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Am Nachmittag desselben Tages gedachte Pierre, da er Muße hatte, seine Streifzüge durch Rom mit einem Besuche zu beginnen, der ihm am Herzen lag.
Gleich nach dem Erscheinen seines Buches hatte ihn ein Brief, den er aus dieser Stadt erhielt, tief gerührt und interessirt. Es war ein Brief des alten Grafen Orlando Prada, des Helden der italienischen Unabhängigkeit und Einheit, der unter dem Eindruck der ersten Lektüre spontan, ohne ihn zu kennen, an ihn geschrieben hatte. Diese vier Seiten enthielten eine stammende Verwahrung, einen Aufschrei des in dem Greise noch jugendlich lebendigen Patriotismus; er klagte ihn an, in seinem Werk Italien vergessen zu haben, und forderte Rom, das neue Rom, für das geeinigte und endlich befreite Italien. Daraus hatte sich ein Briefwechsel entwickelt, und obwohl der Priester von seinem Traum vom Neukatholizismus, dein Retter der Welt, nichts opferte, so begann er dennoch den Mann, der ihm diese Briefe voll großer, brennender Vaterlands- und Freiheitsliebe schrieb, aus der Ferne zu lieben. Er hatte ihn von seiner Reise benachrichtigt und versprochen, ihn zu besuchen. Aber jetzt war ihm die Gastfreundschaft, die er im Palaste Boccanera angenommen hatte, sehr störend; denn nach dem so liebreichen Empfang Benedettas war es mißlich, gleich am ersten Tage, ohne sie davon zu benachrichtigen, den Vater des Mannes aufzusuchen, vor dem sie geflohen war, gegen den sie die Scheidungsklage eingebracht hatte, um so mehr als der alte Orlando bei seinem Sohne in dem kleinen Palaste wohnte, den dieser am oberen Ende der Via Venti Settembre hatte bauen lassen.
Pierre wollte also seine Bedenken vor allem der Contessina selbst gestehen. Er hatte übrigens von dem Vicomte Philibert de la Choue erfahren, daß sie dem Helden eine mit Bewunderung gemischte töchterliche Zärtlichkeit bewahrte. Und in der That, als er ihr nach dem Frühstück die Verlegenheit, in der er sich befand, mitteilte, rief sie gleich bei seinen ersten Worten laut:
»Aber, Herr Abbé, gehen Sie nur, gehen Sie rasch! Sie wissen, der alte Orlando ist eine unserer Nationalzierden, Wundern Sie sich nicht, daß ich ihn so nenne, ganz Italien gibt ihm aus Liebe und Dankbarkeit diesen zärtlichen Beinamen. Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die ihn verabscheute, für einen Satan hielt. Erst später lernte ich ihn kennen und lieben. Er ist der sanfteste und gerechteste Mensch, den es auf Erden gibt.«
Sie begann zu lächeln, während verschwiegene Thränen ihre Augen feuchteten; zweifellos bewirkte das die Erinnerung an das stürmische Jahr, das sie in jenem Hause verbracht hatte, wo sie, außer in der Nähe des Greises, keine friedliche Stunde gekannt hatte. Und mit leiserer, etwas zitternder Stimme fügte sie hinzu:
»Da Sie ihn sehen werden, so sagen Sie ihm m meinem Namen, daß ich ihn noch immer liebe und nie seine Güte vergessen werde, was auch kommen möge.«
Wahrend Pierre in die Via Venti Settembre fuhr, beschwor er in Gedanken die ganze Heldengeschichte des alten Orlando herauf, die er sich hatte erzählen lassen. Sie war das reine Epos und versetzte ihn in die Gläubigkeit, Tapferkeit und Uneigennützigkeit eines andern Zeitalters.
Der Graf Orlando Prada, einer edlen Mailänder Familie entstammend, wurde schon in frühester Jugend von einem solchen Haffe gegen die Fremden verzehrt, daß er im Alter von kaum fünfzehn Jahren einer geheimen Gesellschaft, einer der Verzweigungen des alten Carbonaritums, angehörte. Dieser Haß gegen die österreichische Herrschaft war alt und rührte noch aus der Zeit der Revolten gegen die Knechtschaft her, als die Verschwörer sich in verlassenen Hütten in der Tiefe der Wälder versammelten. Dieser Haß wurde noch gesteigert durch den hundertjährigen Traum von einem befreiten, sich selbst wiedergegebenen Italien, das endlich wieder die große, herrschende Nation, die würdige Tochter der einstigen Besieger und Herren der Welt werden sollte. Ach, welch feuriger, herrlicher Traum, dieses glorreiche Land von einst, dieses entgliederte, zerstückelte, einer Menge von kleinen Tyrannen preisgegebene, von den Nachbarnationen fortwährend Überfallene und an sich gerissene Italien aus seiner langen Schmach zu reißen! Die Fremden schlagen, die Despoten verjagen, das Volk aus dem niedrigen Elend seiner Sklaverei wecken, das freie, das einige Italien verkünden – das war die Leidenschaft, die damals mit unauslöschlichen Flammen in der ganzen Jugend aufloderte, die das Herz des jungen Orlando vor Begeisterung sprengte. Er verlebte sein Jünglingsalter in heiliger Empörung, in der stolzen Ungeduld, dem Vaterlande sein Blut hinzugeben und für dasselbe zu sterben, wenn er es nicht befreien konnte. Orlando lebte zurückgezogen in seinem alten Familienhause in Mailand, zitterte unter dem Joch und verlor seine Zeit mit ergebnislosen Verschwörungen. Er hatte eben geheiratet und war fünfundzwanzig Jahre alt, als die Nachricht von der Flucht Pius' IX. und der Revolution in Rom eintraf. Jählings verließ er alles, das Haus, die Frau, um, wie von der Stimme seines Schicksals gerufen, nach Rom zu eilen. Es war das erstemal, daß er so auszog, um der Unabhängigkeit den Weg zu bahnen. Wie oft sollte er sich wieder aufmachen, ohne je zu ermüden! Damals lernte er Mazzini kennen und begeisterte sich einen Augenblick für die mystische Gestalt dieses für die Einheit begeisterten Republikaners. Da er selbst von einer allgemeinen Republik träumte, adoptirte er die Devise Mazzinis: » Dio o popolo«, und folgte der Prozession, die mit großem Gepränge das aufrührerische Rom durchzog, Es war eine Epoche voll ungeheurer Hoffnungen, die bereits von dem Bedürfnis nach einer Erneuerung des Katholizismus gequält wurde und in Erwartung eines menschlichen Christus lebte, der beauftragt war, die Welt zum zweitenmal zu retten. Bald aber riß ihn ein Mann, Garibaldi, damals in der Morgenröte seines epischen Ruhmes stehend, gänzlich an sich, und machte aus ihm einen bedingungslosen Soldaten der Freiheit und Einigkeit. Orlando liebte ihn wie einen Gott, schlug sich an seiner Seite wie ein Held, nahm an dem Siege bei Rieti über die Neapolitaner teil und folgte dem hartnäckigen Patrioten auf seinem Rückzuge, als er sich, gezwungen Rom der französischen Armee des Generals Oudinot zu überlassen, die Pius IX. wieder einsetzte, zum Entsatze nach Venedig begab. Und was für ein außerordentliches, tollkühnes Wagnis war das! Dieses Venedig, das Manin, ein zweiter großer Patriot, ein Märtyrer, wieder zur Republik gemacht hatte, das seit langen Monaten den Oesterreichern widerstand! Und nun dieser Garibaldi, der mit einer Handvoll Männern abgeht, um es zu befreien, dreizehn Fischerbarken ausrüstet, acht davon in einem Seekampf verliert, an das römische Ufer zurückkehren muß und dort auf klägliche Weise seine Frau Anita verliert, der er die Augen schließt, ehe er nach Amerika zurückkehrt, wo er bisher in Erwartung der Stunde des Aufstandes gelebt hat! O, diese italische Erde, in der zu jenen Zeiten allerorten das innere Feuer des Patriotismus grollte, wo in jeder Stadt Männer voll Vertrauen und Mut erstanden, wo überall der Aufstand wie eine Eruption losbrach, die trotz aller Schlappen dennoch unbesiegbar dem Triumph entgegenging!
Orlando kehrte nach Mailand zu seiner jungen Frau zurück und lebte dort zwei Jahre in Verborgenheit; er verzehrte sich in ungeduldiger Erwartung des glorreichen, morgenden Tages, dessen Anbrechen so lange auf sich warten ließ. Ein Glück stillte ein wenig sein Fieber: er bekam einen Sohn, Luigi. Aber das Kind kostete seiner Mutter das Leben. Orlando wurde in tiefe Trauer gestürzt, und da er nicht mehr in Mailand bleiben konnte, wo die Polizei ihn überwachte, hetzte und die Fremdherrschaft ihm allzu große Leiden bereitete, entschloß er sich, die Trümmer seines Vermögens zu realisiren und zog sich dann nach Turin, zu einer Tante seiner Frau zurück, die das Kind in Obhut nahm. Graf Cavour, der große Politiker, arbeitete von da an auf die Unabhängigkeit hin und bereitete Piemont auf die entscheidende Rolle vor, die es spielen sollte. Es war die Epoche, da der König Viktor Emanuel mit schmeichelhafter Gutmütigkeit die ihm aus allen Teilen Italiens zukommenden Flüchtlinge aufnahm – selbst solche, von denen er wußte, daß sie Republikaner und infolge von Volksaufständen kompromittirt und flüchtig waren. Der Traum, die italienische Einheit zu Gunsten der piemontesischen Monarchie zu verwirklichen, bestand in dem rauhen, schlauen Hause Savoyen schon lange, reiste bereits seit Jahren. Orlando war es nicht unbekannt, von welchem Herrn er sich anwerben ließ, aber schon stand in seinem Herzen der Republikaner hinter dem Patrioten zurück; er glaubte nicht mehr an ein im Namen der Republik geschaffenes und unter dem Schutze eines liberalen Papstes stehendes Italien, so wie Mazzini es einen Augenblick geträumt hatte. War das nicht eine Chimäre, die Generationen verschlingen würde, wenn man auf ihrer Ausführung beharrte? Er wollte nicht sterben, ohne als Eroberer in Rom geschlafen zu haben. Selbst wenn die Freiheit dabei auf dem Platze blieb, sollte das Vaterland wieder aufgebaut werden und aufrecht, endlich lebendig im Sonnenlicht dastehen. Wie fieberhaft glücklich war er daher, als er sich im Kriege von 1859 anwerben ließ, wie klopfte ihm das Herz zum Zerspringen in der Brust, als er mit der französischen Armee in Mailand einzog, in das Mailand, das er acht Jahre zuvor als Proskribirter verzweifelnden Herzens verlassen hatte! Nach Solferino war die Uebereinkunft von Villafranca eine bittere Enttäuschung; Venetien entschlüpfte, Venedig blieb gefangen. Aber das Mailändische war doch erobert und auch Toskana, die Herzogtümer Modena und Parma votirten ihre Annexion. Kurz, der Kern des Steines bildete sich, das Vaterland erstand rings um das siegreiche Piemont.
Im nächsten Jahre kehrte Orlando von neuem ins Epos zurück. Garibald: war von seinem zweimaligen Aufenthalt in Amerika zurückgekehrt; eine ganze Legende umgab ihn, die Erzählungen von den ritterlichen Heldenthaten in den Pampas von Uruguay, einem außerordentlichen Zuge von Canton nach Lima gingen ihm voraus; er war wieder erschienen, um sich im Jahre 1859 zu schlagen, kam der französischen Armee zuvor, warf einen österreichischen Marschall über den Haufen, zog in die Städte: Como, Bergamo, Brescia ein. Plötzlich erfuhr man, daß er mit bloß tausend Mann in Marsala gelandet sei – mit den Tausend von Marsala, der berühmten Handvoll Tapferer. Orlando kämpfte in der ersten Reihe. Palermo widerstand drei Tage, dann wurde es genommen. Orlando, der Lieblingslieutenant des Diktators geworden, half ihm beim Organisiren der Regierung, ging dann mit ihm über die Meerenge und nahm an seiner Seite an dem triumphirenden Einzug in Neapel teil, dessen König sich geflüchtet hatte. Es war der Wahnsinn der Kühnheit und Tapferkeit, der Ausbruch des Unvermeidlichen; allerlei Geschichten von übermenschlichen Thaten gingen in der Runde: Garibaldi sei unverletzlich, von seinem roten Hemde besser als durch den dicksten Panzer geschützt, Garibaldi jage die feindlichen Armeen wie ein Erzengel durch das bloße Schwingen seines stammenden Schwertes in wilde Flucht. Die Piemontesen, die ihrerseits den General Lamoricière bei Castelfidardo geschlagen hatten, waren in die römischen Staaten eingedrungen. Und Orlando war dabei, als der Diktator, seine Macht niederlegend, das Dekret der Einverleibung beider Sizilien in die italienische Krone unterschrieb, ebenso wie er an dein leidenschaftlichen Aufschrei »Rom oder den Tod«, an jenem verzweifelten Versuche teilnahm, der so tragisch bei Aspromonte endete. Die kleine Armee ward von den italienischen Truppen zerstreut, Garibaldi verwundet, gefangen und in die Einsamkeit seiner Insel Caprera zurückgeschickt, wo er nur noch ein einfacher Landmann blieb.
Die darauf folgenden sechs Jahre des Wartens verlebte Orlando in Turin, selbst nachdem Florenz zur neuen Hauptstadt gewählt worden war. Der Senat hatte Viktor Emanuel zum König von Italien ausgerufen und in der That, Italien war geschaffen; es fehlten nur noch Rom und Venedig. Die großen Kämpfe schienen zu Ende zu sein, die Aera der Epopöe war abgeschlossen. Venedig wurde Italien durch die Niederlage geschenkt. Orlando machte die unglückliche Schlacht von Custozza mit, wo er zwei Wunden erhielt und sein Herz durch den schmerzlichen Gedanken, Oesterreich könne siegen, noch tödlicher getroffen ward. Aber in demselben Moment verlor dieses, bei Sadowa geschlagen, Venetien, und fünf Monate später nahm er an der Siegesfreude in Venedig teil, als Viktor Emanuel unter dem frenetischen Jubel des Volkes dort seinen Einzug hielt. Nur Rom fehlte noch; eine rasende Ungeduld riß das gesamte Italien zu ihm hin und nur der Schwur des befreundeten Frankreich, den Papst zu stützen, hielt es auf. Zum drittenmal wollte Garibaldi die legendenhaften Heldenthaten erneuern; frei von allen Banden, nur ein vom Patriotismus erleuchteter Freibeuterhauptmann stürzte er sich auf Rom. Und zum drittenmale nahm Orlando an diesem Heldenwahnsinn teil, der bei Mentana an den von einem kleinen französischen Corps unterstützten päpstlichen Zuaven zerschellen sollte. Von neuem verwundet, kehrte er beinahe sterbend nach Turin zurück. Man mußte sich mit zuckendem Herzen ergeben; die Lage war unlöslich. Da mit einemmale fuhr der Donnerschlag bei Sedan herab; Frankreich war vernichtet und der Weg nach Rom wurde wieder frei. Orlando, in das reguläre Heer zurückgekehrt, gehörte zu den Truppen, die in der römischen Campagna Aufstellung nahmen, um gemäß den Bedingungen des Briefes, den Viktor Emanuel an Pius IX. geschrieben, über die Sicherheit des Heiligen Stuhles zu wachen. Es war übrigens nur ein Scheingefecht: die päpstlichen Zuaven des Generals Kanzler mußten sich beugen und Orlando war einer der eisten, der durch die Bresche von Porta Pia in die Stadt eindrang. O, dieser zwanzigste September! Das war der Tag, an dem er das größte Glück seines Lebens empfand, ein Tag der Begeisterung, ein Tag vollständigen Triumphes, an dem sich der Traum so vieler Jahre schrecklicher Kampfe verwirklichte, für den er seine Ruhe, sein Vermögen, seinen Geist und seinen Leib hingegeben hatte!
Hierauf kamen noch mehr als zehn glückliche Jahre in dem eroberten Rom, in dem Rom, das wie eine Frau, auf die man alle Hoffnung gesetzt hat, angebetet, geschont und umschmeichelt ward. Er erwartete von ihm eine große nationale Kraft, eine wunderbare Auferstehung von Stärke und Ruhm für die junge Nation. Der ehemalige Republikaner, der ehemalige Insurgent mußte sich ralliren und einen Sitz im Senat annehmen: war denn nicht Garibaldi selbst, sein Gott, im Begriffe, dem Könige einen Besuch abzustatten und seinen Platz im Parlamente einzunehmen? Nur der intransigente Mazzini hatte nichts von einem unabhängigen und einigen Italien, das nicht auch eine Republik war, wissen wollen. Auch noch ein anderer Grund hatte Orlando dazu bewogen: die Zukunft seines Sohnes Luigi, der am Tage nach dem Einzug in Rom achtzehn Jahre alt geworden war. Wenn er sich auch mit den Brosamen seines einstigen, im Dienste des Vaterlandes aufgegangenen Vermögens begnügte, so träumte er doch von einem großen Lose für sein angebetetes Kind. Er fühlte wohl, daß das heroische Zeitalter beendet sei, und wollte aus ihm einen großen Politiker, einen großen Administrator, einen Mann machen, welcher der souveränen Nation von Morgen nützlich wäre. Aus diesem Grunde hatte er die königliche Gunst, den Lohn seiner langen Hingebung nicht zurückgestoßen; er wollte da sein, Luigi helfen, ihn überwachen und leiten. War er denn selbst so alt, so abgethan, daß er sich nicht in der Organisation nützlich machen konnte, so wie er es bei der Eroberung gewesen zu sein glaubte? Er hatte den jungen Mann im Finanzministerium untergebracht, da ihm sein lebhaftes Verständnis für Geschäftsangelegenheiten auffiel; vielleicht verriet ihm auch ein geheimer Instinkt, daß die Schlacht fortan auf finanziellem und ökonomischem Felde fortgesetzt werden würde. Und von neuem lebte er im Traum dahin; er glaubte noch immer voll Begeisterung an die herrliche Zukunft und sah mit unbegrenzter Hoffnung, wie Roms Bevölkerung sich verdoppelte, wie es sich durch das tolle Aufwachsen neuer Stadtteile vergrößerte. In seinen entzückten Liebhaberaugen ward es wieder die Königin der Welt.
Plötzlich fuhr der Blitzstrahl herab. Als Orlando eines Morgens die Treppe hinabstieg, wurde er von einer Lähmung getroffen; beide Beine waren sofort abgestorben, schwer wie Blei. Man mußte ihn hinaustragen und nie wieder setzte er den Fuß aus das Straßenpflaster. Er war damals sechsundfünfzig Jahre alt; seit vierzehn Jahren hatte er seinen Lehnstuhl nicht verlassen. Er, der einst so gewaltig die Schlachtfelder von Italien durcheilte, war nun in steinerner Unbeweglichkeit auf seinem Stuhl festgenagelt. Das war ein großer Jammer – der Fall eines Helden. Das Schlimmste dabei war, daß der alte Soldat von dem Zimmer aus, in dem er gefangen war, dem langsamen Zusammenbruch aller seiner Hoffnungen beiwohnte und in der uneingestandenen Furcht vor der Zukunft von einer furchtbaren Schwermut überfallen wurde. Seit er durch den Rausch der Thätigkeit nicht mehr geblendet wurde und seine langen, leeren Tage mit Nachdenken zubrachte, sah er endlich klar. Dieses Italien, das er so gern mächtig, in triumphirender Einheit gesehen hatte, benahm sich wie wahnwitzig, eilte dem Ruin, vielleicht dem Bankerott entgegen. Dieses Rom, das für ihn stets die notwendige Kapitale, die ruhmreiche Stadt ohnegleichen war, deren das erste Volk von Morgen bedurfte, schien sich gegen die Rolle einer großen, modernen Hauptstadt zu sträuben; es war schwer wie ein Toter, es lastete mit dem Gewicht der Jahrhunderte auf der Brust der jungen Nation. Außerdem brachte ihn sein Sohn, sein Luigi, in Verzweiflung; er war rebellisch in jeder Richtung; er stürzte sich auf die noch warme Beute, dieses Italien, dieses Rom, das sein Vater nur erstrebt zu haben schien, damit er selbst es plündere und sich an ihm mäste. Vergebens hatte er sich seinen Austritt aus dem Ministerium, seiner zügellosen Spekulation mit Grundstücken und Immobilien widersetzt, welche der Wahnsinn der neuen Stadtteile veranlaßt hatte. Er betete ihn trotzdem an und mußte schweigen, besonders seit ihm die waghalsigsten finanziellen Operationen gelungen waren: so zum Beispiel die Umwandlung der Villa Montefiori in eine wirkliche Stadt. Das war ein kolossales Geschäft gewesen, bei dem die Reichsten zu Grunde gegangen waren, aus dem er sich aber mit Millionen zurückgezogen hatte. Stumm und verzweifelt bestand Orlando steif darauf, in dem kleinen Palaste, den Luigi Prada in der Via Venti Settembre erbauen ließ, nur ein schmales Zimmer zu bewohnen. Hier verbrachte er seine Tage in klösterlicher Abgeschiedenheit, nur mit einem einzigen Diener; er nahm von seinem Sohne nichts an als diese Gastfreundschaft und lebte ärmlich von seiner bescheidenen Rente.
Als Pierre in dieser neuen, auf den Abhang und den Gipfel des Viminal führenden Via Venti Settembre anlangte, fiel ihm die schwere Pracht der neuen Paläste auf, in der sich der ererbte Geschmack für das Ungeheure aussprach. In dem purpurnen Altgold der heißen Nachmittagssonne verriet diese breite Triumphstraße, diese Doppelreihe endloser, weißer Fassaden die stolze Zukunftshoffnung des neuen Rom, die Herrschaftsgelüste, die diese gewaltigen Bauten aus dem Boden sprießen ließen. Besonders vor dem Finanzministerium blieb er mit offenem Munde stehen; das ist eine gigantische Masse, eine Zusammenhäufung von Säulen, Ballonen, Giebeln, Skulpturen, ein cyklopischer Würfel, eine ganze, maßlose Welt, vom Steinwahnsinn an einein stolzen Tage erzeugt. Und hier, gegenüber, etwas weiter oben, ehe man zur Villa Bonaparte gelangte, befand sich der kleine Palast des Grafen Prada.
Nachdem Pierre seinen Kutscher bezahlt hatte, hielt er einen Augenblick verlegen an. Da die Thüre offen stand, war er in die Vorhalle getreten, aber niemand, weder ein Portier noch ein Diener war zu sehen. Er mußte sich entschließen, in den ersten Stock zu steigen. Die monumentale Treppe mit dem Geländer aus Marmor gab in kleinem Maßstab die übertriebenen Dimensionen der Ehrentreppe im Palast Boccanera wieder; es war dieselbe kalte Nacktheit wie dort, gemäßigt durch rote Teppiche und rote Vorhänge, die grell von dem weißen Stuck der Mauern abstachen. Im ersten Stockwerk befanden sich die fünf Meter hohen Empfangsräume; durch eine halb offene Thür erblickte er zwei in einander gehende Salons, die mit ganz moderner Pracht, verschwenderisch mit Behängen aus Sammet und Seide, vergoldeten Möbeln und hohen Spiegeln ausgestattet waren, die die prunkvolle Masse der Konsolen und Tische widerspiegelten. Und noch immer sah er keinen Menschen, keine Seele in diesem gleichsam verlassenen Hause, dem die Frau zu fehlen schien. Er wollte wieder hinunter gehen, um zu klingeln, als endlich ein Lakai erschien.
»Bitte, ich möchte den Herrn Grafen Prada sprechen.«
Der Lakai betrachtete schweigend den kleinen Priester und schien zu verstehen.
»Vater oder Sohn?«
»Den Vater, den Herrn Grafen Orlando Prada.«
»Im dritten Stock.«
Dann ließ er sich herab, eine Erklärung hinzuzufügen.
»Die kleine Thür rechts am Treppenabsatz. Klopfen Sie fest an, sonst öffnet man Ihnen nicht.«
In der That mußte Pierre zweimal klopfen. Ein kleiner, ganz ausgetrockneter Mann mit militärischer Haltung, ein ehemaliger Soldat des Grafen, der in seinem Dienste geblieben war, öffnete ihm; er sagte zu seiner Entschuldigung, weil er nicht gleich geöffnet hatte, daß er im Begriffe gewesen sei, die Beine seines Herrn in die richtige Lage zu bringen. Er meldete den Besucher sofort an, und dieser wurde, als er ein dunkles, sehr schmales Vorzimmer durchschritten hatte, von dem Gemach, das er nun betrat, ganz betroffen. Es war ein verhältnismäßig kleines, ganz kahles, mit einer einfachen hellen, blaugeblümten Papiertapete ausgestattetes Zimmer. Hinter einem Wandschirm befand sich ein Eisenbett, ein echtes Soldatenlager; sonst waren keine Möbel vorhanden, nichts als ein Lehnstuhl, in dem der Kranke seine Tage verbrachte, daneben ein mit Zeitungen und Büchern bedeckter, schwarzer hölzerner Tisch und zwei alte Strohsessel, die für die seltenen Besucher bestimmt waren. Einige Bretter an der einen Wand nahmen die Stelle des Bücherschrankes ein. Aber das breite, helle Fenster, das keinen Vorhang besaß, ging auf das wunderbarste Panorama von Rom hinaus, das man sehen kann.
Dann verschwand das Zimmer und Pierre sah in plötzlicher tiefer Bewegung nur noch den alten Orlando. Er glich einem alten, weißhaarigen, noch prächtigen, sehr starken, sehr großen Löwen. Ein Wald von weißen Haaren auf einem mächtigen Haupte mit dicken Lippen, einer starken, zerdrückten Nase und großen, funkelnden schwarzen Augen; ein langer, weißer, jugendlich kräftiger Bart, gekräuselt wie der eines Gottes. Man erriet, daß in diesem Löwenkopfe furchtbare Leidenschaften getobt haben mußten, aber alle diese Leidenschaften, die fleischlichen wie die geistigen, hatten ihren Ausbruch im Patriotismus, in toller Bravour und unmäßiger Liebe zur Unabhängigkeit gefunden. Und so war der alte, vom Blitz getroffene Held auf seinem Strohsessel angenagelt; der Oberleib war noch gerade und hoch aufgerichtet, die toten Beine aber waren unter einer schwarzen Decke verschwunden. Nur die Arme, die Hände lebten; nur das Gesicht leuchtete von Kraft und Intelligenz.
»Batista, Du kannst gehen,« wandte sich Orlando sanft zu seinem Diener. »In zwei Stunden komm wieder.«
Dann sah er Pierre fest ins Gesicht und rief mit einer trotz seiner sechsundsechzig Jahre kräftigen Stimme:
»Also endlich, mein lieber Herr Froment! Wir können nun mit Muße plaudern ... Da, nehmen Sie diesen Stuhl, setzen Sie sich vor mich hin.«
Er bemerkte jedoch den überraschten Blick, den der Priester auf das kahle Zimmer warf und fügte munter hinzu:
»Sie werden mir verzeihen, daß ich Sie in meiner Zelle empfange. Ja, ich lebe hier wie ein Mönch, wie ein alter, pensionirter Soldat, der fortan abseits vom Leben steht. Mein Sohn quält mich noch immer, ich möge eines der schönen Zimmer unten beziehen. Aber wozu? Ich brauche nichts, ich liebe keine Federbetten, denn meine alten Knochen sind an die harte Erde gewöhnt. Und dann habe ich hier eine so schöne Aussicht! Ganz Rom bietet sich mir dar – jetzt, wo ich es nicht mehr aufsuchen kann!«
Er hatte mit einer Geberde gegen das Fenster die Verlegenheit, das leichte Erröten verborgen, die ihn jedesmal überkamen, wenn er seinen Sohn derart entschuldigte, ohne die wahre Ursache, die Skrupeln des Biedermannes einzugestehen, die ihn bei seiner ärmlichen Einrichtung beharren ließen.
»Das ist ja sehr schön! Das ist ja herrlich!« rief Pierre, um ihm ein Vergnügen zu machen. »Auch ich bin so glücklich, daß ich Sie endlich sehe! So glücklich, daß ich die tapferen Hände drücken kann, die so viel Großes verrichteten!«
Abermals schien Orlando mit einer Geberde die Vergangenheit wegschieben zu wollen.
»Pah, pah, das alles ist zu Ende, begraben ... Reden wir lieber von Ihnen, mein lieber Herr Froment, von Ihnen, der so jung ist und die Gegenwart bedeutet. Und reden wir rasch von Ihrem Buche, das die Zukunft vorstellt... Ah, wenn Sie wüßten, in welchen Zorn Ihr Buch, Ihr ›Neues Rom‹ mich anfangs versetzte!«
Er lachte jetzt und griff nach dem Bande, der gerade auf dem Tisch neben ihm lag.
»Nein, Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich beim Lesen protestirend in die Höhe gefahren bin!« sagte er, indem er mit seiner breiten Riesenhand auf den Umschlag klopfte. »Der Papst, und noch einmal der Papst, und immer wieder der Papst! Das neue Rom für den Papst und durch den Papst! Das triumphirende Rom von morgen, das, dank dem Papste, entsteht, sich dem Papst hingibt und seinen Ruhm mit dem Ruhme des Papstes verschmilzt! Nun, und wir? Und Italien? Und alle Millionen, die wir ausgegeben haben, um aus Rom eine große Hauptstadt zu machen? Ja, nur ein Franzose, und zwar nur ein Pariser, kann ein solches Buch geschrieben haben! Mein lieber Herr, lassen Sie es sich sagen, wenn Sie es nicht wissen: Rom ist die Hauptstadt des Königreiches Italien geworden; es gibt hier einen König Humbert und es gibt Italiener – ein ganzes Voll, welches mitzählt, das kann ich Sie versichern, ein Volk, das Rom, das glorreiche, das wiedererstandene, für sich zu behalten gedenkt!«
Nun mußte Pierre über dieses jugendliche Feuer lachen.
»Ja, ja, Sie haben es mir geschrieben. Aber was kümmert das mich? Von meinem Standpunkt aus ist Italien nur eine Nation, ein Teil der Menschheit; ich will die Eintracht, die Brüderlichkeit aller Nationen, eine versöhnte, gläubige und glückliche Menschheit! Was liegt an der Regierungsform, ob sie monarchisch oder republikanisch ist! Was liegt an dem einigen und unabhängigen Vaterlande, wenn es nur noch ein freies, in Gerechtigkeit und Wahrheit lebendes Volt gibt!«
Orlando hatte von diesem begeisterten Aufschrei nur ein Wort zurückbehalten.
»Die Republik!« fuhr er leise, mit nachdenklicher Mime fort. »Ja, ich habe sie in meiner Jugend innig ersehnt. Ich habe mich für sie geschlagen, habe mit Mazzini konspirirt, einem Heiligen, einem Gläubigen, der an dem Absoluten zerschellte. Und dann? Man mußte die praktische Notwendigkeit annehmen, die Intransigentesten haben sich rallirt. Und würde die Republik uns heute retten? Auf jeden Fall würde sie sich in nichts von unserer parlamentarischen Monarchie unterscheiden; sehen Sie, was in Frankreich vorgeht. Warum also eine Revolution wagen, welche die Macht in die Hände der extremen Revolutionäre, der Anarchisten brächte? Wir alle fürchten das, das zeigt unsere Resignation. Ich weiß wohl, daß einige die Rettung in einer republikanischen Föderation sehen; alle ehemaligen kleinen Staaten sollen in ebenso vielen Republiken wieder erstehen und Rom ihnen präsidiren. Der Vatikan hätte vielleicht bei der Sache viel zu gewinnen. Man kann nicht sagen, daß er darauf hinarbeitet; er faßt die Eventualität einfach ohne Mißvergnügen ins Auge. Aber das ist ein Traum, ein Traum!«
Seine Heiterkeit, sogar ein Anflug feiner Ironie kamen wieder zum Vorschein.
»Wissen Sie, was mich in Ihrem Buche verführt hat? Denn trotz meiner Proteste habe ich es zweimal gelesen. Es könnte nämlich beinahe von Mazzini selbst sein. Ja, ich habe in ihm meine ganze Jugend wieder gefunden, die ganze tolle Hoffnung, die mich mit fünfundzwanzig Jahren erfüllte: die Hoffnung, daß die Religion Christi die Pacifizirung der Welt durch das Evangelium vollziehe. Wissen Sie, daß Mazzini schon lange vor Ihnen die Erneuerung des Katholizismus wollte? Er schob das Dogma und die Disziplin auf die Seite und behielt nur die Moral zurück. Und das neue Rom, das Rom des Volkes gab er der Universalkirche, in der alle Kirchen der Vergangenheit sich verschmelzen sollten, zum Sitz; Rom, die ewige, die prädestinirte Stadt, die Mutter und Königin, deren Herrschaft zum endgiltigen Glück der Menschen wieder erstand! Ist es nicht sonderbar, daß der gegenwärtige Neukatholizismus, das Erwachen des Spiritualistischen, die Idee der christlichen Gemeinde, der christlichen Nächstenliebe, mit der man so viel Lärm macht, nichts als eine Rückkehr zu den mystischen und humanen Ideen von 1848 ist? Ach, ich habe all das gesehen, ich habe geglaubt und gekämpft und weiß, in welch schöne Patsche uns dieses Aufschwingen in das Blau des Geheimnisvollen geführt hat. Was wollen Sie! Ich habe eben kein Vertrauen mehr.«
Da Pierre nun ebenfalls in Eifer geraten und antworten wollte, unterbrach er ihn.
»Nein, lassen Sie mich ausreden. Ich will Sie bloß völlig überzeugen, wie unbedingt notwendig es für uns war, Rom zu erobern und zur Hauptstadt von Italien zu machen. Ohne Rom konnte das neue Italien nicht sein. Es war der alte Ruhm; es hielt in seinem Staube die souveräne Macht fest, die wir wieder einsetzen wollten; es gab dem, der es besaß, Kraft, Schönheit, Ewigkeit. Im Mittelpunkt des Landes gelegen, war es dessen Herz und mußte sein Leben werden, sobald es aus dem langen Schlummer seiner Ruinen erweckt worden war. Ach, wie sehnten wir uns nach ihm inmitten unserer Siege und Niederlagen, während der Jahre schrecklicher Ungeduld! Ich, ich habe es mehr als jedwedes Weib geliebt und ersehnt; mein Blut brannte, ich war verzweifelt, weil ich alterte. Und als wir es endlich besaßen, da wollten wir es in unserer Narrheit prächtig, ungeheuer, zur Herrscherin, den anderen großen Hauptstädten Europas, Berlin, Paris, London, gleich machen. Sehen Sie es an. Es ist noch immer meine einzige Liebe, mein einziger Trost – heute, da ich tot bin, da nichts mehr an mir lebt als die Augen.«
Er hatte mit derselben Geberde wieder auf das Fenster gedeutet. Unter dem tiefen Himmel streckte sich Rom, von den schrägen Sonnenstrahlen ganz vergoldet, ins Unendliche hin. Ganz in der Ferne schlossen die Baume des Janiculus den Horizont mit ihrem hell smaragdgrünen Gürtel ab, während weiter links der Dom von St. Peter blaßblau einem in zu hellem Licht erblichenen Saphir glich. Dann kam die untere Stadt, die Altstadt, rot, wie verbrannt von Jahrhunderten glühender Sommer; sie war dem Auge so wohlgefällig, so schön in dem tiefen Leben der Vergangenheit, ein grenzenloses Chaos von Dächern, Taubenschlägen, Türmen, Campanilen und Kuppeln! Aber im Vordergrunde, unter dem Fenster lag die neue Stadt, die, welche man seit fünfundzwanzig Jahren baute – über einander gehäufte, noch kreidige Würfel von Mauerwerk, die weder die Sonne noch die Geschichte mit ihrem Purpur umhüllt hatten. Besonders die Dächer des gewaltigen Finanzministeriums breiteten sich in grausamer Häßlichkeit wie unendliche, bleiche Steppen aus. Auf diese trostlosen Neubauten hatten sich schließlich die Blicke des alten Soldaten aus der Eroberungszeit geheftet.
Ein Schweigen entstand. Pierre fühlte die leichte Kälte der verborgenen, uneingestandenen Trauer über sich hinziehen; er wartete höflich.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Ihnen das Wort abschnitt,« hob Orlando wieder an. »Aber es scheint mir, daß wir von Ihrem Buche nicht in nützlicher Weise reden können, ehe Sie Rom nicht aus der Nähe gesehen und studirt haben. Sie sind erst seit gestern hier, nicht wahr? Schlendern Sie in der Stadt herum, schauen, fragen Sie und ich glaube, viele Ihrer Ideen werden sich ändern. Ich warte vor allem den Eindruck ab, den der Vatikan auf Sie machen wird; Sie sind ja einzig und allein gekommen, um den Papst zu sehen und Ihr Werk vor dem Index zu verteidigen. Wozu sollten wir uns schon heute in Erörterungen einlassen, da die Thatsachen selbst Sie auf ganz andere Ideen bringen werden, weit besser als ich es durch die schönsten Reden von der Welt zu thun vermöchte. Also abgemacht, Sie kommen wieder, und dann werden wir wissen, wovon wir zu sprechen haben. Vielleicht werden wir uns verstehen!«
»Gewiß, gewiß,« sagte Pierre. »Sic sind zu gütig. Ich bin heute nur gekommen, um Ihnen für die Mühe, die Sie sich mit meinem Buche gegeben haben, meinen Dank auszudrücken und um in Ihnen eine der Zierden Italiens zu begrüßen.«
Orlando hörte ihm nicht zu; er war zerstreut, seine Augen ruhten noch immer auf Rom. Er wollte nicht, daß davon gesprochen werde, aber wider Willen, ganz von seiner geheimen Unruhe beherrscht, fuhr er mit leiser Stimme, wie in einer unwillkürlichen Beichte, fort:
»Gewiß, wir sind viel zu rasch vorwärts gegangen. Es gab unerläßliche, nützliche Ausgaben: Straßen, Häfen, Eisenbahnen. Und bewaffnet mußte das Land auch werden; ich habe anfangs die großen militärischen Lasten nicht mißbilligt. Aber später, dieses erdrückende Kriegsbudget – die Lasten eines Krieges, der nicht kam, dessen Erwartung uns zu Grunde richtete! O, ich war immer ein Freund Frankreichs; ich werfe ihm nichts vor, als daß es die Lage, die uns geschaffen wurde, den Entschuldigungsgrund nicht begriff, den wir hatten, als wir uns mit Deutschland verbündeten. Und die Milliarde, die Rom verschluckte! Das war Wahnsinn; wir haben aus Schwärmerei und aus Stolz gesündigt. Ich war in den Träumereien, denen sich der einsame Alte hingeben konnte, einer der ersten, der den Abgrund, die furchtbare finanzielle Krise, das Defizit ahnte, in die die Nation stürzen mußte. Ich habe es meinem Sohne, allen, die sich mir näherten, zugeschrieen, aber was half das? Sie hörten nicht auf mich, sie waren wahnsinnig, tauften, verlausten, bauten im Agio und in der Chimäre. Sic werden sehen, Sie werden sehen ... Das schlimmste ist, daß wir nicht, wie bei Ihnen, in der dichten Landbevölkerung einen Rückhalt an Geld und Menschenmaterial, einen Sparschatz haben, der immer bereit ist, die durch die Katastrophe entstandenen Löcher wieder auszufüllen. Bei uns regenerirt das Aufsteigen des Volkes, noch gleich Null, nicht das soziale Blut durch einen beständigen Zufluß von neuen Menschen. Außerdem ist das Volk arm; es hat keine Strümpfe, die es leeren könnte. Das Elend ist furchtbar, das muß man sagen. Wer Geld hat, zieht vor, es kleinlich in den Städten zu verzehren, als es bei landwirtschaftlichen oder industriellen Unternehmungen aufs Spiel zu setzen. Der Bau von Fabriken geht langsam vor sich. Der Boden untersteht fast überall noch der barbarischen Kultur wie vor zweitausend Jahren. Und Rom, Rom, das kein Italien geschaffen, das Italien durch seine feurige, einzige Sehnsucht zur Hauptstadt gemacht hat, Rom ist noch immer nur die prächtige Ruhmesdekorativ der Jahrhunderte, Rom hat uns mit seiner entarteten, hochmütigen und müßiggängerischen päpstlichen Bevölkerung noch nichts gegeben als den Prunk dieser Dekoration! Ich habe es zu sehr geliebt; ich liebe es zu sehr, als daß ich bedauern würde, hier zu sein. Aber, großer Gott, welchen Wahnsinn hat es in uns entfacht, wie viele Millionen hat es uns gekostet, wie drückt es uns mit seinem triumphirenden Gewicht zu Boden! Sehen Sie nur, sehen Sie!«
Und er zeigte auf die farblosen Dächer des Finanzministeriums, die ungeheure, trostlose Steppe hinaus, als hätte er dort die im voraus geschnittene Ernte des Ruhmes, die furchtbare Oede des drohenden Bankerottes gesehen. Verhaltene Thränen verschleierten seine Augen: er sah herrlich aus in seiner erschütterten Hoffnung, seiner schmerzlichen Unruhe, mit seinem ungeheuren, weißhaarigen Löwenkopfe. Nun war er ohnmächtig, angenagelt an dieses kahle, helle, so hochmütig ärmliche Zimmer, das ein Protest gegen den monumentalen Reichtum des ganzen Viertels zu sein schien. Das war es also, was man aus der Eroberung gemacht hatte! Und jetzt war er vom Blitze zerschmettert, unfähig, noch einmal sein Blut und seine Seele hinzugeben!
»Ja, ja,« schrie er auf, »alles gab man hin, das Herz und den Kopf, die ganze Existenz, so lange es sich darum handelte, das Vaterland einig und unabhängig zu machen. Aber jetzt, wo das Vaterland geschaffen ist, wer wird sich da für die Reorganisation feiner Finanzen begeistern! Das ist doch kein Ideal! Und so kommt es, daß, während die Alten sterben, kein neuer Mann unter den Jungen ersteht.«
Plötzlich hielt er, etwas befangen und über sein eigenes fieberhaftes Ungestüm, lächelnd inne.
»Entschuldigen Sie, ich bin wieder einmal durchgegangen. Ich bin wirklich unverbesserlich. Es ist abgemacht, wir lassen diesen Gegenstand jetzt, und wenn Sie alles gesehen haben werden, kommen Sie wieder und wir werden mit einander plaudern.«
Von nun an gab er sich bezaubernd, und Pierre ersah aus der verführerischen Gutmütigkeit, aus der überwältigenden Freundlichkeit, mit der er ihn umgab, wie leid es ihm that, zu viel gesprochen zu haben. Er beschwor ihn, lange in Rom zu bleiben, es nicht voreilig zu beurteilen, überzeugt zu sein, daß Italien im Grunde Frankreich immer liebe; er wünschte ebenso lebhaft, daß man Italien lieben solle, und empfand eine wahre Angst bei dem Gedanken, daß man es vielleicht nicht mehr liebe. Der Priester war sich wie tagszuvor im Paläste Boccanera deutlich bewußt, daß eine Art von Druck auf ihn ausgeübt werde, um ihn zur Bewunderung und zur Zärtlichkeit zu zwingen. Gleich einer Frau, die fühlt, daß sie nicht schön ist, an sich zweifelt und empfindlich ist, ängstigte sich Italien um die Meinung der Besucher und bemühte sich, ihre Liebe trotz allem zu bewahren.
Als jedoch Orlando erfuhr, daß Pierre im Palast Boccanera abgestiegen war, ereiferte er sich von neuem und machte eine Geberde lebhaften Aergers, als gerade in diesem Augenblick an der Thür geklopft wurde. Er rief »Herein,« hielt ihn aber dabei zurück.
»Nein, gehen Sie noch nicht. Ich will wissen – «
Eine Dame trat ein. Sie hatte das vierzigste Lebensjahr hinter sich, war rund und klein, noch hübsch, mit kleinen Zügen und einem artigen Lächeln, das im Fett ertrank. Sie hatte blondes Haar und grüne Augen, klar wie Quellwasser, war ziemlich gut gekleidet und sah in ihrer eleganten und einfachen reseda Toilette angenehm, bescheiden und bedächtig aus.
»Ah, Du bist's Stefana!« sagte der Greis und ließ sich von ihr küssen.
»Ja, Onkel. Ich ging vorüber und trat ein, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«
Es war Frau Sacco, eine Nichte Pradas. Sie war in Neapel geboren, ihre Mutter stammte aus Mailand und hatte den neapolitanischen Bankier Pagani geheiratet, der später insolvent geworden war. Nach dem Ruin hatte Stefana sich mit Sacco vermählt, der damals bloß ein kleiner Postbeamter war. Von da an hatte sich Sacco, der das Haus seines Schwiegervaters wieder in die Hohe bringen wollte, in schreckliche, verwickelte und verdächtige Geschäfte gestürzt und schließlich das unerwartete Glück gehabt, zum Deputirten gewählt zu werden. Seit er nach Rom gekommen war, um es seinerseits zu erobern, mußte seine Frau ihm bei seinem verzehrenden Ehrgeiz helfen, Toilette machen und einen Salon eröffnen. Sie war dabei wohl noch etwas linkisch, leistete ihm jedoch trotzdem nicht zu verachtende Dienste, da sie sehr sparsam, sehr umsichtig und eine gute Wirtin war; sie besaß, als Erbe ihrer Mutter, alle die trefflichen und soliden Eigenschaften Norditaliens, die sich neben dem unruhigen Wesen und der Liederlichkeit ihres Gatten, bei dem Süditalien mit seinen Gelüsten stets wieder aufflammte, prächtig ausnahmen.
Der alte Orlando, der Sacco verachtete, hatte seiner Nichte, bei der er sein Blut wieder fand, eine gewisse Zuneigung bewahrt. Er dankte ihr und fing sofort von der Neuigkeit an, welche die Morgenblätter gebracht hatten; denn er ahnte wohl, daß der Deputirte seine Frau hergeschickt habe, um seine Meinung zu erfahren.
»Nun, und wie steht es mit dem Ministerium?«
Sie hatte sich niedergesetzt und sah, ohne sich zu eilen, die Zeitungen durch, die auf dem Tische herumlagen.
»O, es ist noch nichts abgemacht. Die Presse hat zu voreilig davon gesprochen. Der Conseilspräsident hat Sacco berufen und sie haben eine Besprechung gehabt. Aber er zögert sehr; er fürchtet, für Ackerbau keine Befähigung zu haben. Ja, wenn es die Finanzen wären! Und dann, er würde auch keinen Entschluß gefaßt haben, ohne Sie zu Rate zu ziehen. Was halten Sie davon, Onkel?«
Er unterbrach sie mit einer heftigen Geberde.
»Nein, nein, in solche Dinge mische ich mich nicht!«
Der rasche Erfolg Saccos, dieses Abenteurers, der bei allem dabei war, der immer im Trüben fischte, war für ihn ein Greuel, der Anfang des Endes. Sein Sohn Luigi brachte ihn ja in Verzweiflung, aber wenn man bedachte, daß Luigi mit seiner riesigen Intelligenz, seinen noch immer so schönen Eigenschaften nichts war, während dieser Sacco, dieser Wirrkopf, dieser ewig gierige Genüßling sich in die Kammer geschlichen hatte und nun auf dem besten Wege war, ein Ministerportefeuille einzustecken! Sacco war ein kleiner, brauner, dürrer Mann mit großen runden Augen, hervorstehenden Backenknochen und prominentem Kinn, der immer tanzte und schrie. Er besaß eine blendende Beredsamkeit, deren ganze Macht in der Stimme lag – einer Stimme von wunderbarer Gewalt und Sanftmut. Und er schmeichelte und machte sich alles zu nutze, verführte und herrschte!
»Hörst Du, Stefana, sage Deinem Manne, der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, wieder ein kleiner Beamter bei der Post zu werden. Dort wird er vielleicht Dienste leisten können.«
Den alten Soldaten verletzte und empörte es, daß ein solcher Mann wie Sacco gleich einem Banditen in Rom eingefallen war, in dieses Rom, dessen Eroberung so viele edle Anstrengungen gekostet hatte. Und Sacco eroberte es nun seinerseits, nahm es denen weg, die es mit so harter Mühe gewonnen, besaß es, aber nur um sich daran zu ergötzen, um seine zügellose Sucht nach Macht damit zu stillen. Unter einer schmeichelnden Außenseite barg sich die Entschlossenheit, alles zu verschlingen. Nach dem Siege, als die Beute noch warm dalag, waren die Wölfe gekommen. Der Norden hatte Italien geschaffen; der Süden eilte auf die Beute zu, warf sich über sie und lebte von ihr wie von einem Raube. Und dem Zorne des zerschmetterten Helden lag vor allem der immer deutlicher hervortretende Antagonismus zwischen Nord und Süd zu Grunde: der Norden, arbeitsam und sparsam, bedacht, politisch, gelehrt und ganz den modernen Ideen hingegeben; der Süden, unwissend und faul, ganz der unmittelbaren Lebensfreude ergeben, mit der kindischen Unordnung der Handlungen, mit dem leeren Glanz schöner, tönender Worte.
Stefana lächelte ruhig, indem sie Pierre anblickte, der sich an das Fenster zurückgezogen hatte.
»O Onkel, Sie reden nur so! Aber Sie haben uns trotzdem lieb und haben mir schon mehr als einen guten Rat gegeben, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin. So auch bei der Geschichte mit Attilio ...«
Sie sprach von ihrem Sohn, dem Lieutenant und seinem Liebesabenteuer mit Celia, der kleinen Prinzessin Buongiovanni, von dem alle schwarzen und weißen Salons sich unterhielten.
»Attilio – das ist etwas anderes!« rief Orlando. »Er ist mein Blut, so wie Du, und es ist wunderbar, wie ich mich in dem Kerl wieder finde. Ja, er ist ganz wie ich, als ich so alt war – schön und tapfer und schwärmerisch! Du siehst, ich mache mir selbst Komplimente. Aber wirklich, Attilio liegt mir am Herzen, denn er ist die Zukunft, er gibt mir die Hoffnung wieder ... Nun, wie steht seine Geschichte?«
»Ach, Onkel, seine Geschichte macht uns vielen Aerger. Ich habe mit Ihnen schon davon gesprochen. Sie zuckten die Achseln und meinten, bei solchen Dingen hätten die Eltern nichts anderes zu thun, als die Liebenden ihre Angelegenheiten selbst in Ordnung bringen zu lassen ... Wir wollen aber doch nicht, daß man überall sagt, wir trieben unsern Sohn dazu, die kleine Prinzessin zu entführen, damit er dann ihr Geld und ihren Titel heiraten könne.«
Orlando ließ sich unverhohlen gehen.
»Das sind mir rechte Skrupel! Hat Dein Mann Dir aufgetragen, sie vor mir auszusprechen? Ja, ich weiß, daß er bei diesen Gelegenheiten den Zartfühlenden spielen will ... Ich wiederhole Dir, ich halte mich für ebenso ehrenhaft, wie er es ist, und wenn ich einen Sohn wie den Deinigen hätte, so offenherzig, so gut, so naiv verliebt, so würde ich ihn heiraten lassen, wen er wollte und wie er wollte! Die Buongiovannis! Lieber Gott, für die Buongiovannis, bei all ihrem Adel und dem Gelde, das sie noch haben, wird es eine große Ehre sein, einen so schönen Jungen mit einem solchen Herzen zum Schwiegersohn zu haben.«
Von neuem nahm Stefanas Gesicht den Ausdruck ruhiger Befriedigung an. Sie kam sicherlich nur, um Zustimmung einzuholen.
»Gut, Onkel, ich werde es meinem Manne wieder sagen, und er wird großes Gewicht darauf legen; denn wenn Sie auch strenge gegen ihn sind, er fühlt eine wirkliche Verehrung für Sie ... Was das Ministerium anbelangt ... mein Gott, vielleicht wird gar nichts daraus. Sacco wird den Umstanden gemäß seinen Entschluß fassen.«
Sie hatte sich erhoben und verabschiedete sich von dein Greise, indem sie ihn wie beim Kommen sehr zärtlich umarmte. Sie machte ihm Komplimente über sein gutes Aussehen, fand ihn sehr schön und brachte ihn zum Lächeln, indem sie eine Dame nannte, die noch in ihn vernarrt sei. Dann entfernte sie sich mit bescheidener und vernünftiger Miene, nachdem sie den stummen Gruß des jungen Priesters mit einer leichten Verbeugung erwidert hatte.
Orlando schwieg einen Augenblick und hielt, in seine trübe Stimmung zurücksinkend, den Blick auf die Thür gerichtet; er dachte zweifellos au die unklare, peinliche Gegenwart, die von der glorreichen Vergangenheit so verschieden war. Plötzlich wandte er sich wieder zu Pierre, der noch immer wartete.
»Sie sind also im Palazzo Boccanera abgestiegen, lieber Freund! Ach, auch von dort ein solches Unglück!«
Als der Priester ihm jedoch sein Gespräch mit Benedetta, ihre Worte wiederholte, daß sie ihn noch immer liebe und nie seine Güte vergessen werde, was immer auch geschehen möge, wurde er gerührt. Seine Stimme zitterte.
»Ja, sie ist eine gute Seele, sie ist nicht schlecht. Aber was ist da zu machen? Sie liebte Luigi nicht und er war vielleicht ein bischen heftig ... Diese Dinge sind kein Geheimnis, ich kann offen mit Ihnen darüber reden, da zu meinem großen Kummer die ganze Welt sie kennt,«
Orlando gab sich seinen Erinnerungen hin; er erzählte, wie er sich vor der Hochzeit bei dem Gedanken an das wunderbare Geschöpf gefreut hatte, das seine Tochter ward, das den Stuhl des Invaliden wieder mit Jugend und Reiz umgeben würde. Er hatte stets den Kultus der Schönheit getrieben, den leidenschaftlichen Kultus eines Liebhabers, dessen einzige Liebe stets die Frau geblieben wäre, wenn nicht das Vaterland sein Bestes an sich gerissen hätte. Und Benedetta betete ihn thatsächlich an; sie verehrte ihn, stieg unablässig zu ihm hinauf, um ganze Stunden bei ihm zu verbringen, kam nicht aus dem ärmlichen kleinen Zimmer weg, das dann in dem Glanz der göttlichen Anmut erstrahlte, den sie mit sich brachte. Er lebte in ihrem frischen Atem, in dem reinen Duft und der schmeichelnden, weiblichen Zärtlichkeit, mit der sie ihn umgab, ohne Unterlaß hegte und pflegte, wieder auf. Aber gleich darauf, was für ein schreckliches Drama! Und wie hatte sein Herz geblutet, da er nicht wußte, wie er die Gatten versöhnen solle! Er konnte dem Sohne nicht unrecht geben, wenn er der anerkannte, geliebte Gatte sein wollte. Anfangs, nach der ersten unheilvollen Nacht, diesem Zusammenstoß zweier Wesen, von denen jedes auf seinem unumschränkten Recht beharrte, hatte er gehofft, Benedetta zurückzuführen, in die Arme Luigis zu treiben. Aber als sie ihm unter Thränen ihr Geständnis ablegte, ihm ihre alte Liebe zu Dario beichtete, ihm ihren ganzen, unvorhergesehenen Widerwillen gegen den Akt, gegen die Hingabe ihrer Jungfräulichkeit an einen andern Mann erzählte, da begriff er, daß sie niemals nachgeben würde. So war ein ganzes Jahr verflossen; er hatte ein Jahr ans diesem Lehnstuhl angenagelt verlebt, während unter ihm, in diesen luxuriösen Gemächern, deren Geräusche nicht einmal an sein Ohr drangen, das schmerzliche Drama vor sich ging. Wie oft hatte er versucht, zu horchen, da er Streitigkeiten befürchtete, und wie verzweifelt war er, daß er sich nicht noch nützlich erweisen konnte, indem er Glückliche machte! Von seinem Sohne, der schwieg, erfuhr er nichts; nur von Benedetta hörte er manchmal Einzelheiten, wenn eine weichere Stimmung sie wehrlos machte. Und diese Heirat, in der er einen Augenblick den lang ersehnten Bund zwischen dem alten und dem neuen Rom gesehen hatte, diese nicht vollzogene Heirat brachte ihn in Verzweiflung; sie war der Verlust aller seiner Hoffnungen, das endgültige Scheitern seines Lebenstraumes. Zuletzt wünschte er selbst die Scheidung herbei, so unerträglich wurden die Leiden einer solchen Lage.
»Ach, lieber Freund, noch nie habe ich das Verhängnis gewisser Gegensätze so gut begriffen – noch nie so gut verstanden, daß man mit dem weichsten Herzen, mit der geradesten Vernunft sich und andere unglücklich machen kann!«
Aber die Thür that sich von neuem auf, und diesmal trat ohne vorheriges Anklopfen der Graf Prada ein. Nach einer raschen Begrüßung des Besuchers, der sich erhoben halte, ergriff er die Hände seines Vaters und betastete sie ängstlich, ob sie nicht zu heiß oder zu kalt seien.
»Ich komme eben von Frascati. Ich mußte dort übernachten, diese unterbrochenen Bauten geben mir so viel zu schaffen. Man sagt mir eben, daß Sie eins schlechte Nacht gehabt haben.«
»Aber nein, ich versichere Dich –«
»O, mir reden Sie nichts ein! ... Warum beharren Sie dabei, hier zu wohnen, ohne jede Bequemlichkeit? Das gehört sich nicht mehr für Ihr Alter. Sie würden mir ein solches Vergnügen machen, wenn Sie ein bequemeres Zimmer nähmen, wo Sie besser schlafen würden.«
»Ach nein, ach nein! ... Ich weiß ja, daß Du mich liebst, mein guter Luigi; aber ich bitte Dich, laß meinem alten Kopf seinen Willen. Nur so bin ich glücklich.«
Pierre ward sehr betroffen von der innigen Zuneigung, die aus den Blicken der beiden Männer stammte, während sie sich Aug' in Auge betrachteten. Das kam ihm unendlich rührend, großartig schon vor, da doch so viele entgegengesetzte Ideen und Handlungen, so viele Streitigkeiten, die einen moralischen Bruch herbeigeführt hatten, sie von einander trennten.
Er verglich sie mit Interesse. Graf Prada, kürzer, stämmiger gebaut, hatte ganz denselben energischen, starken, mit steifem, schwarzem Haar bewachsenen Kopf, dieselben freimütigen, etwas harten Augen wie sein Vater. Das von einem dicken Schnurrbart durchkreuzte Gesicht besaß eine klare Hautfarbe. Aber der Mund war anders; es war ein Mund mit einem Wolfsgebiß, sinnlich und gefräßig, ein beutelustiger Mund, geschaffen für den Abend nach der Schlacht, wenn es sich nur noch darum handelt, den Sieg der anderen anzubeißen. Das war auch der Grund, warum die Leute sagten, wenn man seine freimütigen Augen lobte: »Ja, aber sein Mund gefällt mir nicht.« Die Füße waren stark, die Hände dick und zu groß, aber sehr schön.
Pierre staunte, daß er ganz so war, wie er ihn erwartet hatte. Er kannte seine Geschichte genau genug, um sich ein Bild des Heldensohnes zusammenzustellen, den der Sieg verdorben hat, der mit vollem Munde die von dem glorreichen Degen des Vaters geschnittene Ernte verzehrt. Besonders studirte er, wie die Tugenden des Vaters entstellt worden waren, wie sie sich bei dem Kinde in Laster verwandelt hatten; die edelsten Eigenschaften waren entartet, die heldenmütige, uneigennützige Energie wurde zur wilden Genußlust, der Mann der Schlacht zum Mann der Beute, seit die großen Gefühle der Begeisterung schwiegen, seit man sich nicht mehr schlug und inmitten der aufgehäuften Siegesbeute in Ruhe plünderte und verschlang. Und der Held, der gelähmte, zur Unbeweglichkeit verurteilte Vater, mußte dieser Entartung des Sohnes, des mit Millionen vollgestopften Geschäftchenmachers beiwohnen!
Aber nun stellte Orlando Pierre vor.
»Der Herr Abbé Pierre Froment, von dem ich Dir erzählt habe – der Verfasser des Buches, das ich Dir zum Lesen gab.«
Prada war sehr liebenswürdig und begann sofort von Rom zu sprechen; er that es mit intelligenter Leidenschaft wie einer, der eine große, moderne Hauptstadt daraus machen wollte. Er hatte das nach dem zweiten Kaiserreich verwandelte Paris, das nach den deutschen Siegen vergrößerte und verschönerte Berlin gesehen, und wenn Rom sich der Bewegung nicht anschlösse, wenn es nicht eine große Stadt würde, die ein großes Volk bewohnen könnte, so war es, seiner Ansicht nach, von einem schnellen Tode bedroht. Entweder ein zusammenbröckelndes Museum oder eine neugeschaffene, auferstandene Stadt.
Sehr eingenommen, beinahe schon bestochen, hörte Pierre dem gewandten Manne zu, dessen fester und klarer Geist ihn bezauberte. Er wußte, mit welcher Geschicklichkeit er bei dem Handel mit der Villa Montefiori vorgegangen war; er hatte sich dabei bereichert, wo so viele andere zu Grunde gegangen waren, da er zweifellos die verhängnisvolle Katastrophe schon in dem Augenblicke vorausgesehen hatte, da die Agiowut noch die gesamte Nation bethörte. Trotzdem entdeckte er auf diesem willenskräftigen, energischen Gesichte bereits Zeichen der Ermüdung, vorzeitige Runzeln, ein Herabhängen der Lippen, als ob der Mann des fortwährenden Kampfes inmitten der angrenzenden Einstürze, die den Boden untergruben und durch den Rückschlag auch die am festesten sitzenden Vermögen mitzureißen drohten, überdrüssig sei. Man erzählte, daß Prada in letzter Zeit ernste Befürchtungen gehabt hatte; nichts mehr stand fest, alles konnte in der finanziellen Krise, die sich von Tag zu Tag verschlimmerte, verschlungen werden. Bei diesem rauhen Sohne Norditaliens entstand unter dem verweichlichenden, verderbenden Einfluß Roms eine Art Verfall, eine langsame Fäulnis, Alle seine Begierden hatten sich hier auf ihre Befriedigung gestürzt und er erschöpfte sich, indem er allen – der Begierde nach dem Geld, der Begierde nach dem Weibe – hier Genüge that. Daher rührte die große, stumme Trauer Orlandos; denn er sah diesen raschen Verfall seiner Erobererrasse, während Sacco, der Süditaliener, von dem Klima gleichsam unterstützt, wie geschaffen für diese wollüstige Luft, für diese sonnenverbrannten Städte voll antiken Staubes, sich hier gleich der natürlichen Vegetation des von den Verbrechen der Geschichte getränkten Bodens entfaltete und nach und nach alles, Macht und Reichtum, an sich riß.
Der Name Sacco wurde genannt; der Vater erzählte dem Sohne von dem Besuche Stefanas. Beide sahen sich lächelnd an, ohne eine weitere Bemerkung zu machen. Es ging das Gerücht, daß der verflossene Ackerbauminister vielleicht nicht sofort ersetzt werden, daß ein anderer Minister einstweilig die Geschäfte führen und die Eröffnung der Kammer abgewartet werden würde.
Dann kam die Rede auf den Palazzo Boccanera; mit regem Interesse verdoppelte Pierre seine Aufmerksamkeit.
»Ah, Sie sind in der Via Giulia abgestiegen,« rief der Graf. »Dort schläft das ganze alte Rom in der Stille der Vergangenheit.«
Er sprach sehr unbefangen vom Kardinal und sogar von Benedetta, der Gräfin, wie er seine Frau im Gespräche nannte. Er bemühte sich, keinerlei Zorn zu zeigen. Aber der junge Priester fühlte, daß es in ihm zuckte, noch immer blutete und vor Groll tobte. Die Begierde nach dem Weibe brach bei ihm mit der Heftigkeit eines Bedürfnisses los, das sofort befriedigt werden mußte; zweifellos war das wieder eine der verdorbenen Tugenden des Vaters, die schwärmerische Begeisterung, die dem Ziel zueilte, zum unverzüglichen Handeln drängte. Er hatte daher nach dem Verhältnis mit der Fürstin Flavia, als er Benedetta, die göttliche Nichte einer noch so schönen Tante, besitzen wollte, sich in alles ergeben: in eine Heirat, in den Kampf mit diesem jungen Mädchen, das ihn nicht liebte, in die sichere Gefahr, ihr ganzes Leben zu verderben. Lieber hätte er Rom angezündet, als auf sie verzichtet. Und das, woran er jetzt ohne Hoffnung auf Heilung litt, die unablässig frisch aufbrechende Wunde, die er in der Brust trug, das war das Bewußtsein, sie nicht besessen zu haben, sich sagen zu müssen, daß sie sein war und sich ihm verweigert hatte. Den Schimpf konnte er nie verzeihen; die Wunde blieb am Grunde seiner ungestillten Leidenschaft, wo der geringste Hauch ihr Brennen wieder weckte. Und unter der korrekten Außenseite dieses Mannes verbarg sich ein rasender, eifersüchtiger und rachsüchtiger, eines Verbrechens fähiger Wollüstling.
»Der Herr Abbé hat davon Kenntnis,« murmelte der alte Orlando mit seiner traurigen Stimme.
Prada machte eine Geberde, als wolle er sagen, daß alle Welt davon Kenntnis habe.
»Ach, Vater, wenn ich Ihnen nicht gehorcht hätte, würde ich mich nie zu diesem Annullirungsprozeß der Ehe hergegeben haben! Dann hätte die Gräfin wohl in die eheliche Wohnung zurückkehren müssen und wäre heute nicht in der Lage, sich mit ihrem Geliebten, diesem Dario, dem Vetter, über uns lustig zu machen.«
Orlando wollte seinerseits mit einer Geberde Protestiren.
»Aber gewiß, Vater. Warum denn, glauben Sie, ist sie von hier geflohen, wenn nicht, um in ihrem eigenen Hause in den Armen des Geliebten zu leben? Ich finde sogar, daß der Palast in der Via Giulia mit seinem Kardinal recht unschickliche Dinge beschützt.«
Dieses strafbare, ihm zufolge öffentlich bekannte, schamlose Verhältnis war das Gerücht, das er verbreitete, die Anklage, die er überall gegen seine Frau erhob. Trotzdem glaubte er eigentlich selbst nicht daran; denn er kannte allzu wohl die feste Vernunft Benedettas, den abergläubischen, gleichsam mystischen Begriff, den sie in ihre Jungfräulichkeit legte, sowie ihre Absicht, nur dem Manne anzugehören, den sie lieben und der ihr Gatte vor Gott sein würde. Aber er hielt eine solche Beschuldigung für ehrlichen Kriegsbrauch und für sehr wirksam.
»Richtig!« rief er plötzlich, »Sie wissen, Vater, »ich habe Einsicht in die Eingabe Muranos erhalten. Es steht also fest, wenn die Ehe nicht vollzogen werden konnte, so geschah es infolge Unvermögens des Gatten.«
Er brach in lautes Gelächter aus; er wollte zeigen, daß er das für den Gipfel des Komischen halte. Aber er war vor heimlicher Erbitterung erblaßt, sein lachender Mund hatte einen harten, grausam mörderischen Ausdruck; offenbar hatte ihn nur diese falsche, für einen Mann von seiner Virilität beschimpfende Beschuldigung des Unvermögens bewogen, sich in diesem Prozeß zu verteidigen, von dem er anfangs nichts wissen wollte. Er würde also Prozeß führen. Uebrigens sei er überzeugt, daß seine Frau die Annullirung der Ehe nicht erreichen würde. Und noch immer lachend gab er etwas freie Details über den Akt.
»Luigi!« sagte Orlando leise, indem er mit einem Blick auf den jungen Priester wies.
»Ja, ich schweige schon. Sie haben recht, Vater. Aber es ist wirklich so abscheulich, so lächerlich ... Sie kennen doch Lisbeth?«
Orlando antwortete nicht.
Lisbeth Kauffmann, kaum dreißig Jahre alt, hochblond, sehr rosig und stets von lachender Heiterkeit, gehörte der Fremdenkolonie an; sie war Witwe, ihr Gatte war vor zwei Jahren in Rom gestorben, wohin er gekommen war, um von einer Brustkrankheit zu genesen. Da sie frei und reich genug war, um niemand zu bedürfen, war sie in Rom geblieben, wo es ihr gefiel, da sie eine leidenschaftliche Kunstfreundin war und selbst etwas Malerei trieb; sie hatte sich in der Via Principe Amadea, in einem neuen Viertel, einen kleinen Palast gekauft, und dessen großer, in ein Atelier verwandelter, zu jeder Jahreszeit von Blumen durchdufteter und mit alten Stoffen behangener Saal im zweiten Stockwerk war in der liebenswürdigen und intelligenten Gesellschaft Roms wohlbekannt. Dort bewegte sie sich, in lange Blusen gekleidet, in ihrer beständigen Fröhlichkeit, war etwas keck, machte furchtbare Witze, gehörte aber zur guten Gesellschaft und hatte sich außer mit Prada noch nicht kompromittirt.
Er hatte ihr zweifellos gefallen; sie gab sich ihm, als seine Frau ihn verließ, einfach hin und war im siebenten Monat guter Hoffnung. Sie verbarg das nicht und sah so ruhig und glücklich aus, daß ihr riesiger Bekanntenkreis fortfuhr, sie zu besuchen, als sei das in dem leichten, freien Leben großer kosmopolitischer Städte von gar keiner Bedeutung. In den Umständen, in denen der Graf sich befand, entzückte ihn natürlich diese Schwangerschaft und wurde in seinen Augen der beste Beweis gegen die Beschuldigung, unter der sein Mannesstolz litt. Aber ohne daß er es sich eingestand, blutete die unheilbare Wunde im Grunde seines Herzens darum nicht minder, denn weder diese bevorstehende Vaterschaft noch der schmeichelhafte Besitz der unterhaltenden Lisbeth entschädigten für die Bitterkeit der Weigerung Benedettas: diese brannte er, zu besitzen, diese hätte er schrecklich strafen mögen, weil er sie nicht besessen hatte.
Pierre, der keine Kenntnis von diesem Abenteuer Luigis halte, konnte das Gespräch nicht verstehen. Da er befangen war und sich eine Haltung geben wollte, ergriff er einen auf dem Tisch unter den Zeitungen liegenden, dicken Band; er war erstaunt, hier einem klassischen, französischen Werk, einem jener Handbücher für das Baccalaureat, zu begegnen, die einen Abriß der im Programm verlangten Kenntnisse enthalten. Es war nur ein bescheidenes, praktisches Buch für den ersten Unterricht, aber es handelte notgedrungen von der ganzen Mathematik, von der ganzen Physik, Chemie und Naturlehre, so daß es im großen und ganzen die Eroberungen des Jahrhunderts, den gegenwärtigen Stand des menschlichen Geistes kurz zusammenfaßte.
»Ah, Sie sehen das Buch meines allen Freundes Theophil Moria an!« rief Orlando, über die Ablenkung erfreut. »Sie wissen, er war einer der Tausend von Marsala und hat mit uns Sizilien und Neapel erobert. Ein Held! ... Und seit mehr als dreißig Jahren ist er wieder nach Frankreich auf seine einfache Professorkanzel zurückgekehrt, durch die er wahrlich nicht reich geworden ist. So hat er denn dieses Buch veröffentlicht, das, scheint's, so gut geht, daß er auf den Gedanken verfiel, durch Uebersetzungen, unter anderen auch durch eine italienische Uebersetzung, noch einen kleinen Nutzen daraus zu ziehen ... Wir sind Brüder geblieben; er gedachte meinen Einfluß zu benützen, den er für maßgebend hält. Ach, er täuscht sich! Ich fürchte, es wird mir nicht gelingen, das Werk durchzubringen.«
Prada, der wieder sehr korrekt und bezaubernd geworden war, zuckte leicht die Achseln, voll Skeptizismus über seine Zeitgenossen, die einzig und allein darauf bedacht sind, die bestehenden Dinge aufrecht zu erhalten, um so viel Nutzen als möglich daraus zu ziehen.
»Wozu?« murmelte er. »Zu viele Bücher! Zu viele Bücher!«
»Nein, nein, es gibt nie zu viele Bücher,« entgegnete der Greis leidenschaftlich. »Wir brauchen Bücher, immer mehr Bücher! Durch das Buch, nicht durch das Schwert, wird die Menschheit die Lüge und Ungerechtigkeit besiegen, den endgültigen Bruderfrieden unter den Völkern erobern. Ja, Du lächelst. Ich weiß. Du nennst das meine achtundvierziger Ideen, ›de vieille barbe‹, wie man bei Ihnen in Frankreich sagt, nicht wahr, Herr Froment? Aber es steht darum doch fest, daß Italien tot ist, wenn man das Problem nicht von unten anfaßt, das heißt, wenn man nicht das Volk bildet; und nur auf eine Weise ist es möglich, ein Volk, Menschen zu schaffen, nämlich, indem man sie unterrichtet, indem man durch den Unterricht diese ungeheure, verlorene Kraft entwickelt, die heutzutage in Unwissenheit und Faulheit verkommt ... Ja, ja, Italien ist geschaffen, schaffen wir jetzt Italiener. Bücher her, Bücher her! Und immer mehr vorwärts, mehr in die Wissenschaft, mehr in die Klarheit hinein, wenn wir leben, gut, gesund und stark sein wollen!«
Der alte Orlando, der sich halb erhoben hatte, war mit seinem mächtigen Löwenkopf herrlich anzusehen; das blendende Weiß des Bartes und Haares loderte. Und sein Hoffnungsschrei hatte mit einem solchen Fieber des Vertrauens durch dieses reine, in seiner gewollten Armut so rührende Zimmer geklungen, daß der junge Priester eine andere Gestalt vor sich aufsteigen sah: die Gestalt des Kardinals Boccanera, ganz dunkel, nur das Haar weiß wie Schnee, ebenfalls bewunderungswürdig in ihrer heldenhaften Schönheit, hoch aufgerichtet inmitten seines in Trümmer zerfallenden Palastes, dessen vergoldete Decke über ihm zusammenzubrechen drohte. O, die großen Starrköpfe, die Gläubigen, die Alten, die mannhafter und leidenschaftlicher bleiben als die Jungen! Diese beiden befanden sich an den zwei entgegengesetzten Enden der Meinungen, da sie nicht eine gemeinsame Idee, nicht eine gemeinsame Liebe besaßen, und doch schienen sie in diesem antiken Rom, wo alles in Staub verflog, allein unzerstörbar und wie zwei getrennte Brüder unbeweglich am Horizonte zu stehen und über die Stadt hinweg ihren Protest zu erheben! Der Anblick dieser beiden in ihrer Größe, ihrer Einsamkeit, ihrer Unbeteiligtheit an der täglichen Gemeinheit erfüllte einen Tag mit einem Traum der Ewigkeit.
Prada hatte sofort mit kindlich zärtlichem Druck die Hände des Greifes ergriffen, um ihn zu beruhigen.
»Ja, ja, Vater, Sie haben recht, Sie haben immer recht, und ich bin ein Dummkopf, daß ich Ihnen widerspreche. Ich bitte Sie, bewegen Sie sich nicht so viel, denn Sie decken sich auf, Ihre Beine werden wieder kalt werden.«
Und er kniete nieder, um die Decke mit unendlicher Sorgfalt zu ordnen; dann blieb er trotz seiner zweiundvierzig Jahre wie ein kleiner Knabe auf der Erde liegen und schlug die feuchten, in stummer Anbetung flehenden Augen zu dem Vater empor, während der alte Mann, beruhigt und sehr gerührt, ihm mit zitternden Fingern das Haar streichelte.
Pierre hatte hier schon beinahe zwei Stunden verweilt; endlich empfahl er sich, von allem, was er gesehen und gehört, sehr betroffen und sehr gerührt. Er mußte von neuem versprechen, wiederzukommen, um lange zu plaudern. Draußen ging er aufs Geratewohl weiter. Es war kaum vier Uhr; er hatte die Absicht, in dieser köstlichen Stunde, wo die Sonne an dem erfrischten, unermeßlichen, blauen Himmel niederging, ohne eine im voraus bestimmte Marschroute quer durch Rom zu schlendern. Aber fast gleich darauf befand er sich in der Via Nazionale, durch die er tags zuvor bei seiner Ankunft zu Wagen gekommen war; er erkannte die weißliche, maßlos große Bank, die grünen, zum Quirinal aufsteigenden Berge, die Pinien der Villa Aldobrandini; dann, bei der Biegung, als er stehen blieb, um sich die Trojansäule wieder anzusehen, die sich letzt im Dunkel, im Hintergründe des bereits von der Dämmerung erfüllten Platzes abhob, sah er zu seiner Ueberraschung plötzlich eine Viktoria anhalten, aus der ihn ein junger Mann höflich anrief, indem er dabei leicht mit der Hand winkte.
»Herr Abbé Froment! Herr Abbé Frommt!«
Es war der junge Fürst Dario Boccanera, der seine tägliche Spazierfahrt auf dem Corso machen wollte. Fast immer in Geldnot, lebte er nur noch von der Freigebigkeit seines Oheims, des Kardinals. Aber wie alle Römer hätte er im Notfall von Wasser und Brot gelebt, um seinen Wagen, sein Pferd und seinen Kutscher zu behalten. In Rom ist ein Wagen ein unentbehrlicher Luxus.
»Herr Abbé Froment, wenn Sie einsteigen wollen, so wird es mich sehr freuen, Ihnen ein bißchen unsere Stadt zu zeigen.«
Ohne Zweifel wollte er Benedetta ein Vergnügen bereiten, indem er liebenswürdig gegen ihren Schützling war. Außerdem machte es ihm in seinem Müßiggang Freude, den jungen Priester, der, wie es hieß, so intelligent war, in das einzuführen, was er für die Blüte Roms, das unnachahmliche Leben hielt.
Pierre mußte es annehmen, obwohl er einen einsamen Spaziergang vorgezogen hätte. Trotzdem interessirte ihn der junge Mann, der Letztgeborene einer erschöpften Rasse; er fühlte, daß er zum Denken und Handeln unfähig, aber in seinem Stolz und seiner Lässigkeit sehr verführerisch war. Viel mehr Römer als Patriot, hatte er niemals die geringste Anwandlung gehabt, sich zu ralliren; er war es zufrieden, abseits zu leben, nichts zu thun, und trotz seiner Leidenschaftlichkeit beging er keine Thorheiten, Er war im Grunde sehr praktisch, sehr vernünftig, wie alle in seiner Stadt es trotz ihres scheinbaren Ungestüms sind. Sobald der Wagen, nachdem er quer über die Piazza di Venezia gefahren, auf den Corso gelangt war, ließ er seine kindliche Eitelkeit, seine Liebe zu dem glücklichen und frohen Leben außerhalb des Hauses, unter dem schonen Himmel zum Durchbruch kommen. Das alles drückte sich ganz klar in der einfachen Geberde aus, mit der er sagte: »Der Corso!«
Pierre geriet so wie tags zuvor in Erstaunen. Abermals streckte sich die lange und schmale Straße bis zu der hell beleuchteten Piazza del Popolo hin, nur mit dem Unterschied, daß nun die Häuser rechts in der Sonne gebadet waren, während die links im Schatten lagen. Wie, das war der Corso! Dieser halbdunkle, zwischen hohen, schweren Fassaden erdrückte Graben! Diese elende Chaussee, wo höchstens drei Wagen in einer Reihe fahren können, die von dicht an einander gedrängten Läden mit ihrem Flitterkram begrenzt wurde! Kein freier Raum, weder ein weiter Horizont noch erfrischendes Grün! Nichts als ein Stoßen, Drängen, Ersticken längs der kleinen Trottoirs unter einem schmalen Streifen Himmel! Vergebens nannte Dario ihm die Namen der historischen, prunkvollen Paläste: Palazzo Bonaparte, Palazzo Doria, Palazzo Odescalchi, Palazzo Sciarra, Palazzo Chigi; vergebens zeigte er ihm die Piazza Colonna mit der Säule des Marc Aurel, den lebhaftesten Platz der Stadt, wo unaufhörlich eine plaudernde und schauende Menge umherstampft; vergebens machte er ihn bis zur Piazza del Popolo auf die Kirchen, die Häuser, die Querstraßen, die Via Condotti aufmerksam, an deren Ende S. Trinità, de Monti, lauter Gold, auf der Höhe der prunkenden Spanischen Treppe in der Pracht der untergehenden Sonne emporragte – Pierre blieb der enttäuschende Eindruck einer Straße ohne Breite und ohne Lust. Die Paläste erschienen ihm wie Hospitäler oder traurige Kasernen, der Piazza Colonna mangelte es gänzlich an Bäumen, nur S. Trinità de Monti hatte ihn durch seinen fernen Apotheosenglanz bezaubert.
Aber nun ging es von der Piazza del Popolo wieder zur Piazza di Venezia zurück, und wieder zurück, und wieder zurück – zwei-, drei-, viermal, unermüdlich. Dario war entzückt, zeigte sich, schaute umher, wurde gegrüßt und grüßte. Auf den beiden Trottoirs zog eine dicht gedrängte Menge vorüber, deren Augen in die Wagen tauchten, deren Hände die der darin Sitzenden hätten berühren können. Nach und nach nahm die Zahl der Wagen so zu, daß die ununterbrochene, an einander gedrängte Doppelreihe im Schritt fahren mußte. Bei diesem fortwährenden Aneinanderstreifen der Ein- und Aussteigenden konnte man sich berühren und genau betrachten. Das war ganz Rom, das sich im Freien durch einander mischte und sich auf dem möglichst kleinsten Raum zusammendrängte; da waren Leute, die sich kannten, die sich wie in der Vertraulichkeit eines Salons trafen. Leute, die nicht auf dem Gesprächsfuß mit einander standen, der entgegengesetztesten Gesellschaft angehörten, aber hier einander stießen und mit den Blicken bis in die Seele ausforschten. Nun ging Pierre das richtige Verständnis auf: er begriff den Corso, die uralte Gewohnheit, die Leidenschaft und den Stolz der Stadt. Ja, das Vergnügen lag gerade in dieser Enge der Straße, in dem gezwungenen Aufeinanderstoßen, das erwartete Begegnungen, die Befriedigung der Neugierde, die Schaustellung glücklicher Eitelkeit, das Sammeln endloser Klatschereien gestattete. Die gesamte Stadt sah sich hier täglich wieder, zeigte, belauerte sich, gab sich selbst ein Schauspiel; und das Bedürfnis, sich so zu sehen, wurde zuletzt so unentbehrlich, daß ein Mann aus guter Familie, der dem Corso fern blieb, für einen Wilden galt, der außerhalb seines Kreises, ohne Zeitungen dahinlebte. Dabei war die Luft so köstlich milde und der schmale Streifen Himmel zwischen den schweren, rötlichen Palästen von unendlicher, reiner Bläue.
Dario hörte nicht auf, zu lächeln und leicht den Kopf zu neigen; er nannte Pierre die Namen der Fürsten und Fürstinnen, der Herzoge und Herzoginnen – klangvolle Namen, deren Glanz die Geschichte erfüllte, deren tönende Silben das Aufeinanderprallen der Rüstungen in der Schlacht, der päpstlichen Prunkaufzüge mit den Purpurornaten, den goldenen Tiaren, den heiligen, juwelenfunkelnden Gewändern heraufbeschwor. Aber Pierre sah zu seiner Verzweiflung dicke Damen, kleine Herren, aufgeblasene oder gebrechliche Wesen, die durch die moderne Tracht noch häßlicher wurden. Dennoch sah man einige hübsche Frauen, besonders Mädchen, stumm, mit großen, klaren Augen. Als Dario ihm den Palazzo Buongiovanni, eine ungeheure Fassade aus dem siebenzehnten Jahrhundert mit von Laubwerk umgebenen Fenstern von schwerem, widerwärtigem Geschmack zeigte, fügte er belustigt hinzu:
»Ah, sehen Sie, da ist Attilio, dort auf dem Trottoir. Der junge Lieutenant Sacco – Sie wissen, nicht wahr?«
Pierre antwortete mit einem bejahenden Zeichen. Attilio, in Uniform, ganz jung, mit seinem lebhaften und wackeren Aussehen, seinem freimütigen Gesicht, in dem die blauen Augen seiner Mutter zärtlich leuchteten, bezauberte ihn sofort. Er war wirklich die Jugend und die Liebe in ihrer ganzen schwärmerischen und um die Zukunft unbekümmerten Hoffnung.
»Sie werden gleich sehen,« fuhr Dario fort, »wenn wir an dem Palast wieder vorbeikommen. Er wird noch dort stehen. Ich werde Ihnen etwas zeigen.«
Und er sprach heiter über die jungen Mädchen, diese im Sacré-Coeur in solcher Abgeschlossenheit erzogenen und übrigens zumeist so unwissenden kleinen Prinzessinnen und Herzoginnen. Sie vollendeten dann ihre Erziehung an der Schürze ihrer Mütter, machten mit ihnen die obligate Runde auf dem Corso und verlebten die endlosen Tage wie in einem Kloster, gefangen in den düsteren Palästen. Aber welche Stürme gab es in diesen stummen Seelen, in die niemand noch hinabgestiegen! Wie brach manchmal unter diesem passiven Gehorsam, unter dieser scheinbaren Unkenntnis der Umgebung langsam die Willenskraft hervor! Wie viele wollten eigensinnig ihr Leben selbst gestalten, den Mann, der ihnen gefiel, wählen und ihn der ganzen Welt zum Trotz besitzen! Und der Geliebte wurde unter der Flut der jungen Leute aus dem Corso gewählt, der Geliebte wurde auf dem Spaziergang mit den Augen geangelt, mit den reinen, sprechenden Augen, deren Blick für das Geständnis, für die vollständige Hingabe genügten, ohne daß ein Hauch über die keusch geschlossenen Augen kam. Zuletzt kamen die in der Kirche verstohlen zugesteckten Liebesbriefchen und die gekaufte Kammerfrau erleichterte die anfangs so unschuldigen Begegnungen. Oft gab es am Ende eine Hochzeit.
Celia begehrte Attilio von dem Moment an, da sich ihre Blicke an dem tödlich langweiligen Tage, wo sie ihn zum erstenmal von einem Fenster des Palazzo Buongiovanni erblickte, begegnet hatten. Er hob zufällig den Kopf und sie nahm ihn für immer gefangen, indem sie sich ihm mit den großen, reinen, fest auf ihn gerichteten Augen selbst hingab. Sie war nichts als ein liebendes Weib – sonst nichts. Er gefiel ihr, sie wollte ihn besitzen – diesen und keinen andern. Sie hätte zwanzig Jahre auf ihn gewartet, aber sie gedachte ihn durch die ruhige Hartnäckigkeit ihres Willens sofort zu erobern. Man erzählte sich von den schrecklichen Wutausbrüchen des Fürsten, ihres Vaters, die an ihrem ehrerbietigen und störrischen Schweigen zerschellten. Der Fürst, aus gemischtem Blut, Sohn einer Amerikanerin und Gatte einer Engländerin, kämpfte nur, um seinen Namen und sein Vermögen inmitten der benachbarten Zusammenbrüche unversehrt zu erhalten. Es lief auch das Gerücht, daß die Fürstin sich infolge eines Streites, als der Fürst sie verantwortlich machen wollte und ihr vorwarf, über die Tochter nicht genügend gewacht zu haben, mit dem Hochmut und dein Egoismus einer Fremden, die fünf Millionen zugebracht hat, empörte. War es nicht genug, daß sie ihm fünf Kinder geschenkt? Sie brachte ihre Tage damit zu sich anzubeten, überließ Celia sich selbst und kümmerte sich nicht um das Haus, durch das der Sturm wehte.
Aber der Wagen fuhr von neuem an dem Palazzo vorüber und Dario machte Pierre aufmerksam.
»Sehen Sie, da ist Attilio wieder ... Und jetzt sehen Sie hinauf – das dritte Fenster im ersten Stock.«
Es war ein flüchtiger, reizender Anblick. Pierre sah, wie ein Zipfel des Vorhangs sich ein wenig lüftete und das sanfte Gesicht Celias erschien, eine reine, geschlossene Lilie. Sie lächelte nicht, sie rührte sich nicht. Nichts ließ sich aus diesem reinen Munde, aus diesen klaren und grundlosen Augen herauslesen. Dennoch nahm sie Altilio an sich und gab sich ihm rückhaltslos. Der Vorhang fiel wieder zu.
»Ah, die kleine Hexe!« murmelte Dario. »Wer kann wissen, was alles hinter so viel Unschuld steckt?«
Als Pierre sich umdrehte, bemerkte er Attilio mit noch immer erhobenem Kopfe da stehen; auch sein Gesicht war unbeweglich und bleich, der Mund geschlossen, die Augen weit geöffnet. Und diese schrankenlose Liebe in ihrer plötzlichen Allmacht, die echte, ewige und junge, außerhalb des Ehrgeizes und der Berechnungen der Umgebung stehende Liebe rührte ihn unendlich.
Dann gab Dario dem Kutscher Befehl, zum Pincio hinaufzufahren; vor oder nach dem Corso ist an schönen, klaren Nachmittagen die Fahrt auf den Pincio obligat. Da kam zuerst die Piazza del Popolo, der luftigste und regelmäßigste Platz von Rom, mit seinen köderartigen Straßen, seinen vier symmetrischen Kirchen, dem Obelisk in der Mitte und den zwei Baumgruppen, die zu beiden Seiten des kleinen weißen Pflasters, zwischen den ernsten, von der Sonne vergoldeten Gebäuden ein Gegenstück bilden. Dann fuhr der Wagen rechts die Rampe zum Pincio hinan; es ist das ein zickzackförmiger, mit Basreliefs, Statuen und Springbrunnen geschmückter, prächtiger Weg, eine ganze Apotheose aus Marmor, eine Erinnerung an das antike Rom, das sich da aus dem Grün erhebt. Aber der Garten auf der Höhe kam Pierre klein vor, kaum wie ein großer Square; es war ein Viereck mit vier Alleen, die notwendig waren, damit die Equipagen wenden konnten. Eine ununterbrochene Reihe von Büsten der berühmten Männer des alten und neuen Italiens begrenzte diese Alleen. Pierre bewunderte besonders die Bäume, die mannigfachsten und seltensten, mit unendlicher Sorgfalt gewählten und gepflanzten Holzarten, fast alle mit immerwährenden, Laub, wodurch hier im Sommer wie im Winter ein bewunderungswürdiger, in allen Tönen von Grün abgestufter Schatten erhalten wurde. Der Wagen begann nun hinter den anderen Wagen, einer fortwährenden, unermüdlichen Flut durch die schönen, frischen Alleen zu fahren.
Pierre bemerkte in einer dunkelblauen, tadellos bespannten Viktoria eine einzelne junge Dame. Sie war sehr hübsch, klein, kastanienbraun, mit mattfarbenem Teint, großen, sanften Augen und sah bescheiden, verführerisch einfach aus. Zu ihrem strengen Kleide aus feuille morte-Seide trug sie einen großen, etwas phantastischen Hut. Da Dario sie betrachtete, fragte der Priester nach ihrem Namen, worüber der junge Fürst lächelte. O, niemand – bloß die Toinette, eine jener seltenen Halbweltlerinnen, mit denen Rom sich beschäftigte. Dann fuhr er offen, mit der schönen Freimütigkeit seiner Rasse in Bezug auf Liebesangelegenheiten fort und teilte Pierre Einzelheiten über Toinette mit. Ihre Herkunft war unbekannt; die einen ließen sie von sehr niedrigem Stande, von einem Schenkwirt in Tivoli, abstammen; die anderen behaupteten, sie sei in Neapel geboren, als Tochter eines Bankiers. Aber auf jeden Fall war sie ein sehr intelligentes Mädchen, hatte sich Bildung angeeignet und machte in ihrem kleinen Palaste in der Via dei Mille, einem Geschenk des alten Marquis Manfredi, der nun tot war, mit großem Geschick die Wirtin. Sie stellte sich nicht bloß, hatte nie mehr als einen Geliebten auf einmal und die Fürstinnen, die Herzoginnen, die täglich auf dem Corso ihretwegen in Unruhe gerieten, fanden sie anständig. Besonders eine Eigenheit hatte sie berühmt gemacht: manchmal ergriff sie eine Herzensleidenschaft, die sie bewog, sich dem Geliebten umsonst hinzugeben und absolut nichts von ihm anzunehmen, als jeden Morgen einen Strauß weißer Rosen, so daß die Leute, wenn sie sie auf dem Pincio oft Wochen hinter einander mit diesen reinen Rosen, diesem weißen Brautbouquet sahen, mit liebevoll wohlgefälliger Miene lächelten.
Aber Dario unterbrach sich, um zeremoniös eine Dame zu grüßen, die bloß in Gesellschaft eines Herrn in einem ungeheuer großen Landauer vorüberfuhr.
»Meine Mutter,« sagte er einfach zu dem Priester.
Diese kannte Pierre, wenigstens hatte der Vicomte de la Choue ihm ihre Geschichte erzählt: ihre zweite Heirat mit fünfzig Jahren, nach dem Tode des Fürsten Onofrio Boccanera, die Art und Weise, wie die noch immer prächtige Frau ganz wie ein junges Mädchen auf dem Corso mit den Blicken sich einen schönen, fünfzehn Jahre jüngeren Mann, der nach ihrem Geschmacke war, geangelt hatte. Und wer war dieser Mann, dieser Jules Laporte? – Ein ehemaliger Sergeant der Schweizergarde, wie es hieß, ein ehemaliger Geschäftsreisender mit Reliquien, der sich in einer außerordentlichen Geschichte mit falschen Reliquien kompromittirt hatte. Schließlich hatte sie einen Marquis Montefiori aus ihm gemacht, der eine sehr stattliche Figur abgab – der letzte der Glücksritter in dem legendären Lande, wo die Schäfer Königinnen heiraten.
Bei der nächsten Runde, als der große Landauer wieder vorbeikam, sah Pierre die beiden an. Die Marquise war wirklich erstaunlich in ihrer ganzen, vollerblühten, klassischen römischen Schönheit, groß, stark, sehr brünett, mit einem Göttinnenkopf und regelmäßigen, etwas derben Zügen; ihr Alter verriet sich nur durch den Flaum, mit dem ihre Oberlippe bedeckt war. Und der Marquis, dieser romanisirte Genfer, war mit seinen breiten, kräftigen Offiziersschultern und seinem aufgedrehten Schnurrbart wirklich von stolzem Anstand, Es hieß, daß er nicht dumm, sehr munter und sehr geschmeidig, für Damen sehr unterhaltend sei. Sie war so stolz auf ihn, daß sie ihn überall umherschleppte und zur Schau stellte; sie hatte mit ihm das Leben von neuem begonnen, als wäre sie zwanzig Jahre alt gewesen, und verzehrte in seinen Armen das kleine, aus der Katastrophe der Villa Montesiori gerettete Vermögen. – Sie vergaß ihren Sohn so völlig, daß sie ihn nur manchmal ans der Promenade sah und wie einen zufälligen Bekannten grüßte.
»Sehen wir uns den Sonnenuntergang hinter S. Peter an!« sagte Dario in seiner Rolle des gewissenhaften Fremdenführers.
Der Wagen kehrte auf die Terrasse zurück, wo eine Militärmusikkapelle spielte. Die Blechinstrumente lärmten schrecklich. Viele Equipagen standen bereits still, um zuzuhören, wühlend eine unaufhörlich wachsende Menge von Fußgängern, einfachen Spaziergängern sich angehäuft hatte. Von dieser bewunderungswürdigen, sehr hohen und sehr breiten Terrasse entfaltete sich eine der herrlichsten Aussichten von Rom. Jenseits des Tiber, über das bläßliche Chaos des neuen Viertels neben dem Schlosse, erhob sich S. Peter zwischen dem Grün des Monte Mario und des Janiculus. Dann kam links die ganze alte Stadt, eine grenzenlose Dächerfläche, ein wogendes, unabsehbares Meer von Gebäuden. Aber die Blicke kehrten immer wieder nach S. Peter zurück, der in reiner und majestätischer Größe im Azur thronte. Und der langsame Sonnenuntergang hinter dem Koloß am Grunde des ungeheuren Himmels bot von der Terrasse aus einen erhabenen Anblick.
Manchmal ist es ein Zusammenbrechen blutiger Wolken, sind es Schlachten von Riesen, die mit Bergen gegen einander kämpfen und unter den ungeheueren Ruinen brennender Städte erliegen. Manchmal zeichnen sich von einem düstern See nur rote Risse ab, als wäre ein Lichtnetz hineingeworfen worden, um aus den Algen das versunkene Gestirn wieder herauszufischen. Manchmal senkt sich ein rosiger Nebel, ein zarter Staub herab, den ein ferner Regenschauer, dessen Vorhang über das Geheimnis des Horizontes gezogen ist, mit Perlen gestreift hat. Manchmal ist es ein Triumphzug von Purpur und Gold, Wolkenwagen, die über eine Feuerstraße rollen, Galeeren, die über ein Azurmeer ziehen, ein prunkvolles, phantastisches Gepränge, das in dem allmälich sich vertiefenden Abgrund der Dämmerung untergeht.
Aber an diesem Abend bot sich Pierre ein erhabenes Schauspiel in ruhiger, blendender und hoffnungsloser Größe. Zuerst, gerade über dem Dom von S. Peter, war die Sonne, an einem fleckenlosen, tief klaren Himmel untergehend, noch so leuchtend, daß das Auge ihren Glanz nicht ertragen konnte. In diesem Leuchten erschien der Dom wie weißglühend, wie ein Dom aus flüssigem Silber, während das benachbarte Viertel, die Dächer des Borgo, sich gleichsam in einen Glutsee verwandelt zu haben schienen. Dann, in dem Maße, als die Sonne tiefer sank, nahm ihre Glut ab, und man konnte sie betrachten; bald glitt sie majestätisch langsam hinter den Dom, der sich vollständig in dunklem Blau abzeichnete, als das hinter ihm verborgene Gestirn rings um ihn nur noch eine Aureole, eine Glorie bildete, aus der kronenförmig flammende Strahlen aufzuckten. Und nun begann das Traumbild, die seltsame Beleuchtung der Fensterreihe, die sich unter der Kuppel hinzieht; das Licht verwandelte sie in die rot glühenden Oeffnungen eines Schmelzofens, so daß man hätte glauben können, der Dom ruhe auf einer in der Luft isolirten, von der Gewalt des Feuers gehobenen und getragenen Kohlenpfanne. Das dauerte kaum drei Minuten. Unten tauchten die wirren Dächer des Borgo in lila Dämpfen unter, während der Horizont sich vom Janiculus bis zum Monte Mario in einer deutlichen, schwarzen Linie abzeichnete und nun der Himmel seinerseits zu Purpur und Gold wurde, mit der unendlichen Ruhe einer übermenschlichen Helle über der vergehenden Erde lag. Zuletzt erloschen die Fenster, erlosch der Himmel, und in der hereinbrechenden Nacht blieb nichts übrig als die unbestimmte, immer mehr sich verwischende Rundung des Domes von S. Peter.
In diesem Augenblicke sah Pierre durch eine geheime Gedankenverbindung abermals die hohen, traurigen und dem Verfall sich zuneigenden Gestalten des Kardinals Boccanera und des alten Orlando vor sich erstehen. Am Abend dieses Tages, an dem er diese in ihrer Hoffnung so großen Männer einen nach dem andern kennen gelernt hatte, standen sie beide aufrecht am Horizont über ihrer erniedrigten Stadt, am Rande des Himmels, den der Tod zu ergreifen schien. Sollte denn alles so mit ihnen zusammenbrechen, alles in der Nacht der abgelaufenen Zeit erlöschen und verschwinden?