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Pierre befand sich nun bereits seit vierzehn Tagen in Rom, aber die Angelegenheit, derentwegen er hergekommen, die Verteidigung seines Buches, machte gar keine Fortschritte. Er hegte noch immer den brennenden Wunsch, den Papst zu sehen, ohne daß sich bei den fortwährenden Verzögerungen, bei der Angst vor einem unvorsichtigen Schritt, die Monsignore Nani ihm eingeflößt hatte, voraussehen ließ, wann und wie dieser Wunsch befriedigt werden könne. Da er einsah, daß sein Aufenthalt sich unabsehbar in die Länge ziehen konnte, entschloß er sich, sein celebret im Vikariat visiren zu lassen, und las nun jeden Morgen seine Messe in der Brigittakirche aus der Piazza Farnese, wo ihn der Abbé Pisoni, der ehemalige Beichtvater Benedettas, wohlwollend aufgenommen hatte.
An diesem Montag beschloß er, sich frühzeitig zu dem kleinen, intimen Empfang Donna Serafinas zu begeben; denn er hoffte dort Neuigkeiten zu hören und seine Angelegenheit zu beschleunigen. Vielleicht würde auch Monsignore Nani dort sein, oder vielleicht würde er das Glück haben, irgend einen Prälaten oder Kardinal zu treffen, der ihm helfen würde. Er hatte sich vergeblich bemüht, Don Vigilio auszunützen oder doch wenigstens gewisse Auskünfte aus ihm herauszulocken. Der Sekretär des Kardinals Boccanera schien, nachdem er sich einen Augenblick dienstfertig gezeigt hatte, wieder von Mißtrauen und Furcht ergriffen worden zu sein; er ging Pierre aus dem Wege, versteckte sich und seine Miene verriet den Entschluß, sich in ein entschieden verdächtiges und gefährliches Abenteuer nicht zu mischen. Uebrigens war er seit vorgestern von einem furchtbaren Fieberanfall ergriffen worden, der ihn zwang, das Zimmer zu hüten.
Pierre hatte keinen andern Trost als Victorine Bosquet, das zum Range einer Wirtschafterin emporgestiegene ehemalige Kindermädchen, die Beauceronnin, die sich trotz eines dreißigjährigen Aufenthaltes in dem ihr noch immer unbekannten Rom ihr altes französisches Herz bewahrt hatte. Sie erzählte ihm von Anneau, als hätte sie es gestern verlassen. Aber an diesem Montag war sie nicht so lebhaft und heiter wie sonst, und als sie erfuhr, daß er abends zu den Damen hinabgehen wolle, schüttelte sie den Kopf.
»Ah, Sie werden sie nicht bei guter Stimmung finden. Meine arme Benedetta hat große Unannehmlichkeiten. Es scheint mit ihrer Scheidung sehr schlecht zu stehen.«
Ganz Rom sprach davon. Die außerordentlichsten Klatschereien begannen von neuem und regten die ganze schwarze und weiße Gesellschaft auf. Victorine brauchte sich daher einem Landsmanne gegenüber keine unnötige Verschwiegenheit aufzuerlegen. Also: in Erwiderung der Eingabe des Konsistorialanwaltes Morano, der, auf Zeugenaussagen und schriftliche Beweise gestützt, ausführte, daß die Ehe wegen Unvermögens des Gatten nicht vollzogen sein konnte, hatte Monsignore Palma, der von der Konzilskongregation für diese Angelegenheit als Verteidiger der Ehe gewählte Theologe, seinerseits ein wahrhaft schreckliches Memorandum eingebracht. Zuerst zog er den jungfräulichen Zustand der Gesuchstellerin in Zweifel, indem er die technischen Ausdrücke des Zertifikates der beiden Hebammen diskutirte und eine gründliche Untersuchung durch zwei Aerzte forderte, eine Formalität, vor der die Schamhaftigkeit der jungen Frau zurückgeschreckt war. Er schlug großen Vorteil aus der in der Eingabe des Grafen Prada enthaltenen Erzählung desselben, laut welcher er sehr aufrichtig bekannte, nicht sagen zu können, ob die Ehe vollzogen sei oder nicht, da die Gräfin sich so gewehrt habe; er hatte wohl im Augenblick geglaubt, daß der Akt in den normalen Bedingungen vollzogen worden sei, aber nach längerem Nachdenken gebe er zu, daß er, der Heftigkeit seines Wunsches nachgebend, sich vielleicht Illusionen gemacht habe. Ueber diesen Zweifel frohlockte Monsignore Palma, verstärkte ihn noch durch alle spitzfindigen Schlußfolgerungen, die die heikle Angelegenheit gestattete, und kehrte sogar gegen die vergewaltigte Gattin die von ihr selbst vorgebrachte Aussage der Kammerjungfer, die das Geräusch des Kampfes gehört hatte und bestätigte, daß ihr Herr und ihre Herrin nach dieser ersten Nacht stets gesondert geschlafen hätten. Der entscheidende Beweisgrund des Memorandums war übrigens, daß es, selbst wenn die Gesuchstellerin den vollständigen Beweis ihrer Jungfräulichkeit erbrachte, doch feststand, daß nur ihre Weigerung den Vollzug der Ehe hinderte, da die erste Bedingung des Aktes der Gehorsam der Frau sei. Nach Verlesung eines vierten Memorandums, dem des Berichterstatters, worin er die drei anderen zusammenfaßte und erörterte, hatte die Kongregation abgestimmt: sie bewilligte die Annullirung der Ehe, aber nur mit einer Stimme Majorität. Das war eine so ungewisse Lösung, daß Monsignore Palma sich kraft seines Rechtes unverzüglich beeilte, Ergänzungsinformationen zu fordern, was das ganze Verfahren wieder in Frage stellte und eine neue Abstimmung nötig machte.
»Ach, meine arme Contessina,« rief Victorine, »sie wird vor Kummer sterben; denn das arme Kind verzehrt sich langsam, trotzdem sie so ruhig aussieht ... Es scheint, daß dieser Monsignore Palma der Herr der Situation ist und daß er die Sache so lange hinausschieben kann, wie er Lust hat. So viel Geld ist schon ausgegeben worden, und man wird noch mehr ausgeben müssen ... Der Abbé Pisoni – Sie kennen ihn ja jetzt – hat wirklich mit dieser Heirat einen großartigen Einfall gehabt. Ich will auch nicht das Andenken meiner guten Herrin, der Gräfin Ernesta, dieser heiligen, kränken, aber es steht fest, sie hat ihre Tochter unglücklich gemacht, als sie sie dem Grafen Prada gab.«
Sie hielt inne und fügte dann, von dem in ihr wohnenden Gerechtigkeitssinne hingerissen, hinzu:
»Er hat übrigens recht, wenn er nicht zufrieden ist, der Graf Prada. Man macht sich gar zu sehr über ihn lustig ... Aber wissen Sie, deswegen sage ich doch, daß meine Benedetta recht dumm ist, daß sie so viele Umstände macht. Wenn es von mir abhinge, so hätte sie ihren Dario noch heute abend in ihrem Zimmer, da sie ihn so liebt, da sich beide so lieben und schon so lange nach einander sehnen. Meiner Treu, ja, ohne Standesamt und Pfarrer, weil sie jung, weil sie schön sind und damit sie glücklich mit einander sein können ... Das Glück, du lieber Gott, das Glück ist so selten!«
Als sie sah, daß Pierre sie überrascht anblickte, begann sie munter, mit dem ruhigen Gleichgewicht des niederen französischen Volkes zu lachen, das an nichts mehr glaubt als an ein glückliches, ehrlich geführtes Leben.
Dann beklagte sie sich in etwas diskreterer Weise über eine andere Unannehmlichkeit, die das Haus verdüsterte. Es war ebenfalls ein Rückschlag dieser unglückseligen Scheidungsangelegenheit. Donna Serafina und der Advokat Morano hatten sich gezankt. Der letztere war sehr ärgerlich über die halbe Schlappe, die seine Eingabe bei der Kongregation erlitten hatte, und beschuldigte Pater Lorenzo, den Beichtvater von Tante und Nichte, daß er sie zu einem häßlichen Prozesse gedrängt habe, aus dem für alle Welt nichts als Aergernis entstehen würde. Und er war im Palazzo Boccanera nicht wieder erschienen. Das war der Bruch eines alten, seit dreißig Jahren bestehenden Verhältnisses und verblüffte alle römischen Salons. Das Verhalten Moranos wurde allgemein gemißbilligt. Donna Serafina war um so tiefer erbittert, da sie argwöhnte, daß er den Streit nur als Vorwand gebrauche, um sie wegen einer ganz andern Sache zu verlassen: wegen einer plötzlichen, bei einem Manne in seiner Stellung und von seiner Frömmigkeit verbrecherischen Leidenschaft, der Leidenschaft, die eine junge Bürgerliche, eine Ränkeschmiedin, in ihm entfacht hatte.
Als Pierre am Abend in den mit gelbem, großblumigem Louis XIV.-Brokat ausgeschlagenen Salon trat, bemerkte er thatsächlich, daß eine gewisse Schwermut unter der noch gedämpfteren Helle der spitzenverschleierten Lampen herrschte. Es war übrigens niemand da als Benedetta und Celia, die, auf einem Kanapee sitzend, mit Dario plauderten. Der Kardinal Sarno hörte, tief in einen Lehnstuhl vergraben, wortlos dem unversiegbaren Geplauder der alten Verwandten zu, die die kleine Prinzessin jeden Montag herbrachte. Donna Serafina faß allein auf ihrem gewöhnlichen Platz auf der rechten Seite des Kamins; eine heimliche Wut verzehrte sie, weil die linke Seite gegenüber leer war, diese Seite, die Morano während der dreißig Jahre seiner Treue eingenommen hatte. Pierre bemerkte auch, was für einen ängstlichen und dann verzweifelten Blick sie ihm bei seinem Eintritt zugeworfen hatte; sie bewachte die Thür, da sie ohne Zweifel den Flatterhaften noch erwartete. Sie hielt sich übrigens sehr gerade und sah mit ihrer seinen, mehr als je im Korsett eingeschnürten Taille, mit ihrem harten Altjungferngesicht, dem schneeweißen Haar und den tiefschwarzen Brauen sehr stolz aus.
Nachdem Pierre ihr seine Hochachtung bezeigt hatte, ließ er sofort den ihn hauptsächlich beschäftigenden Gedanken durchblicken, indem er fragte, ob er nicht das Vergnügen haben würde, Monsignore Nani heute abend zu sehen.
»O, Monsignore Nani verläßt uns wie alle anderen,« konnte sie sich nicht enthalten, zu antworten. »Wenn man die Leute braucht, verschwinden sie.«
Sie grollte auch dem Prälaten, weil er sich trotz seiner vielen Versprechungen sehr matt mit der Scheidung beschäftigt hatte. Zweifellos verbarg sich wie immer hinter seinem außerordentlich schmeichelnden Wohlwollen irgend ein eigener Plan. Uebrigens bereute sie rasch das Geständnis, das der Zorn ihr entrissen hatte, und fuhr fort:
»Vielleicht kommt er noch. Er ist so gut und liebt uns so sehr.«
Trotz ihres heißen Blutes wollte sie politisch sein, um das Unglück zu besiegen. Ihr Bruder, der Kardinal, hatte ihr mitgeteilt, wie sehr das Verhalten der Konzilskongregation ihn ärgere; denn er zweifelte nicht, daß die kalte Aufnahme, die das Gesuch seiner Nichte gefunden, dem Wunsche gewisser seiner Kollegen, der Kardinäle, entsprang, ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er selbst wünschte jetzt die Scheidung, denn sie allein schien eine Fortsetzung der Rasse zu sichern, da Dario darauf beharrte, keine andere als seine Base heiraten zu wollen. Alles Unglück kam auf einmal und hatte die ganze Familie betroffen; sein Stolz war verletzt; die Schwester teilte diesen Kummer, dessen Folgen außerdem ihr Herz verwundeten; und die beiden Liebenden waren verzweifelt, weil sie ihre Hoffnungen abermals hinausgeschoben sahen.
Als Pierre sich dem Kanapee näherte, wo die jungen Leute plauderten, hörte er, daß halblaut von nichts anderem als von der Katastrophe gesprochen wurde.
»Warum seid ihr so verzweifelt?« fragte Celia. »Eigentlich ist ja die Annullirung der Ehe mit einer Stimme Majorität anerkannt worden. Der Prozeß wird wieder aufgenommen werden. Es ist nur eine Verzögerung.«
Aber Benedetta schüttelte den Kopf.
»Nein, nein; wenn Monsignore Palma darauf beharrt, wird Seine Heiligkeit nie seine Zustimmung geben. Es ist aus.«
»Ach, wer doch reich wäre, sehr reich!« murmelte Dario mit überzeugter Miene; und niemand lächelte darüber.
Dann sagte er ganz leise zu seiner Base:
»Ich muß Dich unbedingt sprechen. So können wir nicht weiter leben.«
»Komm morgen abend um fünf Uhr hierher,« antwortete sie ebenfalls flüsternd. »Ich werde hier allein sein.«
Dann zog sich der Abend endlos hin. Pierre sah mit unendlicher Rührung die Gebrochenheit, in der sich die gewöhnlich so ruhige und so vernünftige Benedetta befand. Die tiefen Augen in ihrem reinen, kindlich zarten Gesicht waren wie von verhaltenen Thränen getrübt. Er hatte bereits eine wirkliche Zärtlichkeit für sie gefaßt, da er sie immer in gleichmäßiger, wenn auch etwas lässiger Stimmung, sah; sie verbarg unter diesem Schein großer Klugheit die Leidenschaft ihrer Flammenseele. Trotzdem versuchte sie über die hübschen, vertraulichen Mitteilungen Celias zu lächeln, deren Liebesangelegenheit besser stand als die ihrige. Nur einen Augenblick wurde das Gespräch allgemein, als die alte Verwandte mit erhobener Stimme von der unwürdigen Haltung der italienischen Presse gegen den heiligen Vater sprach. Noch nie schienen die Beziehungen zwischen Vatikan und Quirinal so schlecht gewesen zu sein als jetzt. Der Kardinal Sarno, der gewöhnlich stumm war, teilte mit, daß der Papst bei Gelegenheit der weiheschänderischen Feste am 20. September zur Feier der Einnahme Roms allen christlichen Staaten, die sich durch ihre Gleichgiltigkeit zu Mitschuldigen des Raubes machten, ein neues Protestschreiben ins Gesicht schleudern werde.
»Ja, versucht es nur, Papst und König zu vermählen!« sagte Donna Serafina mit bitterer Stimme, indem sie auf die beklagenswerte Heirat ihrer Nichte anspielte.
Sie schien ganz außer sich zu sein. Es war jetzt sehr spät. Man konnte weder Monsignore Nani noch sonst jemand erwarten, dennoch stammte es bei einem unerwarteten Geräusch von Schritten in ihren Augen auf; sie blickte begierig auf die Thür und sah zu ihrer letzten Enttäuschung Narcisse Habert eintreten, der sich wegen seines späten Besuches bei ihr entschuldigte. Sein angeheirateter Oheim, der Kardinal Sarno, hatte ihn in diesen so fest verschlossenen Salon eingeführt, und man nahm ihn wegen seiner angeblich intransigenten religiösen Ideen wohl auf. An diesem Abend war er übrigens trotz der späten Stunde nur Pierres wegen gekommen, den er auch sofort beiseite nahm.
»Ich wußte, daß ich Sie hier finden würde. Ich sah eben meinen Vetter, Monsignore Gamba del Zoppo, und kann Ihnen eine gute Nachricht mitteilen ... Er wird uns morgen vormittag gegen elf Uhr in seinen Gemächern im Vatikan empfangen. – Ich glaube wohl, daß er es versuchen wird, Sie beim heiligen Vater einzuführen,« fügte er mit noch leiserer Stimme hinzu. »Kurz, die Audienz scheint mir gesichert zu sein.«
Pierre empfand eine große Freude über diese Nachricht, die er da in diesem traurigen Salon erhielt, wo er sich seit beinahe zwei Stunden abhärmte und in Verzweiflung geriet. Also doch endlich eine Lösung! Nachdem Narcisse Dario die Hand gedrückt hatte, begrüßte er Benedetta und Celia; dann näherte er sich seinem Oheim, dem Kardinal, der sich endlich, nachdem er die alte Verwandte los geworden, zum Reden entschloß. Aber er sprach von nichts als von seiner Gesundheit, dem Wetter, den unbedeutenden Anekdoten, die man ihm erzählt hatte, niemals aber ein Wort über die tausend verwickelten und schrecklichen Angelegenheiten, die er in der Propaganda braute. Es war, als ob er außerhalb seines Bureaukratenzimmers in diesem Zurücktreten, dieser Mittelmäßigkeit ein Bad nehme, wo er sich von den Sorgen um die Regierung der Welt ausruhte. Nun erhob sich alles und begann sich zu verabschieden.
»Vergessen Sie nicht,« schärfte Narcisse Pierre ein; »morgen vormittag um zehn Uhr suchen Sie mich in der Sixtinischen Kapelle auf. In der Zwischenzeit bis zu unserem Rendezvous werde ich Ihnen die Botticellis zeigen.«
Am nächsten Tage befand sich Pierre, der zu Fuß gekommen war, bereits um halb zehn auf dem großen Platze. Ehe er sich nach rechts zur Bronzethür an der Ecke der Kolonnade wendete, hob er die Augen und blieb ein paar Minuten stehen, um den Vatikan zu betrachten. Er konnte sich nichts Monumentaleres vorstellen, als diesen Haufen von Gebäuden, die ohne jede architektonische Ordnung, ohne jede Regelmäßigkeit im Schatten des Domes von St. Peter aufgewachsen waren. Ein Dach legte sich über das andere, die Fassaden streckten sich breit und flach hin, sowie eben die Flügel hinzugefügt und aufgebaut worden waren. Nur die drei Seiten des St. Damasiushofes erschienen symmetrisch über der Kolonnade; mit den großen Fenstern der ehemaligen, jetzt geschlossenen Loggien ähnelten sie drei ungeheueren Treibhäusern, und ihr rötliches Gestein funkelte in der Sonne. Das also war der schönste, der größte Palast der Welt mit elftausend Sälen, die die bewundernswertesten Kunstwerke des menschlichen Geistes enthielten! Aber Pierre interessirte sich in seiner Enttäuschung nur für die hohe, rechte Fassade, die auf den Platz geht; denn er wußte, daß sich dort die Fenster der Privatwohnung des Papstes im zweiten Stockwerk befanden. Er betrachtete lange diese Fenster; man hatte ihm gesagt, daß das fünfte rechts das Schlafzimmerfenster war, wo man täglich bis sehr spät in die Nacht eine Lampe brennen sah.
Was befand sich hinter dieser Bronzethür da vor ihm, die die heilige Schwelle, die Verbindung zwischen allen Reichen der Erde und dem Reiche Gottes war, dessen erhabener Vertreter sich zwischen diesen hohen, stummen Mauern eingekerkert hatte? Er betrachtete aus der Ferne die mit dicken, viereckigen Nägeln beschlagenen Thürfelder aus Metall und fragte sich, was wohl diese harte, alte Festungsthüre verteidigte, was sie verbarg, vermauerte? Was für eine Welt würde er hinter ihr finden, was für einen im Dunkeln eifersüchtig gehüteten Schatz von Menschenliebe, was für eine Wiedergeburt der Hoffnung für die neuen, nach Brüderlichkeit und Gerechtigkeit dürstenden Völker? Er gefiel sich in diesem Traum von einem einzigen und heiligen Hirten, der im Hintergrunde dieses geschlossenen Palastes wacht und die endgiltige Herrschaft Jesus vorbereitet, während die alten, verfaulten Zivilisationen in Staub zerfallen, der endlich im Begriffe war, diese Herrschaft zu verkündigen, indem er aus unseren Demokratien die vom Heiland verheißene große christliche Gemeinde machte. Ja, die Zukunft bereitete sich hinter dieser Bronzethür vor und die Zukunft würde zweifellos daraus hervorgehen.
Plötzlich sah sich Pierre zu seiner Ueberraschung Monsignore Nani gegenüber, der eben den Vatikan verließ, um zu Fuße die paar Schritte nach dem Palaste des S. Offizio zu gehen, wo er in seiner Eigenschaft als Assessor wohnte.
»Ach, Monsignore, ich bin so glücklich. Mein Freund, Herr Habert, wird mich seinem Vetter, Monsignore Gamba del Zoppo, vorstellen, und ich glaube, daß ich die ersehnte Audienz erhalten werde.«
Monsignore Nani lächelte mit einer liebenswürdigen und feinen Miene.
»Ja, ja, ich weiß.«
Er verbesserte sich.
»Ich freue mich darüber ebenso wie Sie, mein lieber Sohn. Aber seien Sie vorsichtig.«
Da er jedoch besorgte, der junge Priester könne auf den Gedanken geraten, daß er eben von Monsignore Gamba del Zoppo, dem Prälaten, komme, der von der ganzen bedachtsamen päpstlichen Hausgenossenschaft am leichtesten einzuschüchtern war, so erzählte er, daß er seit frühem Morgen zwei französischer Damen wegen herumlaufe, die ebenfalls für ihr Leben gern den Papst sehen wollten, aber er habe große Angst, daß es nicht gelingen werde.
»Ich gestehe, Monsignore, daß ich mutlos zu werden begann,« sagte Pierre, »Ja, es ist hohe Zeit, daß ich etwas getröstet werde, denn mein Aufenthalt hier ist nicht darnach angethan, mein Herz gesunden zu machen.«
Er sprach weiter und ließ durchblicken, wie sehr Rom vollends den Glauben in ihm zerstört habe. Solche Tage, wie er sie auf dem Palatin und in der Via Appia, dann in den Katakomben und in St. Peter verbracht hatte, konnten ihn nur beunruhigen, seinen Traum von einem verjüngten, triumphirenden Christentum nur zerstören. Er war durch sie eine Beute des Zweifels. Eine beginnende Erschöpfung überkam ihn, und viel von seinem stets zur Empörung bereiten Enthusiasmus war verloren gegangen.
Monsignore Nani hörte zu und stimmte mit leichtem Kopfnicken bei, ohne zu lächeln aufzuhören. Offenbar war das ganz richtig, hatte es so kommen müssen. Er schien es vorausgesehen zu haben und davon befriedigt zu sein.
»Kurz, mein lieber Sohn, alles steht aufs beste, sobald Sie einmal sicher sind, Seine Heiligkeit zu sehen.«
»Ja, das ist wahr, Monsignore, ich habe meine ganze Hoffnung auf den erleuchteten und hellsehenden Leo XIII. gesetzt. Er allein kann mich richten, da er allein in meinem Buch meinen Gedanken erkennen kann, den ich sehr getreulich wiedergegeben zu haben glaube ... Ach, wenn er will, so wird er die alte Welt im Namen Jesus durch die Demokratie und die Wissenschaft retten.«
Die Begeisterung packte ihn wieder, und Nani stimmte von neuem zu, während seine scharfen Augen und seine dünnen Lippen immer liebenswürdiger wurden.
»Ganz recht, ganz recht, mein lieber Sohn. Sie werden mit dem heiligen Vater reden – und dann werden Sie sehen.«
Da hierauf beide den Kopf hoben und die Fassade des Vatikans betrachteten, trieb er die Liebenswürdigkeit so weit, ihn aufzuklären. Nein, das Fenster, wo man jeden Abend Licht sah, war nicht das des Schlafzimmers des Papstes. Es war das Fenster eines Treppenabsatzes, das die ganze Nacht von einem Gashahn erhellt wurde. Das Zimmer des Papstes liege zwei Fenster weiter. Dann versanken sie wieder in Schweigen und fuhren fort, die Fassade zu betrachten. Beide waren sehr ernst geworden.
»Nun, auf Wiedersehen, mein lieber Sohn. Sie werden mir über die Unterredung berichten, nicht wahr?«
Kaum war Pierre allein, so schritt er durch die Bronzethüre; sein Herz klopfte heftig, als wäre er in den heiligen und furchtbaren Ort eingetreten, wo sich das künftige Glück vorbereitet. Ein Wachtposten, ein Schweizer Gardist, schritt langsam auf und ab; er war in einen graublauen Mantel gehüllt, der nur die schwarz, gelb und rot gestreifte Hose sehen ließ, und es war, als ob dieser Mantel klug über eine Verkleidung geworfen worden wäre, um ihre nun peinlich gewordene Seltsamkeit zu verbergen. Gleich darauf that sich rechts die große, gedeckte Treppe auf, die in den St. Damasiushof führt. Aber um in die Sixtinische Kapelle zu gelangen, mußte man erst die lange Galerie zwischen einer Doppelreihe von Säulen durchschreiten und die Scala Regia hinansteigen, Pierre begann in dieser riesigen Welt, wo alle Dimensionen eine übertriebene, niederdrückende Majestät annahmen, beim Hinansteigen der breiten Stufen etwas zu keuchen.
Als er in die Sixtinische Kapelle eintrat, war er zuerst überrascht. Sie kam ihm klein vor, wie eine Art rechtwinkliger, sehr hoher Saal. Eine schöne Marmorscheidewand schneidet zu zwei Dritteln den Teil ab, wo sich bei großen Zeremonien die Eingeladenen aufhalten; auf dem Chor sitzen die Kardinäle auf einfachen Eichenbänken, während die Prälaten hinter ihnen stehen. Der päpstliche Thron befindet sich auf einer niederen Estrade, rechts von dem mäßig geschmückten Altar. Links öffnet sich in der Mauer die schmale, für die Sänger bestimmte Loggia mit dem Marmorbalkon. Aber man muß erst den Kopf heben, die Blicke müssen erst zu der ungeheuren, das jüngste Gericht darstellenden Freske, die die gesamte Hinterwand einnimmt, zu den Malereien des Gewölbes aufsteigen, die sich bis zu dem Karnies zwischen den zwölf hellen Fenstern – sechs auf jeder Seite – hinziehen, damit plötzlich alles erweitert erscheint, damit sich plötzlich alles aus einander schiebt und ins Unendliche aufschwingt.
Glücklicherweise waren nur drei oder vier Touristen da, die wenig Lärm machten. Pierre bemerkte sofort Narcisse Habert, der sich auf einer der Kardinalsbänke über der Stufe befand, wo die Schleppträger sitzen. Der junge Mann saß unbeweglich mit etwas zurückgebeugtem Kopf da und schien in Verzückung zu sein. Aber er betrachtete nicht das Werk Michel Angelos. Seine Augen wichen nicht von einer der vorderen Fresken unter dem Karnies, und als er den Priester erkannt hatte, murmelte er bloß mit verschwommenem Blick:
»O, lieber Freund, betrachten Sie doch den Botticelli!«
Dann versank er wieder in seine Verzückung.
Pierre war eben ganz und gar von dem übermenschlichen Genie des Michel Angelo gepackt worden; er empfand etwas wie einen heftigen Schlag mitten ins Gehirn, mitten ins Herz. Alles übrige verschwand. Da oben befand sich wie auf einem unbegrenzten Himmel nichts als diese außerordentliche Kunstschöpfung. Zuerst verblüffte ihn das Unerwartete, daß der Maler der einzige Urheber des Werkes hatte sein wollen; er hatte weder Marmor- noch Bronzearbeiter noch Vergolder noch sonst einen Handwerker geduldet. Der Pinsel des Malers hatte für die Pilaster, die Säulen, die marmornen Karniese, die Statuen und Ornamente aus Bronze, die goldenen Blumen und Rosetten, für diese ganze, unerhört reiche Ausschmückung genügt, die die Fresken umrahmte Er stellte ihn sich an dem Tage vor, da man ihm das nackte Gewölbe übergeben hatte – nichts als Mörtel, nichts als flache, weiße Mauern, Hunderte von Metern, die bedeckt werden mußten. Und er sah ihn, wie er vor diesem ungeheuren Blatte stand, keine Hilfe wollte, die Neugierigen davonjagte und sich ganz allein, eifersüchtig, ungestüm mit seiner Riesenarbeit einschloß. Vier und ein halbes Jahr hatte er in dieser grimmigen Einsamkeit mit diesem täglichen Gebären eines Kolosses zugebracht. Ach, dieses ungeheure Werk, geschaffen, ein Leben auszufüllen, dieses Werk, das er im ruhigen Vertrauen auf seine Willenskraft und seine Stärke begonnen haben mußte – es war eine ganze Welt, die er in einem fortwährenden Drang der schöpferischen Manneskraft, in der vollen Entfaltung der Allmacht aus seinem Gehirn gezogen und da hingeworfen hatte.
Ein Schauer überlief Pierre, als er dann an eine nähere Prüfung dieser von einem Seherauge vergrößerten Menschheit ging. Sie quoll über von einer maßlosen Synthese, von einem cyklopischen Symbolismus, und gleich einer natürlichen Blüte leuchtete jegliche Schönheit: königliche Anmut und königlicher Adel, erhabener Friede und erhabene Gewalt. Dabei war alles von vollkommener Sachkenntnis; die gewaltsamsten Verkürzungen waren in der Gewißheit des Gelingens gewagt worden und fortwährend siegte die Technik über die Schwierigkeiten, die die gewölbten Flachen darboten. Vor allem herrschte eine unglaubliche Naivität in der Anwendung der Mittel; der Stoff war fast auf nichts beschränkt, nur einige Farben waren reichlich, ohne jegliches Streben nach Kunstgriffen oder Prunk verwendet worden. Und das genügte; das Blut brauste stürmisch, die Muskeln unter der Haut spannten sich, die Figuren wurden lebendig und traten mit, so energischem Schwung aus dem Rahmen hervor, daß dort oben eine Flamme hinzustreichen schien, die diesem Menschenvolke ein übermenschliches, unsterbliches Leben verlieh. Ja, das war das Leben, das strahlende, sieghafte Leben – ein ungeheures, wucherndes Leben, ein Lebenswunder, das eine einzige Hand verwirklichte: aber sie besaß die höchste Gabe, die Einfachheit in der Kraft.
Man hat darin eine ganze Philosophie gesehen; man hat darin das ganze Menschenschicksal, die Erschaffung der Welt, des Mannes und des Weibes, den Sündenfall, die Strafe und endlich das Gericht Gottes am letzten Tage der Welt finden wollen – aber dabei konnte sich Pierre bei dem ersten Anblick, bei der staunenden Verblüffung, in die ein solches Werk ihn versetzte, nicht aushalten. Allein was für eine Verherrlichung des menschlichen Körpers, seiner Schönheit, seiner Kraft und Anmut war das! Ach, dieser Jehova, dieser königliche, furchtbare und väterliche Greis, hingerissen vom Orkan seiner Schöpfung, mit ausgebreiteten Armen Welten gebärend! Und dieser herrliche Adam mit den edlen Umrissen und der ausgestreckten Hand, den Jehova mit einer bewunderungswürdigen Geberde mit dem Finger belebt, ohne ihn zu berühren! Ein geheiligter Raum liegt zwischen dem Finger des Schöpfers und dem des Geschöpfes, ein kleiner Raum, der aber die Unendlichkeit des Unsichtbaren und des Geheimnisvollen enthält. Und diese mächtige, anbetungswürdige Eva, diese Eva mit den kräftigen Hüften, die im stande sind, die künftige Menschheit zu tragen! Sie besitzt die stolze, zärtliche Anmut des Weibes, das bis zur Verdammnis geliebt sein möchte; sie ist das ganze Weib in seiner Verführung, seiner Fruchtbarkeit, seiner Herrschaft. Sogar die in den vier Ecken der Fresken auf Pilastern sitzenden dekorativen Figuren feierten den Triumph des Fleisches: die über ihre Nacktheit glücklichen zwanzig jungen Männer mit dem prächtigen Torso und den unvergleichlichen Gliedern, sie sind so lebensvoll, daß eine wahnsinnige Sucht nach Bewegung sie hinreißt, biegt und in prächtigen Stellungen zurückwirft. Und zwischen den Fenstern thronen die Riesen, die Propheten und die Sibyllen, Mann und Weib, die nun Götter geworden, maßlos an Muskelkraft und in der Größe des geistigen Ausdrucks: Jeremias, den Ellenbogen aufs Knie, das Kinn in die Hand gestützt, versunken in Gesichte und Träume; die erythräische Sibylle mit dem reinen Profil, so jung in ihrer Ueppigkeit, einen Finger auf das offene Buch des Schicksals gelegt; Jesaias mit dem starken Munde der Wahrheit, unter den glühenden Kohlen ganz geschwollen, stolz, das Gesicht halb abgewandt und eine Hand mit befehlender Geberde erhoben; die cumäische Sibylle, furchterweckend durch ihr Wissen und Alter, fest wie ein Felsen, mit ihrem gefurchten Gesicht, ihrer Raubvogelnase, ihrem viereckigen, vorstehenden, eigensinnigen Kinn; Jonas, so, wie der Fisch ihn eben ausgespieen, in einer außerordentlichen Verkürzung, mit verzerrtem Rumpf, mit gekrümmten Armen, zurückgeworfenem Kopfe, im Schreien weit geöffnetem Munde. Und dann alle die anderen, alle die anderen – alle aus derselben großen und majestätischen Familie, herrschend in der Hoheit ewiger Gesundheit und ewiger Verständigkeit, die Verkörperung des Traumes von einer unzerstörbaren größeren und höheren Menschheit! Auch in den Spitzbogen der Fenster, den Lunetten sproßten und drängten sich Gestalten voll Schönheit, Macht und Anmut. Es sind die Vorfahren Christi, träumerische Mütter mit schönen nackten Kindern, Männer mit weitschauendem, in die Zukunft gerichtetem Blick, die gestrafte, erschöpfte, den verheißenen Heiland ersehnende Rasse. In den Gewölbezwickeln der vier Winkel hingegen treten lebendig biblische Scenen hervor, die Siege Israels über den Geist des Bösen. Und endlich die gewaltige Freske des Hintergrundes, das jüngste Gericht mit seinen wimmelnden Gestalten, die so zahllos sind, daß es Tage braucht, um sie alle gut zu sehen! Es ist eine rasende, von einem brennenden Odem des Lebens hingerissene Menge – von den Toten an, die von den wild in die Posaune stoßenden Engeln der Apokalypse geweckt werden, von den Verstoßenen, die die Dämonen in die Hölle zurückwerfen, bis zu dem von Aposteln und Heiligen umgebenen Richter Jesus, bis zu den strahlenden Erwählten, die von Engeln gestützt, aufsteigen, wahrend noch weiter oben andere, mit den Instrumenten der Passion beladene Engel in voller Verklärung triumphiren. Und dennoch bewahrt die Decke über diesem riesigen Gemälde, das der Künstler dreißig Jahre später in der Reife des Lebens malte, ihren Schwung, ihre sichere Ueberlegenheit; denn in ihr hat er seine unberührte Kraft, seine ganze Jugend, das erste Aufflammen seines Genius hingegeben.
Pierre vermochte kein Wort zu finden. Michel Angelo war das Ungeheuer, das alles beherrschte, alles niederdrückte. Um dies einzusehen, brauchte man nur neben der Ungeheuerlichkeit seines Werkes die Werke Peruginos, Pinturicchios, Rosselis, Signorellis, Botticellis, alle die bewundernswerten vorderen Fresken anzusehen, die sich unter dem Karnies rings um die Kapelle ziehen.
Narcisse hatte die Augen nicht zu der zerschmetternden Pracht der Decke aufgeschlagen. In Verzückung versunken, verwandte er keinen Blick von Botticelli, der hier drei Fresken hat. Endlich sprach er in murmelndem Ton:
»Ach, Botticelli, ach, Botticelli! Er ist die Eleganz und die Anmut der leidenden Leidenschaft, die tiefe Empfindung der Trauer in der Wollust! Er hat unsere ganze moderne Seele erraten und mit dem verführerischsten Zauber umgeben, der je von einer künstlerischen Schöpfung ausging.«
Pierre betrachtete ihn verblüfft; dann wagte er zu fragen:
»Sie kommen hierher, um die Botticellis anzusehen?«
»Aber gewiß,« antwortete der junge Mann ruhig. »Ich komme nur seinetwillen jede Woche auf einige Stunden, und ich sehe nichts anderes an als ihn ... Da, betrachten Sie doch dieses Blatt: Moses und die Töchter Jethros. Hat menschliche Zärtlichkeit und Schwermut je etwas Ergreifenderes hervorgebracht?«
Und mit einem leichten, frommen Beben der Stimme, mit der Miene eines Priesters, der in den köstlichen, beunruhigenden Schauer des Heiligtums tritt, sprach er weiter:
»Ach, Botticelli, Botticelli! Die Frauen Botticellis mit ihrem langen, sinnlichen und reinen Gesicht, mit ihrem unter der dünnen Gewandung etwas stark hervortretenden Bauche, mit ihrer hochaufgerichteten, geschmeidigen und schwebenden Haltung, wobei ihr ganzer Körper sich hingibt! Die jungen Männer, die Engel Botticellis, die so wirklich und doch schon wie Frauen sind, von einem ungewissen Geschlecht, in dem sich die Kraft der Muskeln mit der Zartheit der Umrisse vermengt! Alle werden von einer Flamme des Verlangens emporgetragen, deren Brand den Betrachtenden mitreißt. Ach, die Münder Botticellis, diese sinnlichen, gleich Früchten geschlossenen, ironischen oder schmerzlichen Münder! Sie sind so rätselhaft in ihren geschwungenen Kurven, und man kann nicht sagen, ob sie Reines oder Abscheuliches verschweigen! Die Augen Botticellis, diese schmeichelnden, leidenschaftlichen, mystisch oder wollüstig vergehenden Augen! Sie sind manchmal in ihrer Freude so tiefschmerzlich, daß in der Welt nichts Unergründlicheres dem menschlichen Nichts sich öffnet! Die Hände Botticellis, die so sorgfältig ausgearbeitet, so gepflegt sind, gleichsam ein so kräftiges Leben besitzen, frei umherspielen, sich mit einander vereinigen und mit so gesuchter Anmut sich küssen und mit einander sprechen, daß sie manchmal gesucht erscheinen; aber eine jede hat ihren Ausdruck, den ganzen mannigfaltigen Ausdruck des Genusses und des Leidens der Berührung! Und doch ist hier nicht Verweichlichtes oder Verlogenes zu sehen, überall herrscht eine Art männlichen Stolzes, eine leidenschaftliche, prächtige Bewegung belebt und reißt die Gestalten hin; ein vollständiges Streben nach der Wahrheit, ein genaues Studium, die größte Gewissenhaftigkeit, ein echter Realismus verbessert und mäßigt die geniale Seltsamkeit der Empfindung und des Charakters und verklärt selbst die Häßlichkeit mit unvergeßlichem Reiz.«
Das Erstaunen Pierres wuchs, wahrend er Narcisse zuhörte; er bemerkte zum erstenmal seine etwas studirte Vornehmheit, das gelockte, auf florentinische Art verschnittene Haar, die blauen, fast malvenfarbigen Augen, die in der Begeisterung noch blässer wurden.
»Gewiß,« sagte er zuletzt, »Botticelli ist ein wunderbarer Künstler ... Aber mir scheint, daß hier Michel Angelo ...«
Aber Narcisse unterbrach ihn mit einer fast heftigen Geberbe.
»Ach nein, nein, reden Sie mir nicht von dem! Er hat alles verdorben, alles zu Grunde gerichtet. Ein Mensch, der sich wie ein Stier an die Arbeit spannte, der sein Werk wie ein Handarbeiter herunterrasselte, so und so viele Meter per Tag! Und ein Mensch ohne alles Geheimnisvolle, Unbekannte, der alles so derb sah, daß einem die Schönheit verleidet wird. Männerkörper wie Baumstämme, Frauen wie riesige Metzgerinnen, Massen albernen Fleisches, ohne daß dahinter eine göttliche oder teuflische Seele steckt! Ein Maurer, wenn Sie wollen, ja, das ist er! Ein gewaltiger Maurer, mehr nicht!«
Unbewußt trat in diesem verwickelten, von der Sucht nach Eigenartigem und Seltenem verdorbenen Gehirn des müden Modernen der verhängnisvolle Haß gegen die Gesundheit, Stärke und Kraft zu Tage. Dieser Michel Angelo, der ohne Anstrengung erzeugte, der die wunderbarste Kunstschöpfung hinterlassen, die je ein Künstler zur Welt gebracht, war der böse Feind. Sein Verbrechen bestand eben in diesem Schaffen, diesem Lebengeben, so daß alle die kleinen Kunstschöpfungen der anderen, selbst die köstlichsten, in dieser überströmenden Flut der lebendig in die Sonne hingeworfenen Wesen untergingen, verschwanden.
»Meiner Treu, ich bin nicht Ihrer Meinung,« sagte Pierre mutig. »Ich habe eben begriffen, daß in der Kunst das Leben alles ist und daß die Unsterblichkeit wirklich nur den Schöpfern gehört. Der Fall Michel Angelo scheint mir entscheidend zu sein; denn nur dank diesem außerordentlichen Erzeugen von lebendigem, prächtigem Fleisch, das Ihre Weichlichkeit verwundet, ist er der übermenschliche Meister, das Ungetüm, das alle anderen niederdrückt. Mögen nur die Neugierigen, die schönen Geister, die geistreichen Scharfsinnigen über dem Zweideutigen und Unsichtbaren tüfteln, mögen sie den Reiz der Kunst in die Auswahl gesuchter Behandlung und das Halbdunkel des Symbols legen – Michel Angelo bleibt doch der Allmächtige, der Schöpfer von Menschen, der Meister der helle, Einfachheit und Gesundheit, er bleibt ewig wie das Leben selbst.«
Nun lächelte Narcisse bloß mit einer nachsichtig und höflich geringschätzenden Miene. Freilich, nicht ein jeder saß stundenlang in der Sixtinischen Kapelle vor einem Botticelli, ohne je den Kopf zu heben, um die Michel Angelos anzusehen. Er schnitt das Gespräch kurz ab, indem er sagte:
»Es ist jetzt elf Uhr. Mein Vetter wollte mich hier benachrichtigen lassen, sobald er uns empfangen könnte, und es wundert mich, daß ich noch niemand gesehen habe ... Wollen Sie, daß wir jetzt in die Stanzen Raffaels gehen?«
Und oben, in den Stanzen, urteilte er wieder ganz vollendet, sehr klar und sehr gerecht über die Werke. Seine ganze unbefangene Einsicht kehrte wieder, sobald er nicht mehr von seinem Haß gegen gewaltige Arbeiten und geniale Dekorationen bewegt wurde.
Aber unglücklicherweise kam Pierre aus der Sixtinischen Kapelle und mußte sich erst der Umarmung des Ungetüms entwinden, mußte erst das eben Gesehene vergessen und sich an das, was er hier sah, gewöhnen, ehe er dessen ganze reine Schönheit genießen konnte. Es war, als hatte er zuerst einen zu starken Wein getrunken, der ihn betäubte und hinderte, nun diesen leichten Wein von zarter Blume zu genießen. Hier trifft die Bewunderung nicht wie ein Blitzstrahl, sondern der Zauber wirkt mit langsamer, unwiderstehlicher Gewalt, Es ist wie Racine an der Seite Corneilles, Lamartine an der Seite Hugos – das ewige Paar, Weibchen und Männchen, in den Jahrhunderten des Ruhmes. Bei Raffael triumphirt der Adel, die Anmut, die vollendete, tadellose, göttlich harmonische Linie; es ist nicht bloß das körperliche Symbol, wie es Michel Angelo so herrlich hingeworfen, sondern eine in die Malerei übertragene psychologische Analyse von tiefem Scharfsinn. Bei Raffael ist der Mensch reiner, idealisirter, wird er mehr aus dem Innern gesehen; und wenn auch darin etwas Empfindsames, etwas Weibliches liegt, dessen zärtlichen Schauer man empfindet, so herrscht doch darin eine bewunderungswürdige, gründliche, sehr große und sehr starke Technik. Pierre gab sich nach und nach dieser höchsten Meisterschaft hin; diese kräftige, elegante, junge Mannesschönheit eroberte, dieses Erschauen höchster Schönheit in höchster Vollendung rührte ihn bis ins tiefste Herz, Aber wenn die vor den Malereien in der Sixtinischen Kapelle entstandenen Gemälde »Der Streit über das Altarsakrament« und »Die Schule von Athen« ihm als die Meisterwerke Raffaels erschienen, so fühlte er hingegen, daß der Künstler in dem »Brand des Borgo« und noch mehr in der »Vertreibung Heliodors aus dem Tempel« und in »Attila, vor den Thoren Roms aufgehalten« die Blüte der göttlichen Anmut verloren hatte, weil die niederdrückende Große Michel Angelos auf ihn wirkte. Welche Zerschmetterung, als diese Sixtinische Kapelle geöffnet ward und die Nebenbuhler eintraten! Das Ungeheuer hatte unten gezeugt, und der größte unter den Humanisten ließ hier seine Seele, ohne daß er sich je mehr von dem erlittenen Einfluß freimachen konnte.
Dann führte Narcisse Pierre in die Loggien, in diese so helle, so köstlich geschmückte Glasgalerie. Aber Raffael war tot; die Kartons, die er hinterlassen, waren nur Schülerarbeiten. Es war ein plötzlicher, vollständiger Verfall. Nie hatte Pierre besser eingesehen, daß das Genie alles ist, daß mit seinem Verschwinden die Schule zusammenbricht. Der geniale Mensch faßt die Epoche zusammen und verleiht einer Stunde der Zivilisation das ganze Mark des sozialen Bodens, der dann manchmal jahrhundertelang erschöpft ist. Die wunderbare Aussicht, die man von den Loggien hat, interessirte ihn noch mehr, als er bemerkte, daß sich ihm gegenüber auf der andern Seite des Damasiushofes das vom Papste bewohnte Stockwerk befand. Unten lag der Hof mit seinem Portikus, seinen Springbrunnen, seinem weißen Pflaster hell und nackt in der brennenden Sonne da. Hier war entschieden nichts von dem Schatten, dem gedämpften frommen Geheimnis, von dem die Umgebungen der alten nordischen Kathedralen ihn hatten träumen lassen. Rechts und links von der Rampe, die zum Papste und zum Kardinalsekretär führte, hielten fünf Wagen; die Kutscher saßen steif auf ihren Sitzen, die Pferde standen unbeweglich in dem hellen Lichte, und keine menschliche Seele belebte die Einsamkeit des riesigen, viereckigen Hofes mit den drei Stockwerken der Loggien, die mit ihren vielen Scheiben ungeheuren Treibhäusern glichen. Der Glanz der Scheiben, der rote Ton des Steines schienen die Nacktheit des Pflasters, der Fassaden mit einer Art ernster Majestät zu vergolden, wie einen heidnischen, dem Gott der Sonne geweihten Tempel. Was jedoch Pierre noch mehr auffiel, war das wunderbare Panorama von Rom, das sich unter diesen Fenstern des Vatikans entfaltete. Er hatte sich das gar nicht vorgestellt, und mit einemmale packte ihn der Gedanke, daß der Papst von seinen Fenstern aus das ganze Rom vor sich ausgebreitet sähe, zusammengedrängt, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um es zu fassen. Lange trank er dieses unerhörte Schauspiel mit den Augen und dem Herzen in sich, denn er wollte es mit sich nehmen, in sich bewahren. Die endlosen Träumereien, die es heraufbeschwor, ließen ihn erbeben.
Ein Stimmengeräusch riß ihn aus seiner Betrachtung und bewog ihn, den Kopf zu wenden; er bemerkte einen Bedienten in schwarzer Livree, der, nachdem er Narcisse eine Botschaft ausgerichtet hatte, sich tief verbeugte.
Der junge Mann näherte sich mit ärgerlicher Miene dem Priester.
»Mein Vetter, Monsignore Gamba del Zoppo, läßt mir sagen, daß er uns vormittag nicht empfangen könne. Er wird, scheint es, von einem unerwarteten Dienst abgehalten.«
Seine Verlegenheit verriet jedoch, daß er an diese Ausflucht nicht glaube und zu argwöhnen begann, daß sein Verwandter, zweifellos von irgend einer guten Seele gewarnt und erschreckt, vor dem Kompromittirtwerden zitterte. Da er sehr gefällig und tapfer war, empörte ihn das. Zuletzt lächelte er und fügte hinzu:
»Hören Sie, vielleicht gibt es ein Mittel, den Zutritt zu erzwingen ... Wenn Sie über den Nachmittag frei verfügen können, werden wir zusammen frühstücken und dann hierher zurückkommen, um die Antikensammlung zu besichtigen. Es wird mir wohl gelingen, meinen Vetter zu treffen, ganz abgesehen davon, daß wir durch einen glücklichen Zufall den Papst selbst treffen können, wenn er sich in die Gärten begibt.«
Bei der Ankündigung, daß die Audienz wieder hinausgeschoben sei, hatte Pierre zuerst die lebhafteste Enttäuschung empfunden. Er nahm daher, da sein ganzer Tag frei war, sehr gerne das Anerbieten Narcisses an.
»Sie sind zu liebenswürdig. Ich fürchte nur, daß ich Ihre Güte mißbrauche ... Tausend Dank.«
Sie frühstückten gegenüber von St. Peter in einem kleinen Restaurant des Borgo, das gewöhnlich von Pilgern besucht wurde. Das Essen war dort übrigens sehr schlecht. Dann gingen sie gegen zwei Uhr rund um die Basilika über die Piazza della Sagrestia und die Piazza S. Martha, um von rückwärts in das Museum zu gelangen. Es ist ein helles, verlassenes und heißes Viertel, wo der junge Priester in verzehnfachtem Maßstäbe das Gefühl kahler, fahler, wie von der Sonne verbrannter Majestät wiederfand, das er bei Betrachtung des Damasiushofes empfunden hatte. Als er den riesigen Chor des Kolosses umschritt, begriff er dessen Ungeheuerlichkeit noch mehr; eine ganze Blüte von Gebäuden ist hier zusammengehäuft, die von den leeren, mit feinem Grase bewachsenen Strecken des Pflasters begrenzt wird. In dieser ganzen stummen Unendlichkeit war nichts anderes zu sehen als zwei im Schatten einer Mauer spielende Kinder. Die einstige päpstliche Münze, die Zecca, die nun italienisch geworden und von den Soldaten des Königs bewacht wird, liegt links von dem zum Museum führenden Gang, während rechts gegenüber sich ein Ehrenthor des Vatikans befindet, wo ein Posten der Schweizer Garde Wache steht. Durch dieses Thor kommen die zweispännigen Wagen, die der Etikette gemäß die Besucher des Kardinalsekretärs und Seiner Heiligkeit in den Damasiushof führen.
Sie schritten durch den langen Gang, die Straße, die sich zwischen einem Flügel des Palastes und der Mauer der päpstlichen Gärten hinzieht. Endlich kamen sie in dem Antikenmuseum an. Ach, dieses ungeheure, aus endlosen Sälen gebildete Museum, dieses Museum, das eigentlich aus drei Museen besteht – dem sehr alten Museum Pio-Clementino, dem Museum Chiaramonti und dem Braccio-Nuovo – es ist eine ganze Welt, die in der Erde wiedergefunden, ausgegraben und im hellen Tageslichte verherrlicht ward. Der junge Priester wanderte bereits seit zwei Stunden herum, ging von einem Saal zum andern, geblendet von diesen Meisterwerken, betäubt von so viel Genie und so viel Schönheit. Nicht nur die berühmten Stücke setzten ihn in Staunen, der Laokoon und Apollo von Belvedere, auch nicht die Statuen des Meleager, nicht einmal der Torso des Herkules. Er ward mehr von dem Gesamtbilde gepackt, von der zahllosen Menge der Venusse, der Bacchusse, der vergötterten Kaiser und Kaiserinnen, von diesem ganzen prächtigen Sprossen schöner, erhabener Körper, die die Unsterblichkeit des Lebens feierten. Drei Tage zuvor hatte er das Museum auf dem Kapitol besichtigt, wo er die Venus, den sterbenden Gallier, die wunderbaren Centauren aus schwarzem Marmor, die seltene Büstensammlung bewundert hatte, hier aber verzehnfachte sich diese Bewunderung durch den unerschöpflichen Reichtum der Säle bis zur Verblüffung. Und da er vielleicht mehr nach Leben als nach Kunst begierig war, stand er wieder selbstvergessen vor den Büsten, die so wirtlich das historische Rom aufleben ließen, das freilich der idealen Schönheit Griechenlands unfähig war, aber Leben erzeugte. Ja. das sind sie alle, die Kaiser, die Philosophen, die Gelehrten, die Dichter, und alle sind wunderbar lebensvoll, ganz so, wie sie waren. Der Künstler hatte sie studirt und gewissenhaft mit ihren Entstellungen, ihren Mängeln, den geringsten Eigentümlichkeiten ihrer Züge wiedergegeben; und aus diesem übertriebenen Streben nach Wahrheit entsprang das Charakteristische, eine Beschwörung von unvergleichlicher Kraft. Es gibt mit einem Worte nichts höheres; es sind die Menschen selber, die wieder aufleben, die die Geschichte wieder erstehen lassen – diese falsche Geschichte, durch deren Unterricht Generationen von Schülern das Altertum verabscheuen. Aber nun, wie begriff man sie, wie sympathisirte man mit ihnen! Und so kam es, daß die geringsten Marmorbruchstücke, die abgebrochenen Statuen, die zerstückelten Basreliefs, sogar ein einzelnes Glied, der göttliche Arm einer Nymphe oder der nervige Schenkel eines Satyrs, den Glanz einer leuchtenden, großen und gewaltigen Zivilisation heraufbeschworen.
Narcisse führte Pierre in die hundert Meter lange Galleria dei Candelabri, wo sich sehr schöne Skulpturen befinden.
»Hören Sie, lieber Abbé, es ist erst vier Uhr. Wir wollen uns einen Augenblick hier niedersetzen, denn wie man mir gesagt hat, kommt es manchmal vor, daß der heilige Vater hier durchgeht, wenn er sich in die Gärten begeben will ... Es wäre ein wahres Glück, wenn Sie ihn sehen könnten ... wer weiß, vielleicht gar sprechen ... Auf jeden Fall werden Sie sich ausruhen. Ihre Knochen müssen ja schon ganz zerbrochen sein.«
Alle Wächter kannten ihn. Seine Verwandtschaft mit Monsignore Gamba del Zoppo öffnete ihm alle Thüren des Vatikans, wo er gerne ganze Tage verbrachte. Zwei Stühle standen da; sie ließen sich auf ihnen nieder und Narcisse begann sofort wieder von Kunst zu reden.
Was für ein erstaunliches Los, was für eine erhabene und geborgte Königswürde besitzt dieses Rom! Es scheint ein Mittelpunkt zu sein, in dem die ganze Welt zusammenläuft und gipfelt, wo aber nichts aus dem von Anfang an mit Unfruchtbarkeit geschlagenen Boden selbst hervorsprießt. Die Künste müssen hier heimisch gemacht, der Genius der benachbarten Völker hierher verpflanzt werden, aber von nun an blühen sie herrlich. Unter den Kaisern, als Rom die Königin der Erde ist, erhält es die Schönheit seiner Denkmäler und seiner Skulpturen von Griechenland. Später, als das Christentum entsteht, ist es in Rom ganz vom Heidentum durchtränkt. Erst anderwärts, auf einem andern Boden erzeugt es die gotische Kunst, die christliche Kunst in ihrer höchsten Vollendung. Noch später, in der Renaissance, blüht wohl in Rom das Jahrhundert Julius' II. und Leos X., aber die Bewegung, die ihm seinen wunderbaren Aufschwung verleiht, wird von toskanischen und umbrischen Künstlern vorbereitet. Zum zweitenmale kommt ihm die Kunst von außen und verleiht ihm die Herrschaft der Welt, indem sie in ihm eine triumphirende Größe annimmt. Damals fand das außerordentliche Erwachen der Antiken statt; Venus und Apollo werden wiedergeboren und von den Päpsten selbst angebetet, die seit Nikolaus V. den Traum hegen, das päpstliche Rom dem kaiserlichen Rom gleich zu stellen. Nach den so aufrichtigen, zarten und starken Vorläufern, Fra Angelico, Perugino, Botticelli und so vielen anderen erschienen die Majestäten, Michel Angelo und Raffael, der Uebermenschliche und der Göttliche. Dann entsteht ein plötzlicher Verfall und hundertundfünfzig Jahre müssen verstreichen, bis man zu Caravaggio gelangt, zu allem, was die Kunst der Malerei in Ermanglung des Genies an krustiger Farbe und Darstellung erringen konnte. Dann setzt sich der Verfall bis Bernini fort, der der Umbildner, der wirkliche Schöpfer des heutigen Päpstlichen Roms ist, das Wunderkind, das von seinem zwanzigsten Jahre an ein ganzes Geschlecht von gewaltigen Marmortöchtern erzeugt, der alles umfassende Architekt, dessen erschreckende Thätigkeit die Fassade von St. Peter beendet, die Kolonnade erbaut, das Innere der Basilika geschmückt, zahllose Springbrunnen, Kirchen und Paläste errichtet hat. Das aber ist das Ende von allem, denn seither hat sich Rom nach und nach aus dem Leben zurückgezogen, täglich mehr aus der modernen Welt entfernt. Es ist, als ob diese Stadt, die immer von anderen Städten gelebt hat, vor Kummer sterbe, da sie ihnen nichts mehr nehmen kann, um sich daraus wieder Ruhm zu schaffen.
»Ach, Bernini, der herrliche Bernini!« fuhr Narcisse halblaut mit seiner vergehenden Miene fort. »Er ist mächtig und vollendet, von stets bereitem Schwung und von unablässigem Scharfsinn. Er besitzt eine Fruchtbarkeit voll Anmut und Pracht! ... Da kommen sie mir immer mit ihrem Bramante, ihrem Bramante mit seinem Meisterwerk, der fehlerfreien und kalten Cancellaria! Nun gut, geben wir zu, daß er der Michel Angelo und Raffael der Architektur war, und reden wir nicht mehr von ihm! ... Aber Bernini, der treffliche Bernini, dessen angeblich schlechter Geschmack aus mehr Zartheit und Raffinement besteht als die Ungeheuerlichkeit und Vollendung der anderen! Die mannigfaltige und tiefe Seele Berninis, in der unser Zeitalter sich wiederfinden müßte, ist von einer triumphirenden Gesuchtheit, von einem so verwirrenden und aller niedrigen Wirklichkeit baren Streben nach dem Künstlichen! ... Sehen Sie sich doch in der Villa Borghese die Apollo- und Daphnegruppe an, die er mit achtzehn Jahren gemacht hat – sehen Sie sich vor allem in S. Maria della Vittoria seine heilige Therese in Verzückung an! Ach, diese heilige Therese! Man sieht den offenen Himmel, den Schauer, den der göttliche Genuß durch einen Frauenkörper rieseln lassen kann, die bis zu Krämpfen gesteigerte Wollust des Glaubens, die zerschmelzende Kreatur, die in den Armen ihres Gottes vor Freude stirbt! ... Ich habe Stunden und Stunden mit ihr zugebracht, ohne die kostbare, verzehrende Unendlichkeit des Symbols je erschöpfen zu können.«
Seine Stimme erstarb; aber Pierre, der sich über seinen heimlichen, unbewußten Haß gegen die Gesundheit, Einfachheit und Kraft nicht mehr wunderte, hörte ihm kaum zu, da er selbst ganz von dem Gedanken beherrscht wurde, der ihn immer mehr überwältigte: Das heidnische Rom erwachte wieder in dem christlichen Rom und machte aus ihm das katholische Rom, den neuen politischen, hierarchisirten und beherrschenden Mittelpunkt der Regierung der Völker. War es denn, mit Ausnahme der ersten Katakombenzeit, je christlich gewesen? Die Gedanken, die ihn auf dem Palatin, in der Via Appia, dann in St. Peter überkommen hatten, setzten sich in ihm fort und fanden eine immer augenscheinlichere Bestätigung. Und an diesem Morgen, in der Sixtinischen Kapelle und in der Stanza della Segnatura, in der Betäubung, in die ihn die Bewunderung versetzte, hatte er den neuen Beweis, den das Genie lieferte, wohl verstanden. Freilich kam das Heidentum bei Michel Angelo und bei Raffael nur in der durch den christlichen Geist bewirkten Umwandlung wieder zum Vorschein. Aber lag es nicht zu Grunde? Kamen die riesigen nackten Figuren des einen nicht aus dem schrecklichen Himmel des Jehova, den er durch den Olymp gesehen? Zeigten die idealen Gestalten des andern nicht unter dem keuschen Schleier der Jungfrau die herrlichen und begehrenswerten Venuskörper? Pierre war sich jetzt dessen klar bewußt, und in seine Bestürzung mischte sich etwas Befangenheit, denn diese schönen, maßlosen Körper, diese die leidenschaftliche Lebenslust verherrlichenden, nackten Figuren erhoben sich gegen den Traum, den er in seinem Buch geträumt hatte: den Traum von dem verjüngten Christentum, das der Welt den Frieden gab, von der Rückkehr zur Einfachheit, zur Reinheit der ersten Zeit.
Plötzlich hörte er zu seiner Ueberraschung, daß Narcisse, ohne daß er wissen konnte, durch welchen Uebergang er darauf gekommen war, ihm Aufklärungen über das tägliche Leben Leos XIII. zu geben begann.
»O, lieber Abbé, mit vierundachtzig Jahren ist er so thätig wie ein junger Mann, führt er ein Leben voller Willenskraft und Arbeit, wie weder Sie noch ich es leben möchten! ... Schon um sechs Uhr steht er auf, liest seine Messe in seiner Privatkapelle und trinkt zum Frühstück etwas Milch. Dann findet von acht Uhr bis Mittag ein ununterbrochenes Defilé von Kardinälen und Prälaten statt, alle Angelegenheiten der Kongregationen müssen ihm vor Augen kommen, und ich stehe Ihnen gut dafür, daß es keine zahlreicheren und verwickelteren geben kann. Zu Mittag finden zumeist die öffentlichen und gemeinsamen Audienzen statt. Um zwei Uhr dinirt er. Dann kommt die wohlverdiente Siesta oder der Spaziergang in den Gärten, was bis sechs Uhr dauert. Manchmal halten ihn dann die Privataudienzen eine oder zwei Stunden lang auf. Um neun Uhr ißt er zu Abend; aber er ißt so wenig, lebt von nichts, ißt immer allein an seinem kleinen Tisch ... Was denken Sie von der Etikette, die ihn zu dieser Einsamkeit verpflichtet? Stellen Sie sich vor, ein Mensch, der seit achtzehn Jahren nie einen Tischgenossen hatte, ewig in seiner Größe abgesondert ist! ... Und von zehn Uhr ab, nachdem er mit seinem Vertrauten den Rosenkranz gebetet hat, schließt er sich in seinem Zimmer ein. Aber wenn er sich auch niederlegt, so schläft er wenig; er wird häufig von Schlaflosigkeit heimgesucht, steht auf und ruft einen Sekretär, um ihm Notizen oder Briefe zu diktiren. Wenn ihn eine interessante Angelegenheit beschäftigt, so gibt er sich ihr ganz hin und denkt unaufhörlich an sie. Darin liegt sein Leben, sogar seine Gesundheit; er besitzt einen Geist, der fortwährend wach, bei der Arbeit ist, eine Kraft und eine Autorität, die das Bedürfnis haben, sich auszugeben ... Uebrigens wissen Sie ja, daß er lange Zeit mit großer Vorliebe die lateinische Poesie gepflegt hat. Ich glaube auch zu wissen, daß er in den Stunden des Kampfes eine gewisse Leidenschaft für die Journalistik hatte, so sehr, daß er die Artikel in den von ihm unterstützten Zeitungen inspirirte. Man sagt sogar, daß er manche diktirte, als seine liebsten Ideen auf dem Spiele standen.«
Ein Schweigen entstand. Jeden Augenblick streckte Narcisse den Kopf vor und schaute die ungeheure, verlassene und feierliche Galleria dei Candelabri mit ihren unbeweglichen, geisterhaft weißen Marmorfiguren hinab, um zu sehen, ob das kleine Gefolge des Papstes nicht aus der Tapetengalerie hervortrete, um dann auf dem Wege in die Gärten an ihnen vorbei zu kommen.
»Es ist Ihnen ja bekannt, daß man ihn auf einem Tragsessel hinabträgt,« fuhr er fort. »Er ist sehr schmal, damit er durch alle Thüren kann. Es ist eine ganze Reise, beinahe zwei Kilometer, durch alle die Loggien, die Stanzen Raffaels, die Gemälde und Skulpturengalerien, abgesehen von den zahlreichen Treppen, kurz, ein endloser Spaziergang, ehe man ihn unten in einer Allee niedersetzt, wo ihn eine zweispännige Kalesche erwartet ... Es ist heute abend sehr schön. Er wird sicherlich kommen, haben wir nur etwas Geduld.«
Während Narcisse diese Einzelheiten mitteilte, sah Pierre, ebenfalls voll eifriger Erwartung, die ganze außerordentliche Geschichte vor sich aufleben. Da kamen zuerst die weltlichen und prunksüchtigen Päpste der Renaissance, die eifrig das Altertum wieder ins Leben riefen und den Traum hegten, den heiligen Stuhl in den kaiserlichen Purpur zu hüllen: Paul II., der prachtliebende Venetianer, der den Palazzo di Venezia gebaut hat, Sixtus IV., dem die Sixtinische Kapelle zu verdanken ist, Julius II. und Leo X., die Rom zu einer Stadt voll theatralischen Pompes, voll wunderbarer Feste, Turniere, Ballette, Jagden, Maskeraden und Gelagen machten. Das Papsttum hatte soeben unter der Erde, im Staube der Ruinen, den Olymp wiedergefunden, und wie berauscht von dieser aus dem alten Boden aufsteigenden Flut des Lebens schuf es Museen und stellte die prächtigen, dem Kultus der allgemeinen Bewunderung wiedergegebenen Tempel des Heidentums wieder her. Noch nie hatte sich die Kirche in einer solchen Todesgefahr befunden; denn wenn auch Christus in St. Peter verehrt wurde, so thronte doch Jupiter und alle die marmornen Götter und Göttinnen mit dem schönen, triumphirenden Fleisch in den Sälen des Vatikans. Dann stieg eine andere Vision vor Pierre auf: die der modernen Päpste vor der italienischen Occupation – Pius IX., als er noch frei war und oft in seine gute Stadt Rom hinausging. Die große, rot und goldene Karosse ward von sechs Pferden gezogen; die Schweizer Garden umgaben sie, dahinter kam ein Trupp der Nobelgarden. Aber am Corso angelangt, verließ der Papst manchmal die Karosse und setzte seinen Spaziergang zu Fuße fort. Dann galoppirten die berittenen Garden voran, um alles zu benachrichtigen und anzuhalten. Allsogleich blieben die Wagen stehen; die Männer stiegen aus und knieten auf dem Pflaster nieder, während die Frauen, einfach aufstehend, beim Herannahen des heiligen Vaters fromm den Kopf neigten. So ging der Papst mit langsamen Schritten, lächelnd und segnend, mit seinem Hof bis zur Piazza del Popolo. Und nun kam Leo XIII., der freiwillige Gefangene. Seit achtzehn Jahren im Vatikan eingeschlossen, hatte er hinter diesen dicken, schweigsamen Mauern, im Hintergrunde des Unbekannten, in dem das verschwiegene Leben jedes seiner Tage verfloß, eine höhere Majestät, etwas heilig und schrecklich Geheimnisvolles, angenommen.
Ach, dieser Papst, dem man nicht mehr begegnet, den man nicht mehr sieht, dieser Papst, der den gewöhnlichen Menschen verborgen ist – gleich einer jener furchtbaren Gottheiten, der nur die Priester allein ins Angesicht zu schauen wagen! Er hat sich in diesem prächtigen Vatikan eingeschlossen, den seine Vorfahren aus der Renaissance für riesige Feste gebaut und geschmückt hatten; dort lebt er, fern von der Menge im Gefängnis, zusammen mit den schönen Männern und den schönen Frauen Michel Angelos und Raffaels, mit den marmornen Göttern und Göttinnen. Rings um ihn strahlt der Olymp und feiert die Religion des Lichtes und des Lebens. Das ganze Papsttum badet sich hier mit ihm im Heidentum. Welch ein Schauspiel, wenn dieser gebrechliche Greis in den reinen, weißen Gewändern durch diese Galerien der Antikensammlung kommt, um sich in die Gärten zu begeben! Rechts und links stehen die Statuen mit all ihrem nackten Fleisch und sehen ihn vorübergehen; da ist Jupiter und da ist Apollo, da ist Venus, die Herrscherin, und Pan, der Weltgott, dessen Lachen die Freuden der Erde einläutet. Nereiden baden sich in der durchsichtigen Flut, Bacchantinnen wälzen sich schleierlos in dem heißen Grase, Centauren galoppiren dahin, auf ihren dampfenden Rücken schöne, vergehende Mädchen tragend. Ariadne wird von Bacchus überrascht, Ganymed liebkost den Adler, Adonis entzündet die Paare mit seiner Flamme. Und der weiße Greis schwankt auf seinem Tragsessel vorüber, mitten durch diesen Triumph des Fleisches, diese prunkende, verherrlichte Nacktheit, die die Allmacht der Natur, die ewige Materie verkündet. Seitdem man sie wiedergefunden, ausgegraben, gewürdigt hat, herrscht sie hier von neuem unvergänglich; vergeblich hat man an den Statuen Weinblätter angebracht, so, wie man die großartigen Figuren Michel Angelos bekleidete: das Geschlecht flammt, das Leben überströmt, der Samen kreist wildflutend durch die Adern der Welt. Dicht daneben ist die unvergleichlich reichhaltige vatikanische Bibliothek, wo das ganze menschliche Wissen schlummert; und wenn eines Tages die Bücher dort ebenfalls erwachen und mit lauter Stimme sprechen würden, wie die Schönheit der Venusse und die Manneskraft der Apollos spricht, so würde es eine noch viel schrecklichere Gefahr, eine Explosion sein, die den Vatikan und selbst St. Peter stürzen würde. Aber der weiße, durchsichtige Greis scheint nichts zu hören, nichts zu sehen, und die gewaltigen Jupiterköpfe, die Herkulestorsen, die Antinousse mit den unbestimmten Hüften stehen weiter da und sehen ihn vorübergehen.
In seiner Ungeduld entschloß sich Narcisse, einen Wächter zu fragen, der ihm versicherte, daß Seine Heiligkeit bereits unten sei. In der That ging man zumeist, um den Weg abzukürzen, durch eine kleine, gedeckte Galerie, die vor der Münze auslief.
»Gehen wir auch hinunter, nicht wahr?« fragte er Pierre. »Ich werde trachten, daß Sie in die Gärten hineinkommen.«
Unten im Vestibule, wo ein Thor auf eine breite Allee hinausging, begann er mit einem andern Wächter, einem ehemaligen päpstlichen Soldaten, den er speziell kannte, zu plaudern. Er ließ ihn sofort mit seinem Begleiter eintreten, konnte ihm aber nicht genau sagen, ob Monsignore Gamba del Zoppo an diesem Tage Seine Heiligkeit begleitete.
»Thut nichts,« fuhr Narcisse fort, als sich beide allein in der Allee befanden. »Ich gebe noch immer nicht die Hoffnung an eine glückliche Begegnung auf ... Und Sie sehen, hier sind Sie in den berühmten Gärten des Vatikans.«
Diese Gärten sind sehr groß. Der Papst kann, wenn er durch die Alleen und dann durch den Wein- und Gemüsegarten geht, vier Kilometer zurücklegen. Sie nehmen die Plattform des vatikanischen Hügels ein, der von allen Seiten von der antiken Mauer Leos IV. eingeschlossen wird. Dadurch werden sie wie auf dem Gipfel einer Festungsmauer von den benachbarten kleineren Thälern isolirt. Einst ging diese Mauer bis zur Engelsburg, und dort war die sogenannte Leostadt. Nichts beherrscht sie, kein neugieriger Blick vermag in sie zu dringen, ausgenommen vom Dom St. Peter; und nur sein ungeheurer Schatten fällt an brennend heißen Sommertagen hierher. Sie sind übrigens eine ganze Welt für sich, ein mannigfaltiges und vollständiges Ganze, das jeder Papst zu verschönern trachtete: Da ist zuerst ein großes geometrisches Rasenparterre, mit zwei schönen Palmen bepflanzt und mit Zitronen- und Orangenbäumen in Töpfen geschmückt; dann ein freier, schattiger Garten, wo sich zwischen tiefen Hagebuchenhainen der Aquilone, der Springbrunnen Giovanni Besanzios und das alte Kasino Pius IV. befinden; dann kommen die Gehölze mit den prächtigen Wintereichen, dem Hochwald von Platanen, Akazien und Pinien, die von breiten Alleen durchschnitten werden und für langsame Spaziergänge entzückend sind. Zuletzt gelangt man, wenn man sich nach links wendet, nach einigen anderen Baumgruppen zu dem Gemüsegarten und dem sehr gepflegten Weingarten.
Während sie durch das Gehölz dahinschritten, teilte Narcisse Pierre einige Einzelheiten über das Leben des heiligen Vaters in diesen Gärten mit. Wenn die Zeit es erlaubt, so geht er hier jeden zweiten Tag spazieren. Einst vertauschten die Päpste bereits vom Mai ab den Vatikan gegen den kühleren und gesünderen Quirinal; die größte Hitze verbrachten sie in Castel Gondolfo am Ufer des Albanosees. Heute hat der heilige Vater keine andere Sommerresidenz als einen noch so ziemlich erhaltenen Turm der alten Mauer Leos IV. Dort verlebt er die heißesten Tage. Er ließ sogar daneben eine Art Pavillon für sein Gefolge aufführen, um sich dort dauernd niederzulassen. Narcisse, der hier bekannt war, trat frei ein und konnte es durchsetzen, daß Pierre einen Blick in das einzige von Seiner Heiligkeit bewohnte Gemach werfen durfte. Es ist ein sehr großes, rundes Zimmer mit einer halbkugelförmigen Decke, auf der der Himmel mit den symbolischen Figuren der Gestirne gemalt ist. Eine davon, der Löwe, hat statt der Augen zwei Sterne, die durch ein eigenartiges Beleuchtungssystem des Nachts funkeln. Die Mauern sind so dick, daß man, indem man eines der Fenster vermauerte, in der Nische eine Art Zimmer herstellen konnte, wo sich ein Ruhebett befindet. Im übrigen besteht die Einrichtung nur aus einem großen Arbeitstische, einem kleineren, fliegenden Tisch zum Essen und einem großen, ganz vergoldeten, königlichen Lehnstuhl, ein Geschenk vom Bischofsjubiläum. Und man denkt an die einsamen, stillen Tage in diesem niedrigen Donjonsaal, der kühl wie eine Gruft ist, wenn die heiße Juli- und Augustsonne in der Ferne das vernichtete Rom verbrennt.
Dann noch weitere Einzelheiten. In einem andern Turm, der, überragt von einer kleinen, weißen Kuppel, zwischen dem Grün lag, war ein astronomisches Observatorium eingerichtet. Unter den Bäumen befand sich auch ein Lusthaus im Schweizer Stil, wo Leo XIII. sich gerne ausruht. Er geht manchmal zu Fuß bis zu dem Gemüsegarten und interessirt sich besonders für den Weingarten, den er häufig aufsucht, um zu sehen, ob die Trauben reifen, ob die Lese gut sein wird. Was den jungen Priester jedoch am meisten erstaunte, war die Mitteilung, daß der heilige Vater ein eifriger Jäger war, als das Alter ihn noch nicht geschwächt hatte. Er war ein leidenschaftlicher Freund des » roccolo«. Am Rande eines Buschholzes werden großmaschige Netze längs einer Allee ausgespannt, die derart begrenzt und auf beiden Seiten geschlossen wird. Auf dem Boden in der Mitte stellt man die Käfige mit den Lockvögeln hin, deren Gesang bald die Vögel aus der Nachbarschaft, die Rotkehlchen, Grasmücken, Nachtigallen und Feigenfresser aller Art herbeilockt. Wenn dann eine zahlreiche Menge beisammen war, klatschte Leo XIII., der versteckt auf der Lauer saß, in die Hände und erschreckte die Vögel, die aufflogen und sich mit den Flügeln in den großen Maschen der Netze verfingen. Man brauchte sie nur noch aufzulesen und dann mit einem leichten Druck des Daumens zu ersticken. Gebratene Feigenfresser bilden ein köstliches Gericht.
Als sie durch das Gehölz zurückkehrten, erlebte Pierre eine weitere Ueberraschung. Er stieß auf eine kleine, nachgeahmte, mit Hilfe von Felsen und Zementblöcken hergestellte Grotte von Lourdes. Seine Bewegung war so groß, daß er sie seinem Gefährten nicht verbergen konnte.
»Es ist also wahr? ... Man hat es mir gesagt; aber ich habe mir den heiligen Vater geistiger und frei von diesem niedrigen Aberglauben vorgestellt.«
»O, ich glaube, die Grotte stammt noch von Pius IX., der für die heilige Jungfrau von Lourdes eine besondere Dankbarkeit hegte,« antwortete Narcisse. »Auf jeden Fall muß das ein Geschenk sein, und Leo XIII. läßt es einfach in stand erhalten.«
Einige Minuten lang blieb Pierre unbeweglich und schweigend vor dieser Nachahmung, vor diesem kindlichen, religiösen Spielzeug stehen. Mehrere Besucher hatten aus frommem Eifer ihre Visitenkarten hinterlassen, indem sie sie in die Spalten des Mörtels steckten. Das stimmte ihn sehr traurig, und er folgte seinem Gefährten mit gesenktem Kopfe, in verzweifeltes Sinnen über das alberne Elend der Welt verloren. Dann, als sie sich am Ausgange des Gehölzes abermals dem Rasenparterre gegenüber befanden, hob er die Augen.
Großer Gott, wie köstlich war trotzdem dies Ende eines schönen Tages, und was für ein sieghafter Zauber stieg in diesem anbetungswürdigen Teile des Gartens aus der Erde auf! Hier, inmitten dieses kahlen, einsamen, edlen und brennend heißen Rasenparterres empfand er die ganze Kraft der mächtigen Natur – mehr als unter den matten Schatten des Gehölzes, mehr noch als in dem fruchtbaren Weingarten. Ueber dem mageren Rasen, der gleichmäßig die von den Alleen gebildeten geometrischen Abteilungen schmückte, sah man kaum einige niedrige Sträucher, Zwergrohr, Aloen; halb vertrocknete Blumenbüschel und grüne Büsche zeichneten im barocken Geschmack von einst noch das Wappen Pius' IX. Nichts störte die heiße Stille, als das leise, kristallene Geräusch des mittleren Springbrunnens, als der Tropfenregen, der unaufhörlich aus einem Becken herabfiel. Ganz Rom mit seinem feurigen Himmel, seiner majestätischen Anmut, seiner gewinnenden Wollust schien diese viereckige Zierat, ein riesiges Mosaik aus Grün, zu beseelen; halb vernachlässigt und zerrüttet, wie es war, nahm es durch den alten Schauer einer flammenden Leidenschaft, die nicht sterben konnte, einen schwermütigen Stolz an. Antike Vasen, antike Statuen, die nackt und weiß in der untergehenden Sonne standen, begrenzten das Parterre. Und stärker als der Duft des Eukalyptus und der Pinien, stärker auch als der der reifenden Orangen, stieg der Duft der üppigen Tobirabüsche auf, so voll von gierigem Leben, daß es den Vorübergehenden packte. Es war gleichsam der Duft der eingeborenen Kraft dieses alten, von menschlichem Staube getränkten Bodens.
»Es ist wirklich sonderbar, daß wir Seine Heiligkeit nicht getroffen haben,« sagte Narcisse. »Ohne Zweifel ist der Wagen in die andere Allee gefahren, während wir uns beim Turm Leo IV. aufhielten.«
Er kam auf seinen Vetter, Monsignore Gamba del Zoppo, zurück und erklärte, daß das Amt eines »Copiere«, eines päpstlichen Mundschenkes, das dieser als einer der vier bestallten Geheimkämmerer zu erfüllen hatte, nur noch ein reines Ehrenamt war, besonders seitdem die diplomatischen Diners und die Diners zur Feier von Bischofsweihen im Staatssekretariate, beim Kardinalsekretär stattfanden. Monsignore Gamba del Zoppo, dessen Hasenfüßigkeit und Unbedeutendheit zur Legende geworden war, schien keine andere Rolle zu spielen, als Leo XIII. aufzuheitern. Der Papst liebte ihn sehr wegen seiner fortwährenden Schmeicheleien und wegen der Anekdoten, die er über die ganze Gesellschaft, die schwarze und die weiße, zu erzählen wußte. Dieser dicke, liebenswürdige Mann – er war sogar gefällig, wenn nicht sein Interesse auf dem Spiele stand – war eine leibhaftige, lebendige Zeitung. Er wußte alles und verschmähte nicht einmal den Küchenklatsch. So ging er ruhig dem Kardinalate zu, das ihm sicher war, und gab sich keine andere Mühe, als daß er während der stillen Stunden des Spazierganges Neuigkeiten brachte. Und Gott weiß, dazu fand er Stoff genug in diesem fest verschlossenen Vatikan mit dem sich fortwährend vermehrenden Gewimmel von Prälaten aller Art, in dieser päpstlichen Familie, wo es keine Frauen gibt, die aus lauter alten Junggesellen in langen Kleidern besteht, welche heimlich maßloser Ehrgeiz, verstohlener und abscheulicher Kampf, wilder Haß erregt. Und wie es heißt, greift dieser Haß manchmal noch zu dem guten, alten Gift der alten Zeiten.
Plötzlich hielt Narcisse inne.
»Sehen Sie, ich habe es gewußt ... Da ist der heilige Vater ... Aber wir haben kein Glück. Er wird uns nicht einmal sehen. Da steigt er wieder in den Wagen.«
In der That war die Kalesche bis zum Rande des Gehölzes herangefahren, und ein kleiner Zug, der aus einer engen Allee trat, schritt auf sie zu.
Pierre erhielt einen heftigen Schlag mitten ins Herz. Er stand mit seinem Gefährten unbeweglich, halb verborgen hinter dem hohen Stamm eines Zitronenbaumes und konnte den weißen Greis nur aus der Ferne sehen. Er sah in den flatternden Falten seiner weißen Sutane so gebrechlich aus und ging sehr langsam, mit kleinen Schritten, die über den Kies zu gleiten schienen. Kaum vermochte er das magere, wie aus durchsichtigem, altem Elfenbein gemeißelte Gesicht zu sehen, dem die große Nase über dem schmalen Munde Gepräge gab. Aber die tiefschwarzen Augen glänzten neugierig lächelnd, während das Ohr nach rechts, zu Monsignore Gamba del Zoppo geneigt war, der zweifellos im Begriffe war, irgend ein fettes und kurzes, ausgeschmücktes und würdiges Geschichtchen zu erzählen. Auf der andern Seite, links, schritt ein Nobelgardist, und zwei andere Prälaten folgten.
Es war nur eine flüchtige Erscheinung; denn schon stieg Leo XIII. in die geschlossene Kalesche, und inmitten dieses großen, brennend heißen und duftigen Gartens überkam Pierre wieder die seltsame Bewegung, die er in der Galleria dei Candelabri empfunden, als er sich ausgemalt hatte, wie der Papst durch die Reihe der nackten Apoll- und Venus-Statuen getragen wurde. Dort feierte nur die heidnische Kunst die Ewigkeit des Lebens, die großartige und allmächtige Kraft der Natur, hier aber sah er ihn sich in der Natur selbst baden, in der schönsten, wollüstigsten und leidenschaftlichsten Natur. Ach, dieser Papst, dieser weiße Greis, der seinen Gott, den Gott des Schmerzes, der Demut und der Entsagung, durch die Alleen dieser Liebesgärten führte, während nach den heißen Sommertagen matt der Abend herabsank und die Düfte der Pinien und des Eukalyptus, der reifen Orangen und der üppigen Tobimbüsche ihn umschmeichelten! Ganz und gar umhüllte ihn hier Pan mit den erhabenen Ausströmungen seiner Manneskraft. Wie schön war es, hier in dieser Pracht des Himmels und der Erde zu leben, die Schönheit des Weibes zu lieben und sich an der allgemeinen Fruchtbarkeit zu erfreuen! Jählings wurde ihm die entscheidende Wahrheit offenbar, daß aus diesem Lande des Lichtes und der Freude nur eine weltliche, nach Eroberung und politischer Gewalt begehrende Religion entsprossen konnte, nicht aber die majestätische und leidende Religion des Nordens, eine Religion der Seele.
Aber Narcisse führte den jungen Priester weiter, indem er ihm immer neue Geschichten erzählte: von der Leutseligkeit Leo XIII., der manchmal stehen blieb, um mit den Gärtnern zu sprechen, sie über den Stand der Bäume, den Verkauf der Orangen zu befragen. Auch von der Leidenschaft erzählte er ihm, mit der er zwei Gazellen, die er aus Afrika zum Geschenke bekommen, geliebt hatte; es waren hübsche, feine Tiere, die er gern streichelte und deren Tod er beweinte. Uebrigens hörte Pierre nicht mehr zu, und als sie sich beide wieder auf dem Platze vor St. Peter befanden, wandte er sich um und betrachtete nochmals den Vatikan.
Seine Augen fielen auf die Bronzethür, und er erinnerte sich, wie er am Morgen sich gefragt hatte, was sich wohl hinter diesen mit dicken, viereckigen Nägeln beschlagenen, metallenen Thürfeldern befinde. Er wagte sich noch keine Antwort darauf zu geben; er wagte noch nicht, zu entscheiden, ob die neuen, nach Brüderlichkeit und Gerechtigkeit dürstenden Völker dort die von den Demokratien von morgen erwartete Religion finden würden; denn er wollte nicht nach dem ersten Eindruck urteilen. Aber wie lebhaft war dieser Eindruck, was für ein verhängnisvoller Beginn für seinen Traum! Eine Bronzethür – ja, es war eine harte, unbezwingliche Thür, die den Vatikan mit ihren Brettern vermauerte und so standhaft von der übrigen Erde trennte, daß seit drei Jahrhunderten nichts mehr hindurch konnte. Eben hatte er gesehen, wie dahinter die ehemaligen Jahrhunderte – bis ins sechzehnte Jahrhundert – unveränderlich auferstanden. Die Zeit schien dort für immer still zu stehen, nichts rührte sich mehr; selbst die Tracht der Schweizer Garden, der Nobelgarden, der Prälaten hatte sich nicht verändert. Die Welt dort war ganz dieselbe wie vor drei Jahrhunderten – dieselbe Etikette, dieselben Kleider, dieselben Gedanken. Wenn sich auch die Päpste in stolzem Trutze seit fünfundzwanzig Jahren in ihrem Palaste einschlossen, so schrieb sich das Einschließen in der Vergangenheit, in der Überlieferung doch von viel früher her und stellte eine in anderer Weise ernste Gefahr dar. Schließlich hatte sich der ganze Katholizismus gleich ihnen eingesperrt, steifte auf seine Dogmen und stand nur noch dank der Kraft seiner ungeheuren hierarchischen Organisation so unbeweglich fest. Der Katholizismus konnte also trotz seiner scheinbaren Geschmeidigkeit in nichts nachgeben, weil er in Gefahr stand, umgestürzt zu werden? Und dann – was für eine schreckliche Welt voll Stolz, voller Ehrgeiz, voll Haß und Kampf! Welch seltsames Gefängnis war das, welche Annäherungen fanden hinter Schloß und Riegel statt: Christus in Gesellschaft des Jupiter Capitolinus, das ganze heidnische Altertum mit den Aposteln verbrüdert, der Hirte des Evangeliums, der im Namen der Armen und Einfältigen herrscht, umgeben von der ganzen Pracht der Renaissance! Auf dem Platze von St. Peter ging die Sonne unter, die sanfte Wollust der römischen Nacht senkte sich von dem reinen Himmel herab. Und dieser schöne, bei Michel Angelo, Raffael, den Antiken und dem Papste in dem größten Palaste der Welt verbrachte Tag ließ den jungen Priester ganz bestürzt zurück.
»Und nun, mein lieber Abbé, entschuldigen Sie,« schloß Narcisse. »Ich gestehe Ihnen jetzt, ich habe meinen wackeren Vetter im Verdacht, daß er sich mit Ihrer Angelegenheit nicht kompromittiren will ... Ich werde ihn noch sehen, aber Sie thäten gut daran, nicht mehr zu viel auf ihn zu rechnen.«
Es war beinahe sechs Uhr, als Pierre in den Palazzo Boccanera zurückkehrte. Gewöhnlich ging er bescheiden durch das Gäßchen und durch die Thüre zur kleinen Treppe, zu der er einen Schlüssel besaß. Aber er hatte am Morgen einen Brief des Vicomte Philibert de la Choue erhalten, den er Benedetta mitteilen wollte, und darum ging er die große Treppe hinan. Er war erstaunt, daß im Vorzimmer niemand zu sehen war. An gewöhnlichen Tagen pflegte sich, wenn der Bediente ausgehen mußte, Victorine dort niederzulassen und gemütlich an irgend einer Nähterei zu arbeiten. Ihr Stuhl stand auch da, er sah sogar auf die Tische, die Wäsche, die sie dort liegen gelassen hatte; aber offenbar war sie fortgegangen. Er erlaubte sich, in den ersten Salon zu treten. Es war darin schon fast Nacht, die Dämmerung erlosch mit ersterbender Milde; aber der Priester blieb betroffen stehen und wagte sich nicht weiter vor, da er aus dem Nebensalon, dem großen, gelben Salon ein wirres Stimmengeräusch, ein Rascheln, Stoßen, einen Kampf hörte. Zuerst ertönte inniges Flehen, dann gieriges Murren. Plötzlich zögerte er nicht mehr; wider seinen Willen riß es ihn fort, denn er war überzeugt, daß jemand sich in diesem Zimmer wehre und im Begriffe war, zu erliegen.
Als er hineinstürzte, sah er zu seiner Verblüffung Dario – toll, in einem Ausbruch wilden Verlangens, in dem das ganze zügellose Blut der Boccaneras wieder zum Vorschein kam, trotz der eleganten Erschöpfung der endenden Rasse. Er hielt Benedetta bei den Schultern, hatte sie auf ein Kanapee niedergeworfen und begehrte sie, indem er ihr mit dem heißen Hauch seiner Worte das Gesicht versengte.
»Um Gottes willen. Liebste ... Um Gottes willen, wenn Du nicht willst, daß ich sterbe und daß Du stirbst ... Du sagst es doch selbst ... es ist aus, die Heirat wird nie gelöst werden ... o, laß uns nicht noch unglücklicher sein, liebe mich, wie Du mich liebst, und laß mich Dich lieben, laß mich Dich lieben!«
Aber weinend, mit einem Gesicht voll unsagbarer Zärtlichkeit und unsagbarem Schmerz stieß ihn die Contessina, die ebenfalls von wilder Energie erfüllt war, mit beiden ausgebreiteten Armen zurück, indem sie wiederholte:
»Nein, nein! Ich liebe Dich, ich will nicht, ich will nicht!«
In diesem Augenblicke hatte Dario, während er ein verzweifeltes Murren ausstieß, das Gefühl, daß jemand ins Zimmer trete. Er richtete sich heftig auf und sah Pierre mit stumpf wahnwitziger Miene an, ohne ihn gänzlich zu erkennen. Dann fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht, über die thränenüberströmten Wangen, die blutunterlaufenen Augen und floh, indem er einen Seufzer, ein furchtbares, schmerzliches Ach! ausstieß, in dem sein zurückgedrängtes Verlangen noch zwischen Thränen und Reue kämpfte.
Benedetta war atemlos, völlig entmutigt und ermattet auf dem Kanapee sitzen geblieben. Aber als Pierre, der über seine Rolle sehr verlegen war, ebenfalls eine Bewegung machte, um sich ohne ein Wort zurückzuziehen, beschwor sie ihn mit bereits ruhigerer Stimme:
»Nein, nein, Herr Abbé, gehen Sie nicht ... Ich bitte Sie, setzen Sie sich. Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen reden.«
Er hielt es dennoch für seine Pflicht, sein plötzliches Eintreten zu entschuldigen und zu erklären, daß die Thür des ersten Salons halb offen gestanden sei und daß er im Vorzimmer nur die auf dem Tisch liegende Arbeit Victorinens gesehen habe.
»Das ist wahr!« rief die Contessina. »Victorine mußte da sein, ich sah sie eben. Ich rief sie, als mein armer Dario den Kopf zu verlieren begann ... Warum ist sie nicht hereingekommen?«
Dann fügte sie in einer mitteilsamen Regung hinzu, wahrend sie den Körper vorwärts beugte und ihr Gesicht noch von der Aufregung des Kampfes brannte:
»Hören Sie, Herr Abbé, ich werde Ihnen alles erzählen, denn ich will nicht, daß Sie allzu schlecht von meinem armen Dario denken. Das würde mich zu sehr kranken ... Sehen Sie, ich bin an dem, was geschehen ist, selbst ein wenig schuld. Gestern abend hat er mich um eine Zusammenkunft hier in diesem Zimmer gebeten, damit wir in Ruhe mit einander sprechen könnten. Da ich wußte, daß meine Tante um diese Zeit nicht zu Hause sein würde, sagte ich ihm, er möge kommen ... Nicht wahr, es war doch ganz natürlich, daß wir uns nach dem großen Kummer, den uns die Nachricht, daß meine Heirat wohl nie annullirt werden wird, gemacht hat, sehen und sprechen wollten? Wir leiden zu viel, es mußte ein Entschluß gefaßt werden ... Und nun, als er kam, fingen wir zu weinen an und lagen einander lange in den Armen, liebkosten uns und mischten unsere Thränen. Ich küßte ihn tausendmal und sagte ihm immer wieder, daß ich ihn anbete, daß ich verzweifelt wäre, weil ich ihn unglücklich machte, daß ich sicherlich vor Kummer sterben würde, weil ich sein Unglück sehe. Vielleicht konnte er das für Ermutigung halten, und übrigens ist er ja kein Engel. Ich hätte ihn nicht so und auch nicht so lange an meinem Herzen halten sollen ... Sie begreifen, Herr Abbé, zuletzt ward er wie toll und wollte das, was ich vor der Madonna geschworen habe, daß ich es keinem andern als meinem Gatten gewähren würde.«
Sie sagte das ruhig, einfach, ohne jede Verlegenheit, mit ihrer vernünftigen und praktischen Miene.
»O, ich kenne meinen armen Dario!« fuhr sie fort, während ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen erschien. »Das hindert mich nicht, ihn zu lieben; im Gegenteil. Er sieht zart, sogar etwas kränklich aus, aber im Grunde ist er ein leidenschaftlicher Mensch, der das Vergnügen braucht. Ja, das ist das alte, stürmische Blut. Ich weiß auch etwas davon zu sagen, denn als ich klein war, hatte ich Wutanfälle, daß ich mich auf die Erde warf, und noch heute muß ich, wenn es über mich kommt, gegen mich selbst kämpfen, mich martern, um nicht alle möglichen Dummheiten von der Welt zu begehen ... Mein armer Dario! Er versteht nicht zu leiden! Er ist wie ein Kind, dessen Launen befriedigt werden müssen; aber im Grunde ist er doch sehr vernünftig und wartet auf mich, weil er sich sagt, daß das wirkliche Glück bei mir ist. Denn ich bete ihn an.«
Und nun ward Pierre die Gestalt des jungen Fürsten klar, die ihm bisher unbestimmt erschienen war. Trotzdem er aus Liebe zu seiner Base starb, hatte er sich doch stets gut unterhalten. Er war ein vollkommener Egoist, aber dabei doch ein sehr liebenswürdiger Junge. Vor allem war er vollständig unfähig, Leiden zu ertragen, und verabscheute Leiden, Häßlichkeit und Armut bei sich und anderen. Mit Leib und Seele war er für Freude, Glanz, äußern Schein, das Leben in hellem Sonnenschein geschaffen; dabei war es ganz aus mit ihm, er war erschöpft, hatte für nichts mehr Kraft als für dieses Müßiggängerleben, vermochte nicht einmal mehr zu denken oder zu wollen, so daß es ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war, sich dem neuen Regime anzuschließen. Dazu kam der maßlose Stolz des Römers, eine mit Klugheit und einem stets regen, praktischen Verständnis der Wirklichkeit gemischte Trägheit, und zu der sanften Anmut seiner zu Ende gehenden Rasse, zu seinem fortwährenden Bedürfnis nach dem Weibe gesellten sich Anfälle wütenden Verlangens, eine manchmal losbrechende, fahle Sinnlichkeit.
»Mein armer Dario! Mag er doch eine andere aussuchen – ich erlaube es ihm,« fügte Benedetta sehr leise, mit ihrem schönen Lächeln hinzu. »Nicht wahr, man darf von einem Manne nichts Unmögliches verlangen, und ich will nicht, daß er daran stirbt.«
Und als Pierre sie erstaunt ansah, weil diese Worte seine Vorstellung von italienischer Eifersucht erschütterten, rief sie, brennend vor leidenschaftlicher Vergötterung:
»Nein, nein, ich bin darauf nicht eifersüchtig. Es macht ihm Vergnügen und mir keinen Schmerz. Und ich weiß sehr gut, daß er stets zu mir zurückkehren, daß er ganz mein, nur mein sein wird, wenn ich es wollen, wenn ich es können werde.«
Es entstand Schweigen. Der Salon füllte sich mit Schatten, das Gold an den großen Pfeilertischen erlosch, eine unendliche Schwermut senkte sich von der hohen Decke und den alten, gelben, herbstlich gefärbten Tapeten herab. Bald darauf trat durch eine zufällige Beleuchtung das Bild über dem Kanapee, auf dem die Contessina saß, deutlich hervor. Es war das Porträt des jungen, schönen Mädchens im Turban, der Cassia Boccanera, der Ahnin, der Liebenden, der Richterin. Abermals ward der junge Priester von der Ähnlichkeit betroffen. Er begann ganz laut zu denken.
»Die Versuchung ist stärker als die Menschen,« hob er an. »Stets kommt eine Minute, da man erliegt. Eben vorhin, wenn ich nicht ins Zimmer gekommen wäre ...«
Benedetta fiel ihm heftig ins Wort.
»Ich, ich! ... Ah, Sie kennen mich nicht! Ich wäre lieber gestorben.«
Und in einer seltsamen frommen Exaltation, von Liebe ganz emporgehoben, als hätte der Aberglaube die Leidenschaft bis zur Verzückung in ihr entfacht, fügte sie hinzu:
»Ich habe der Madonna geschworen, meine Jungfräulichkeit dem Manne, den ich lieben werde, nur an dem Tage zu geben, da er mein Gatte sein wird. Diesen Schwur habe ich um den Preis meines Glückes gehalten, und ich werde ihn halten selbst um den Preis meines Lebens... Ja, Dario und ich, wir werden sterben, wenn es sein muß, aber die heilige Jungfrau hat mein Wort und die Engel im Himmel werden nicht weinen.«
Sie war vollkommen aufrichtig, von einer Einfachheit, die zuerst verworren, unerklärlich erscheinen konnte. Zweifellos wurde sie von der seltsamen Vorstellung von menschlicher Erhabenheit beherrscht, die das Christentum in die Entsagung und Reinheit gelegt hat, die ein Protest gegen die ewige Materie, die Kräfte der Natur, die endlose Fruchtbarkeit des Lebens ist. Aber in ihr ward sie noch etwas mehr: Die Jungfräulichkeit erhielt einen unschätzbaren Wert, war ein köstliches, göttliches Geschenk, das sie dem erkorenen, von ihrem Herzen erwählten Geliebten machen wollte, der, sobald sie Gott mit einander verbunden hatte, der Herr über ihren Leib wurde. Für sie gab es außer der Weihe des Priesters, der kirchlichen Heirat nichts als Todsünde und Greuel. Das erklärte ihren langen Widerstand gegen Prada, den sie nicht liebte, ihren verzweifelten, schmerzhaften Widerstand gegen Dario, den sie anbetete, dem sie sich aber in gesetzlichem Bunde hingeben wollte. Welche Qual war dieser Widerstand gegen die Liebe für diese entflammte Seele! Welch einen fortwährenden Kampf führte die Pflicht, das der Jungfrau geleistete Gelübde gegen die Leidenschaft, diese Leidenschaft ihrer Rasse, die, wie sie gestand, manchmal wie ein Sturm in ihr ausbrach! So unwissend und lässig, so sehr sie ewiger Treue fähig war, so forderte sie doch das Ernsthafte, das Materielle von der Liebe. Kein Mädchen ging weniger als sie im Traum auf.
Pierre sah sie in der ersterbenden Dämmerung an und es schien ihm, daß er sie jetzt zum erstenmale sähe und verstehe. Ihre Doppelnatur verriet sich in den etwas starken und sinnlichen Lippen, den ungeheuren, schwarzen, grundlosen Augen und in dem so reinen, so vernünftigen, so kindlich zarten Gesichte. Dabei ahnte man hinter diesen Flammenaugen, dieser reinen weißen Haut die innerliche Spannkraft der Abergläubischen, der Stolzen und Eigenwilligen, der Frau, die sich hartnäckig für ihre Liebe aufbewahrte; sie arbeitete nur, um sie zu genießen,, und war in ihrer bedachtsamen Verständigkeit stets auf irgend eine leidenschaftliche Thorheit gefaßt, die sie hinreißen würde. Ach, wie erklärlich war es, daß man sie liebte! Wie war er sich bewußt, daß ein so anbetungswürdiges Geschöpf mit dieser schönen Aufrichtigkeit, dieser ungestümen Zurückhaltung, um sich dann besser hingeben zu können, das Leben eines Mannes ausfüllen mußte! Sie erschien ihm wie die jüngere Schwester dieser lieblichen, tragischen Cassia, die in ihrer fortan nutzlosen Jungfräulichkeit nicht weiter leben wollte und sich in den Tiber gestürzt hatte, indem sie ihren Bruder Ercole und den Leichnam Flavios, ihres Geliebten, mit sich zog.
In einer liebevollen Regung ergriff Benedetta beide Hände Pierres.
»Herr Abbé, Sie sind seit vierzehn Tagen hier bei uns und ich habe Sie schon sehr lieb, weil ich fühle, daß Sie ein Freund sind. Wenn Sie uns auch nicht gleich verstehen, so dürfen Sie doch deshalb nicht zu schlecht von uns denken. Ich schwöre Ihnen, so unwissend ich auch bin, bemühe ich mich immer, so gut als möglich zu handeln.«
Er wurde von ihrer Liebenswürdigkeit unendlich gerührt und dankte ihr dafür, indem er ihre schönen Hände einen Augenblick in den seinen hielt; denn auch er wurde von großer Zärtlichkeit für sie erfaßt. Von neuem riß ihn ein Traum hin; er wollte, wenn er nur Zeit dazu hätte, ihr Erzieher sein, wollte wenigstens nicht abreisen, ohne diese Seele für die Idee der künftigen Nächstenliebe und Brüderlichkeit gewonnen zu haben, die die seine war. War dieses herrliche, lässige, unwissende, unbeschäftigte Geschöpf, das nur seine Liebe zu verteidigen verstand, nicht das Italien von gestern? Das schöne, schlummernde Italien von gestern mit seiner sterbenden Anmut, so bezaubernd in seinem Schlummer, in dessen tiefen, schwarzen, leidenschaftlich brennenden Augen noch so vieles Unbekannte lag? Und welche Sendung war es, das Volk der Armen und Unglücklichen, das verjüngte Italien von morgen, so wie er es sich träumte, zu wecken, zu belehren, der Wahrheit zu erobern! Selbst in der unseligen Heirat mit dem Grafen Prada, in dem Bruche wollte er nur einen ersten, mißlungenen Versuch sehen: das moderne Norditalien ging zu rasch ans Werk, war zu brutal in seinem Bestreben, das sanfte, zurückgebliebene, noch große und so träge Rom zu lieben und umzubilden. Aber konnte er den Versuch nicht wieder aufnehmen? Hatte er denn nicht bemerkt, daß sein Buch nach dem Erstaunen, das die erste Lektüre in ihr hervorgerufen, in der Leere ihrer nur von ihrem Kummer erfüllten Tage eine Beschäftigung, ein Interesse für sie bildete? Wie, sich für andere, für die Geringen dieser Welt, für das Glück der Unglücklichen interessiren? War es möglich, daß darin eine Linderung des eigenen Elends lag? Sie war ja schon bewegt; er gelobte sich, ihre Thronen fließen zu machen, und erzitterte selbst in ihrer Nähe, da er an die unendliche Liebe dachte, die an dem Tage, wo sie lieben lernte, von ihr ausgehen würde.
Die Nacht war vollständig hereingebrochen und Benedetta hatte sich erhoben, um eine Lampe zu verlangen. Als nun Pierre sich verabschiedete, hielt sie ihn noch einen Augenblick in dem Halbdunkel zurück. Er sah sie nicht mehr, er hörte nur ihre ernste Stimme:
»Nicht wahr, Herr Abbé, Sie werden keine allzu schlechte Meinung von uns mitnehmen? Dario und ich, wir lieben uns, und das ist keine Sünde, wenn man vernünftig ist... Ach ja, ich liebe ihn schon so lange! Stellen Sie sich vor, ich war kaum dreizehn, er achtzehn und da liebten wir uns schon, liebten uns wie die Tollen, in dem großen Garten der Villa Montefiori, den man zerstört hat. – Ach, was für Tage wir dort zubrachten – ganze Nachmittage unter den Bäumen, ganze Stunden in unauffindbaren Verstecken, um uns wie die Cherubim zu küssen! Wenn die Zeit der reifen Orangen kam, da duftete es, daß wir ganz berauscht wurden. Und die großen Tobirabüsche – Gott, wie sie uns einhüllten, wie ihr kräftiger Geruch uns das Herz klopfen machte! Ich kann ihn jetzt nicht mehr riechen, ohne umzusinken.«
Ein Diener brachte die Lampe herein und Pierre begab sich auf sein Zimmer. Auf der kleinen Treppe traf er Victorine, die leicht zusammenfuhr, als hatte sie hier auf der Lauer gestanden, um ihn aus dem Salon herauskommen zu sehen. Sie ging ihm nach, plauderte, erkundigte sich und plötzlich ging dem Priester ein Licht auf.
»Warum sind Sie denn nicht hereingekommen, als Ihre Herrin Sie rief? Sie nähten doch im Vorzimmer.«
Anfangs wollte sie die Erstaunte spielen und sagen, daß sie nichts gehört habe. Aber ihr gutes, freimütiges Gesicht vermochte nicht zu lügen und lachte wider Willen. Zuletzt beichtete sie tapfer und munter:
»Ei, was ging das mich an? Soll ich mich etwa zwischen ein Liebespaar stellen? Und außerdem war ich ganz ruhig; ich wußte, daß der Fürst meine liebe Benedetta zu sehr liebt, als daß er ihr etwas Böses anthun könnte.«
Die Wahrheit war also, daß sie beim ersten Hilferuf begriffen hatte, um was es sich handle, ihre Arbeit auf den Tisch niedergelegt und sich leise wie eine Katze davongeschlichen hatte, um die lieben Kinder, wie sie sie nannte, nicht stören zu müssen.
»Ach, das arme Kind!« schloß sie. »Wie unrecht hat sie, sich wegen der Gedanken ans Jenseits so zu martern! Großer Gott, was wäre denn so Böses dabei, wenn sie sich ein wenig glücklich machen würden, da sie sich so lieben! Das Leben ist nicht so schön. Wie wird es ihr später leid thun, wenn es zu spät sein wird!«
Als Pierre in seinem Zimmer allein war, fühlte er sich mit einemmale ganz schwindelig. Der Buchsbaum! Der Buchsbaum! Gleich ihm war sie bei seinem herben, kräftigen Duft erschauert! Und der Duft kehrte wieder, beschwor den der päpstlichen Gärten, der wollüstigen, einsamen, römischen Gärten herauf, über denen die erhabene Sonne brannte. Der ganze Tag faßte sich in seinem Geiste zusammen und seine vollständige Bedeutung wurde ihm klar: es war das furchtbare Erwachen, der ewige Protest der Natur und des Lebens, es waren Venus und Herkules, die man jahrhundertelang in der Erde vergraben kann, die aber eines Tages doch wieder daraus auftauchen, die man in dem herrschsüchtigen, unbeweglichen und störrischen Vatikan einmauern mag, die aber selbst hier regieren und unumschränkt die Welt beherrschen.
Ende des ersten Bandes.