...«
Die Liebende stieß einen Schrei aus.
»Tot!«
Aber sie hörte nicht zu, sondern fuhr fort, mit immer lauter werdender Stimme zu rufen:
»Tot, tot!«
»Nein, nein, er hat mit mir gesprochen ... Um Gottes willen schweigen Sie! Er hat mir auch Schweigen geboten, denn er will nicht, daß man davon erfährt; er hieß mich Sie holen, Sie, Sie allein. Aber da der Herr Abbé hier ist, wird er mit uns hinuntergehen und uns helfen. Wir werden ihn brauchen können.«
Pierre hörte ebenfalls entsetzt zu. Als sie dann die Lampe nehmen wollte, sah man, daß ihre rechte, zitternde Hand mit Blut besteckt war; zweifellos hatte sie den am Boden liegenden Körper betastet. Dieser Anblick war für Benedetta so schrecklich, daß sie wieder wie toll zu stöhnen begann.
»Schweigen Sie doch, so schweigen Sie doch! ... Gehen wir hinunter, ohne Geräusch zu machen. Ich nehme die Lampe, weil wir doch sehen müssen ... Rasch, rasch!«
Unten, quer unter dem Thor vor dem Eingang in die Vorhalle, lag Dario auf dem Pflaster, als hatte er, nachdem er in der Straße angefallen worden war, nur noch die Kraft gehabt, einige Schritte zu machen, um hier niederzusinken. Er war eben ohnmächtig geworden und lag mit sehr bleichem Gesicht, zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Augen da. Benedetta, die im Uebermaße des Schmerzes die Energie ihrer Rasse wieder fand, klagte und schrie nicht mehr, sondern betrachtete ihn verständnislos mit ihren großen, trockenen, weit geöffneten, wahnsinnigen Augen. Das Schrecklichste dabei war das Blitzähnliche der Katastrophe, das Unvorhergesehene, das Unerklärliche, das Warum und Wieso dieses Mordes inmitten der finstern Stille des einsamen, von dem Dunkel der Nacht erfüllten, alten Palastes. Die Wunde mußte wohl nur sehr wenig bluten, denn nur die Kleider waren blutbefleckt.
»Rasch, rasch,« wiederholte Viktorine halblaut, nachdem sie die Lampe gesenkt und mit ihr umhergeleuchtet hatte, um Umschau zu halten. »Der Portier ist nicht da; er steckt immer bei dem Schreiner daneben, um mit der Frau zu lachen; Sie sehen, er hat noch nicht die Laterne angezündet, aber er kann zurückkommen ... Der Herr Abbé und ich werden den Fürsten rasch in sein Zimmer hinauftragen.«
Nur diese Frau mit dem schönen Gleichgewicht und der ruhigen Thatkraft behielt jetzt ihren Kopf oben. Die beiden anderen in ihrer Betäubung, die nicht weichen wollte, hörten zu, ohne ein Wort zu finden, und gehorchten ihr wie folgsame Kinder.
»Contessina, Sie müssen uns leuchten. Da nehmen Sie die Lampe und senken Sie sie ein bißchen, damit man die Stufen sieht. Sie, Herr Abbé, nehmen die Füße, ich werde ihn unter die Arme fassen. Und haben Sie keine Angst, das arme liebe Herz ist nicht so schwer.«
Ach, dieser Aufstieg über die monumentale Treppe mit den niedrigen Stufen, mit den Treppenabsätzen, die so groß waren wie Fechtböden! Der grausame Transport wurde dadurch erleichtert, aber wie düster nahm sich der Zug in dem schwachen, flackernden Licht der Lampe aus, die Benedettas, nur von der Willenskraft steif ausgestreckter Arm hielt! Und kein Geräusch, kein Hauch in dem alten, toten Hause, wo nichts zu hören war als das Abbröckeln der Mauern, die allmähliche Zerstörungsarbeit, die die Decken vollends bersten ließ. Viktorine fuhr fort, im Flüstertone ihre Anweisungen zu geben, während Pierre, aus Furcht, auf dem glänzenden Stein auszugleiten, eine übertriebene Kraftanstrengung entfaltete, die ihn atemlos machte. Große Schatten tanzten toll längs der großen Flächen der kahlen Mauern bis hinauf zu dem hohen, mit Deckenfeldern geschmückten Gewölbe. So endlos erschien das Stockwerk, daß sie Halt machen mußten. Dann wurde der langsame Marsch wieder fortgesetzt.
Glücklicherweise befanden sich die aus drei Räumen, einem Zimmer, einem Ankleidekabinet und einem Salon bestehenden Gemächer Darios im ersten Stock neben denen des Kardinals, in dem auf den Tiber hinausgehenden Flügel. Sie brauchten nur, das Geräusch ihrer Schritte dämpfend, durch den Korridor gehen und konnten endlich erleichtert den Verwundeten auf sein Bett niederlegen.
Viktorine lachte vor Befriedigung leicht auf.
»So, geschehen ... Stellen Sie doch die Lampe weg, Contessina. Da, hierher, auf diesen Tisch ... Ich stehe Ihnen gut dafür, daß niemand uns gehört hat; es ist ein wahres Glück, daß Donna Serafina ausgegangen ist, und daß Seine Eminenz Don Vigilio bei geschlossenen Thüren bei sich hat ... Ich hatte ihm die Schultern mit meinem Rock eingewickelt, es hat also kein Blutstropfen zu Boden fallen können; außerdem werde ich gleich selbst mit dem Schwamm unten mal drüber fahren.«
Sie hielt inne, sah Dario an und setzte dann rasch hinzu:
»Er atmet ... Gebt also beide auf ihn acht; ich laufe zu dem guten Doktor Giordano, der Sie zur Welt kommen sah, Contessina, und ein vertrauenswürdiger Mann ist.«
Als Benedetta und Pierre mit dem ohnmächtigen Verwundeten in diesem halbdunklen Zimmer allein waren, durch das jetzt der ganze auf ihnen lastende, schreckliche Alpdruck zu schauern schien, blieben sie zu beiden Seiten des Bettes stehen, ohne ein Wort zu finden. Sie hatte in dem Bedürfnis, die Spannung ihres Schmerzes zu vermindern und ihm Luft zu machen, die Arme ausgebreitet und rang nun mit einem dumpfen Stöhnen die Hände. Dann beugte sie sich herab und spähte in diesem blassen Gesichte mit den geschlossenen Augen nach Leben. In der That, er atmete, aber sehr langsam, kaum hörbar; dennoch stieg eine schwache Röte in seine Wangen und zuletzt öffnete er die Augen. Sie hatte sofort seine Hand ergriffen und sie gedrückt, als wolle sie die Angst ihres Herzens in diesen Druck legen; und sie war sehr glücklich, als sie fühlte, daß er ihn schwach erwiderte. »Sag, siehst Du mich, hörst Du mich? ... Was ist geschehen? Großer Gott!«
Aber er antwortete nicht, sondern schien durch die Anwesenheit Pierres unruhig zu werden. Als er ihn erkannt hatte, schien er sich in sie zu fügen und forschte mit furchtsamen Blicken, ob niemand anderer im Zimmer sei. Zuletzt murmelte er:
»Niemand hat gesehen, niemand weiß ...«
»Nein, nein, beruhige Dich. Wir haben Dich mit Viktorine herauf getragen, ohne einer menschlichen Seele zu begegnen. Die Tante ist ausgegangen, der Oheim hat sich in sein Zimmer eingeschlossen.«
Nun schien er sich erleichtert zu fühlen und lächelte.
»Ich will nicht, daß jemand davon erfährt; es ist so dumm!«
»Gott, was ist denn geschehen?« fragte sie abermals.
»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht –«
Er senkte mit müder Miene die Lider, indem er sich bemühte, der Frage zu entgehen. Dann mußte er wohl begreifen, daß es besser wäre, gleich einen Teil der Wahrheit zu sagen.
»Ein Mann – der sich im Zwielicht unter dem dunklen Thor versteckt und wohl auf mich gewartet hatte ... Gewiß, und dann, als ich heimkam, stieß er mir sein Messer da hinein, in die Schulter.«
Bebend beugte sie sich noch mehr herab und schaute ihm tief in die Augen, indem sie fragte:
»Aber wer war es, wer war dieser Mann?«
Als er dann mit immer matterer Stimme stammelte, daß er es nicht wisse, daß der Mann im Dunkel entflohen sei, ohne daß er ihn erkennen konnte, stieß sie einen schrecklichen Schrei aus.
»Es ist Prada, es ist Prada! Sag es, ich weiß es ja!«
Sie raste.
»Ich weiß es, hörst Du! Ich bin nicht sein gewesen, er will nicht, daß wir einander angehören sollen, lieber tötet er Dich an dem Tage, an dem ich mich Dir werde geben dürfen. Ich kenne ihn wohl, nie werde ich glücklich sein ... Es ist Prada, es ist Prada!«
Aber eine plötzliche Energie hatte den Verwundeten belebt; er protestirte rechtschaffen.
»Nein, nein, es ist nicht Prada, und auch keiner, der für ihn arbeitet ... das schwöre ich Dir. Ich habe den Mann nicht erkannt, aber Prada ist es nicht, nein, nein.«
Darios Worte hatten einen solchen Ton der Wahrheit, daß Benedetta davon überzeugt werden mußte. Außerdem wurde sie wieder vom Entsetzen erfaßt, denn sie fühlte, daß die Hand, die sie in der ihren hielt, schlaff, feucht und wieder leblos wurde, als erstarre sie. Erschöpft von der eben gemachten Anstrengung war er abermals in Ohnmacht gefallen; sein Gesicht war wieder ganz weiß, die Augen hatten sich geschlossen. Er schien zu sterben.
Entsetzt betastete sie ihn mit den Händen.
»Herr Abbé, sehen Sie doch, sehen Sie doch ... Er stirbt ja! Er stirbt ja! Er ist ja schon ganz kalt ... O, großer Gott, er stirbt!«
Pierre, den sie mit ihrem Schreien ganz außer sich brachte, bemühte sich, sie zu beruhigen.
»Er hat zu viel gesprochen, er hat das Bewußtsein verloren, so wie vorhin ... Ich versichere Sie, ich fühle sein Herz klopfen, da legen Sie Ihre Hand hin ... Um Gottes willen regen Sie sich nicht so auf; der Arzt wird kommen, und alles wird gut werden.«
Aber sie hörte ihm nicht zu und er wohnte nun einer seltsamen Scene bei, die ihn mit Erstaunen erfüllte. Plötzlich hatte sie sich über den Körper des angebeteten Mannes geworfen, preßte ihn wie rasend an sich, badete ihn mit ihren Thränen und bedeckte ihn mit Küssen, indem sie flammende Worte stammelte:
»Ach, wenn ich Dich verlöre, wenn ich Dich verlöre ... Und ich habe mich Dir nicht gegeben; ich war so dumm, mich Dir zu verweigern, da wir noch das Glück kennen lernen konnten ... Ja, wegen der Madonna, in der Idee, daß die Jungfräulichkeit ihr gefällt und daß man sich dem Gatten rein erhalten muß, wenn man will, daß sie die Ehe segnet! Was hätte es ihr geschadet, wenn wir gleich glücklich geworden wären? Und dann, dann – siehst Du, wenn sie mich betrogen hätte, wenn sie Dich fortnähme, ehe wir einander in den Armen geruht – nun, dann würde ich nur eines bereuen: daß ich nicht mit Dir unselig geworden bin! Ja, ja, lieber die Verdammnis, als einander nicht besessen haben – mit unserem Blut, mit unseren Lippen!«
War das die so ruhige, die so vernünftige Frau, die sich geduldete, um ihr Glück besser zu errichten? Pierre, ganz entsetzt, erkannte sie nicht mehr. So oft er sie bisher gesehen hatte, war sie von solcher Zurückhaltung, von einer so natürlichen Schamhaftigkeit gewesen, deren fast kindlicher Zauber ihrer Natur selbst zu entspringen schien. Zweifellos war unter dem Drucke der Gefahr und der Angst das schreckliche Blut der Boccanera, ein ganzer Atavismus von Heftigkeit, Hoffart, wütenden, verzweifelten und entfesselten Begierden in ihr erwacht. Sie wollte ihren Teil am Leben, ihren Teil an der Liebe, und murrte, raste, als ob der Tod, indem er ihr den Geliebten nahm, ihr das eigene Fleisch entreiße.
»Ich beschwöre Sie, Madame, beruhigen Sie sich,« wiederholte der Priester. »Er lebt, sein Herz schlägt ... Sie schaden sich entsetzlich.«
Aber sie wollte mit ihm sterben.
»O, mein Geliebter, wenn Du gehst, nimm mich mit ... Ich werde mich auf Dein Herz legen, ich werde Dich so fest in meine beiden Arme drücken, daß sie in die Deinen hineinwachsen werden, und dann müssen sie uns wohl zusammen begraben ... Ja, ja, wir werden tot und doch vermählt sein. Ich habe Dir versprochen, niemand anzugehören als Dir, ich werde Dein sein trotz allem, in der Erde, wenn es sein muß ... O, mein Geliebter, öffne die Augen, öffne den Mund, küsse mich, wenn Du nicht willst, daß auch ich sterbe, wenn Du tot sein wirst.«
Eine ganze Flamme von wilder Leidenschaft, von Feuer und Blut war durch das düstere Zimmer mit den alten, eingeschlafenen Mauern gelodert. Aber die Thränen überwältigten Benedetta; lautes Schluchzen erschöpfte sie und warf sie geblendet, kraftlos am Bettrande nieder. Glücklicherweise erschien der von Viktorine herbeigeschaffte Arzt und machte der schrecklichen Scene ein Ende.
Doktor Giordano, der das sechzigste Jahr überschritten hatte, war ein kleiner, weißlockiger, glatt rasirter und frischwangiger Greis, dessen ganze väterliche Figur inmitten seiner kirchlichen Kundschaft das Benehmen eines liebenswürdigen Prälaten angenommen hatte. Er war, wie es hieß, ein trefflicher Mann, behandelte die Armen umsonst und erwies sich vor allem in heiklen Fällen von geistlicher Zurückhaltung und Verschwiegenheit. Seit dreißig Jahren hatten sich alle Boccaneras, die Kinder, die Frauen, bis zu dem ehrwürdigsten Kardinal selbst stets nur in seinen vorsichtigen Händen befunden.
Während Viktorine leuchtete, kleidete er, von Pierre unterstützt, sachte den durch den Schmerz aus der Ohnmacht erweckten Dario aus, untersuchte die Wunde und erklärte sie sofort mit seiner lächelnden Miene für gefahrlos. Es würde nichts sein, höchstens drei Wochen im Bett, und Komplikationen stünden nicht zu befürchten. Wie alle römischen Aerzte war er ein Liebhaber der schönen Messerstiche, die er täglich unter seinen zufälligen Kunden aus dem gemeinen Volke zu behandeln hatte; er verweilte daher mit Wohlgefallen bei der Wunde, bewunderte sie als Kenner und fand zweifellos, daß das eine feine Arbeit sei. »Wir nennen das eine Warnung,« sagte er zuletzt halblaut zu dem Fürsten. »Der Mann wollte nicht töten; der Streich wurde von oben nach unten geführt, so daß er im Fleisch vorwärts glitt, ohne den Knochen auch nur zu berühren ... O, er muß geschickt sein; das ist ein sehr hübscher Stoß.«
»Ja, ja, er hat mich geschont,« murmelte Dario, »sonst hätte er mich durch und durch gestoßen.«
Benedetta hörte nichts davon. Seit der Arzt den Fall für gänzlich gefahrlos erklärt hatte, indem er aus einander setzte, daß die Schwäche und die Ohnmacht nur von der heftigen Nervenerschütterung herrührten, war sie in einem Zustande völliger Erschöpfung auf einen Stuhl gefallen. Es war die Abspannung der Frau nach dem furchtbaren Verzweiflungsanfalle. Stille Thränen begannen langsam aus ihren Augen zu fließen; sie erhob sich und umarmte Dario in einem Erguß leidenschaftlicher, stummer Freude.
»Hören Sie, lieber Doktor, es ist ganz unnötig, daß jemand davon erfährt,« fuhr dieser fort. »Diese Geschichte ist so lächerlich ... Wie es scheint, hat niemand etwas gesehen, mit Ausnahme des Herrn Abbé, den ich um Geheimhaltung bitte ... Und nicht wahr, man wird vor allem den Kardinal nicht beunruhigen, nicht einmal die Tante – kurz, keinen der Freunde des Hauses?«
Doktor Giordano lächelte ruhig.
»Schön, schön, das ist selbstverständlich, quälen Sie sich nicht ... Für alle Welt sind Sie auf der Treppe gefallen und haben sich die Schulter verrenkt ... Aber jetzt, nachdem Sie verbunden sind, trachten Sie zu schlafen und nicht allzu viel Fieber zu bekommen. Ich komme morgen früh wieder.«
Nun flossen langsam Tage voll großer Ruhe dahin; für Pierre entwickelte sich ein neues Leben. In den ersten Tagen verließ er nicht einmal den alten, schlummernden Palast; er las, schrieb und hatte keine andere Zerstreuung, als daß er jeden Nachmittag bis zur Dämmerung in dem Zimmer Darios saß, wo er sicher war, auch Benedetta zu treffen. Nach einem achtundvierzigstündigen heftigen Fieber hatte die Heilung ihren gewohnten Gang genommen; alles ging aufs beste, die Geschichte von der verrenkten Schulter wurde von aller Welt geglaubt, so daß der Kardinal es bei der streng sparsamen Donna Serafina durchsetzte, daß eine zweite Laterne auf dem Treppenabsatz angezündet ward, damit sich ein solcher Unfall nicht mehr erneue. In diesem wieder entstandenen einförmigen Frieden gab es nur noch eine letzte Erschütterung, besser gesagt, es drohte eine Aufregung, in die Pierre eines Abends, als er etwas länger bei dem Genesenden verweilte, hineingezogen ward.
Benedetta hatte sich auf einige Minuten entfernt; da beugte sich Viktorine, die eine Bouillon heraufgebracht hatte, beim Zurücknehmen der Tasse herab, um ganz leise zu dem Fürsten zu sagen:
»Gnädiger Herr, ein junges Mädchen, Sie wissen, die Pierina, kommt alle Tage weinend her, um sich nach Ihnen zu erkundigen ... Ich kann sie nicht fortschicken, sie streicht ums Haus herum; da setze ich Sie lieber davon in Kenntnis.«
Pierre hatte wider Willen zugehört, und eine plötzliche Gewißheit stieg in ihm auf; mit einemmale begriff er alles. Dario, der ihn anblickte, sah wohl, was er dachte, und sagte daher, ohne Viktorinen zu antworten:
»Ja, Abbé, es war dieses Vieh von Tito ... Ich bitte Sie, ist das nicht dumm?«
Aber obwohl er sich verwahrte, nichts gethan zu haben, damit der Bruder ihn warnen brauchte, seiner Schwester nicht nahe zu kommen, so lächelte er doch verlegen und war sehr ärgerlich, sogar ein wenig beschämt über eine solche Geschichte. Er war sichtlich erleichtert, als der Priester ihm versprach, mit dem jungen Mädchen zu sprechen, falls es wieder käme, und ihm zu verstehen zu geben, daß es zu Hause bleiben müsse.
»Ein albernes, zu albernes Abenteuer,« wiederholte der Fürst, indem er, wie um sich selbst zu verhöhnen, seinen Zorn übertrieb. »Es ist wirklich wie aus einem andern Jahrhundert.«
Er verstummte plötzlich. Benedetta kehrte zurück. Sie setzte sich wieder neben ihrem lieben Patienten nieder, und die süße Krankenwacht in dem alten, schlummernden Zimmer, in dem alten, toten Palast, in dem kein Hauch sich regte, nahm ihren Fortgang.
Als Pierre wieder ausging, wagte er sich anfangs, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, nur in das Viertel. Diese Via Giulia interessirte ihn; er wußte von ihrer einstigen Pracht zur Zeit Julius' II., der sie gerade legte und mit prächtigen Palästen einzufassen gedachte. Während des Karnevals hatten hier Wettrennen stattgefunden. Sie begannen, ob zu Fuß oder zu Pferd, beim Palast Farnese und reichten bis zum Petersplatz. Er hatte eben auch gelesen, daß der Gesandte des Königs von Frankreich, d'Estrée Marquis de Couré, der den Palazzo Saccheti bewohnte, dort 1630 mit großer Pracht die Geburt des Dauphins feierte; er veranstaltete drei große Rennen von der Sixtusbrücke bis S. Giovanni de Fiorentini, wobei ein außerordentlicher Luxus entfaltet, die Straßen mit Blumen bestreut und alle Fenster mit den kostbarsten Behängen geschmückt wurden. Am zweiten Abende wurde auf dem Tiber ein Feuerwerk abgebrannt, das Argonautenschiff darstellend, das Jason zur Eroberung des goldenen Vlieses führte. Ein andermal lief aus dem farnesischen Springbrunnen, dem Mascherone, Wein. Wie ferne waren diese Zeiten, und wie hatten sie sich verändert! Wie einsam und still zog sich heutigen Tags die Straße in der traurigen Größe ihrer Verlassenheit, breit und gerade, sonnenbeschienen oder tief dunkel mitten durch das verlassene Viertel hin! Von neun Uhr ab strich die helle Sonne durch sie hin und ließ das kleine Pflaster des flachen, trottoirlosen Fahrweges ganz weiß erscheinen, während zu den beiden, abwechselnd von hellem Licht in schwarzen Schatten übergehenden Seiten die alten Paläste, die schweren, alten Häuser, die antiken, mit Schilden und Nägeln bespickten Thüren, die mit ungeheuren Eisenstangen vergitterten Fenster, ganze Stockwerke mit geschlossenen Schalterläden schlummerten. Sie waren gleichsam vernagelt, um das Tageslicht nicht mehr einzulassen. Wenn eine Thür offen stand, so bemerkte man tiefe Wölbungen, feuchte und kalte, mit dunkelgrünen Flecken bedeckte innere Höfe, die gleich wie in Klöstern von Portiken umgeben waren. In den Dependancen, in den niedrigen Gebäuden, die sich zuletzt besonders auf der Seite der zum Tiber hinab gehenden Gäßchen gebildet hatten, waren kleine, stille Industrien entstanden – ein Bäcker, ein Schneider, ein Buchbinder, unbedeutende Kramladen, Obstkeller mit vier Tomaten und vier Salatköpfen auf dem Brette, Weinhandlungen, die Gewächse von Frascati und Genzano aussteckten, wo aber die Trinkenden gestorben zu sein schienen. Gegen die Mitte der Straße zu befand sich das jetzige Gefängnis mit seiner abscheulichen, gelben Mauer; es war nicht dazu angethan, sie zu erheitern. Ein ganzer Schwarm von Telegraphendrähten durchzog diesen langen, grabesähnlichen Korridor mit den seltenen Passanten, wo der Staub der Vergangenheit zerfiel, von einem Ende zum andern – von den Arkaden des farnesischen Palastes bis zu dem fernen Ausblick über den Fluß, über die Bäume des Heiligengeisthospitales. Aber vor allem des Abends, wenn die Nacht hereingebrochen war, wurde Pierre von der Oede, von einer Art heiligen Grauens gepackt, die die Straße dann annahm. Keine Menschenseele, vollständige Vernichtung, kein Licht in den Fenstern, nichts als die doppelte Reihe von Gashähnen, die, weit aus einander stehend, Nachtlichtern glichen, und verriegelte, verrammelte Thüren, aus denen kein Geräusch, kein Hauch hervordrang! Nur da und dort eine erleuchtete Weinhandlung, matte Scheiben, hinter denen in dumpfer Unbeweglichkeit eine Lampe brannte, kein Stimmengeräusch, kein Lachen! Und keine lebendige Seele zu sehen als die zwei Gefängnisschildwachen, die eine vor dem Thor, die andere an der Ecke des rechten Gäßchens, beide steif und starr in der toten Straße stehend!
Uebrigens fesselte ihn das ganze Viertel, dieses einstige vornehme Viertel, das, nun in Vergessenheit geraten, von dem modernen Leben so entfernt war und fortan nur noch einen Dumpfgeruch, den faden, heimlichen Kirchengeruch aushauchte. Auf der Seite von S. Giovanni de Fiorentini, an der Stelle, wo der neue Corso Viktor Emanuel alles eingerissen hat, bestand ein heftiger Gegensatz zwischen den hohen fünfstöckigen, gemeißelten, glänzenden, kaum vollendeten Häusern und den geschwärzten, eingesunkenen und armseligen Gebäuden der Nachbargäßchen. Am Abend funkelten elektrische Kugeln in blendender Weiße, gegen die die Gashähne in der Via Giulia nur noch wie rauchende Lämpchen aussehen. Es waren alte, berühmte Straßen: die Via dei Banchi Vecchi, die Via del Pellegrino, die Via di Monserrato, hierauf endlose Querstraßen, die sie durchschnitten, die sie verbanden, die alle dem Tiber zugingen und so eng waren, daß die Wagen schwer durch konnten. Und eine jede hatte ihre Kirche; es war eine Menge fast gleicher, reich geschmückter, reich vergoldeter und gemalter Kirchen, die nur zur Zeit des Gottesdienstes offen und dann voll Sonnenlicht und Weihrauch waren. In der Via Giulia befand sich außer S. Giovanni de Fiorentini, außer S. Biagio della Pagnotta, außer S. Eligio degli Orefici rückwärts hinter dem Palast Farnese die Totenkirche S. Maria delle Morte. in die er gern eintrat, um von dem unbewohnten Rom, von den Büßermönchen zu träumen, die den Dienst in dieser Kirche versahen und deren Aufgabe darin bestand, die ihnen signalisirten verlassenen Leichname in der Campagna zu sammeln.
Eines Abends wohnte er dort der Seelenmesse für zwei unbekannte, seit vierzehn Tagen unbegrabene Leichen bei, die man auf einem Felde rechts von der Via Appia entdeckt hatte.
Aber der Lieblingsspaziergang Pierres wurde bald der neue Tiberquai vor der andern Fassade des Palazzo Boccanera. Er brauchte nur durch das Vicolo, das enge Gäßchen zu gehen und gelangte an einen einsamen Ort, wo alles ihn mit unendlichen Gedanken erfüllte. Der Quai war nicht vollendet, die Arbeiten schienen sogar vollständig aufgelassen worden zu sein; es war ein ungeheurer, mit Schutt und Bausteinen angefüllter Zimmerplatz, der von halb zerbrochenen Palissaden und Werkzeugschuppen mit zusammenbrechenden Dächern durchschnitten ward. Das Flußbett war unaufhörlich höher geworden, während fortwährende Ausgrabungen den Boden der Stadt zu beiden Seiten gesenkt hatten. Um sie daher vor Ueberschwemmungen zu schützen, hatte man eben das Wasser in diese gigantischen Festungsmauern gesperrt. Man hatte zu diesem Behufe die alten Ufer noch derart erhöhen müssen, daß die Terrasse des kleinen Boccaneraschen Gartens unter dem Schutze ihres Portikus, mit ihrer Doppeltreppe, an der einst die Lustboote verankerten, sich niedriger befand und in Gefahr stand, ganz begraben zu werden und zu verschwinden, sobald die Straßenarbeiten beendigt werden würden. Es war noch nichts nivellirt, die herbeigeführte Erde blieb so liegen, wie die Schubkarren sie abgeladen hatten, und überall war inmitten der verlassenen Materialien nichts zu sehen als Morastlöcher und Abrutschungen. Nur armselige Kinder spielten zwischen diesem Schutt, in dem der Palast versank, arbeitslose Werkleute schliefen träge in der heißen Sonne, und Frauen breiteten ihre ärmliche Wäsche auf den Kieselhaufen aus. Dennoch war es für Pierre ein glückliches Asyl voll sicheren Friedens und unerschöpflicher Träumereien, wenn er hier stundenlang verweilte, um den Fluß und die Quais und die Stadt gegenüber zu beiden Seiten zu betrachten.
Von acht Uhr ab vergoldete die Sonne die unermeßliche Lücke mit ihrem gelben Licht. Wenn er hinüber nach links zu schaute, bemerkte er die fernen Dächer von Trastevere, die sich graublau, von Nebel überzogen, von dem glänzenden Himmel abhoben. Gegen rechts zu bildete der Fluß jenseits des runden Chors von S. Giovanni de Fiorentini einen Bogen. Die Pappeln des Heiligengeistspitals zogen über das andere Ufer ihren grünen Vorhang und ließen am Horizont das reine Profil der Engelsburg sehen. Vor allem aber konnte er die Augen nicht von dem gegenüber liegenden Ufer losreißen; denn dort war ein Stück des ganz alten Rom unversehrt geblieben. Von der Sixtusbrücke bis zur Engelsbrücke befand sich auf dem rechten Ufer der Teil der unterbrochenen Quaibauten, dessen Fertigstellung später den Fluß vollends in die schrecklichen, hohen und weißen Festungsmauern einsperren würde. Und wirklich, diese außerordentliche Heraufbeschwörung der alten Zeit, dieses mit einem ganzen Stück der alten Päpstestadt bedeckte Ufer, war etwas Ueberraschendes, Bezauberndes. Auf der Via della Longara mußten die gleichförmigen Fassaden wohl neu angestrichen sein, aber hier blieben die Rückseiten der bis zum Wasser reichenden Häuser so, wie sie waren: rissig, gebräunt, rostbefleckt, gleich antiken Bronzen von der brennenden Sommersonne mit Patina überzogen. Was für ein Haufen, was für eine unglaubliche Menge! Unten dunkle Gewölbe, in die der Fluß eindrang, Pfahlwerk, das die Mauern stützte, Stücke römischer Bauwerke, die senkrecht hinabtauchten; dann steile, aus den Fugen geratene, grün überzogene, aus dem Ufersand aufsteigende Treppen, über einander liegende Terrassen, Stockwerke mit den Reihen der unregelmäßigen, aufs Geratewohl durchgebrochenen kleinen Fenster, Häuser, die sich über anderen Häusern erhoben – und das in einem ausschweifenden, phantastischen Durcheinander von Balkonen, von Holzgalerien, von quer über Hofe geschlagenen Brücken, von Baumgruppen, die aus den Dächern gesproßt zu sein schienen, von hinzugefügten Mansarden, die inmitten der rosa Dachziegel aufgesetzt waren. Eine Traufe gegenüber floß mit lautem Geräusch aus einem abgenutzten und besudelten Steinrachen. Ueberall, wo das Ufer durch das Zurücktreten der Häuser erschien, war es mit einer wilden Vegetation, mit Unkraut, Sträuchern, mit Epheumänteln bedeckt, die in königlichen Falten auf dem Boden schleppten. Das Elend, der Schmerz verschwand unter der Verklärung der Sonne, die alten eingesunkenen, zusammengehäuften Fassaden wurden zu Gold, die in den Fenstern trocknende Wäsche flaggte sie mit dem Purpur der roten Röcke und dem blendenden Schneeweiß des Linnens. Weiter oben dagegen, über dem Viertel, erhob sich in dem Glanze des Gestirns der Janiculus mit dem feinen Profil von S. Onofrio, zwischen Cypressen und Pinien.
Pierre lehnte sich oft an die Brüstung der ungeheuren Quaimauer und blieb lange dort stehen, um mit schwellendem Herzen, voll von der Trauer der toten Jahrhunderte, den dahinfließenden Tiber zu betrachten. Nichts hätte die große Müdigkeit dieser alten Gewässer zu schildern vermocht, nichts ihr düsteres, langsames Dahinfließen am Grunde dieses sie einschließenden, babylonischen Grabens, dieser übergroßen, geraden, glatten, kahlen, in ihrer neuen Häßlichkeit noch ganz weißlichen Gefängnismauern. In der Sonne nahm der gelbe Fluß eine Goldfarbe an und schillerte durch den leichten Schauer seiner Strömung in Grün und Blau. Wie aber das Dunkel ihn ergriff, so erschien er undurchsichtig, rotfarben, so alt, so dick, so schwer, daß die gegenüberliegenden Häuser sich nicht einmal mehr in ihm spiegelten. Und was für eine trostlose, was für eine öde Verlassenheit, welcher Strom der Stille und der Einsamkeit! Wenn er auch nach den Winterregen seine drohende Flut noch wütend dahinwälzte, so schlief er doch während der langen Monate, da der Himmel klar war, ein und durchzog Rom klanglos, mit dumpfem Fließen, als wäre er über alles unnütze Geräusch eines Besseren belehrt worden. Man konnte hier den ganzen Tag lang stehen, ohne eine Barke, ein Segel vorüberziehen zu sehen, das ihn belebt hätte. Die wenigen Schiffe, die zwei oder drei kleinen Dampfer, die vom Litorale kamen, die Tartanen, die Wein aus Sizilien brachten, hielten alle am Fuße des Aventins an. Darüber hinaus gab es nichts mehr als Wüste, als totes Gewässer, in das da und dort ein unbeweglicher Fischer seine Angel hinabhängen ließ. Pierre sah ein wenig nach rechts, am Fuße des alten Ufers, nie etwas anderes als eine Art antike, bedeckte Pinasse, eine halb verfaulte Arche Noah; sie war vielleicht ein Bootswaschplatz, aber er bemerkte dort nie eine lebende Seele. Außerdem befand sich auf einer Kotzunge eine gestrandete Schaluppe mit aufgeplatzter Flanke, ein klägliches Symbol, daß alle Schiffahrt hier unmöglich und aufgegeben worden war. Ach, diese Stromrinne, sie war ebenso tot wie die berühmten Ruinen, deren Staub sie seit so vielen Jahrhunderten gebadet hatte! Nun war sie es müde. Und was beschwor sie heraus! Jahrhunderte der Geschichte, so viele Dinge, so viele Menschen, die die gelben Wasser widergespiegelt hatten – deren Ermüdung und Ekel sie angezogen hatten, bis sie in ihrer Sehnsucht nach dem Nichts so schwer, so stumpf, so einsam geworden waren!
Hier war es, wo Pierre eines Morgens Pierina erkannte, als sie hinter einer der Holzbaracken stand, die zum Aufbewahren der Werkzeuge gedient hatten. Sie streckte den Hals aus und betrachtete starr, vielleicht schon stundenlang, das an der Ecke des Gäßchens und des Quais liegende Fenster des Zimmers Darios. Zweifellos von dem strengen Empfange Viktorinens erschreckt, war sie nicht wieder im Palaste erschienen, um sich zu erkundigen; aber nachdem sie von irgend einem Bedienten erfahren hatte, wo sich das Fenster befand, kam sie hierher und brachte die Tage hier zu, indem sie unermüdlich auf eine Erscheinung, ein Lebens- und Rettungszeichen wartete. Die bloße Hoffnung darauf ließ ihr Herz klopfen. Der Priester näherte sich ihr; es rührte ihn unendlich, daß sie in ihrer königlichen Schönheit sich so demütig, so zitternd vor Anbetung derart versteckte. Statt sie zu schelten, sie wegzujagen, wie sein Auftrag lautete, sprach er sehr sanft und sehr heiter mit ihr, erwähnte die Ihren, als sei nichts geschehen, und richtete es so ein, daß er den Namen des Fürsten aussprach, um ihr zu verstehen zu geben, daß er noch vor vierzehn Tagen wieder auf den Füßen sein werde. Anfangs war sie zusammengefahren und stand scheu, mißtrauisch, fluchtbereit da. Dann, als sie verstanden hatte, schossen ihr die Thränen in die Augen, und trotzdem lachend, glückselig, warf sie ihm eine Kußhand zu, rief: » Grazie, grazie! Danke, danke!« und lief davon, was sie laufen konnte. Er sah sie nie wieder.
Und an einem Morgen war es auch, als Pierre, da er sich nach S. Brigitta auf der Piazza Farnese begab, um seine Messe zu lesen, zu seiner Ueberraschung Benedetta so frühzeitig aus dieser Kirche herauskommen sah. Sie trug ein ganz kleines Fläschchen Oel in der Hand. Uebrigens war sie gar nicht verlegen, sondern erklärte ihm, daß sie sich alle zwei oder drei Tage von dem Kirchendiener einige Tropfen von dem Oel hole, das die ewige Lampe vor einer antiken, hölzernen Muttergottesstatue speiste, zu der sie unbedingtes Vertrauen hatte. Sie gestand sogar, daß sie nur zu dieser Vertrauen habe; denn sie hätte nie etwas erreicht, wenn sie sich an andere, obwohl sehr berühmte Madonnen aus Marmor und sogar Silber gewendet hätte. In ihrem Herzen brannte daher auch für dieses heilige Bildnis, das ihr nichts verweigerte, eine innige Andacht – in Wirklichkeit ihre ganze Andacht. Sie bestätigte auch sehr einfach, wie etwas Natürliches, außer Frage Stehendes, daß diese wenigen Tropfen Oel, mit denen sie abends und morgens die Wunde Darios einrieb, eine so rasche, ganz und gar wunderbare Heilung bewirkten. Eine so kindische Religiosität bei diesem wunderbaren, klugen, leidenschaftlichen, anmutigen Geschöpf machte Pierre betroffen und verzweifelt; er gestattete sich nicht zu lächeln.
Jeden Abend, wenn er von seinen Spaziergängen zurückkehrte und eine Stunde in dem Zimmer des genesenden Dario zubrachte, verlangte Benedetta, daß er zur Zerstreuung des Kranken seinen Tag schildere; und alles, was er erzählte, sein Erstaunen, seine Erregung, manchmal sein Zorn, nahm inmitten der großen, gedämpften Stille des Zimmers einen traurigen Reiz an. Insbesondere aber als er wieder das Viertel zu verlassen wagte, als er sich in die römischen Gärten verliebte, in die er, um vor Begegnungen sicher zu sein, sich begab, sobald die Thore aufgemacht waren, brachte er schwärmerische Gefühle mit – eine wahre, entzückte Leidenschaft für schöne Bäume, für springendes Wasser, für Terrassen, die sich auf einen erhabenen Horizont öffneten.
Es waren nicht gerade die größten unter diesen Gärten, die sein Herz am meisten erfüllten. In der Villa Borghese, dem kleinen Boulognerwäldchen Roms, gab es majestätische Holzschläge, königliche Alleen, in denen die Wagen vor der obligaten Spazierfahrt auf dem Corso zu wenden pflegten; aber ihn berührte mehr der abgesonderte Garten vor der Villa – dieser Villa voll blendender Marmorpracht, in der sich heutigen Tags das schönste Museum der Welt befindet. Da war ein einfacher, feiner Rasenteppich, ein sehr großes Mittelbecken, das von der weißen Nacktheit einer Venus beherrscht wird. Da waren Bruchstücke von antiken Vasen, Statuen, Säulen, Sarkophagen, die symmetrisch im Viereck aufgereiht sind, und sonst nichts als dieses einsame, sonnenbeschienene, schwermütige Gras. Auf dem Pincio, den er wieder aufsuchte, verlebte er einen köstlichen Morgen; er begriff den Zauber dieses schmalen Winkels mit seinen seltenen, immer grünen Bäumen, mit seinem bewunderungswürdigen Ausblick, der in der Ferne, in der so zarten, so klaren, mit Sonnenstäubchen durchsetzten Helle ganz Rom und St. Peter zeigte. In der Villa Albani, in der Villa Pamfili fand er die herrlichen Schirmpinien voll riesiger, stolzer Anmut, die mächtigen Wintereichen mit den gewundenen Gliedern und dem fast schwarzen Grün wieder. Besonders in der letzten Villa versenkten die Eichen die Alleen in ein köstliches Halbdunkel; der kleine See mit seinen Trauerweiden und seinen Rohrbüscheln war voll von Träumen, und das tiefer gelegene Blumenparterre entwickelte eine Mosaik von wunderlichem Geschmack, ein verwickeltes Muster von Rosetten und Arabesken, das von den verschiedenartigen Blumen und Blättern gefärbt ward. Was ihm aber in diesem Garten, dem edelsten, größten und bestgepflegten aller dieser Gärten, auffiel, war, daß er, längs einer niedern Mauer schreitend, abermals St. Peter erblickte, und zwar von einer so neuen und unvorhergesehenen Seite, daß sich das symbolische Bild für immer seinem Gedächtnis einprägte. Rom war vollständig verschwunden; zwischen den Abhängen des Monte Mario und eines andern bewaldeten, die Stadt verbergenden Hügels war nichts zu sehen als der gewaltige Dom, dessen Masse auf zerstreuten weißen und roten Blöcken zu ruhen schien. Was er so beherrschte, was er so mit seiner übermäßig großen, von dem hellen Blau des Himmels graublau abstechenden Kuppel erdrückte, das waren die Häuserinseln des Borgos, die zusammengehäuften Gebäude des Vatikans und der Basilika; hinter ihm dagegen, in der Ferne, trat eine bläuliche, sehr zarte Fernsicht in die unbegrenzte Campagna zurück.
Aber das Seelische der Dinge fühlte Pierre mehr in den weniger prächtigen Gärten, die eine geschlossenere Anmut besaßen. Ach, die Villa Mattei auf dem Abhange des Coelius mit ihrem terrassenförmigen Garten, mit ihren heimlichen, von Aloen, Lorbeerbäumen und riesigen Spindelbäumen begrenzten Alleen, mit ihrem tonnenförmig geschnittenen Buchs, mit ihren Orangenbäumen, Rosen und Springbrunnen! Er brachte dort herrliche Stunden zu. Einen gleichen zauberischen Eindruck empfing er nur auf dem Aventin, als er die drei Kirchen besuchte, die dort unter dem Grün verschwinden; besonders in S. Sabina, der Wiege der Dominikaner, deren kleiner, von allen Seiten geschlossener Garten, der gar keine Aussicht besitzt, in einem lauen und duftigen Frieden schläft. Er ist mit Orangenbäumen bepflanzt, in deren Mitte der hundertjährige, knotige und ungeheure Orangenbaum des heiligen Dominikus noch mit reifen Orangen beladen war. In der Malteserpriorei daneben that sich hingegen der Garten auf einen ungeheuren Horizont auf und umfaßte, steil über den Tiber hinweg, den Lauf des Flusses, die Fassaden und Dächer, die sich längs der beiden Ufer drängen, bis zu dem fernen Gipfel des Janiculus. Uebrigens gab es in diesen römischen Gärten immer denselben geschnittenen Buchs, denselben Eukalyptus mit dem weißen Stamm und den blassen, gleich Menschenhaaren langen Blättern, dieselben stämmigen, düsteren Wintereichen, riesigen Pinien, schwarzen Cypressen, und zwischen den Rosensträuchen weiße Marmorfiguren, unter den Mänteln des Epheus rauschende Springbrunnen. Eine zartere schmerzliche Freude genoß er erst in der Villa des Papstes Julius, deren im Halbkreis auf den Garten gehender Portikus mit seinen gemalten Zieraten, seinem blumenbedeckten goldenen Gitter, durch das Schwärme lächelnder kleiner Amoretten fliegen, das ganze Leben einer liebenswürdigen und sinnlichen Epoche erzählt. An dem Abende endlich, an dem er aus der Villa Farnesina zurückkehrte, sagte er, daß er die ganze tote Seele des alten Rom mit sich bringe; aber es waren nicht die nach Raffaelschen Kartons ausgeführten Malereien, die ihn berührt hatten, sondern eher der hübsche Saal am Rande des Wassers mit seiner in zart blau, zart lila und zart rosa gehaltenen, nicht genialen, aber so reizenden und echt römischen Ausschmückung – und mehr noch der verlassene Garten, der einst bis zum Tiber hinabreichte, und den der neue Quai jetzt einzwängte. Er war kläglich, öde, verwüstet, höckerig, gleich einem Kirchhof von Unkraut überwuchert, aber dennoch reiften in ihm noch immer die goldenen Früchte der Orangen und Zitronenbäume.
Noch einmal erhielt er eine seelische Erschütterung; es war an dem schönen Abend, an dem er die Villa Medici besuchte. Dort befand er sich auf französischer Erde. Und was für ein wunderbarer Garten war das wieder mit seinem Buchs, seinen Pinien, seinen Alleen voll Pracht und Reiz! Welchen Zufluchtsort für antike Träumereien bot dieses uralte und tief dunkle Wintereichengehölz, wo die untergehende Sonne glühende, rotgoldene Lichter in die glänzende Bronze der Blätter warf! Man muß eine endlose Treppe hinansteigen, aber oben vom Belvedere aus übersieht man das gesamte Rom mit einem Blick, als könnte man es, indem man die Arme ausbreitet, ganz umfassen. Vom Speisesaale der Villa, den die Porträts aller Künstler schmücken, die hier nach einander als Pensionäre gewohnt haben, besonders von der Bibliothek, einem großen Saal voll tiefer Ruhe, hat man dieselbe bewundernswerte Aussicht; es ist die größte und sieghafteste Aussicht, voll übermäßigen Ehrgeizes, dessen Unendlichkeit den jungen, hier eingeschlossenen Leuten den Wunsch nach dem Besitz der Welt ins Herz legen mußte. Er, der mit feindseligen Gefühlen gegen die Institution des Prix de Rome, gegen diese überlieferte, gleichförmige, für die Eigenart so gefährliche Erziehung gekommen war, wurde nun einen Augenblick von diesem lauen Frieden, von dieser klaren Einsamkeit des Gartens, von diesem erhabenen Horizont verführt, in dem die Flügel des Genius zu rauschen schienen. Ach, welche Wonne, zwanzig Jahre alt zu sein, drei Jahre in dieser unendlichen Milde, inmitten der schönsten menschlichen Werke zu leben, sich zu sagen, daß man noch zu jung ist, um schon zu schaffen, sich zu sammeln, sich zu suchen und genießen, leiden, lieben zu lernen! Aber dann bedachte er, daß das nicht die Sache der Jugend sei, daß es, um den göttlichen Genuß einer solchen Zurückgezogenheit in der Kunst und unter dem blauen Himmel völlig auszukosten, sicherlich des reifen Alters, bereits gewonnener Siege, der beginnenden Ermüdung nach vollendetem Werke bedurfte. Er sprach mit den Pensionären und bemerkte, daß, wenn auch träumerische und beschauliche junge Seelen sowie die einfache Mittelmäßigkeit sich an dieses in der Kunst der Vergangenheit gebannte Leben bequemten, doch jeder streitbare Künstler, jedes persönliche Temperament hier vor Ungeduld starb und verzehrt von der Sehnsucht, rasch mitten in dem feurigen Ofen des Schaffens und des Kämpfens zu sein, die Augen auf Paris gerichtet hielt.
Und alle diese Gärten, von denen Pierre abends mit Entzücken erzählte, erweckten in Benedetta und Dario die Erinnerung an den Garten der Villa Montefiori. Er war jetzt vernichtet, aber einst war er so grün und mit den schönsten Orangenbäumen Roms, einem wahren Walde von hundertjährigen Orangenbäumen bepflanzt gewesen, in dem sie sich lieben gelernt hatten.
»Ach, ich erinnere mich,« sagte die Contessina, »zur Blütezeit duftete es so gut, daß man dabei vergehen konnte – so stark, so berauschend, daß ich einmal im Grase liegen blieb und mich nicht erheben konnte ... Erinnerst Du Dich, Dario? Du hast mich in die Arme genommen und trugst mich zum Springbrunnen, wo es sehr schön und sehr frisch war.«
Sie saß wie gewöhnlich auf dem Bettrande und hielt die Hand des Genesenden in der ihren. Er begann zu lächeln.
»Ja, ja, ich habe Dich auf die Augen geküßt und Du hast sie endlich geöffnet ... Du warst damals viel weniger grausam. Du ließest mich Deine Augen küssen, so viel ich wollte ... Aber wir waren Kinder, und wenn wir nicht Kinder gewesen wären, so wären wir in diesem großen Garten, der so stark duftete, und wo wir so frei hin und her liefen, sogleich Mann und Frau geworden.«
Sie nickte zustimmend; sie war überzeugt, daß nur die Madonna sie beschützt hatte.
»Das ist wahr, das ist wahr ... Und welches Glück, daß wir einander jetzt gehören können, ohne daß die Engel weinen brauchen.«
Das Gespräch kam immer wieder darauf zurück. Der Prozeß behufs Annullirung der Ehe nahm eine immer günstigere Wendung an, und Pierre wohnte jeden Abend ihrem Entzücken bei, hörte sie von nichts anderem reden als von ihrem künftigen Bunde, von ihren Plänen, von den Freuden Verliebter mitten im Paradiese. Donna Serafina, diesmal von einer mächtigen Hand geleitet, mußte wohl die Dinge mit Energie anfassen, denn es verging kein Tag, ohne daß sie irgend eine gute Nachricht heimbrachte. Sie wollte diese Angelegenheit um der Fortsetzung, um der Ehre des Namens willen möglichst rasch beendigen; denn Dario wollte nur seine Base heiraten, und andrerseits würde diese Heirat alles erklären, alles entschuldigen, indem sie einer fortan unerträglichen Lage ein Ende machte. Der abscheuliche Skandal, der schreckliche Klatsch, der die schwarze und weiße Gesellschaft aufregte, brachte sie zuletzt außer sich – um so mehr, als sie für den möglichen Fall eines Konklaves die Notwendigkeit eines Sieges begriff. Sie wollte, daß der Name ihres Bruders dann in reinem, erhabenem Glanze leuchtete. Noch nie hatte dieser geheime Ehrgeiz ihres ganzen Lebens, die Hoffnung, es mit anzusehen, wie ihr Geschlecht der Kirche einen dritten Papst schenkte, sie mit solcher Leidenschaft verzehrt; es war, als hätte sie das Bedürfnis gehabt, sich für ihr kaltes Cölibat zu trösten, seit ihre einzige Freude in dieser Welt, der Advokat Morano, sie in so harter Weise verlassen hatte. Stets in ein dunkles Kleid gehüllt, geschäftig und so schlank, so geschnürt, daß man sie von rückwärts für ein junges Mädchen gehalten hätte, war sie gleichsam das schwarze Gespenst des alten Palastes; Pierre begegnete ihr überall, während sie als sorgsame Hausverwalterin durch den Palast strich und eifersüchtig über den Kardinal wachte. Er grüßte sie schweigend, und jedesmal ward ihm ein bißchen kalt ums Herz, wenn er das ausgetrocknete, von langen Falten durchschnittene Gesicht mit der großen, eigenwilligen Familiennase sah. Aber sie erwiderte seinen Gruß kaum; sie sah noch immer geringschätzig auf diesen kleinen, fremden Priester herab, duldete ihn in ihrer nächsten Umgebung nur Monsignore Nani zu Gefallen, und weil sie außerdem wünschte, dem Vicomte Philiberte de la Choue angenehm zu sein, der so viele schöne Pilgerzüge nach Rom geführt hatte.
Nach und nach, als Pierre jeden Abend die ängstliche Freude, die Liebesungeduld Benedettas und Darios sah, ereiferte er sich zuletzt mit ihnen und wünschte eine rasche Lösung herbei. Der Prozeß sollte vor der Konzilskongregation wieder aufgenommen werden, nachdem deren erste Entscheidung zu Gunsten der Scheidung ungiltig geblieben war, da der Verteidiger der Ehe, Monsignore Palma, seinem Rechte gemäß eine Ergänzung der Untersuchung gefordert hatte. Uebrigens wäre diese erste, nur mit einer Stimme Mehrheit erfolgte Entscheidung sicherlich nicht vom heiligen Vater bestätigt worden. Kurz, es handelte sich darum, unter den zehn Kardinälen, aus denen die Kongregation bestand, Stimmen zu sammeln, sie zu überzeugen und die fast vollständige Einmütigkeit zu erzielen; das war eine schwierige Arbeit, denn durch die Verwandtschaft Benedettas, diesen Oheim, den Kardinal, der doch alles erleichtern zu müssen schien, verschlimmerte sich die Lage infolge der verwickelten Ränke des Vatikans, der Nebenbuhlerschaften, die darnach brannten, durch Verewigung des Skandals den möglichen Papst in ihm zu töten. Auf diese Eroberung der Stimmen ging Donna Serafina jeden Nachmittag aus; sie ward von ihrem Beichtvater, dem Pater Lorenzo, geleitet, den sie täglich im Collegium Germanicum aufsuchte, diesem letzten Zufluchtsorte der Jesuiten in Rom, nachdem sie aufgehört haben, die Herren des Il Gesu zu sein. Die Hoffnung auf Erfolg stützte sich vor allem auf dem Umstande, daß Prada, erschöpft und gereizt, förmlich erklärt hatte, nicht mehr zu erscheinen. Er antwortete nicht einmal auf die wiederholten Vorladungen, so abscheulich und lächerlich erschien ihm die Anklage des Unvermögens, seit Lisbeth, seine erklärte Geliebte vor den Augen der ganzen Stadt, von ihm in guter Hoffnung war. Er schwieg also, stellte sich, als sei er nie verheiratet gewesen, obwohl die Wunde seines in Schach gehaltenen Wunsches, seines gedemütigten Mannesstolzes im Grunde immer blutete und unaufhörlich von den fortwährenden Geschichten, den von der schwarzen Gesellschaft aufgebrachten Zweifeln an seiner Vaterschaft frisch geöffnet wurde. Da nun die gegnerische Partei freiwillig abließ und verschwand, ließ sich die wachsende Hoffnung Benedettas und Darios begreifen, wenn Donna Serafina jeden Abend beim Nachhausekommen ihnen verkündete, daß sie wieder einmal die Stimme eines Kardinals gewonnen zu haben glaube.
Aber der furchtbarste, der Schrecken aller war Monsignore Palma, der von der Kongregation von Amts wegen bestellte Advokat zur Verteidigung des geheiligten Ehebundes. Er besaß fast unbegrenzte Rechte, konnte abermals Berufung einlegen und auf jeden Fall den Prozeß so lange hinausziehen, wie es ihm gefiel. Bereits sein erstes Plaidoyer, die Antwort auf das Moranos, war schrecklich gewesen. Er bezweifelte den jungfräulichen Zustand, führte in wissenschaftlicher Weise Fälle an, wo erkannte Frauen die von den Hebammen festgestellten äußeren Eigentümlichkeiten boten, forderte außerdem eine eingehende Untersuchung durch zwei beeidete Aerzte und erklärte zuletzt, daß, wenn die erste Bedingung des Aktes Gehorsam der Frau sei, die Gesuchstellerin, selbst wenn sie Jungfrau sei, kein Recht habe, die Annullirung einer Ehe zu fordern, deren Vollziehung einzig und allein ihr wiederholter Widerstand verhindert habe. Es verlautete, daß das neue Plaidoyer, das er vorbereitete, noch unerbittlicher sein würde, derart feststehend wäre seine Ueberzeugung. Das schlimme war, daß angesichts dieser schönen Energie der Wahrheit und Logik selbst die wohlwollenden Kardinäle es nie wagen würden, dem heiligen Vater die Annullirung zu raten. Benedetta wurde daher wieder von Mutlosigkeit erfaßt, als Donna Serafina, von einem Besuche bei Monsignore Nani zurückkehrend, sie ein wenig beruhigte, indem sie ihr erzählte, daß ein gemeinsamer Freund es auf sich genommen habe, mit Monsignore Palma zu sprechen. Aber das würde zweifellos sehr viel kosten. Monsignore Palma, ein in kanonischen Angelegenheiten sehr geriebener Theolog von vollkommener Ehrenhaftigkeit, hatte in seinem Leben einen großen Schmerz gehabt; er verliebte sich in späten Jahren wahnsinnig in eine arme Nichte von wunderbarer Schönheit und mußte sie, um Aergernis zu vermeiden, mit einem Schnapphahn verheiraten, der sie nun arm aß und schlug. Der Schein blieb gewahrt. Gerade jetzt machte der Prälat eine schreckliche Krisis durch; er war es überdrüssig, sich zu entblößen, und besaß nicht mehr das notwendige Geld, um seinen Neffen aus einer bösen Geschichte, einer Betrügerei beim Spiel, zu ziehen. Der glückliche Fund bestand darin, daß man den jungen Mann rettete, indem man für ihn bezahlte und ihm dann eine Stellung verschaffte, ohne von dem Oheim etwas zu verlangen. Dieser erschien eines Abends nach eingebrochener Nacht wie ein Mitschuldiger, um Donna Serafina weinend für ihre Güte zu danken.
An diesem Abende war Pierre bei Dario, als Benedetta lachend und vor Freude in die Hände klatschend ins Zimmer trat.
»Es ist geschehen, es ist geschehen! Er ging eben von der Tante fort und hat ihr ewige Dankbarkeit geschworen; jetzt muß er liebenswürdig sein.«
»Aber hat man ihn auch etwas unterschreiben lassen, hat er sich förmlich verpflichtet?« fragte Dario, der mißtrauischer war.
»O nein, was fällt Dir ein! Es war eine so heikle Sache ... Man sagt, daß er ein sehr ehrlicher Mann ist.«
Nichtsdestoweniger wurde sie selbst von einer neuen Unruhe gestreift. Wie, wenn Monsignore Palma trotz des großen ihm geleisteten Dienstes unbestechlich bliebe? Dieser Gedanke verfolgte sie fortan. Das Warten fing von neuem an.
»Ich habe es Dir noch nicht gesagt,« fuhr sie nach einem Stillschweigen fort. »Ich habe mich zu dem famosen Besuch entschlossen. Ja, heute morgen war ich mit der Tante bei zwei Aerzten.« Sie begann wieder zu lächeln und schien durchaus nicht befangen zu sein.
»Nun?« fragte er mit derselben ruhigen Miene.
»Ei nun, sie haben wohl gesehen, daß ich nicht log, und da setzten sie jeder eine Art Certifikat in lateinischer Sprache auf – es scheint, daß das unbedingt notwendig ist, damit Monsignore Palma von dem, was er sagt, zurücktreten kann.«
Dann wandte sie sich zu Pierre.
»Ach, Herr Abbé, dieses Latein ... Ich hätte doch gerne gewußt, was darin stand und dachte an Sie, ob Sie die Gefälligkeit haben würden, es mir zu übersetzen. Aber Tante wollte mir die Stücke nicht lassen; sie ließ sie sofort den Akten beilegen.«
Der Priester, in großer Verlegenheit, begnügte sich, mit einer unbestimmten Kopfbewegung zu antworten, denn er wußte, was dies für eine Art von Certifikat war: eine bestimmte, vollständige Beschreibung in genauen Ausdrücken mit allen Einzelheiten des Zustandes, der Farbe und Form. Für die beiden lag darin zweifellos nichts Beschämendes; diese Untersuchung erschien ihnen als etwas ganz Natürliches und sogar Beglückendes, da ja das ganze Glück ihres Lebens davon abhängen sollte.
»Nun, hoffen wir, daß Monsignore Palma erkenntlich sein wird,« schloß Benedetta. »Und mittlerweile, mein Dario, werde für den schönen, so ersehnten Tag unseres Glückes rasch gesund.«
Aber er hatte die Unvorsichtigkeit begangen, zu früh aufzustehen, und seine Wunde hatte sich wieder geöffnet, so daß er gezwungen war, noch ein paar Tage zu Bette zu bleiben. Und Pierre fuhr fort, jeden Abend zu ihm hinein zu gehen und ihn zu zerstreuen, indem er ihm seine Spaziergänge schilderte. Er war nun kühner geworden, durchstreifte die Viertel von Rom und entdeckte mit Entzücken klassische Merkwürdigkeiten, die in allen Reiseführern verzeichnet stehen. So erzählte er ihnen eines Abends mit einer Art Zärtlichkeit von den bedeutendsten Plätzen der Stadt; er hatte sie anfangs banal gefunden, aber jetzt erschienen sie ihm sehr verschiedenartig, und jeder hätte seine tiefe Eigenart: die Piazza del Popolo, so sonnig, so edel in ihrer monumentalen Regelmäßigkeit – die Piazza di Spagna, der so lebhafte Zusammenkunftsort der Fremden mit ihrer von der Sommersonne vergoldeten, aus hundertzweiunddreißig Stufen bestehenden Doppeltreppe von riesiger Weite und Anmut – die große und immer von wimmelndem Volk erfüllte Piazza Colonna, die durch diese faule und sorglos hoffnungsvolle Menge, welche in Erwartung, daß das Glück ihr vom Himmel herabfallen werde, um die Marc Aurelsäule herumsteht und schlendert, am meisten italienisch aussieht – die lange, regelmäßige Piazza Navona, die vereinsamt ist, seit der Markt nicht mehr darauf stattfindet, und die schwermütige Erinnerung an ihr einstiges, lärmendes Leben bewahrt – die Piazza del Campo di Fiori, die jeden Morgen von dem lärmenden Treiben des Obst- und Gemüsemarktes erfüllt wird, mit einer wahren Pflanzung von großen Schirmen, mit den Haufen von Tomaten, spanischem Pfeffer, Trauben inmitten der kläffenden Flut von Händlerinnen und Hausfrauen. Am meisten überraschte ihn der Kapitolsplatz; er erweckte in ihm die Vorstellung von einem Gipfel, von einem offenen, die Stadt und die Welt beherrschenden Platz; und nun sah er, daß er klein, viereckig, von seinen drei Palästen eingeschlossen war und nur auf einer Seite auf einen kurzen, von Dächern begrenzten Horizont hinaus ging. Niemand geht hier vorüber; der Zugang erfolgt auf einer Aufgangsrampe, an deren Rande einige Palmen stehen, und nur die Fremden machen einen Umweg, um hierher zu fahren. Die Wagen warten und die Touristen machen einen Augenblick Halt, indem sie die Nase zu der in der Mitte stehenden wunderbaren antiken Bronzereiterstatue des Marc Aurel erheben. Gegen vier Uhr, wenn die Sonne den linken Palast vergoldet und die feinen Statuen des Simses sich von dem blauen Himmel abzeichnen, könnte man ihn mit seinen unter dem Portikus sitzenden und strickenden Frauen aus der Nachbarschaft, mit den Banden zerlumpter, wie eine ganze Schule auf einen Spielhof losgelassener Kinder, für einen lauen und stillen kleinen Provinzplatz halten.
Und wieder an einem andern Abend gab Pierre Benedetta und Dario seiner Bewunderung Ausdruck für die Springbrunnen von Rom, derjenigen Stadt der Welt, wo das Wasser am reichlichsten und prächtigsten aus Marmor und Bronze rauscht – von der »Barke« auf der Piazza di Spagna, dem Triton auf der Piazza Barbarini, den Schildkröten auf dem schmalen Platze, der nach ihnen seinen Namen führt, bis zu den drei Springbrunnen der Piazza Navona, in deren Mittelpunkt die ungeheure Schöpfung Berninis prangt – und insbesondere bis zu der gewaltigen Fontana de Trevi, die einen so prunkvollen Geschmack ausweist und von dem König Neptun, der zwischen den zwei hohen Gestalten der Gesundheit und Fruchtbarkeit steht, beherrscht wird. An einem andern Abende kam er glückselig nach Hause und erzählte ihnen, daß er sich endlich den seltsamen Eindruck erklärt habe, den die Straßen des alten Rom um das Kapitol herum und längs des Tiber – überall, wo altes Mauerwerk sich an die Flanken der großen fürstlichen Paläste klebte, auf ihn machte; das kam daher, weil sie kein Trottoir besaßen und weil die Fußgeher, ohne sich zu eilen, in der Mitte zwischen den Wagen schritten, ohne daß es ihnen je einfiel, zu beiden Seiten an den Häusern entlang zu gehen. Es waren alte Viertel, wie er sie liebte, endlose, sich windende Straßen, schmale, unregelmäßige Plätze, ungeheure, viereckige Paläste, die in der zusammengedrängten Menge der sie von allen Seiten überflutenden Häuser gleichsam verschwanden. Auch das Viertel am Esquilin war so: überall mit grauem Kies bedeckte Treppen, jede Stufe mit weißem Stein umsäumt, jäh sich windende Abhänge, über einander liegende Terrassen, Seminare und Klöster mit geschlossenen Fenstern gleich toten Häusern, eine große kahle Mauer, über der eine prächtige Palme in das fleckenlose Blau des Himmels ragt. Und wieder an einem andern Abend, nachdem er seinen Spaziergang noch weiter ausgedehnt hatte, bis in die Campagna, längs des Tiber, stromaufwärts von der Ponte Molle, kehrte er begeistert zurück, da er die Offenbarung einer klassischen Kunst gehabt hatte, wie er sie bisher noch nie genossen. Längs der Ufer hatte er lauter Passinis gesehen – der gelbe, langsam dahinfließende Fluß mit den rohrbewachsenen Ufern, niedrige, gezackte Felsenriffe, deren kreidiges Weiß sich von dem rötlichen Hintergrunde der ungeheuren, wellenförmigen, nur von den blauen Hügeln am Horizont begrenzten Ebene abhob, einige karge Bäume, auf der Höhe des Ufers die Ruine eines ins Leere gehenden Portikus und eine Reihe weißlicher Schafe, die zum Trinken herabstiegen, während der Schäfer, mit einer Schulter am Stamme einer Wintereiche lehnend, zusah. Es war eine besondere kühne und rauhe, aus nichts bestehende, bis zur geraden und flachen Linie vereinfachte und von großen Erinnerungen ganz veredelte Schönheit; immer noch marschirten die römischen Legionen über die gepflasterten Straßen quer durch die kahle Campagna, und immer noch war es der lange Schlaf des Mittelalters, dann das Erwachen der antiken Natur im katholischen Glauben, der aus Rom zum zweitenmale den Herrn der Welt gemacht hat.
Eines Tages, nachdem Pierre den Campo Verano, den großen römischen Friedhof, besucht hatte, traf er abends am Bette Darios Celia in Gesellschaft von Benedetta.
»Wie, Herr Abbé, es macht Ihnen ein Vergnügen, zu den Toten zu gehen?« rief die kleine Prinzessin.
»Ach, diese Franzosen, diese Franzosen,« fuhr Dario fort, dem der bloße Gedanke an einen Friedhof wehe that. »Sie verderben sich durch ihre Liebe zu traurigen Schauspielen absichtlich das Leben.«
»Aber man entgeht ja nicht der Wirklichkeit des Todes,« sagte Pierre sanft. »Das beste ist es, ihm ins Antlitz zu schauen.«
Der Fürst wurde mit einemmale böse.
»Wirklichkeit, Wirklichkeit! Wozu denn? Wenn die Wirklichkeit nicht schön ist, sehe ich sie nicht an. Ich bemühe mich, gar nicht an sie zu denken.«
Der Priester fuhr nichtsdestoweniger in seiner ruhigen und liebenswürdigen Art fort, zu erklären, was ihn so überrascht hatte: die Sauberkeit des Friedhofes, das festliche Aussehen, das die helle Herbstsonne ihm verlieh, die außerordentliche Marmorpracht, die auf den Gräbern verschwenderisch angebrachten Marmorstatuen, Marmorkapellen, Marmordenkmäler. Sicherlich war das die Wirkung des antiken Atavismus; die prunkvollen Mausoleen aus der Via Appia, ein Pomp, eine maßlose Hoffart noch im Tode sproßten hier wieder auf. Besonders auf der Höhe, wo der römische Adel sein aristokratisches Viertel hatte, befand sich ein Haufe von wahren Tempeln, von gewaltigen Figuren, von aus mehreren Personen bestehenden Gruppen; sie bewiesen manchmal einen beklagenswerten Geschmack, aber Millionen mußten dafür ausgegeben worden sein. Was sich aber zwischen dem Taxus und den Cypressen reizend ausnahm, das war die bewundernswerte Erhaltung, das unversehrte Weiß der Marmorfiguren. Die brennende Sommersonne vergoldete sie, und kein Moosfleck, keine jener vom Regen geschlagenen Narben waren an ihnen zu sehen, die die Statuen nordischer Länder so traurig machen.
Benedetta, die sich, von dem Unbehagen Darios angesteckt, schweigend verhielt, unterbrach Pierre zuletzt, indem sie zu Celia sagte:
»Die Jagd war also sehr interessant.«
In dem Augenblicke, als der Priester ins Zimmer getreten war, sprach die kleine Prinzessin von einer Fuchsjagd, zu der sie ihre Mutter mitgenommen hatte.
»O, Liebe, es kann gar nichts Interessanteres geben! ... Die Zusammenkunft war auf Mittag bestimmt, da unten beim Grabe der Cäcilia Metella. Dort war unter einem Zelt das Büffet aufgestellt worden. Und diese Menge Leute – die Fremdenkolonie, die jungen Leute von den Gesandtschaften, Offiziere, von uns anderen natürlich ganz abgesehen; alle Männer im roten Frack und sehr viele Frauen im Reitkleid ... Der Aufbruch war für ein Uhr bestimmt worden, und der Ritt hat mehr als zweieinhalb Stunden gedauert, so daß der Fuchs sich erst sehr, sehr weit fangen ließ. Ich konnte nicht mit, aber ich habe doch außerordentliche Dinge gesehen; eine große Mauer, über die die ganze Jagd setzen mußte, dann Gräben, Hecken, eine tolle Jagd hinter den Hunden her ... Es hat zwei Unfälle gegeben, nichts Bedeutendes; ein Herr hat sich die Hand verstaucht und ein anderer das Bein gebrochen.«
Dario hatte mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit zugehört, denn diese Fuchsjagden bildeten das größte Vergnügen der Römer. Welche Freude war die Galoppade durch diese römische, so flache und dennoch mit Hindernissen bestreute Campagna, das Vereiteln der Listen des von den Hunden aufgespürten Fuchses, seine fortwährenden Abschwenkungen, sein zeitweises plötzliches Verschwinden und endlich sein Einfangen, sobald er, von Ermüdung erschöpft, niederfällt. Und es sind Jagden ohne Gewehr, Jagden, bei denen das einzige Vergnügen darin besteht, dem Schweif des Tieres nachzulaufen, ihm zuvorzukommen und es zu besiegen.
»Ach, wie dumm ist es, so an dieses Zimmer angenagelt zu sein,« sagte er verzweifelt. »Ich werde zuletzt noch vor Langeweile sterben.«
Benedetta begnügte sich, zu lächeln, ohne einen Vorwurf oder Betrübnis über diesen naiven Aufschrei der Selbstsucht zu äußern. Und sie war so glücklich, ihn in diesem Zimmer, wo sie ihn pflegte, ganz für sich zu haben! Aber ihre Liebe, die so jung und gleichzeitig so weise war, enthielt auch eine Spur von Mütterlichkeit; sie begriff vollkommen, daß er sich nicht unterhielt, da er, seiner gewohnten Vergnügungen beraubt, von seinen Freunden getrennt war, denen er aus Furcht, daß die Geschichte von der ausgerenkten Schulter ihnen verdächtig erscheinen könne, aus dem Wege ging. Keine Feste, keine Theaterabende, keine Besuche bei Damen mehr! Insbesondere aber fehlte ihm der Corso; es machte ihn geradezu krank, geradezu verzweifelt, nichts mehr sehen noch erfahren zu können, weil er nicht ganz Rom von vier bis fünf Uhr an sich vorüberziehen sah. Wenn daher ein Vertrauter kam, begannen sofort endlose Fragen: ob man dem begegnet, ob jener andere wieder erschienen sei, wie die Liebschaft eines dritten geendet habe, und ob irgend ein neues Abenteuer die Stadt nicht aufrege – lauter nichtige Geschichten, gewöhnlicher Tagesklatsch, kindische, flüchtige Intriguen, in denen er bisher alle seine Manneskraft ausgegeben hatte.
Celia, die ihm gerne unschuldiges Geschwätz zutrug, fuhr nach einer Pause fort, indem sie ihre reinen Augen, ihre grundlosen, rätselhaften Jungfrauenaugen auf ihn richtete:
»Wie lange es dauert, bis solch eine Schulter wieder gut wird!«
Hatte dieses Kind, dessen einzige Sorge die Liebe war, also erraten? Dario blickte befangen Benedetta an, die mit ruhiger Miene bloß lächelte. Aber die kleine Prinzessin sprang bereits auf einen andern Gegenstand über.
»Ach, wissen Sie, Dario, ich sah gestern am Korso eine Dame –«
Sie hielt verlegen inne, denn sie war selbst überrascht, daß diese Nachricht ihr entschlüpfte. Dann aber fuhr sie in ihrer Eigenschaft als Jugendfreundin, die in die kleinen Liebesgeheimnisse eingeweiht war, tapfer fort:
»Ja, eine hübsche Dame, die Sie gut kennen. Sie trug trotzdem einen Strauß weißer Rosen in der Hand.«
Diesmal ließ Benedetta ihrer Heiterkeit freien Lauf, während Dario sie ebenfalls lachend anblickte. Sie hatte ihn in den ersten Tagen damit geneckt, daß eine gewisse Dame sich nicht nach ihm erkundigen lasse. Er war im Grunde über diesen ganz natürlichen Bruch nicht böse, denn das Verhältnis begann lästig zu werden, und wenn auch seine Eitelkeit als hübscher Mann ein wenig verletzt ward, vernahm er mit Befriedigung, daß Tonietta ihn bereits ersetzt hatte.
»Ach, die Abwesenden haben immer unrecht.« war alles, was er sagte.
»Der Mann, den man liebt, ist nie abwesend,« erklärte Celia mit ihrer ernsten und reinen Miene.
Aber Benedetta hatte sich erhoben, um die Kissen hinter dem Rücken des Genesenden wieder hinaufzuziehen.
»Laß, laß, mein Dario, all dieses Elend hat ein Ende. Ich werde Dich behalten. Du wirst niemand mehr zu lieben haben als mich.«
Er betrachtete sie voll Leidenschaft und küßte sie aufs Haar, denn sie hatte die Wahrheit gesagt, er hatte nie eine andere geliebt als sie; und sie täuschte sich ebensowenig, wenn sie darauf rechnete, ihn immer für sich zu behalten, sobald sie sich ihm einmal gegeben haben würde. Seit sie ihn in diesem Zimmer pflegte, erkannte sie voll Freude das Kind in ihm wieder, so wie sie es einst unter den Orangenbäumen der Villa Montefiori geliebt hatte. Zweifellos infolge der Verschlechterung seiner Rasse bewahrte er eine seltsame Kindlichkeit; es war jene Art Rückkehr zur Kindheit, die man bei sehr alten Völkern bemerkt. Er spielte in seinem Bette mit Bildern und betrachtete stundenlang Photographien, die ihn zum Lachen brachten. Seine Unfähigkeit, zu leiden, war noch gewachsen; er verlangte, daß sie lustig sei und singe, und unterhielt sie durch die Liebenswürdigkeit seiner Selbstsucht, die ihn bewog, mit ihr von einem Leben steter Freuden zu träumen. Ach, wie schön würde das sein, stets mit einander im Sonnenschein zu leben, nichts zu thun und sich um nichts zu sorgen, mochte auch die Welt irgendwo zusammenbrechen, ohne daß man sich die Mühe gab, hin zu gehen, um es sich anzusehen!
»Was mich aber freut, ist, daß der Herr Abbé sich zuletzt in Rom verliebt hat,« hob Dario plötzlich an.
Pierre, der schweigend zugehört hatte, stimmte gerne zu.
»Das ist wahr.«
»Wir haben es Ihnen ja gesagt,« ließ sich Benedetta vernehmen. »Um Rom zu verstehen und zu lieben, braucht es Zeit, viel Zeit. Wenn Sie nur vierzehn Tage geblieben wären, würden Sie eine beklagenswerte Meinung von uns mitgenommen haben; jetzt aber, am Ende von zwei langen Monaten, sind wir ganz ruhig; nie mehr werden Sie ohne Zärtlichkeit an uns denken.«
Sie war bezaubernd und entzückend, während sie das sagte, und er verbeugte sich abermals. Aber er hatte über das Phänomen bereits nachgedacht und glaubte seine Lösung zu besitzen. Wenn man nach Rom kommt, bringt man ein eigenes Rom mit, ein getrimmtes, von der Einbildungskraft derart veredeltes Rom, daß das wirkliche Rom die schlimmste Enttäuschung bietet. Man muß daher, um der Einbildungskraft Zeit zu geben, abermals zu arbeiten, die Dinge, so wie sie sind, nur noch durch die wunderbare Pracht der Vergangenheit sehen, abwarten, bis die Gewohnheit entsteht, bis die mittelmäßige Wirklichkeit sich mildert.
Celia hatte sich erhoben und verabschiedete sich.
»Auf Wiedersehen, Liebe. Und die Hochzeit wird bald sein, nicht wahr, Dario? ... Ihr wißt, ich will vor Ende des Monats Braut sein. Ja, ja, ich werde meinen Vater schon zwingen, eine große Soirée zu geben ... Ach, wie schön würde das sein, wenn die beiden Hochzeiten zugleich sein könnten.«
Es war zwei Tage später, als Pierre nach einem großen Spaziergang durch Trastevere, dem ein Besuch im Palazzo Farnese gefolgt war, fühlte, wie ihm die schreckliche und schwermütige Wahrheit über Rom aufging. Bereits mehrmals hatte er Trastevere durchwandert, dessen elende Bevölkerung seine betrübte Liebe zu den Armen und Leidenden anzog. Ach, diese Kloake des Elends und der Unwissenheit! Er hatte in Paris abscheuliche Vorstadtwinkel, ganze Häuserreihen des Grauens gesehen, wo die Menschheit haufenweise faulte. Aber nichts reichte annähernd an diese Stockung in der Sorglosigkeit und im Schmutz. An den schönsten Tagen dieses sonnigen Landes ließ ein feuchtes Dunkel die gewundenen, zusammengepreßten, kellerähnlichen Gäßchen erstarren; vor allem aber war der Geruch schrecklich, ein ekelhafter Geruch, der den Vorübergehenden den Hals zusammenschnürte, der von sauren Gemüsen, ranzigem Oel, dem menschlichen Vieh herrührte, das da zwischen seinem Mist eingepfercht war. Da gab es unregelmäßige, alte Gemäuer in dem geliebten Durcheinander romantischer Künstler, mit dunklen, gähnenden Thoren, die unter die Erde versanken, äußere Treppen, die zu den Stockwerken aufstiegen, Holzbalkone, die wie durch ein Wunder im leeren Raume im Gleichgewicht erhalten wurden. Da gab es halb zusammengebrochene Fassaden, die man mit Hilfe von Balken hatte stützen müssen, unsaubere Wohnungen, deren geborstene Fenster den nackten Schmutz sehen ließen, geringe Kramladen und die ganze, im Freien befindliche Küche eines faulen Volkes, das kein Feuer anzündete, die Bratköche mit ihren in stinkendem Oel herumschwimmenden Polentastücken und Fischen, die Händler mit gekochten Gemüsen, die kalt gewordene und klebrige, ungeheure Steckrüben, Bündel Sellerie, Blumenkohl und Spinat ausstellten. Das schlecht geschnittene Fleisch in den Fleischerläden sah schwarz aus; Tierhälse waren mit Blutklümpchen besetzt und sahen wie ausgerissen aus. Die Brote der Bäcker waren wie runde Pflastersteine auf ein Brett aufgehäuft; arme Obstverkäuferinnen stellten vor ihren, mit getrockneten und aufgereihten Tomaten bekränzten Thüren nur spanischen Pfeffer und Pinienäpfel aus. Die einzigen lockenden Buden waren die der Delikatessenhändler mit ihrem Pökelfleisch und ihren Käsen, deren scharfer Geruch den Gestank der Gassen ein wenig milderte. Lotteriestellen, wo die Gewinnnummern angeschlagen waren, wechselten mit Schenken; alle dreißig Schritte kam eine Schenke, auf der mit großen Buchstaben stand, daß hier die erlesenen Weine der römischen Schlösser, Genzano, Marino, Frascati zu haben wären. Und das ganze Viertel wimmelte von einer zerlumpten, von Schmutz schwarzen Bevölkerung, von Banden halbnackter Kinder, die von Ungeziefer verzehrt wurden, von gestikulirenden und schreienden Frauen mit offenen Haaren, in Nachtjacken, in vor Fett steifen Unterröcken, von Greisen, die unter dem Schwarm von Mücken, die sie verzehrten, unbeweglich auf Bänken saßen. Es war ein müßiges und bewegtes Leben inmitten des fortwährenden Kommens und Gehens kleiner Esel, die Karren zogen, von Männern, die Truthähne mittelst Fauststößen trieben, von unruhigen Touristen, über die sich sofort ganze Banden von Bettlern stürzten. Schuhflicker ließen sich ruhig arbeitend auf dem Trottoir nieder; vor der Thür eines kleinen Schneiders hing ein alter, mit Erde gefüllter Eimer, in dem eine Fettpflanze blühte. Und vor allen Fenstern, von allen Ballonen hingen auf Stricken, die von einem Hause zum andern, quer über die Straße, gespannt waren, Wäschestücke, namenlose Lumpen, die gleichsam die symbolischen Fahnen des abscheulichen Elends waren.
Pierre fühlte, wie seine brüderliche Seele sich in unendlichem Mitleid auflehnte. Ja, gewiß, man mußte sie niederreißen, diese kranken, verpesteten Viertel, wo das Volk so lange wie in einem vergifteten Kerker gehockt hatte! Ja, er war für die Gesundung, für die Niederreißung, mochte auch das alte Rom zum großen Aergernis der Künstler getötet werden. Trastevere war schon sehr verändert; neue Straßen rissen Luftlöcher hinein, die man mittelst der Haue geschafft hatte und durch die das Sonnenlicht in breiten Streifen eindrang. Was davon übrig blieb, schien inmitten dieser niedergerissenen Häuser, dieser kürzlich entstandenen Löcher, der großen, unbestimmten Flächen, ans denen man noch nicht hatte bauen können, noch schwärzer, noch unsauberer zu sein. Diese in Entwicklung begriffene Stadt interessirte ihn unendlich. Später würde man ohne Zweifel den Wiederaufbau beenden; aber was für eine anziehende Zeit war es, da die alte Stadt in der neuen inmitten so vieler Schwierigkeiten mit dem Tode rang! Man hätte das unsaubere, unter Ausleerungen, Spülwasser und Gemüseabfällen versunkene Rom kennen müssen. Das jüngst geschleifte Ghetto hatte seit Jahrhunderten den Boden mit einer solchen menschlichen Fäulnis getränkt, daß der noch kahle Bauplatz, der voll von Höckern und Morastlöchern war, noch immer einen schändlichen Pestgeruch ausströmte. Man that sehr wohl daran, ihn noch lange so trocknen und sich in der Sonne reinigen zu lassen. In allen diesen Vierteln zu beiden Seiten des Tibers, wo bedeutende städtische Arbeiten unternommen worden waren, trifft man bei jedem Schritt auf ein und dasselbe: man durchschreitet eine enge, stinkende, eisig feuchte Straße zwischen düsteren Häuserreihen mit Dächern, die sich beinahe berühren, und gerät plötzlich in eine Lichtung, die mittelst der Haue in den Wald der alten, aussätzigen Gemäuer geschlagen wurde. Es gibt da Squares, breite Bürgerstege, hohe, weiße, mit Skulpturen bedeckte Gebäude – alles im Rohzustand, unvollendet, mit Schutt angefüllt, mit Pfahlwerk verrammelt. Ueberall sieht man die Spuren geplanter Straßen; es ist ein gewaltiger Zimmerplatz, den die Finanzkrise jetzt zu verewigen droht; die Stadt von morgen ist in ihrem Wachstum aufgehalten und bleibt mit ihren maßlosen, übereilten und nun nicht harmonirenden Anfängen in ihrer Not da stehen. Aber es war nichtsdestoweniger eine gute und gesunde Arbeit, die für die große und moderne Stadt eine unbedingte soziale Notwendigkeit war, wofern man das alte Rom nicht an Ort und Stelle verfaulen lassen wollte, wie eine Merkwürdigkeit aus alter Zeit, ein Museumsstück, das man unter Glas aufbewahrt.
An diesem Tage machte Pierre, während er sich von Trastevere nach dem Palazzo Farnese begab, wo er erwartet wurde, einen Umweg. Er ging durch die Via de Pettinari, dann durch die Via de Giubonari, von denen die erstere so düster und zwischen der großen Mauer des Hospitals und den elenden Häusern gegenüber so eingekeilt ist, während die zweite durch die fortwährende Volksflut so belebt und von den Schaufenstern der Juweliere mit den dicken Goldketten, von den Auslagen der Stoffhändler, wo ungeheure blaue, gelbe, grüne, rote Stoffbahnen in glänzenden Tönen herabfluten, so aufgefrischt wird. Das Arbeiterviertel, das er eben durchschritten hatte, dieses Kleinkrämerviertel, das er eben durchschritt, beschwor in seinem Geiste die schrecklichen, elenden Viertel herauf, die er bereits besucht hatte – beschwor die erbarmungswürdige Masse der heruntergekommenen, durch den Ausstand zur Bettelei gezwungenen Arbeiter herauf, die in den prächtigen, verlassenen Gebäuden auf den Prati del Castello kampirten. Ach, das arme, das unglückliche, Kind gebliebene Volk, das von Jahrhunderten der Theokratie in der Unwissenheit, in der Gläubigkeit von Wilden erhalten wurde, das an die Nacht seines Geistes, an die Leiden seines Körpers so gewohnt ist, daß es trotz allem heute dem sozialen Erwachen ferne bleibt und glücklich ist, wenn man es in Frieden seinen Stolz, seine Faulheit, seine Sonne genießen läßt! Es schien in seinem Verfalle blind und taub zu sein; es setzte sein stockendes Leben von einst inmitten der Umwälzungen des neuen Roms fort, ohne etwas anderes als Aerger zu empfinden, weil die alten Viertel, in denen es wohnte, niedergeschlagen, die Gewohnheiten verändert, die Lebensmittel teurer geworden waren. Es war, als ob die Helle, die Reinlichkeit, die Gesundheit ihm lästig fielen, da man sie mit einer großen Arbeits- und Finanzkrise bezahlen mußte. Trotzdem, ob es nun mit Absicht geschehen war oder nicht, wurde Rom im Grunde einzig und allein für das Volk gereinigt und in der Absicht, eine große, moderne Hauptstadt daraus zu machen, neu gebaut; denn am Ende dieser Verwandlungen ist die Demokratie; das Volk wird es sein, das morgen diese Städte erben wird, aus denen man Schmutz und Krankheit verjagt, wo das Gesetz der Arbeit sich zuletzt einrichten und das Elend töten wird. Und darum muß man sich, wenn man die sorgfältig gekehrten, philiströs gehaltenen Ruinen, das Kolosseum verflucht, das von seinem Epheu, seinen Sträuchern, seiner wilden Flora befreit wurde, die die jungen Engländerinnen ins Herbarium legten, wenn man sich über die schrecklichen Festungsmauern ärgert, die den Tiber einkerkern, wenn man die ehemaligen, so romantischen Ufer mit ihrem Grün und ihren alten ins Wasser tauchenden Häusern beweint, doch sagen, daß das Leben aus dem Tode entspringt, und daß das Morgen notgedrungen aus dem Staube der Vergangenheit aufblühen muß.
Während Pierre an diese Dinge dachte, war er auf der einsamen, regelmäßigen Piazza Farnese mit ihren geschlossenen Häusern und ihren zwei Springbrunnen angelangt, von denen der eine mitten in der Sonne, inmitten der großen Stille endlos einen Strahl von Perlen herabfallen ließ. Er betrachtete einen Augenblick die monumentale Fassade des schweren, viereckigen Palastes, das hohe Thor, wo die trikolore Fahne flatterte, die dreizehn Fenster der Fassade, den berühmten Fries, der eine so wunderbare Kunst aufweist. Dann trat er ein. Ein Freund von Narcisse Habert, einer der Attachés der Botschaft beim König von Italien, erwartete ihn, da er sich erboten hatte, ihm den ungeheuren Palast, den schönsten Palast von Rom, zu zeigen, den Frankreich gemietet hat, um seinen Botschafter darin unterzubringen. Ach, dieses gewaltige, prunkvolle und traurige Haus mit seinem großen, feuchtdunklen, von einem Portikus umgebenen Hof, seiner Riesentreppe mit den niedrigen Stufen, seinen endlosen Gängen, seinen übergroßen Galerien und Sälen! Es war der majestätische Pomp des Todes; eine eisige Kälte wehte von den Mauern aus und drang den menschlichen Ameisen, die sich unter die Gewölbe wagten, bis in die Knochen. Der Attaché gestand mit diskretem Lächeln, daß die Botschaft sich darin zum Sterben langweilte; im Sommer wurde sie gebraten, im Winter zu Eis erstarrt. Nur der vom Botschafter bewohnte Teil, das erste auf den Tiber gehende Stockwerk, war etwas lebhafter und lustiger. Dort, von der berühmten Galerie der Carracci aus, sieht man den Janiculus, die Corsinigärten, die Aqua Paola über S. Pietro in Montorio. Dann kommt nach einem riesig großen Salon das Arbeitszimmer, in dem ein stiller, von der Sonne belebter Frieden herrscht. Aber der Speisesaal, das Wohnzimmer, die übrigen vom Personal bewohnten Säle versinken wieder in das düstere Dunkel einer Seitenstraße. Alle diese großen, sieben bis acht Meter hohen Räume besitzen bewundernswerte, gemalte oder gemeißelte Decken, kahle Mauern, von denen einige mit Fresken geschmückt sind, verschiedenartige Möbel, prächtige Pfeilertische, gemischt mit allerlei modernem Kram. Der traurige Anblick verwandelt sich aber in einen abscheulichen, sobald man in die Galaräume, in die großen Ehrenzimmer kommt, die die auf den Platz hinaus gehende Fassade einnehmen. Hier ist kein einziges Möbelstück, keine Tapete mehr zu sehen, nichts als Zerrüttung, verlassene, den Spinnen und Ratten ausgelieferte Prachtsäle. Die Botschaft benützt nur einen, in dem sie auf Tischen aus weichem Holz, auf der Erde, in allen Winkeln ihre staubigen Archive unterbringt. Daneben befindet sich der ungeheure, achtzehn Meter hohe, durch zwei Stockwerke gehende Saal, den der Eigentümer, der ehemalige König von Neapel, sich zurückbehalten hat; es ist eine wahre Rumpelkammer, wo Anlagen, unvollendete Statuen und ein sehr schöner Sarkophag unter einem unsagbaren Haufen von Trümmern aller Art herumstehen. Das ist aber nur ein Teil des Palastes; das Erdgeschoß ist vollständig unbewohnt; unsere Ecole de Rom nimmt einen Winkel des zweiten Stockwerkes ein, während unsere Botschaft sich frierend in die bewohnbarste Ecke des ersten Stockwerkes drückt. Sie ist gezwungen, alles übrige stehen zu lassen und die Thüren doppelt zu schließen, um der unnützen Mühe des Auskehrens zu entgehen. Es ist freilich etwas Herrliches, in dem vom Papst Paul III. erbauten und mehr als ein Jahrhundert ohne Unterbrechung von Kardinälen bewohnten Palazzo Farnese zu wohnen; aber welch grausame Unbequemlichkeit, welch furchtbare Schwermut herrscht in dieser ungeheuren Ruine! Drei Viertel der Räume sind tot, nutzlos, unbewohnbar, vom Leben abgeschnitten. Und abends, o abends! Dann werden das Thor, der Hof, die Treppe, die Korridore von dichten Schatten überflutet; die wenigen rauchigen Gashähne kämpfen vergeblich, und um in den warmen, gefälligen Salon des Botschafters zu gelangen, bedarf es einer endlosen Reise durch diese düstere Steinwüste!
Pierre verließ den Palast betroffen; in seinem Gehirn brauste es. Und auch alle anderen Paläste, alle großen römischen Paläste, die er während seiner Spaziergänge gesehen hatte, stiegen in seinem Gedächtnis auf; alle waren ihrer Pracht beraubt, der einstige fürstliche Hofstaat war verschwunden, alle waren zu bloßen unbequemen Zinshäusern herabgesunken. Was soll man heute mit diesen Galerien, mit diesen großartigen Sälen anfangen, da kein Vermögen genügt, um darin das prunkvolle Leben zu führen, für das sie erbaut wurden, nicht einmal um die Dienerschaft zu ernähren, die für ihre Erhaltung notwendig ist. Fürsten, die wie der Fürst Aldobrandini mit seiner zahlreichen Nachkommenschaft den Palast allein bewohnten, waren selten. Fast sämtliche vermieteten die alten Behausungen der Ahnen an Gesellschaften, an Private, indem sie sich ein Stockwerk, manchmal sogar nur eine einfache Wohnung in dem geringsten Winkel zurückbehielten. Der Palazzo Chigi war vermietet: das Erdgeschoß an Banken, der erste Stock an den österreichischen Botschafter, während der Fürst und seine Familie sich mit einem Kardinal in das zweite Stockwerk teilten. Der Palazzo Schiarra war vermietet: der erste Stock an den Minister des Auswärtigen, der zweite an einen Senator, während der Fürst und seine Mutter nur das Erdgeschoß bewohnten. Der Palazzo Barberini war vermietet: das Erdgeschoß, der erste und zweite Stock an Familien, während der Fürst im dritten, in den ehemaligen Bedientenzimmern wohnte. Der Palazzo Borghese ist vermietet: das Erdgeschoß an einen Antiquitätenhändler, der erste Stock an eine Freimaurerloge, alle übrigen an Familien, während der Fürst nur die paar Zimmer einer kleinen bürgerlichen Wohnung für sich behalten hat. Der Palazzo Odescalchi ist vermietet, der Palazzo Colonna ist vermietet, der Palazzo Doria ist vermietet, und die Fürsten führen darin nur noch das beschränkte Leben guter Hauseigentümer, indem sie aus ihren Grundstücken den größtmöglichen Nutzen ziehen, um auskommen zu können. Das kam daher, weil ein zerstörender Wind über das römische Patriziat strich; die größten Vermögen waren eben in der Finanzkrise zusammengebrochen, und sehr wenige blieben reich. Und was für ein Reichtum war das! Ein unbeweglicher, toter Reichtum, den weder Handel noch Industrie erneuern konnten. Die zahlreichen Fürsten, die sich in Geschäften versucht hatten, waren zu Grunde gerichtet. Den anderen, die dadurch abgeschreckt und außerdem mit ungeheuren Steuern belastet waren, die ihnen ein Drittel ihrer Einkünfte fortnahmen, blieb fortan nichts übrig, als abwartend zuzusehen, wie ihre letzten stille stehenden Millionen sich an Ort und Stelle erschöpften, durch Teilungen zerstückelt wurden und starben, wie eben das Geld gleich allem anderen stirbt, wenn es nicht mehr in einer lebenden Erde Früchte trägt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, denn der endgiltige Ruin war unheilbar, ein unbedingtes, historisches Verhängnis. Diejenigen, die sich in das Vermieten ergaben, kämpften noch um das Leben, trachteten sich der gegenwärtigen Epoche anzubequemen, indem sie sich bemühten, wenigstens die Einsamkeit ihrer allzu großen Paläste zu bevölkern; bei den anderen hingegen, bei den Störrischen und Stolzen, die sich in dem Grabe ihrer Rasse einmauerten, wohnte bereits der Tod. So war es in dem schrecklichen, zu Staub zerfallenden, in Dunkel und Schweigen erstarrten Palazzo Boccanera, wo nichts zu hören war als von Zeit zu Zeit die dumpfe, über das Gras des Hofes rollende, alte Karosse des ausfahrenden oder zurückkehrenden Kardinals.
Pierre aber machten besonders diese zwei auf einander folgenden Besuche in Trastevere und im Palazzo Farnese betroffen; der eine erhellte den andern, und beide fühlten zu einem Schlusse, der sich bisher noch nie mit einer so erschreckenden Deutlichkeit in ihm gebildet hatte: es gab noch kein Volk und bald würde es keine Aristokratie mehr geben. Das verfolgte ihn fortan, als sei es das Ende einer Welt. Das Volk, von der Geschichte und dem Klima in einer langen Kindheit erhalten, war, wie er gesehen hatte, so elend, so unwissend und ergeben, daß lange Jahre der Erziehung und des Unterrichts notwendig waren, damit es eine starke, gesunde, thätige, ihrer Rechte wie ihrer Pflichten bewußte Demokratie bilden konnte. Die Aristokratie starb gänzlich im Hintergrunde ihrer zusammenbrechenden Paläste; sie war nur noch eine erschöpfte, entartete Rasse und außerdem mit amerikanischem, österreichischem, polnischem, spanischem Blut so gemischt, daß das reine römische Blut eine seltene Ausnahme bildete – abgesehen davon, daß sie aufgehört hatte, im Kriegsdienste und im Dienste der Kirche zu stehen. Es widerstrebte ihr, dem konstitutionellen Italien zu dienen, und sie ließ das heilige Kollegium im Stiche, wo nur noch die Emporkömmlinge sich mit dem Purpur bekleideten. Und zwischen den Kleinen unten und den Mächtigen oben existirte noch nicht ein fest begründetes, durch einen neuen Saft starkes Bürgertum, das weise und unterrichtet genug gewesen wäre, um der Uebergangserzieher der Nation zu sein. Das Bürgertum bestand noch aus den ehemaligen Bedienten, den ehemaligen Schützlingen der Fürsten, den Pächtern, die ihre Güter pachteten, den Verwaltern, Notaren und Advokaten, die ihr Vermögen verwalteten; es bestand aus den Angestellten, den Beamten jeden Ranges und aller Klassen, den Deputirten, den Senatoren, die die Regierung aus den Provinzen hergeführt hatte; und endlich bestand es aus dem Schwarm gefräßiger Falken, die sich auf Rom herabstürzten, den Pradas, den aus dem ganzen Königreiche zusammengekommenen Raubvögeln, deren Krallen und Schnäbel alles, das Volk wie die Aristokratie verschlangen. Für wen also hatte man gearbeitet? Wem gehörten die Riesenbauten des neuen Rom, die von so maßloser Hoffnung und Hoffart waren, daß man sie nicht beenden konnte? Ueber Rom wehte ein Schreckenshauch; ein Krachen ließ sich hören, das in allen brüderlichen Herzen Unruhe und Thränen erweckte. Ja, das Ende einer Welt drohte: das Volk war noch nicht, die Aristokratie nicht mehr vorhanden, nur ein gefräßiges Bürgertum, das die Beute zwischen den Ruinen suchte. Und was für ein furchtbares Symbol waren diese neuen Paläste, die man nach dem riesigen Vorbilde der einstigen Paläste gebaut hatte! Der wachsende Reichtum, der triumphirende Luxus der neuen Hauptstadt der Welt sollte sich in diesen ungeheuren, prunkvollen, für Hunderttausende von vergeblich erhofften Seelen wuchernden Palästen niederlassen und nun waren sie der klägliche, besudelte und bereits wankende Zufluchtsort des niedrigsten Elends des Volles, aller Bettler und aller Landstreicher geworden!
Am Abende dieses Tages ging Pierre, als es schon dunkle Nacht geworden war, auf den Tiberquai vor dem Palazzo Boccanera, um dort eine Stunde zu verbringen. Das war eine Sammlung, eine außerordentliche Einsamkeit, die er sehr liebte, trotzdem Viktorine behauptete, daß die Gegend nicht sicher sei. Und in der That, in so tintenschwarzen Nächten, wie es diese war, hat keine Mördergrube jemals eine tragischere Umgebung gehabt. Keine Menschenseele, kein Vorübergehender zu sehen; rechts, links, gegenüber Stille, Dunkel, Leere. Die Palissaden, die den ungeheuren, verlassenen Zimmerplatz überall einschlossen, versperrten sogar den Hunden den Durchgang. An der Ecke des im Dunkel versunkenen Palastes erhellte ein Gashahn, der seit der Aufschüttung tiefer zu liegen gekommen war, den höckerigen Quai gleich an der Erde mit trübem Licht; die umherliegenden Materialien, die Haufen von Ziegeln und Hausteinen bildeten große, unbestimmte Schatten. Rechts glänzten auf der Ponte S. Giovanni di Fiorentini und in den Fenstern des Heiligengeisthospitals einige Lichter. Links, in dem unbestimmten Hintergrunde des Flußlaufes, versanken und verschwanden die fernen Viertel. Gegenüber lag Trastevere; die Häuser an dem steilen Ufer, wo nur wenige Scheiben durch einen trüben Schein gelb beleuchtet waren, nahmen sich wie blasse, undeutliche Phantome aus. Darüber hinaus hingegen bezeichnete nur ein dunkler Streifen den Janiculus, wo ganz oben die Laternen irgend einer Promenade ein Dreieck von Sternen aufblitzen ließen. Aber besonders der Tiber zog Pierre lebhaft an, denn er war zu dieser nächtlichen Stunde von einer schwarzen Majestät. Er blieb an der Steinbrüstung angelehnt stehen und sah lange Minuten zu, wie er zwischen den neuen Mauern dahinfloß, die des Nachts das schwarze, ungeheuerliche Aussehen eines für einen Riesen erbauten Gefängnisses annahmen. So lange in den Häusern gegenüber Lichter glänzten, konnte er sehen, wie die schweren Wassermassen vorüber zogen und langsam in den Reflexen schillerten, deren Schauer ihnen ein geheimnisvolles Leben verlieh. Er träumte endlos von der ganzen berühmten Vergangenheit dieses Flusses und beschwor oft die Legende herauf, die behauptet, daß fabelhafte Reichtümer im Kote seines Bettes vergraben sind. Bei jedem Einfall der Barbaren und besonders bei der Plünderung Roms sollen die Schätze der Tempel und Paläste hineingeworfen worden sein, um sie den Siegern zu entziehen. Diese Goldbarren, die da unten in dem undurchsichtigen Wasser zitterten – war das nicht der siebenarmige Leuchter, den Titus aus Jerusalem mitgebracht hatte? Und diese weißlichen Formen – waren das nicht Säulen und Statuen? Und dieser tiefe Wasserglanz – war das nicht ein Haufe von kostbaren Bechern, Vasen, von edelsteingeschmückten Kleinodien? Welch ein Traum war dieses verborgene Leben dieser Schätze, die dort viele Jahrhunderte schlafen sollten! Und was für eine Hoffnung auf Bereicherung und Unterstützung eines Volkes waren die wunderbaren Funde, die man im Tiber machen würde, wenn man ihn eines Tages austrocknen und durchstöbern könnte! Vielleicht lag hier das Glück Roms.
Aber in dieser tiefdunklen Nacht dachte Pierre, während er am Geländer lehnte, nur an die strenge Wirklichkeit. Er setzte seine Betrachtungen vom Tage fort und gelangte angesichts dieses toten Wassers zu dem Schlusse, daß das große Unglück, an dem das junge Italien litt, darin bestand, daß man Rom zur modernen Hauptstadt gewählt hatte. Diese Wahl war unvermeidlich, da die Stadt Rom die alte Herrin der Welt war, der die Ewigkeit verheißen wurde, ohne die die nationale Einheit stets unmöglich erschienen war. Die Entscheidung war daher schrecklich; denn ohne Rom konnte Italien nicht sein, und mit Rom schien es jetzt schwer eins zu werden. Ach, was für eine unheilvolle Stimme hatte dieser tote Fluß des Nachts! Kein Boot war sichtbar, kein Schauer der Handels- und Industriethätigkeit jener Gewässer, die dem Herzen großer Städte Leben zuführen! Zweifellos hatte man Pläne von Riesenarbeiten entworfen; Rom sollte Seehafen, das Flußbett so tief gegraben werden, daß große Schiffe bis zum Aventin gelangen könnten. Aber das waren nur Chimären. Und die andere Ursache der Agonie, die römische Campagna, die Todeswüste, die der tote Strom durchzog und Rom mit einem unfruchtbaren Gürtel umgab? Man sprach wohl davon, sie zu drainiren, sie zu bepflanzen und stritt vergeblich über die Frage, ob sie unter den Römern fruchtbar gewesen; Rom blieb nichtsdestoweniger inmitten seines riesigen Kirchhofes liegen, wie eine Stadt von einst, die durch diese Steppe für ewig von der modernen Welt getrennt ist. Die geographischen Ursachen, die ihm einst die Herrschaft über die bekannte Welt gaben, existiren heutzutage nicht mehr. Der Mittelpunkt der Zivilisation ist abermals verrückt worden; mächtige Nationen haben sich in das Mittelmeer geteilt. Alles führt nach Mailand, der Stadt des Handels und der Industrie, während Rom fortan nur ein Durchgangsort ist. Auch vermochten die heldenmütigsten Anstrengungen seit fünfundzwanzig Jahren es nicht aus seinem unbesiegbaren Schlafe zu reißen. Die Hauptstadt, die man allzu rasch aus dem Stegreif schaffen wollte, ist in Not stehen geblieben und hat beinahe die Nation zu Grunde gerichtet. Die Neugekommenen, die Regierung, die Kammern, die Beamten schlagen hier nur ein Lager auf und fliehen bei der ersten Hitze, um das tödliche Klima zu vermeiden; das geschieht in einem solchen Maße, daß die Hotels und die Geschäfte geschlossen werden, daß die Straßen und Promenaden sich leeren, da die Stadt kein wirkliches Leben erworben hat und in den Tod zurücksinkt, sobald ihr künstliches Leben sie verläßt. So harrt denn alles in dieser bloßen Zierhauptstadt, wo die Bevölkerung heute weder zu- noch abnimmt, wo es eines neuen Triebes von Geld und Menschen bedürfte, um die ungeheuren, nutzlosen Gebäude der neuen Viertel zu vollenden und zu bevölkern. Und wenn es wahr ist, daß das Morgen stets aus dem Staube der Vergangenheit wieder aufblühen wird, mußte man sich ja zur Hoffnung zwingen. Aber war dieser Boden nicht erschöpft? War der Saft, der gesunde Wesen, starke Nationen schafft, hier nicht auf immer versiegt?
Je mehr die Nacht vorrückte, erloschen die Lichter in dem gegenüber liegenden Trastevere. Pierre, von Verzweiflung ergriffen, beugte sich noch lange über die schwarzen Wasser. Die Nacht war grundlos; in der tiefen Finsternis auf dem Janiculus blieb nichts übrig als die drei fernen Gashähne, das Sternendreieck. Kein Widerschein streifte mehr den Tiber mit einem Goldschauer; kein Widerschein ließ mehr die tragische Vision der fabelhaften Reichtümer unter seiner geheimnisvollen Strömung tanzen; es war nun aus mit der Legende, mit dem goldenen, siebenarmigen Leuchter, den goldenen Vasen, den goldenen Kleinodien, mit diesem ganzen Traum von dem alten Schatz, der in die Nacht versunken war wie der alte Ruhm Roms selbst. Kein Lichtschein, kein Geräusch, endloser Schlaf – nichts als das laute, schwere Herabstürzen der Traufe rechts, die nicht sichtbar war! Auch das Wasser war verschwunden; Pierre empfand nur noch sein bleischweres Dahinfließen im Dunkeln, das drückende Alter, die hundertjährige Ermüdung, die ungeheure Traurigkeit dieses uralten und glorreichen Tibers, der sich nach dem Nichts sehnte und fortan nur noch den Tod einer Welt dahin zu wälzen schien. Nur der große, reiche Himmel, der ewige, prunkvolle Himmel entfaltete über dem Schattenfluß, der die Ruinen von mehr als dreitausend Jahren dahinwälzte, das glänzende Leben seiner Millionen Gestirne.
Als Pierre, ehe er sich in sein Zimmer hinauf begab, einen Augenblick bei Dario eintrat, fand er dort Viktorinen vor, die im Begriffe war, alles für die Nacht vorzubereiten.
»Wie, Herr Abbé, Sie sind schon wieder zu dieser Stunde auf dem Quai spazieren gegangen?« rief sie, als er erzählte, woher er komme. »Sie wollen sich also auch einen schönen Messerstich holen ... Na, mir fiele es nicht ein, in dieser verwünschten Stadt so spät frische Luft zu schöpfen.«
Dann wandte sie sich mit der ihr eigenen Vertraulichkeit zu dem Fürsten, der auf einem Fauteuil lag und lächelte.
»Wissen Sie, dieses Mädchen, die Pierina, ist nicht mehr wieder gekommen, aber ich habe sie gesehen, wie sie da drüben zwischen den Demolirungen herumstrich.«
Dario gebot ihr mit einer Geberde Schweigen. Er wandte sich zu dem Priester.
»Und doch haben Sie mit ihr gesprochen! Das wird zuletzt dumm ... Dieses Vieh von Tito wird noch einmal wieder kommen und mir sein Messer in die andere Schulter stoßen!«
Er schwieg plötzlich, da er Benedetta vor sich bemerkte; sie war geräuschlos eingetreten, um ihm gute Nacht zu wünschen, und hörte zu. Er ward außerordentlich verlegen, wollte sprechen, erklären, ihr schwören, daß er an diesem Abenteuer gänzlich unschuldig sei, aber sie lächelte und sagte bloß zärtlich:
»Mein Dario, ich kenne Deine Geschichte bereits. Du kannst Dir wohl denken, so dumm bin ich nicht, daß ich nicht nachgedacht und begriffen hätte. Wenn ich aufgehört habe, Dich zu fragen, so kam es daher, weil ich alles wußte und Dich trotzdem liebte.«
Sie war übrigens sehr glücklich; sie hatte an diesem selben Abend erfahren, daß Monsignore Palma, der Verteidiger der Ehe in ihrem Scheidungsprozeß, sich für den seinem Neffen geleisteten Dienst erkenntlich gezeigt hatte, indem er ein ihr günstiges Plaidoyer einreichte. Wohl hatte sich der Prälat nicht vollständig auf ihre Seite gestellt, da er sich nicht allzu sehr Lügen strafen wollte; aber die Certifikate der beiden Aerzte erlaubten ihm, auf einen sichern jungfräulichen Zustand zu schließen, und er hatte nun, über die Thatsache hinweggleitend, daß die Nichtvollziehung vom Widerstande der Frau herrühre, geschickt die Gründe zusammengestellt, die eine Annullirung notwendig machten. Da jede Hoffnung aus Annäherung vergeblich war, stand es fest, daß die Gatten sich in beständiger Gefahr befanden, in Unenthaltsamkeit zu verfallen. Er machte eine diskrete Anspielung auf den Gatten, wie um zu zeigen, daß dieser bereits der Gefahr erlegen sei; dann feierte er die hohe Moralität der Frau, ihre Frömmigkeit, alle Tugenden, die eine Bürgschaft zu Gunsten ihrer Wahrheitsliebe waren, und überließ, obwohl er sich nicht aussprach, alles der Weisheit der Kongregation. Aber da Monsignore Palma beiläufig die Gründe des Advokaten Morano wiederholte, und da Prada hartnäckig dabei blieb, nicht mehr zu erscheinen, schien es außer Zweifel zu sein, daß die Kongregation mit sehr großer Mehrheit für die Annullirung stimmen würde. Das würde dem heiligen Vater gestatten, mit Wohlwollen vorzugehen.
»Ach, mein Dario, jetzt hat unser Kummer ein Ende... Aber wie viel Geld das kostet, wie viel Geld! Tante sagt, daß sie uns kaum das bloße Wasser zum Trinken lassen werden.«
Und sie lachte mit der schönen Sorglosigkeit einer leidenschaftlich Verliebten. Das Kostspielige war nicht die Gerichtsbehörde der Kongregation, denn dem Prinzipe nach sprach sie umsonst Recht, aber es mußten unendlich viele kleine Kosten, alle untergeordneten Beamten, dann die ärztlichen Sachverständigen, die Abschriften, Satzschriften und Plaidoyers bezahlt werden. Außerdem, wenn man auch, wohlverstanden, die Stimmen der Kardinale nicht unmittelbar kaufte, so kamen doch gewisse Stimmen auf sehr hohe Summen zu stehen, da man sich der Kreaturen Ihrer Eminenzen versichern und ihre ganze Umgebung in Bewegung setzen mußte – abgesehen davon, daß große Geldgeschenke, falls sie mit Takt gegeben werden, im Vatikan entscheidende Gründe bilden und die ärgsten Schwierigkeiten durchschneiden. Und endlich hatte der Neffe Monsignore Palmas schrecklich viel gekostet.
»Aber nicht wahr, mein Dario, da Du jetzt geheilt bist, soll man uns nur rasch heiraten lassen, mehr verlangen wir von ihnen nicht... Wenn sie wollen, gebe ich ihnen noch meine Perlen, das einzige Vermögen, das mir bleiben wird.«
Er lachte ebenfalls, denn das Geld hatte in seinem Leben nie etwas gezählt. Er hatte nie so viel davon gehabt, wie er wollte, und hoffte einfach, stets bei seinem Oheim, dem Kardinal, leben zu können, der das junge Paar nicht auf die Straße setzen würde. Bei ihrem Ruin stellten hunderttausend, zweimalhunderttausend Franken nichts für ihn vor; er hatte sagen hören, daß gewisse Scheidungen sogar fünfmalhunderttausend gekostet hatten. Er fand daher keine andere Antwort als einen Scherz.
»Gib ihnen auch meinen Ring, gib ihnen alles, meine Liebe. Wir werden in diesem alten Palaste sehr glücklich leben, selbst wenn wir die Möbel daraus verkaufen müßten.«
Sie war begeistert, faßte seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte ihn wie rasend, in einer Aufwallung außerordentlicher Leidenschaft, auf die Augen.
Dann wendete sie sich plötzlich zu Pierre.
»O Verzeihung, Herr Abbé, ich habe einen Auftrag für Sie. Ja, von Monsignore Nani, der uns eben die gute Nachricht gebracht hat; er hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß Sie sich zu sehr zurückhalten, daß Sie für die Verteidigung Ihres Buches wirken müssen.«
Der Priester hörte erstaunt zu.
»Aber er hat mir ja geraten, zu verschwinden.«
»Gewiß ... Aber es scheint, daß jetzt die Zeit gekommen ist, wo Sie die Leute besuchen, Ihre Sache führen, kurz, sich rühren müssen. Und noch etwas; er hat den Namen des Berichterstatters erfahren können, den man mit der Prüfung Ihres Buches beauftragt hat; es ist Monsignore Fornaro, der auf der Piazza Navona wohnt.«
Pierre fühlte, wie seine Verblüffung wuchs. Es kam nie vor, daß der Name eines Berichterstatters preisgegeben wurde; er blieb geheim, um die Urteilsfreiheit völlig zu sichern. Sollte also eine neue Phase seines römischen Aufenthalts beginnen?
»Es ist gut,« antwortete er einfach. »Ich werde handeln, ich werde alle Welt besuchen.«