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Um diese Stunde war die Via Giulia, die sich vom Palast Farnese bis zur Kirche S. Giovanni de Fiorentini in einer geraden Linie, etwa fünfhundert Meter lang, hinzieht, von einem Ende bis zum andern vom hellsten Sonnenschein überflutet. Das kleine viereckige Pflaster des Fahrweges – ein Trottoir gab es nicht – sah ganz weiß davon aus. Der Wagen fuhr beinahe die ganze Straße entlang, inmitten der alten, grauen, wie schlafend und leer aussehenden Häuser mit den großen, vergitterten Fenstern und den tiefen Vorhallen, durch die man in düstere, brunnenähnliche Hofe blicken konnte. Die Straße war von Papst Julius II. eröffnet worden, der sie mit prächtigen Palästen einzufassen gedachte, und hatte im sechzehnten Jahrhundert als Corso gedient, da sie zu jener Epoche die regelmäßigste und schönste Straße Roms war. Man merkte noch jetzt, daß hier einst das elegante Viertel war; nun war es der Stille und Einsamkeit der Vernachlässigung anheimgefallen und von einer Art klerikaler Ruhe und Verschwiegenheit erfüllt. Eine alte Fassade folgte der andern; die Schalterläden waren geschlossen, ein paar Gitter mit Kletterpflanzen umrankt, auf den Thürschwellen saßen Katzen, in den Dependancen waren einfache Kramladen untergebracht, und nur wenige Passanten ließen sich sehen: barhäuptige Frauen, die Kinder nach sich zogen, ein mit einem Maultier bespannter Karren Heu, ein prächtiger Mönch im faltigen Wollengewand, ein geräuschlos dahinfahrender Velocipedist, dessen Maschine in der Sonne funkelte.
Endlich drehte der Kutscher sich um und deutete auf ein großes, viereckiges Gebäude an der Ecke eines zum Tiber führenden Gäßchens.
»Der Palazzo Boccanera.«
Pierre hob den Kopf. Das regelmäßige, vom Alter geschwärzte, kahle und massive Haus machte ihn etwas beklommen. Gleich dem Palazzo Farnese und dem Palazzo Sacchetti, seinen Nachbarn, war es gegen 1540 von Antonio de San Gallo erbaut worden, und wie bei dem ersteren, behauptete sogar die Tradition, daß der Architekt gestohlene Steine aus dem Kolosseum und dem Theater des Marcellus bei dem Baue verwendet habe. Die Fassade, gegen die Straße zu ungeheuer breit und viereckig, bestand aus drei Stockwerken; das erste Stockwerk war sehr hoch, sehr vornehm. Statt jeden Schmuckes ruhten die hohen, wohl aus Furcht vor einer Belagerung mit ungeheuren, vorspringenden Gittern versehenen Fenster des Erdgeschoßes auf großen Konsolen und waren mit Attiken gekrönt, die wieder auf kleineren Konsolen ruhten. Ueber dem monumentalen Eingangsthor mit den Bronzethüren, vor dem Mittelfenster, zog sich ein Balkon hin. Die Fassade schloß gegen den Himmel zu mit einem prächtigen Sims ab, dessen Fries Zeichnungen von bewundernswerter Anmut und Reinheit aufwies. Dieser Fries, die Konsolen und Attiken der Fenster, sowie die Bekleidungen des Thores bestanden aus weißem Marmor, aber dieser war so fleckig, so zerbröckelt, daß er rauh und gelb wie Sandstein aussah. Rechts und links vom Thore befanden sich zwei antike, von Drachen getragene Bänke, ebenfalls aus Marmor; und an einer der Ecken war in der Mauer ein kostbarer, nun versiegter Renaissance-Springbrunnen, ein von einem Delphin getragener Amor, eingelassen. Aber das Relief war kaum noch erkenntlich, so sehr war es abgenutzt.
Die Blicke Pierres wurden jedoch ganz besonders von einem gemeißelten Wappenschilde über einem der Fenster des Erdgeschoßes angezogen; es war das Wappenschild der Boccanera, ein beflügelter Drache, der in Flammen hineinblies. Er vermochte deutlich die noch vollständig erhaltene Devise zu lesen: Bocca nera, Alma rossa – schwarzer Mund, rote Seele. Ueber einem andern Fenster, als Pendant dazu, befand sich eine jener in Rom noch so zahlreichen kleinen Kapellen, eine in Atlas gekleidete heilige Jungfrau, vor der am hellen Tage eine Laterne brannte.
Der Kutscher wollte, wie es Brauch ist, in die düstere, gähnende Vorhalle hineinfahren, aber der junge Priester hielt ihn, von Schüchternheit ergriffen, zurück.
»Nein, nein, nicht hineinfahren,« sagte er. »Es ist nicht nötig.«
Er stieg aus, bezahlte den Kutscher und trat mit seinem Handkoffer in der Hand unter das Thor und von da in den Mittelhof, ohne einer menschlichen Seele begegnet zu sein.
Es war ein viereckiger, ziemlich geräumiger und wie in einem Kloster von einem Säulengang umgebener Hof. Unter den düsteren Arkaden waren an den Wänden Reste von Statuen, Marmorfunde aufgestellt – ein armloser Apollo, eine Venus, von der nur noch der Rumpf übrig war, und zwischen den Kieseln, die den weißschwarzen Mosaikboden bedeckten, war zartes Gras aufgeschossen. Es schien, daß die Sonne nie auf dieses von Feuchtigkeit verwitterte Pflaster dringen dürfte. Ueberall herrschte das Dunkel, das Schweigen einer toten Größe und einer unendlichen Trauer.
Pierre, von der Leere dieses stummen Palastes überrascht, suchte einen Portier, irgend einen Diener, und da er einen Schatten vorüberstreichen zu sehen glaubte, entschloß er sich, ein zweites Gewölbe zu durchschreiten, das in einen kleinen, am Tiber liegenden Garten führte. Von dieser Seite wies die ganz gleichförmige schmucklose Fassade nur die drei Reihen symmetrischer Fenster auf. Aber der Garten schnürte ihm durch seine Vernachlässigung das Herz noch mehr zusammen. In der Mitte, in einem zugeschütteten Bassin, war ein hochstämmiger Buchsbaum aufgeschossen. Zwischen den wirren Gräsern deuteten nur die Orangenbäume mit ihren reifenden, goldenen Früchten die Zeichnung der Alleen an, die sie begrenzten. An der rechten Mauer, zwischen zwei ungeheuren Lorbeerbäumen, stand ein Sarkophag aus dem zweiten Jahrhundert; das Relief stellte Faune dar, die Frauen schändeten, ein zügelloses Bacchanal, eine jener gierigen Liebesscenen, wie sie das dekadente Rom auf den Gräbern anzubringen pflegte. Und dieser in einen Trog umgewandelte, verdorrte, grünüberzogene Marmorsarkophag fing den feinen Wasserstrahl auf, der aus einer an der Mauer festgekitteten, großen, tragischen Maske floh. Einst ging hier eine Art Loggia mit einem Säulengang auf den Tiber hinaus, eine Terrasse, von der eine doppelte Treppe zum Fluß führte. Aber die Quaibauten brachten auch eine Erhöhung der Ufer mit sich; die Terrasse lag schon tiefer als der neue Boden, mitten unter Schutt und liegengebliebenen Hausteinen, mitten unter der kläglichen Verwüstung, den Demolirungen, die das ganze Viertel auf den Kopf stellten.
Aber nun war Pierre fest überzeugt, daß er den Schatten eines Rockes gesehen habe. Er kehrte in den Hof zurück und sah sich einer Frau gegenüber, die an den Fünfzig sein mochte, aber noch kein einziges weißes Haar besaß; sie war von etwas kurzem Wuchs und sah munter und sehr lebhaft drein. Beim Erblicken des Priesters nahm jedoch ihr rundes Gesicht mit den kleinen, hellen Augen einen gleichsam mißtrauischen Ausdruck an.
Er gab sich sogleich zu erkennen, indem er sein bißchen schlechtes Italienisch zusammensuchte.
»Madame, ich bin der Abbé Pierre Froment.«
Aber sie ließ ihn nicht zu Ende reden, sondern sagte in sehr gutem Französisch, mit dem etwas schwerfälligen, schleppenden Accent von Ile-de-France:
»Ach, der Herr Abbé! Ich weiß, ich weiß, ich habe Sie erwartet. Ja, ich bin eine Französin,« fuhr sie fort, als er sie verwundert anblickte. »Nun lebe ich schon seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Lande, aber ich habe mich an ihr verteufeltes Kauderwelsch noch immer nicht gewöhnen können.«
Nun erinnerte sich Pierre, daß der Vicomte de la Choue ihm von dieser Dienerin, Victorine Bosquet, erzählt hatte. Sie war eine Beauceronnin, aus Auneau, und zu zweiundzwanzig Jahren mit einer schwindsüchtigen Dame nach Rom gekommen. Ihre Herrin starb plötzlich, und sie blieb verzweifelt, ganz allein, wie unter lauter Wilden zurück. Daher ergab sie sich mit Leib und Seele der Gräfin Ernesta Brandini, einer geborenen Boccanera, die eben niedergekommen war und sie auf der Straße aufgelesen hatte, um sie dann zum Kindermädchen ihrer Tochter Benedetta zu machen. Sie glaubte auch, durch sie Französisch zu erlernen. Victorine, nun seit fünfundzwanzig Jahren in der Familie, hatte sich zur Rolle einer Haushälterin aufgeschwungen, obwohl sie ganz ungebildet blieb und ein so geringes Sprachtalent besaß, daß sie, wenn der Dienst es erforderte, im Verkehr mit der übrigen Dienerschaft noch immer ein entsetzliches Italienisch radebrechte.
»Der Herr Vicomte befindet sich also wohl?« fuhr sie mit ihrer freimütigen Familiarität fort. »Er ist so nett. Es macht uns immer so viel Vergnügen, wenn er, so oft er herkommt, bei uns absteigt! Ich weiß, daß die Prinzessin und die Contessina gestern einen Brief von ihm bekommen haben, der Sie uns ankündigte.«
In der That, der Vicomte Philibert de la Choue hatte alles für den römischen Aufenthalt Pierres geordnet. Von der alten, kräftigen Rasse der Boccanera war niemand mehr übrig als der Kardinal Pio Boccanera, seine Schwester, die Prinzessin, eine alte Jungfer, die man aus Respekt Donna Serafina nannte, dann ihre Nichte Benedetta, deren Mutter Ernesta ihrem Gatten, dem Grafen Brandini, ins Grab gefolgt war, und endlich ihr Neffe, der Fürst Dario Boccanera, dessen Vater, Fürst Onofrio Boccanera, gestorben war, und dessen Mutter, eine geborene Montefiori, sich wieder vermählt hatte. Der Vicomte war durch eine Zufalls-Heirat eine Art Verwandter dieser Familie geworden; sein jüngerer Bruder hatte nämlich eine Brandini, die Schwester von Benedettas Vater geheiratet. Auf diese Weise hatte er als Titularonkel mehrmals zu Lebzeiten des Grafen in dem Palast in der Via Giulia gewohnt und sich sehr an die Tochter Brandinis angeschlossen, ganz besonders seit dem intimen Drama einer fatalen Heirat, deren Annulirung sie nun anstrebte. Seit sie wieder zu ihrer Tante Serafina und ihrem Oheim, dem Kardinal, zurückgekehrt war, schrieb er ihr oft und sandte ihr französische Bücher. Unter anderen hatte er ihr auch das Pierres geschickt, und daher stammte die ganze Geschichte. Es wurden Briefe darüber gewechselt; dann meldete ein Brief Benedettas, daß das Buch bei der Kongregation des Index angezeigt worden sei, und riet dem Autor, rasch zu kommen. Gleichzeitig wurde ihm in sehr liebenswürdiger Weise die Gastfreundschaft des Palastes angeboten. Der Vicomte, ebenso erstaunt wie der junge Priester, hatte die Sache gar nicht begreifen können; aber aus Klugheit und weil er sich für einen Sieg ereiferte, den er im voraus zu dem seinen machte, bewog er ihn, abzureisen. Daraus erklärt sich, warum Pierre so bestürzt war, als er, in ein Abenteuer verwickelt, dessen Ursachen und Bedingungen ihm unverständlich waren, in dieses unbekannte Haus geriet.
»Was mir aber auch einfällt – lasse ich Sie da stehen, Herr Abbé,« fuhr Victorine plötzlich fort. »Ich werde Sie auf Ihr Zimmer führen. Wo ist Ihr Gepäck?«
Als er ihr seinen Handkoffer zeigte, den er endlich auf die Erde gestellt hatte, und ihr erklärte, daß er sich für die vierzehn Tage seines Aufenthaltes in Rom nur eine Sutane zum Wechseln und etwas Wäsche mitgebracht habe, schien sie sehr erstaunt zu sein.
»Vierzehn Tage! Sie wollen nur vierzehn Tage bleiben! Nun, Sie werden schon selbst sehen.«
Dann rief sie einen langen Kerl von Bedienten herbei, der endlich zum Vorschein gekommen war.
»Giacomo, tragen Sie das ins rote Zimmer hinauf. Darf ich den Herrn Abbé bitten, mitzukommen?«
Diese unerwartete Begegnung mit einer Landsmännin, einer so guten, lebhaften Frau, in diesem düstern, römischen Palast hatte Pierre ganz erheitert und getröstet. Während sie dann durch den Hof schritten, erzählte sie ihm, daß die Prinzessin ausgegangen sei, und die Contessina (wie Benedetta trotz ihrer Verheiratung aus Zärtlichkeit noch immer im Hause genannt ward) heute ihre Zimmer noch nicht verlassen habe, weil sie ein wenig leidend sei. Victorine wiederholte jedoch, daß sie beauftragt sei, für ihn Sorge zu tragen.
Die Treppe befand sich in einem Winkel des Hofes, unter dem Portiko. Es war eine monumentale Treppe, mit breiten, niedrigen und so sachte ansteigenden Stufen, daß ein Pferd sie bequem hätte ersteigen können; aber die Steinwände waren so kahl, die Treppenabsätze so leer und feierlich, daß eine tödliche Schwermut von den hohen Wölbungen auszugehen schien.
Als sie im ersten Stockwerk anlangten, lächelte Victorine, da sie die Bewegung Pierres bemerkte. Der Palast schien ganz unbewohnt zu sein; aus den geschlossenen Sälen drang nicht das leiseste Geräusch. Sie deutete auf eine große Eichenthür rechts.
Seine Eminenz bewohnt hier den Flügel, der auf den Hof und auf den Fluß hinausgeht. O, nicht einmal ein Viertel der Etage, alle Empfangssäle, die auf die Straße gehen, sind geschlossen! Wie könnte man auch eine solche Halle in stand erhalten? Und wozu? Dazu gehörte eine Menge Leute.«
Sie schritt flink weiter. Ohne Zweifel war ihr diese Umgebung noch immer fremd und sie selbst allzu sehr von ihr verschieden, um von dem Milieu beeinflußt zu werden. Im zweiten Stock angelangt, fuhr sie fort:
»Sehen Sie, hier links sind die Appartements Donna Serafinas und hier rechts die der Contessina. Das ist der einzige Winkel im ganzen Hause, wo es ein bißchen warm ist, wo man existiren kann. Uebrigens, heute ist Montag, der Empfangsabend der Prinzessin. Sie werden selbst sehen.«
Dann öffnete sie eine Thüre, die auf eine zweite, sehr enge Treppe ging, und sagte:
»Wir anderen wohnen im dritten Stock. Wenn der Herr Abbé es gestattet, gehe ich voran.«
Die große Ehrentreppe endete im zweiten Stock. Victorine erklärte, daß der dritte Stock nur durch diese Treppe zugänglich sei; sie führe bis an das Gäßchen, das sich längs der Flanke des Palastes bis zum Tiber hinziehe. Dort befinde sich eine eigene Thüre; das sei sehr bequem.
Als sie endlich im dritten Stock angelangt waren und durch einen Korridor schritten, zeigte sie ihm abermals mehrere Thüren.
»Hier wohnt Don Vigilio, der Sekretär Seiner Eminenz. Hier wohne ich ... Und hier sind Ihre Zimmer. Jedesmal, wenn der Herr Vicomte auf ein paar Tage nach Rom kommt, will er keine anderen. Er sagt, daß er hier freier ist, gehen und kommen kann, wann er will. Ich werde Ihnen auch einen Schlüssel von der Thür unten geben, gerade so wie ihm. Und dann die schöne Aussicht!«
Sie trat in eine Thür. Die für Pierre bestimmte Wohnung bestand aus zwei Räumen, einem ziemlich geräumigen Salon, der eine rote Tapete mit großen Aesten besaß, und einem etwas kleineren Zimmer mit einer flachsfarbenen, mit blauen, verblichenen Blumen bestreuten Tapete. Der Salon aber lag an der Ecke des Palastes und ging auf das Gäßchen und den Tiber hinaus; Victorine öffnete sofort beide Fenster, deren eines einen weiten Ausblick auf den Fluß stromabwärts gewährte, während durch das andere Trastevere und der Janiculus jenseits des Wassers zu sehen waren.
»Ach ja, das ist sehr angenehm!« sagte Pierre, der ihr gefolgt war und jetzt neben ihr stand.
Giacomo kam, ohne sich zu eilen, mit dem Handkoffer hinter ihnen her. Es war elf Uhr vorüber. Victorine sah, daß der Priester ermüdet war, und da sie begriff, daß er nach einer solchen Reise sehr hungrig sein müsse, erbot sie sich, ihm sofort im Salon ein Frühstück auftragen zu lassen. Dann hätte er den ganzen Nachmittag für sich, um sich auszuruhen oder auszugehen; die Damen würde er erst abends beim Diner sehen. Er protestirte dagegen. Nein, er wolle entschieden ausgehen und nicht einen ganzen Nachmittag verlieren. Aber das Frühstück nahm er an, denn er starb wirklich beinahe vor Hunger.
Nichtsdestoweniger mußte sich Pierre noch eine gute halbe Stunde gedulden. Giacomo, der ihn unter der Aufsicht Victorinens bediente, hatte es nicht eilig, und diese verließ den Reisenden nicht eher, als bis sie sich überzeugt hatte, daß es ihm wirklich an nichts fehle.
»Ach, Herr Abbé, was sind das für Leute, was ist das für ein Land! Davon können Sie sich gar keine Vorstellung machen. Und wenn ich hundert Jahre hier lebe, werde ich mich nicht an die Leute hier gewöhnen. Ach, wenn die Contessina nicht so schön, so gut wäre!«
Dann, während sie selbst einen Teller mit Feigen auf den Tisch stellte, verblüffte sie ihn durch die Bemerkung, daß eine Stadt, wo es nichts als Pfarrer gebe, keine gute Stadt sein könne. Eine ungläubige, wenn auch thätige und muntere Dienerin in diesem Palaste! Das begann ihn wieder zu erschrecken.
»Wie, Sie sind nicht religiös?«
»Nein, nein, Herr Abbé, aber wissen Sie, die Pfarrer sind nicht meine schwache Seite. Ich habe schon zu Hause in Frankreich einen gekannt, als ich noch ganz klein war. Und später habe ich hier zu viele gesehen, ich hab' genug von ihnen. O, ich rede nicht von Seiner Eminenz, das ist ein heiliger Mann und aller Ehren wert. Hier im Hause weiß man, daß ich eine anständige Person bin und mich nie schlecht aufgeführt habe. Warum sollte man mich also nicht in Ruhe lassen – alle wissen ja, daß ich meine Herrschaft liebe und meinen Dienst ordentlich versehe. Ja, ja,« schloß sie mit freimütigem Lachen, »als ich erfuhr, daß ein Geistlicher kommen sollte – als ob wir nicht schon genug hier hätten – da hab' ich anfangs gebrummt. Aber Sie scheinen ein braver, junger Mann zu sein. Ich glaube, wir werden uns ausgezeichnet vertragen ... Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen so viel vorschwatze – vielleicht, weil Sie von drüben kommen, und vielleicht auch, weil die Contessina sich für Sie interessirt. Aber Sie verzeihen mir, nicht wahr, Herr Abbé? Und glauben Sie mir, ruhen Sie sich heute aus, begehen Sie nur nicht die Dummheit, in der Stadt da herumzulaufen. Die Sachen, die man zu sehen bekommt, sind lange nicht so unterhaltend, wie die Leute hier behaupten.«
Als Pierre allein war, fühlte er sich plötzlich ganz zerschlagen. Die Ermüdung der Reise wurde noch durch das Begeisterungsfieber des Vormittags gesteigert, und wie berauscht, wie betäubt von den paar Eiern und dem Kotelett, die er eilig gegessen hatte, warf er sich, mit der Absicht, eine halbe Stunde zu ruhen, ganz angekleidet auf das Bett. Er schlief nicht sofort ein. Er dachte an diese Boccaneras, deren Geschichte er teilweise kannte, und sann über ihr intimes Leben in diesem verlassenen, schweigsamen Palaste, der von so verfallener, so schwermütiger Größe war. Die Ueberraschung der ersten Augenblicke ließ ihm alles in übertriebenem Maßstab erscheinen. Dann verwirrten sich seine Gedanken; er schlummerte ein, während ein ganzer Schwarm von bald tragischen, bald freundlichen Schatten, von wirren Gesichtern ihn umgab, die ihn mit ihren rätselhaften Augen anblickten und im Nichts umherwirbelten.
Die Boccaneras hatten zwei Päpste in der Familie gehabt, einen im dreizehnten, den zweiten im fünfzehnten Jahrhundert; und von diesen zwei Auserwählten, die allmächtig gewesen waren, stammte ihr einstiges, ungeheures Vermögen. Es bestand aus beträchtlichen Gütern in der Gegend von Viterbo, mehreren Palästen in Rom, so vielen Kunstgegenständen, daß man ganze Galerien, so viel Geld, daß man ganze Keller damit anfüllen konnte. Die Familie galt für die frömmste des römischen Patriziats; ihr Glaube war der feurigste und ihr Degen hatte der Kirche stets zur Verfügung gestanden. Ja, sie war die gläubigste, aber auch die heftigste, streitbarste aller Patrizierfamilien. Beständig lag sie in Fehde und war von einer solchen Wildheit, daß der Zorn der Boccaneras sprichwörtlich geworden war. Daher rührte auch ihr Wappen, der beflügelte Drache, der in die Flammen blies, daher die feurige, wilde Devise, die ein Wortspiel auf ihren Namen bildete. Bocca nera, Alma rossa – der Mund, von einem Brüllen verdunkelt, die Seele gleich einer flammenden Glut des Glaubens und der Liebe. Noch jetzt waren endlose Legenden von Leidenschaft, von Akten furchtbarer Gerechtigkeit im Umlauf. So erzählte man von dem Duell Onfredos, desjenigen Boccanera, der gegen die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an Stelle eines alten, verfallenen Gebäudes den jetzigen Palast hatte erbauen lassen. Onfredo erfuhr, daß seine Frau sich von dem jungen Grafen Costamagna auf den Mund hatte küssen lassen. Daher ließ er ihn eines Abends entführen und mit Stricken gefesselt in sein Haus bringen; und dort, in einem großen Saale desselben, zwang er den Grafen, ehe er ihn befreite, einem Mönche die Beichte abzulegen. Dann durchschnitt er die Stricke mit dem Dolch, warf alle Lampen um und schrie dem Grafen zu, den Dolch zu behalten und sich zu verteidigen. Beinahe eine ganze Stunde suchten, mieden und umfaßten sich die beiden Männer im Dunkeln, in dem mit Möbeln vollgestellten Saale, und spickten einander mit Dolchstößen. Und als man zuletzt die Thüren erbrach, fand man zwischen Blutlachen, zwischen umgeworfenen Tischen und zerbrochenen Stühlen Costamagna mit abgeschnittener Nase und mit zweiunddreißig Wunden in den Schenkeln, während Onfredo zwei Finger der rechten Hand verloren hatte und seine Schultern wie ein Sieb durchlöchert waren. Das Wunder war, daß keiner von ihnen daran starb. Hundert Jahre später erfüllte an demselben Ufer des Tiber eine Boccanera, ein Kind von kaum sechzehn Jahren, die schöne, leidenschaftliche Cassia ganz Rom mit Entsetzen und Bewunderung. Sie liebte Flavio Corradini, den Sohn einer mit dem Fluch belegten Nebenbuhlerfamilie. Ihr Vater, der Fürst Boccanera, verweigerte rauh seine Einwilligung, und ihr älterer Bruder Ercole hatte geschworen, ihn zu töten, wenn er ihn je mit ihr überraschen würde. Der junge Mann kam mit dem Boote zu ihr und Cassia traf ihn bei der kleinen Treppe, die zum Flusse führte. Aber Ercole, der ihnen auflauerte, sprang eines Abends in die Barke und stieß Flavio ein Messer mitten ins Herz. Erst später konnte man die Thatsachen feststellen und nahm an, daß Cassia, tobend und wahnsinnig vor Verzweiflung, und da sie den Geliebten nicht überleben wollte, selbst Sühne übte; sie stürzte sich auf den Bruder und ließ das Boot kentern, indem sie den Mörder und sein Opfer mit gleicher unwiderstehlicher Kraft umfaßte. Als man die drei Leichname fand, hielt Cassia noch immer die beiden Männer umfangen und drückte mit ihren nackten Armen, die weiß wie Schnee geblieben waren, ihre Gesichter fest an einander.
Aber all das gehörte verschwundenen Epochen an. Heutzutage schien sich bei den Boccaneras, wenn auch ihr Glaube derselbe blieb, die Heftigkeit des Blutes zu beruhigen. Auch ihr großes Vermögen war in dem langsamen Verfalle verschwunden, der seit einem Jahrhundert die römischen Patrizier mit dem Ruin bedroht. Die Güter mußten verkauft werden, der Palast hatte sich geleert und nahm nach und nach den kleinlichen, bürgerlichen Anstrich der neuen Zeiten an. Aber die Boccaneras wehrten sich hartnäckig gegen jede ausländische Heirat, denn sie waren stolz darauf, daß ihr römisches Blut rein blieb. An der Armut lag ihnen nichts, ihr ungeheurer Stolz that sich Genüge; sie lebten zurückgezogen, ohne eine Klage, in der Stille und dem Dunkel, in dem ihr Geschlecht endete. Der im Jahre 1848 gestorbene Fürst Ascanio hatte von seiner Gemahlin, einer Corvisieri, vier Kinder gehabt: Pio, den Kardinal, Serafina, die nicht geheiratet hatte, um bei dem Bruder bleiben zu können, Ernesta, die nur eine Tochter hinterlassen hatte, so daß der Sohn Onofrios, der jetzt dreißigjährige Fürst Dario, der einzige männliche Erbe und Fortsetzer des Namens war. Wenn er ohne Nachkommenschaft starb, so mußte mit ihm die lebenskräftige Rasse der Boccanera, deren Thaten die Geschichte erfüllt hatten, erlöschen.
Dario und seine Base Benedetta hatten sich von Kindheit an mit einer lächelnden, tiefen und natürlichen Leidenschaft geliebt. Sie waren für einander geboren und konnten sich gar nicht vorstellen, daß sie zu etwas anderem in die Welt gekommen sein sollten, als Mann und Frau zu werden, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht hätten. Als Fürst Onofrio, ein liebenswürdiger, in Rom sehr populärer Mann, der sein bißchen Vermögen nach Herzenslust ausgab, sich, schon nahe den Vierzig, entschlossen hatte, die Tochter der Montefiori, die kleine Marquise Flavia, zu heiraten, deren prächtige, kindlich-junonische Schönheit ihn toll machte, da war er in die Villa Montefiori gezogen, die den einzigen Reichtum, den einzigen Besitz jener Damen bildete. Sie lag in der Nähe von Sta. Agnese fuori le Mura in einem riesigen Garten, einem wahren Parke mit hundertjährigen Bäumen; aber die Villa selbst, ein ziemlich armseliger Bau aus dem siebenzehnten Jahrhundert, zerfiel in Trümmer. Böse Gerüchte waren über die Namen im Schwange; die Mutter war seit ihrer Verwitwung beinahe deklassirt, die Tochter zu schön, von zu keckem Auftreten. Die Heirat wurde daher auch von der sehr strengen Serafina und dem ältern Bruder Pio, der damals erst bestallter Geheimkämmerer des heiligen Vaters und Kanonikus an der vatikanischen Basilika war, formell gemißbilligt. Nur Ernesta hatte mit dem Bruder, den sie seiner bezaubernden Heiterkeit wegen anbetete, auch in der Folge die Beziehungen aufrecht erhalten, so daß es später ihre liebste Zerstreuung wurde, jede Woche mit ihrer Tochter Benedetta einen ganzen Tag in der Villa Montefiori zuzubringen. Und was für ein köstlicher Tag war das immer für die zehnjährige Benedetta und den fünfzehnjährigen Dario – was für einen Tag brachten sie zärtlich und geschwisterlich in diesem ungeheuren, fast verlassenen Garten mit seinen schirmartigen Pinien, seinem Riesenbuchsbaum, seinem Eichengehölz zu, in dem man sich wie in einem Urwald verirren konnte!
Die arme, erdrückte Ernesta war eine leidenschaftliche Dulderseele gewesen. Sie kam mit einer ungeheuren Lebenslust auf die Welt und dürstete nach Sonnenschein, nach einem glücklichen, freien und thätigen Leben im hellen Tageslicht. Man rühmte sie wegen ihrer großen, klaren Augen, wegen des reizenden Ovals ihres sanften Gesichtes. Sehr unwissend, wie alle Töchter des römischen Adels, da sie das bißchen, was sie wußte, in einem französischen Nonnenkloster gelernt hatte, wuchs sie gänzlich abgeschlossen im Hintergrunde des düstern Palastes Boccanera auf und kannte von der Welt nichts als die tägliche Spazierfahrt, die sie mit ihrer Mutter über den Corso und den Pincio machte. Dann, fünfundzwanzig Jahre alt, schon müde und verzweifelt, schloß sie die übliche Ehe. Sie heiratete den Grafen Brandini, den Letztgeborenen einer sehr edlen, sehr zahlreichen und armen Familie, der in den Palast in der Via Giulia einziehen mußte, wo dem jungen Paare ein ganzer Flügel des zweiten Stockes eingeräumt wurde. Und nichts veränderte sich. Ernesta lebte in demselben kalten Schatten, in dieser toten Vergangenheit weiter, deren Gewicht sie immer mehr und mehr, gleich einem Grabstein auf sich ruhen fühlte. Es war übrigens beiderseits eine sehr ehrenhafte Ehe. Graf Brandini galt bald für den dümmsten und hochmütigsten Mann von Rom. Er war streng religiös, intolerant und triumphirte, als es ihm nach zahllosen Intriguen und heimlichen, sechsjährigen Schlichen gelang, zum Oberstallmeister Sr. Heiligkeit ernannt zu werden. Von da an schien zugleich mit seinem Amt die ganze düstere Majestät des Vatikans in sein Haus zu ziehen. Unter Pius IX., bis 1870 war das Leben für Ernesta noch erträglich; sie wagte die auf die Straße gehenden Fenster zu öffnen, empfing einige Freundinnen, ohne sich zu verstecken, und nahm Einladungen zu Festen an. Als aber die Italiener Rom eroberten und der Papst sich als Gefangener erklärte, verwandelte sich der Palast in der Via Giulia in eine Gruft. Das große Thor wurde geschlossen, verriegelt, der Thorflügel zum Zeichen der Trauer zugenagelt, und volle zehn Jahre ging alles nur durch die kleine, auf das Gäßchen mündende Thür. Ebenso war es verboten, die Schalterladen der Fassade zu öffnen. Das war das Schmollen, der Protest der schwarzen Gesellschaft. Der Palast versank in die Unbeweglichkeit des Todes und eine vollständige Isolirtheit; es fanden keine Empfänge mehr statt und nur selten, an Montagen, schlüpften Schatten, die Vertrauten Donna Serafinas, durch die schmale, kleine, halboffene Thür. Während dieser zehn düsteren Jahre weinte die junge Frau jede Nacht; die arme Seele verzehrte sich heimlich in Verzweiflung über dieses Lebendigbegrabensein.
Ernesta bekam ihre Tochter ziemlich spät, im dreiunddreißigsten Jahre. Anfangs war ihr das Kind eine Zerstreuung. Dann geriet sie wieder unter den zerreibenden Mühlstein des geregelten Lebens; sie mußte die Kleine ins Sacré-Coeur SS. Trinità de Monti geben, zu den französischen Nonnen, die sie selbst unterrichtet hatten. Von dort kam Benedetta als erwachsenes Mädchen von neunzehn Jahren zurück; sie verstand Französisch und Orthographie, etwas Rechnen, den Katechismus, ein bißchen verwirrte Geschichte. Und das Leben der beiden Frauen, ein Leben im Frauengemach, dem man schon den Orient anmerkte, nahm seinen Fortgang; nie führte der Gatte und Vater sie aus; sie brachten den ganzen Tag in der abgeschlossenen Wohnung zu, und die einzige Erheiterung bildete die ewige, obligatorische Spazierfahrt, die tägliche Runde über den Corso und den Pincio. Im Hause herrschte unbedingter Gehorsam; das Band der Familie war so mächtig, so stark, daß es sie beide unter den Willen des Grafen beugte, ohne daß ein Widerstand möglich war. Dazu kam noch der Wille Donna Serafinas und des Kardinals, die strenge Verteidiger der alten Gebräuche waren. Seit der Papst Rom nicht mehr verließ, gestattete das Amt eines Oberstallmeisters dem Grafen viel Muße, denn die Ställe waren auffallend verringert worden; nichtsdestoweniger versah er seinen Dienst im Vatikan, der einfach eine Formsache war, mit devotem Eifer, gleichsam als eine fortgesetzte Verwahrung gegen die usurpatorische Monarchie, die sich im Quirinal festgesetzt hatte. Benedetta war eben zwanzig Jahre alt geworden, als ihr Vater eines Abends hustend und fiebernd von einer Zeremonie in S. Peter zurückkehrte. Acht Tage später starb er, von einer Lungenentzündung hinweggerafft. Für die beiden Frauen war es, trotz ihrer Trauer, eine uneingestandene Erlösung; sie fühlten sich nun frei.
Von diesem Augenblick an hatte Ernesta nur noch einen Gedanken – nämlich ihre Tochter vor diesem furchtbaren Leben der Einmauerung und des Begrabenseins zu retten. Sie hatte sich allzu sehr gelangweilt, allein für sie war es zu spät, wieder aufzuleben; aber Benedetta sollte nicht ebenfalls ein widernatürliches Leben in einem freiwilligen Grabe führen. Uebrigens zeigte sich ein ähnlicher Ueberdruß, eine ähnliche Empörung bei mehreren Patrizierfamilien, und sie begannen sich nach dem ersten Schmollen wieder dem Quirinal zu nähern. Warum sollten die nach Thätigkeit, Freiheit und Rang dürstenden Kinder sich ewig dem Streit der Väter anschließen? Und ohne daß zwischen der schwarzen und der weißen Gesellschaft eine Versöhnung erfolgen konnte, begannen sich die Farbenschattirungen bereits zu verwischen und unvorhergesehene Heiraten fanden statt. Die politische Frage ließ Ernesta gleichgiltig, sie wußte sogar nichts von ihr; alles, was sie leidenschaftlich wünschte, war, daß ihre Rasse endlich diese verhaßte Gruft, diesen schwarzen, stummen Palast Boccanera verlassen solle, in dem alle Freuden ihres Frauenlebens in einem so langen Sterben erstarrt waren. Als junges Mädchen, als Braut, als Gattin hatte ihr Herz zu viel gelitten; sie erlag nun dem Zorn über ihr verfehltes, durch eine so alberne Resignation verlorenes Geschick. Ein neuer Beichtvater, den sie zu jener Zeit wählte, beeinflußte ihren Wunsch noch mehr; denn sie war sehr fromm geblieben, erfüllte pünktlich ihre religiösen Pflichten und fügte sich den Ratschlägen ihres Gewissensrates. Um sich noch freier zu machen, gab sie den Jesuitenpater auf, den ihr Gatte ihr selbst ausgesucht hatte, und nahm sich den Abbé Pisoni, den Pfarrer einer kleinen benachbarten Kirche, von S. Brigitta aus der Piazza Farnese. Er war ein Fünfziger, sehr sanft und sehr gut, von einer in römischen Landen seltenen Nächstenliebe. Die Archäologie, die Liebe zu alten Steinen hatte einen feurigen Patrioten aus ihm gemacht. Man erzählte sich, daß er trotz seiner bescheidenen Stellung mehrmals bei heiklen Angelegenheiten als Vermittler zwischen dem Vatikan und dem Quirinal gedient habe. Da er auch der Beichtvater Benedettas wurde, unterhielt er Mutter und Tochter gern von der Größe der italienischen Einheit, von der triumphirenden Herrschaft Italiens, die mit dem Tage der Aussöhnung zwischen Papst und König anbrechen würde.
Benedetta und Dario liebten sich wie früher, ohne Ueberstürzung, mit der starken und ruhigen Zärtlichkeit von Liebenden, die sich eins wissen. Aber da geschah es, daß Ernesta sich zwischen sie warf und sich hartnäckig ihrer Heirat widersetzte. Nein, nein, nicht Dario, den Vetter, den letzten des Namens, der ebenfalls seine Frau in dem schwarzen Grabe des Palastes Boccanera einsperren würde! Das wäre das fortgesetzte Begrabensein, der verschlimmerte Verfall, dasselbe hochmütige Elend, dasselbe ewige, niederdrückende und einschläfernde Schmollen. Sie kannte den jungen Mann wohl, wußte, daß er ein Egoist und Schwächling war, unfähig, zu denken und zu handeln, daß er seine Rasse lächelnd begraben und die letzten Steine des Hauses über seinem Kopfe zusammenbrechen lassen würde, ohne einen Versuch zur Gründung einer neuen Familie zu machen. Sie aber wollte ein anderes Glück für ihr Kind, wollte es reich und in dem Leben der Sieger und Mächtigen der Zukunft neu erblühen sehen. Von diesem Moment an setzte die Mutter es sich in den Kopf, die Tochter wider ihren Willen glücklich zu machen; sie erzählte ihr ihre Leiden und beschwor sie, ihre jammervolle Geschichte nicht von neuem zu beginnen. Dennoch wäre sie an dem ruhigen Willen des jungen Mädchens, das sich für immer hingegeben hatte, gescheitert, wenn besondere Umstände sie nicht mit dem Schwiegersohn ihrer Träume zusammengeführt hätten. In derselben Villa Montefiori, wo Benedetta und Dario sich verlobt hatten, machte sie die Bekanntschaft des Grafen Prada, des Sohnes Orlando Pradas, eines Helden der italienischen Einheit. Er war im Alter von achtzehn Jahren, gleich nach der Occupation, mit seinem Vater von Mailand nach Rom gekommen und trat zuerst als einfacher Beamter ins Finanzministerium, während der alte Held, nun zum Senator ernannt, bescheiden von einer kleinen Rente, den letzten Trümmern eines im Dienste des Vaterlandes aufgegangenen Vermögens, lebte. Aber die edle Kriegslust des ehemaligen Gefährten Garibaldis hatte sich bei dem jungen Manne in einen wütenden Beutehunger verwandelt, und er wurde einer der wirklichen Eroberer Roms, einer jener Raubvögel, die die Stadt zerstückelten und verschlangen. Er hatte sich in ungeheure Terrainspekulationen eingelassen und war, wie man sich erzählte, schon reich, als er mit dem Fürsten Onofrio in Verbindung trat; den hatte er ganz närrisch gemacht, indem er ihm den Gedanken einflüsterte, den großen Park der Villa Montefiori zu verkaufen, um dort ein ganz neues Viertel bauen zu lassen. Andere behaupteten wieder, er sei der Geliebte der Fürstin, der schönen Flavia, die neun Jahre älter als er, aber noch immer ein herrliches Weib war. In der That steckte in ihm eine heftige Begierde, ein Bedürfnis nach Beutemachen, die ihn vor dem Gut und der Frau eines andern nicht zurückschrecken ließen. Vom ersten Moment an wollte er Benedetta besitzen. Sie konnte er nicht als Geliebte haben, sie mußte geheiratet werden. Und er zögerte keinen Augenblick, sondern brach kurz und bündig mit Flavia; denn er war jählings in Begierde nach dieser reinen Jungfräulichkeit, diesem alten Patrizierblut, das in einem so anbetungswürdig jungen Körper strömte, entbrannt. Als er begriff, daß Ernesta, die Mutter, für ihn war, hielt er, seines Sieges gewiß, bei ihr um die Hand der Tochter an. Es war eine große Ueberraschung, denn er war fünfzehn Jahre älter als sie; aber er war Graf, trug einen Namen, der bereits historisch war, häufte Millionen zusammen, war im Quirinal gern gesehen und hatte die besten Aussichten. Ganz Rom war in Aufregung.
Benedetta konnte sich später nie erklären, wie sie zuletzt hatte einwilligen können. Ein halbes Jahr früher, ein halbes Jahr später wäre eine solche Heirat wegen des furchtbaren Skandals, der dadurch in der schwarzen Gesellschaft entstanden sein würde, sicherlich nicht zu stande gekommen. Eine Boccanera, die letzte dieses alten päpstlichen Geschlechtes, einen Prada, einen der Kirchenräuber heiraten! Dieser tolle Plan hatte in eine besondere, flüchtige Stunde fallen müssen, gerade in den Augenblick, da zwischen dem Vatikan und dem Quirinal eine letzte Annäherung versucht wurde. Es ging das Gerücht, daß die Entente endlich zu stande kommen würde, daß der König bereit sei, dem Papste die Souveränität über die Leostadt und einen schmalen, bis ans Meer reichenden Streifen Landes zuzuerkennen. Würde da die Heirat Benedettas mit Prada nicht das Symbol des Bundes, der nationalen Versöhnung? War dieses schöne Kind, die reine Lilie der schwarzen Gesellschaft, nicht das genehmigte Opfer, das Unterpfand, das man der weißen Gesellschaft bewilligte? Vierzehn Tage lang wurde von nichts anderem gesprochen; alles war gerührt, alles hoffte. Das junge Mädchen selbst kümmerte sich nicht um diese Beweggründe; sie horchte nur auf ihr eigenes Herz, über das sie nicht mehr verfügen konnte, weil es bereits einem andern gehörte. Aber von früh bis spät drang die Mutter mit Bitten in sie und beschwor sie, das Glück, das Leben, das sich ihr bot, nicht zurückzuweisen. Ganz besonders wurde sie von den Ratschlägen ihres Beichtvaters, des guten Abbé Pisoni, bearbeitet. Sein patriotischer Eifer kam bei dieser Gelegenheit zum vollen Ausbruch. Er übte durch das ganze Gewicht seines Glaubens an die christliche Bestimmung Italiens einen starken Druck auf sie aus, er dankte der gütigen Vorsehung, daß sie eines seiner Pfarrkinder gewählt habe, um eine Einigung zu beschleunigen, die den Sieg Gottes in der ganzen Welt herbeiführen mußte. Sicherlich war der Einfluß ihres Beichtvaters eine der entscheidenden Ursachen, die sie zuletzt zum Nachgeben bestimmten; denn sie war sehr fromm und besonders einer Madonna ergeben, deren Bildnis in der kleinen Kirche auf der Piazza Farnese sie jeden Sonntag verehrte. Da machte es nun tiefen Eindruck auf sie, als der Abbé Pisoni ihr erzählte, daß die Flamme der vor dem Bilde brennenden Lampe weiß werde, so oft er selbst davor niederkniee, um die Jungfrau zu bitten, seinem Beichtkinde die erlösende Heirat anzuraten. So wirkten also die höheren Mächte mit, und sie gab zuletzt aus Gehorsam gegen die Mutter nach. Der Kardinal und Donna Serafina hatten diese bekämpft, und dann, als die religiöse Frage dazu kam, willfahren lassen. Sie war in vollständiger Reinheit, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen, wußte nichts von sich und war der Welt so fremd, daß die Heirat mit einem andern als Dario einfach den Bruch einer langen Verheißung gemeinsamen Lebens, keine physische Losreißung der Sinne und des Herzens war. Sie weinte viel, und an einem mutlosen Tage, als sie nicht die Energie besaß, den Ihrigen und der ganzen Welt zu widerstehen, heiratete sie Prada, vollzog sie einen Bund, an dem ganz Rom mitschuldig geworden war.
Und dann, noch am Abend der Hochzeit, schlug der Blitz ein. Zeigte Prada, der Piemontese, der Norditaliener und Eroberer, die Brutalität des Eindringlings, wollte er seine Frau behandeln, wie er die Stadt behandelt hatte, als ungeduldiger Herr? Oder kam Benedetta einfach die Enthüllung des Aktes unerwartet, war sie zu beschimpfend, da sie den Mann nicht liebte und sich nicht darin ergeben konnte, sich ihm zu unterwerfen? Darüber sprach sie sich nie klar aus. Aber sie schloß gewaltsam die Thür ihres Zimmers, verriegelte sie und weigerte sich hartnackig, sie ihrem Gatten wieder zu öffnen. Während eines Monats machte Prada, den dieses Hindernis rasend machte, die wütendsten Anstrengungen Er war tief beleidigt, sein Stolz blutete, er schwur, seine Frau zu zähmen, wie man eine ungefügige Stute zähmt, mit der Reitgerte. Aber die ganze sinnliche Wut des starken Mannes zerschellte an dem unbezähmbaren Willen, der über Nacht hinter der schmalen, reizenden Stirne Benedettas aufgeschossen war. Die Boccaneras waren in ihr erwacht: ganz ruhig – sie wollte nicht, und nichts in der Welt, nicht einmal der Tod, hätte sie andern Sinnes gemacht. Außerdem fand in ihr, bei diesem plötzlichen Erkennen der Liebe, eine Umkehr zu Dario statt, sie kam zu der Ueberzeugung, daß sie ihren Körper nur ihm allein geben dürfe, da sie sich ihm allem versprochen hatte. Der junge Mann befand sich seit der Hochzeit, die er wie einen Trauerfall hatte hinnehmen müssen, in Frankreich. Sie verhehlte ihm nichts, schrieb ihm, er möge wieder kommen und verpflichtete sich von neuem, niemals einem andern anzugehören. Uebrigens hatte ihre Frömmigkeit noch zugenommen; dieser beharrliche Gedanke, dem erwählten Geliebten ihre Reinheit zu bewahren, vermischte sich in ihrem Kultus mit dem Gedanken der Treue gegen Jesus. Ein feurig liebendes Herz hatte sich in ihr offenbart; sie war bereit, für ihren Schwur das Martyrium zu leiden. Und als ihre Mutter sie verzweifelt, mit gefalteten Händen beschwor, sich in die ehelichen Pflichten zu fügen, antwortete sie, daß sie zu nichts verpflichtet sei, da sie, als sie heiratete, von nichts gewußt habe. Uebrigens änderten sich die Zeiten wieder; die Verständigung zwischen dem Vatikan und dem Quirinal war gescheitert, und zwar derart, daß die Zeitungen der beiden Parteien mit erneuter Heftigkeit ihre Schmähungs-Campagne wieder aufnahmen. So stürzte diese Siegesheirat, an der alle Welt wie an einem Friedensunterpfand mitgearbeitet hatte, mit dem allgemeinen Zusammenbruch zusammen, war nur noch eine Ruine neben so vielen anderen.
Ernesta starb daran. Sie hatte sich getäuscht; ihre verfehlte Existenz, ihr freudenloses Eheleben gipfelten in diesem letzten mütterlichen Irrtum. Das Schlimmste war, daß sie ganz allein stand, daß die gesamte Verantwortlichkeit für das Unheil auf ihr ruhte; denn ihr Bruder, der Kardinal, und ihre Schwester Donna Serafina überhäuften sie mit Vorwürfen. Ihr einziger Trost war die Verzweiflung des Abbé Pisoni, der doppelt niedergeschmettert war: durch den Verlust seiner patriotischen Hoffnungen und durch das Bedauern, an einer solchen Katastrophe mitgearbeitet zu haben. Und eines Morgens fand man Ernesta kalt und weiß in ihrem Bette. Man sprach von einer Berstung im Herzen; der Kummer hatte dafür ausgereicht, denn sie litt furchtbar, heimlich, ohne zu klagen, so wie sie ihr ganzes Leben gelitten hatte. Es war nun bereits ein Jahr, daß Benedetta verheiratet war und sich ihrem Gatten verweigerte, aber sie wollte die eheliche Wohnung nicht verlassen, um ihrer Mutter den schrecklichen Schlag eines öffentlichen Skandals zu ersparen, trotzdem ihre Tante Serafina sie beeinflußte, indem sie ihr Hoffnung auf eine Annullirung ihrer Ehe machte, wenn sie sich dem heiligen Vater zu Füßen werfen wolle. Zuletzt gelang es ihr, sie zu überzeugen, nachdem sie – ebenfalls Ratschlägen anderer nachgebend – ihr an Stelle des Abbé Pisoni ihren eigenen Beichtvater, den Jesuitenpater Lorenzo, zum Gewissensrat gegeben hatte. Dieser Jesuitenpater, kaum fünfunddreißig Jahre alt, war ein ernster und liebenswürdiger Mann, mit hellen Augen und von großer Ueberredungsgabe. Benedetta entschied sich aber erst am Tage nach dem Tode ihrer Mutter; erst dann kehrte sie in den Palast Boccanera zurück und bewohnte das Zimmer, in dem sie geboren ward, in dem ihre Mutter eben verschieden. Uebrigens wurde der Prozeß behufs Annullirung der Heirat sofort zur ersten Instruktion an den Generalvikar geleitet, der die Diözese von Rom versah. Man erzählte sich, daß die Contessina sich dazu erst entschlossen hatte, nachdem sie eine geheime Audienz beim Papste erlangt hatte, der ihr die aufmunterndste Teilnahme bezeugte. Graf Prada sprach anfangs davon, seine Frau von Gerichts wegen zur Rückkehr in die eheliche Wohnung zu zwingen. Dann aber, als sein über diese Angelegenheit ganz verzweifelter Vater, der alte Orlando, ihn beschwor, gab er sich damit zufrieden, daß die Verhandlung vor der geistlichen Behörde stattfinde. Am meisten erbitterte es ihn, daß die Klägerin anführte, die Heirat sei infolge Unvermögens des Gatten nicht vollzogen worden. Das ist eines der klarsten Motive und gilt vor dem Gerichtshof von Rom als zulässig. Der Vikar hatte daher in seiner Eigenschaft als Bischof von Rom den Prozeß der Konzilskongregation übertragen, was für Benedetta einen ersten Erfolg bedeutete. So standen gegenwärtig die Dinge und sie erwartete nun das endgiltige Urteil der Kongregation, in der Hoffnung, daß die kirchliche Annullirung der Ehe später ein unwiderstehliches Argument zur Erlangung der Scheidung vor den bürgerlichen Behörden bilden werde. Die Contessina nahm in dem eisigen Gemach, wo ihre Mutter Ernesta ergeben und verzweifelt gestorben war, ihr Mädchenleben wieder auf. Sie gab sich sehr ruhig, sehr beherrscht in ihrer Liebe, denn sie hatte geschworen, sich keinem andern als Dario hinzugeben, und auch ihm erst an dem Tage, da ein Priester sie heilig vor Gott mit ihm verbunden haben würde.
Gerade war auch Dario, ein halbes Jahr früher, infolge des Todes seines Vaters und einer Katastrophe, die ihn zu Grunde gerichtet hatte, in den Palast Boccanera gezogen. Nachdem Fürst Onofrio auf den Rat Pradas die Villa Montefiori um zehn Millionen an eine Gesellschaft von Finanzmännern verlauft hatte, ließ er sich, statt seine zehn Millionen klug in der Tasche zu behalten, von dem Spekulationsfieber mitreißen, das Rom verzehrte; er begann zu spielen, indem er sein eigenes Terrain zurückkaufte, und verlor schließlich alles in dem furchtbaren Krach, der die Vermögen der ganzen Stadt verschlang. Total ruinirt, sogar verschuldet, setzte der Fürst, ein schöner, populärer Mann, nichtsdestoweniger lächelnd seine Promenaden am Corso fort, als er plötzlich infolge eines Sturzes vom Pferde starb. Und vier Monate später vermählte sich seine Witwe, die noch immer schöne Flavia – sie hatte sich ausgeglichen, um aus dem Sturz eine moderne Villa und vierzigtausend Franken Rente wieder herauszufischen – mit einem wunderschönen, um zehn Jahre jüngeren Mann. Es war ein Schweizer, Namens Jules Laporte, ein ehemaliger Sergeant in der Schweizergarde des heiligen Vaters, hierauf Winkelmakler bei einem Handel mit Reliquien, heute Marquis Montefiori, da er durch ein besonderes Breve des Papstes den Titel zugleich mit der Frau erworben hatte. Die Fürstin Boccanera war wieder die Marquise Montefiori geworden. Nun hatte der Kardinal Boccanera, tief verletzt, von seinem Neffen Dario verlangt, daß er zu ihm in eine kleine Wohnung im ersten Stockwerk des Palastes ziehe. Im Herzen des heiligen Mannes, der der Welt abgestorben zu sein schien, lebte noch der Stolz auf den Namen und eine zärtliche Liebe für diesen zarten Knaben, den letzten der Rasse, den einzigen, durch den der alte Name wieder grünen konnte. Er zeigte sich übrigens einer Heirat mit Benedetta, die er ebenfalls mit väterlicher Neigung liebte, nicht abgeneigt. Indem er beide zu sich in sein Haus nahm, war er so stolz und von ihrer Pietät so fest überzeugt, daß er sich nicht um die abscheulichen Gerüchte kümmerte, welche die Freunde des Grafen Prada seit der Vereinigung von Vetter und Base unter demselben Dache in der weißen Gesellschaft in Umlauf setzten. Donna Serafina behütete Benedetta so, wie er selbst Dario behütete; und in der Stille, dem Dunkel des großen, einsamen, einst von so tragischen, blutigen Gewaltthaten befleckten Palastes lebten nur noch diese vier mit ihren jetzt eingeschläferten Leidenschaften – die letzten Ueberlebenden einer Welt, die an der Schwelle einer neuen Welt zusammenbrach.
Als der Abbé Pierre Froment jählings mit schwerem Kopf aus peinlichen Träumen erwachte, sah er zu seiner Verzweiflung, daß der Tag sich neigte. Seine Uhr, die er eilig zu Rate zog, wies auf sechs. Er, der höchstens eine Stunde ruhen wollte, hatte in unbesiegbarer Erschöpfung beinahe sieben Stunden geschlafen. Und trotzdem er nun wach war, blieb er auf dem Bette liegen, gebrochen, wie schon vor dem Kampfe besiegt. Woher diese Erschöpfung, diese grundlose Entmutigung, dieser Schauer des Zweifels, der ihn, er wußte nicht warum, während des Schlafes ergriffen hatte und seine junge Begeisterung vom Vormittag zu Boden schlug? Hatten die Boccaneras etwas mit dieser plötzlichen Schwäche seiner Seele zu thun? Er hatte im Dunkel seiner Träume so wirre, so beunruhigende Gestalten gesehen; und sie stiegen auch jetzt noch vor ihm auf; seine Beklemmung ließ nicht nach; er war ganz bestürzt, so in diesem fremden Zimmer zu erwachen, und die Angst vor dem Unbekannten ergriff ihn. Alles kam ihm nicht mehr vernünftig vor; er konnte sich nicht erklären, warum gerade Benedetta dem Vicomte de la Choue geschrieben und ihn beauftragt hatte, ihm mitzuteilen, daß sein Buch der Kongregation des Index angezeigt worden sei. Und welches Interesse konnte sie daran haben, daß der Autor nach Rom kommen solle, um sich zu verteidigen? Und zu welchem Zwecke hatte sie die Liebenswürdigkeit so weit getrieben, ihn bei sich absteigen zu lassen? Mit einem Wort, er war ganz betroffen, daß er, der Fremde, sich in diesem Bette, in diesem Zimmer, in diesem Palaste befand, dessen tiefe Todesstille ihn umgab. Seine Glieder waren zerschlagen, sein Gehirn wie leer; plötzlich sah er klar, er begriff, daß vieles ihm entging, daß sich hinter der scheinbaren Einfachheit der Thatsachen eine ganze Komplikation verbergen müsse. Aber das war nur ein Blitz, dann verschwand der Argwohn wieder; er erhob sich gewaltsam und schüttelte sich, indem er das traurige Zwielicht beschuldigte, die einzige Ursache dieses Schauderns und dieser Verzweiflung zu sein, deren er sich schämte.
Nun begann Pierre, um sich aufzurütteln, die zwei Zimmer zu untersuchen. Sie waren einfach, fast ärmlich mit ungleichen, aus dem Anfang des Jahrhunderts stammenden Mahagonimöbeln ausgestattet. Weder an dem Bette noch an Fenstern und Thüren befanden sich Vorhänge. Auf dem Boden, aus den kahlen, rot angestrichenen und gewichsten Dielen lagen nur vor den Sitzplätzen kleine Fußteppiche. Schließlich erinnerte ihn diese bürgerliche Kahlheit und Kälte an das Zimmer, in dem er als Kind in Versailles bei seiner Großmutter geschlafen, die dort unter Ludwig Philipp einen Kurzwarenhandel betrieben hatte. Aber an einer Wand des Zimmers, vor dem Bette hing zwischen kindischen, wertlosen Gravüren ein altes Bild, das ihn interessirte. Es stellte, von dem erlöschenden Tageslicht kaum beleuchtet, eine Frauengestalt vor, die auf einem Steinsockel auf der Schwelle eines großen, strengen Gebäudes saß, aus dem man sie hinausgejagt zu haben schien. Die bronzenen Thorflügel hatten sich für immer hinter ihr geschlossen und sie saß da, in eine einfache, weiße Leinwand gehüllt, während zerstreute, rauh, aufs Geratewohl hingeschleuderte Kleidungsstücke auf den dicken Granitstufen herumlagen. Ihre Füße, ihre Arme waren nackt, das Gesicht lag zwischen den schmerzhaft gerungenen Händen – ein Gesicht, das man nicht sah, das, von den Wellen eines herrlichen Haares überflutet, mit einem fahlen Goldschleier verhüllt wurde. Was für einen namenlosen Schmerz, was für eine furchtbare Schmach, was für ein abscheuliches Verlassensein verbarg sie so, diese Verstoßene, diese beharrlich Liebende, über deren Geschichte – der Geschichte eines heftigen Herzens – man endlos sinnen konnte? Man erriet, daß sie in ihrem Elend, in diesem um ihre Schultern geschlungenen Fetzen Leinwand anbetungswürdig jung und schön war, aber alles übrige an ihr – ihre Leidenschaft, vielleicht ihr Unglück, vielleicht ihre Schuld – war vom Geheimnis umwoben. Es wäre denn, daß sie nur das Symbol von allem war, was ohne bestimmtes Antlitz, schauernd und weinend vor der ewig geschlossenen Thür des Unbekannten steht. Lange sah er sie an, so fest, daß er sich zuletzt einbildete, er könne ihr göttlich reines, göttlich leidensvolles Profil unterscheiden. Aber das war nur eine Illusion, denn das Bild hatte viel gelitten, war geschwärzt und vernachlässigt. Von welchem unbekannten Meister mochte dieses Panneau wohl sein, daß es ihn derart bewegte? An der Wand daneben hing eine heilige Jungfrau, eine schlechte Kopie eines Gemäldes aus dem achtzehnten Jahrhundert, und reizte ihn durch ihr banales Lächeln.
Der Tag senkte sich mehr und mehr. Pierre öffnete das Fenster des Salons und stützte sich auf seinen Ellenbogen. Gegenüber, am jenseitigen Ufer des Tiber, erhob sich der Janiculus, der Berg, von dem er am Vormittag Rom gesehen hatte. Aber es war in dieser trüben Stunde nicht mehr die Stadt der Jugend und der Träume, die sich in die Morgensonne aufschwang; die Nacht verschleierte alles mit Aschgrau, der Horizont, undeutlich und düster, versank. Da unten, links, über den Dächern schimmerte noch der Palatin, und da unten, rechts, hob sich der Dom von S. Peter schieferfarben noch immer von dem bleigrauen Himmel ab. Der Quirinal hinter ihm, den er nicht sehen konnte, mußte wohl auch vom Nebel verdunkelt sein. Ein Paar Minuten verstrichen, und alles umzog sich noch mehr; Rom verschwand, verlor sich in seiner ihm unbekannten Unermeßlichkeit. Von neuem ergriffen ihn grundlose Zweifel und Unruhe so schmerzlich, daß er nicht länger am Fenster zu bleiben vermochte. Er schloß es und setzte sich nieder, indem er sich von dem Dunkel mit einer Flut unendlicher Traurigkeit überschwemmen ließ. Und seine trübe Träumerei nahm erst ein Ende, als die Thür sich leise aufthat und der Schein einer Lampe das Zimmer erhellte.
Es war Victorine, die vorsichtig mit dem Licht eintrat.
»O, Herr Abbé, schon auf! Ich war gegen vier hier, aber ich ließ Sie weiter schlafen. Es war recht klug von Ihnen, sich nach Herzenslust auszuschlafen.«
Aber als er über Gliederschmerzen und Schauern klagte, wurde sie unruhig.
»Geben Sie nur acht, Sie werden sich doch nicht das abscheuliche Fieber von hier holen! Sie wissen, neben dem Fluß da ist's nicht geheuer. Don Vigilio, der Sekretär Seiner Eminenz, hat es schon, das Fieber. Ich sage Ihnen, das ist kein Spaß.«
Sie riet ihm auch, nicht hinabzugehen und sich lieber niederzulegen. Sie würde ihn bei der Prinzessin und bei der Contessina entschuldigen. Schließlich ließ er sie reden und thun, was sie wollte, denn er war außer stande, einen Willen zu äußern. Er folgte jedoch ihrem Rate und aß eine Suppe, einen Hühnerflügel und Confitüren, die Giacomo, der Bediente, ihm heraufbrachte. Und das that ihm sehr wohl; er fühlte sich wiederhergestellt und zwar derart, daß er sich weigerte, sich ins Bett zu legen und absolut noch an diesem Abend den Damen für ihre liebenswürdige Gastfreundschaft danken wollte. Da Donna Serafina am Montag ihren Empfangstag habe, werde er sich vorstellen.
»Schön, schön,« sagte Victorine. »Wenn Sie sich wieder wohl fühlen, wird es Sie zerstreuen. Am besten ist's, daß Don Vigilio, Ihr Nachbar, Sie um neun Uhr abholt und Sie begleitet. Warten Sie auf ihn.«
Pierre hatte sich eben gewaschen und seine neue Sutane angezogen, als Punkt neun Uhr ein diskretes Klopfen an der Thür ertönte. Ein kleiner Mann, ein Priester, trat herein; er war kaum dreißig Jahre alt, mager, schwächlich und hatte ein langes, verwüstetes, safrangelbes Gesicht. Seit zwei Jahren verzehrte ihn das Fieber täglich um dieselbe Stunde. Aber in dem gelben Gesichte brannten, von seiner Feuerseele entfacht, die Flammen seiner schwarzen Augen, wenn er vergaß, sie zu dämpfen.
Er machte eine Verbeugung und sagte einfach, in sehr gutem Französisch:
»Don Vigilio, Herr Abbé, und ganz zu Ihren Diensten. Wenn es Ihnen recht ist, können wir gleich gehen.«
Pierre folgte ihm sofort, indem er ihm dankte, Don Vigilio sprach übrigens nichts mehr und begnügte sich, mit einem Lächeln zu antworten. Sie waren nun die kleine Treppe hinabgestiegen und befanden sich im zweiten Stock auf dem ungeheuer großen Treppenabsatz der Ehrentreppe. Pierre war über die schwache Beleuchtung überrascht und betrübt; in weiten Zwischenräumen flimmerten Gashähne wie in einem verdächtigen Hotel garni, und die gelben Flecke erhellten kaum die tiefe Finsternis der hohen, endlosen Korridore. Es sah gigantisch und düster aus. Selbst auf dem Treppenabsatz, auf den die Thür der Wohnräume Donna Serafinas, gegenüber der zu ihrer Nichte führenden, mündete, deutete nichts darauf hin, daß an diesem Abend ein Empfang stattfinde. Die Thür blieb geschlossen, kein Laut drang aus den Gemächern in die von dem gesamten Palaste ausgehende Todesstille hinaus. Don Vigilio öffnete nach einer neuen Verbeugung leise die Thür, ohne zu klingeln.
Eine einzige, auf einem Tische stehende Petroleumlampe erhellte das Vorzimmer; es war ein großer Raum mit kahlen Wänden, auf denen al fresco ein Behang in Rot und Gold, in antikem Geschmack regelmäßig rings umher drapirt, gemalt war. Auf den Stühlen lagen ein paar Männerüberröcke und zwei Damenmäntel, während die Hüte einen Pfeilertisch bedeckten. Ein Bedienter saß mit dem Rücken gegen die Wand und schlummerte.
Als Don Vigilio zurücktrat, um Pierre in den ersten Salon, ein mit rotem Brokat ausgeschlagenes, halbdunkles und scheinbar leeres Gemach treten zu lassen, sah sich dieser einer schwarzen Erscheinung gegenüber. Es war eine in Schwarz gekleidete Frau, deren Züge er anfangs nicht unterscheiden konnte. Glücklicherweise hörte er, wie sein Begleiter mit einer Verbeugung sagte:
»Contessina, ich habe die Ehre, Ihnen den Herrn Abbé Pierre Froment vorzustellen. Er ist heute früh aus Frankreich angekommen.«
Er blieb einen Augenblick inmitten dieses einsamen Salons, in dem ruhigen Lichte zweier mit Spitzen verschleierter Lampen mit Benedetta allein. Aber jetzt drang ein Geräusch von Stimmen aus dem Nebensalon, einem großen Saale, dessen Thür, deren beide Flügel offen standen, ein helleres Viereck von Licht umschrieb.
Die junge Frau kam ihm sofort sehr liebenswürdig, mit vollkommener Einfachheit entgegen.
»Ah, Herr Abbé! Es freut mich, Sie zu sehen. Ich fürchtete, daß Ihr Unwohlsein am Ende ernst wäre. Aber Sie haben sich schon gänzlich erholt, nicht wahr?«
Er hörte ihr zu, bezaubert von ihrer langsamen, leicht schnarrenden Stimme, in der eine tiefe, verhaltene Leidenschaft in sehr viel weise Verständigkeit überzugehen schien. Nun endlich sah er sie, mit ihrem schweren, braunen Haar, mit ihrer weißen, elfenbeinweißen Haut. Sie hatte ein rundes Gesicht, etwas starke Lippen, eine sehr feine Nase, Züge von kindlicher Zartheit. Aber vor allem waren es die Augen, die an ihr lebten, ungeheure Augen von unendlicher Tiefe, in denen niemand mit Sicherheit zu lesen vermochte. Schlief sie? Träumte sie? Verbarg sie unter der Unbeweglichkeit ihres Gesichtes die feurige Spannkraft großer Heiligen und großer Buhlerinnen? Sie war so weiß, so jung, so ruhig, ihre Bewegungen waren harmonisch, ihr ganzes Benehmen war sehr bedächtig, sehr edel und rhythmisch! In den Ohren trug sie ein paar große Perlen von bewunderungswürdiger Reinheit. Diese Perlen stammten aus einem berühmten Halsband ihrer Mutter und ganz Rom kannte sie.
Pierre entschuldigte sich und bedankte sich bei ihr.
»Madame, ich bin beschämt – ich wollte Ihnen gleich morgens sagen, wie sehr ich von Ihrer allzu großen Güte gerührt bin.«
Er hatte einen Augenblick gezögert, sie »Madame« zu nennen, da er sich des in ihrem Gesuch um Annullirung der Ehe angeführten Motivs erinnerte. Aber offenbar nannte alle Welt sie so; ihr Gesicht behielt seinen ruhigen und wohlwollenden Ausdruck. Sie wollte ihn ermutigen.
»Sie sind hier ganz wie zu Hause, Herr Abbé. Es genügt, daß unser Verwandter, Herr de la Choue, Sie liebt und sich für Ihr Werk interessirt. Sie wissen, ich liebe ihn sehr ...«
Ihre Stimme stockte ein wenig; sie hatte begriffen, daß sie von dem Buche, der einzigen Ursache der Reise und der angebotenen Gastfreundschaft, sprechen müsse.«
»Ja, der Vicomte hat mir Ihr Buch geschickt. Ich habe es gelesen. Ich fand es sehr schön. Es hat mich aufgeregt, aber ich bin recht unwissend, sicherlich habe ich nicht alles verstanden. Wir müssen darüber sprechen. Sie werden mir Ihre Ansichten erklären, nicht wahr, Herr Abbé?«
Er las nun in ihren großen, klaren Augen, die nicht zu lügen verstanden, die Ueberraschung, die Bewegung einer Kinderseele, die beunruhigenden, noch nie begegneten Problemen gegenübergestellt wird. Sie war es also nicht, die sich für sein Buch ereifert hatte, die ihn in ihrer Nähe haben wollte, um ihn zu stützen, um an seinem Siege teilzunehmen? Er argwöhnte von neuem, und diesmal ganz bestimmt, einen geheimen Einfluß. Es gab jemand, dessen Hand alles einem unbekannten Ziele zuführte. Aber so viel Einfachheit und Freimütigkeit bei einem so schönen, so jungen und so edlen Geschöpf bezauberten ihn; er ergab sich ihr gleich nach den wenigen Worten, die er mit ihr gewechselt, und wollte ihr sagen, daß sie gänzlich über ihn verfügen könne, als er durch das Erscheinen einer andern, ebenfalls in Schwarz gekleideten Frau unterbrochen ward, deren hohe, schlanke Gestalt sich hart von dem leuchtenden Rahmen der weit offenen Thür des Nebensalons abhob.
»Also, Benedetta, hast Du Giacomo gesagt, daß er nachschauen soll? Don Vigilio ist eben gekommen; er ist allein, das schickt sich nicht.«
»Aber nein, Tante, der Herr Abbé ist hier.«
Und sie beeilte sich, ihn vorzustellen.
»Der Herr Abbé Pierre Froment – die Prinzessin Boccanera.«
Eine zeremoniöse Begrüßung fand statt. Sie mußte schon nahe an die Sechzig sein und schnürte sich derart, daß man sie von rückwärts für eine junge Frau hätte halten können. Das war übrigens ihre letzte Koketterie; ihr Haar, noch dicht und fest, war ganz weiß, nur die Augenbrauen in dem langen Gesicht mit den tiefen Falten und mit der großen eigenwilligen Familiennase waren schwarz geblieben. Sie war nie schön gewesen und war Mädchen geblieben, weil es sie tödlich verletzte, daß die Wahl des Grafen Brandini auf Ernesta, ihre jüngere Schwester, fiel; von da an hatte sie den Entschluß gefaßt, alle ihre Freuden nur in der Befriedigung des ererbten Stolzes auf den Namen, den sie trug, zu suchen. Die Boccaneras hatten bereits zwei Päpste zu den ihrigen gezählt, und sie hoffte, nicht früher zu sterben, als bis ihr Bruder, der Kardinal, der dritte geworden wäre. Sie war seine heimliche Haushälterin geworden, verließ ihn nicht mehr, wachte über ihn, beriet ihn, führte die Herrschaft über das Haus und wirkte Wunder, um den langsamen Verfall zu verbergen, der ihnen die Decke über dem Kopfe zusammenbrechen ließ. Und wenn sie seit dreißig Jahren jeden Montag einige vertraute Freunde empfing, die alle dem Vatikan angehörten, so geschah das nur aus Politik, um den Salon der schwarzen Gesellschaft, eine Macht und eine Gefahr zu bleiben.
Pierre erriet daher auch aus ihrer Aufnahme, wie wenig er, der kleine fremde Priester, der nicht einmal Prälat war, für sie bedeutete. Und das setzte ihn noch mehr in Erstaunen, drängte ihm von neuem die dunkle Frage auf: Warum hatte man ihn eingeladen, was sollte er in dieser den Geringen verschlossenen Welt? Aber er wußte, daß sie extrem fromm war und glaubte schließlich zu verstehen, daß sie ihn bloß aus Rücksicht für den Vicomte empfing; denn auch sie wußte nichts anderes zu sagen, als: »Wir freuen uns so, daß wir gute Nachrichten von Herrn de la Choue haben! Vor zwei Jahren hat er uns einen so schönen Pilgerzug hergebracht!«
Sie ging voran und führte den jungen Priester in den Nebensalon. Es war dies ein ungeheuer großes, viereckiges, mit altem, gelbem, großblumigem Louis XIV.-Brokat ausgeschlagenes Gemach. Die sehr hohe Decke besaß eine wundervolle Verkleidung aus geschnitztem und gemaltem Holz und Deckenfelder mit Goldrosetten. Aber die Einrichtung war sehr ungleichartig. Es gab da hohe Spiegel, zwei prächtige, vergoldete Pfeilertische, ein paar schöne Lehnstühle aus dem siebenzehnten Jahrhundert, aber alles übrige sah kläglich aus: ein schwerer Empiregueridon von Gott weiß woher, wunderliche Dinge, die aus irgend einem Bazar stammen mußten, und auf dem kostbaren Marmor der Pfeilertische schreckliche Photographien. Nicht ein einziger interessanter Kunstgegenstand war vorhanden. An den Wänden hingen alte mittelmäßige Gemälde. Eine Ausnahme bildete ein köstlicher Unbekannter, eine Heimsuchung Mariä aus dem vierzehnten Jahrhundert; die Jungfrau war ganz klein, von der reinen Zartheit eines zehnjährigen Kindes, während der Engel riesig groß und herrlich war und sie mit den Wogen blendender und übermenschlicher Liebe überflutete. Außerdem hing gegenüber ein altes Familienbild, ein sehr schönes, junges Mädchen mit einem Turban auf dem Kopfe darstellend; es galt für das Porträt der Cassia Boccanera, der Liebenden und Richterin, die sich mit ihrem Bruder Ercole und dem Leichnam ihres Geliebten Flavio Corradini in den Tiber gestürzt hatte. Vier Lampen erhellten mit ihrem starken ruhigen Lichte das verblichene, wie von einem schwermütigen Sonnenuntergang gelb bestrahlte, ernste, leere und kalte Zimmer, in dem kein einziger Blumenstrauß zu sehen war.
Donna Serafina stellte Pierre sofort mit ein paar kurzen Worten vor. Und in der eintretenden Stille, in dem plötzlichen Verstummen der Gespräche fühlte er, wie die Blicke aller sich auf ihn wie auf eine versprochene und erwartete Kuriosität richteten. Es waren höchstens zehn Personen anwesend. Darunter befand sich auch Dario; er plauderte stehend mit der kleinen Prinzessin Celia Buongiovanni, die von einer alten Verwandten begleitet war, welche sich halblaut mit einem Prälaten, Monsignore Nani, unterhielt. Die beiden letzteren saßen in einem dunklen Winkel. Pierre fiel jedoch am meisten der Name des Anwalts im Konsistorium, Morano, auf. Der Vicomte glaubte, als er Pierre nach Rom schickte, ihm die besondere Stellung jenes Mannes in diesem Hause erklären zu müssen, damit er keine Irrtümer begehe. Morano war seit dreißig Jahren der Freund Donna Serafinas. Dieses Verhältnis war einst strafbar gewesen, da der Anwalt Frau und Kinder hatte, aber nachdem er Witwer geworden und vor allem unter dem Einfluß der Zeit wurde es von allen entschuldigt und anerkannt, wurde zu einer Art jener langjährigen wilden Ehen, die durch die Duldsamkeit der Welt geweiht werden. Da beide sehr fromm waren, hatten sie sich gewiß des nötigen Ablasses versichert. So saß also Morano auf dem Platze, den er seit mehr als einem Vierteljahrhundert einnahm, neben dem Kamin, obwohl darin noch kein Feuer brannte. Und als Donna Serafina ihre Hausfrauenpflicht erfüllt hatte, nahm sie selbst wieder ihren Platz, ihm gegenüber, an der andern Seite des Kamins ein.
Dann, während Pierre sich schweigend und geräuschlos neben Don Vigilio auf einen Stuhl niederließ, setzte Dario in lauterem Ton die Geschichte fort, die er Celia erzählte. Er war ein hübscher Mann von mittlerer Grüße, schlank und elegant, mit braunem, sehr gepflegtem Vollbart und dem langen Gesicht und der starken Nase der Boccaneras; aber seine Züge waren milder, wie durch die hundertjährige Verarmung des Blutes erschlafft.
»O, eine Schönheit,« wiederholte er mit Nachdruck, »eine wunderbare Schönheit!«
»Wer ist das?« fragte Benedetta, indem sie zu ihnen trat.
Celia, die der über ihrem Kopfe hängenden kleinen Jungfrau ähnelte, begann zu lachen.
»O Liebste, ein armes Mädchen – eine Arbeiterin, die Dario heute sah.«
Und Dario mußte seine Geschichte wieder beginnen. Er war durch eine enge Straße neben der Piazza Navona gegangen, als er auf den Stufen einer Freitreppe ein großes, starkes Mädchen von zwanzig Jahren sitzen sah, das laut schluchzte. Hauptsächlich von ihrer Schönheit gerührt, hatte er sich ihr genähert und zuletzt aus ihr heraus gebracht, daß sie in dem Hause, einer Wachsperlenfabrik, arbeitete; aber die Fabrik hatte die Arbeit eingestellt, die Werkstätte war geschlossen, und sie wagte nicht, nach Hause zu ihren Eltern zurückzukehren, so groß war dort das Elend. Dabei schlug sie unter der Sintflut ihrer Thränen so schöne Augen zu ihm auf, daß er zuletzt seine Börse zog. Und da war sie mit einem Satz in die Hohe gesprungen, ganz rot und verlegen, hatte die Hände im Rocke versteckt und nichts nehmen wollen; aber wenn er wolle, könne er ihr folgen und es ihrer Mutter geben. Dann war sie rasch gegen die Engelsbrücke zu fortgelaufen.
»O, es war eine Schönheit,« wiederholte er mit verzückter Miene, »eine prachtvolle Schönheit! ... Größer als ich, trotz ihrer Stärke schlank – einen Hals wie eine Göttin! Eine echte Antike, eine zwanzigjährige Venus – das Kinn ein wenig stark, Mund und Lippen von vollkommener Regelmäßigkeit, die Augen – o, diese reinen, großen Augen! ... Und nichts auf dem Kopfe, nichts als die Krone der schweren, schwarzen Haare – ein strahlendes Gesicht, wie von der Sonne vergoldet!«
Alle hörten entzückt, mit jener Freude an der Schönheit zu, die Rom trotz allem sich bewahrt.
»Diese schönen Mädchen aus dem Volke werden sehr selten,« sagte Morano. »Man kann ganz Trastevere durchlaufen, ohne einer zu begegnen. Aber das beweist doch, daß es noch welche gibt, wenigstens eine.«
»Und wie heißt Deine Göttin?« fragte Benedetta lächelnd; sie war belustigt und entzückt wie alle anderen.
»Pierina,« antwortete Dario und lachte ebenfalls.
»Und was hast Du mit ihr gemacht?«
Aber das Gesicht des jungen Mannes nahm einen Ausdruck von Unbehagen und Furcht an, wie ein Kind, das während des Spieles auf ein häßliches Tier stößt.
»Ach, sprich nicht davon, es hat mir leid genug gethan ... Ein Elend, daß einem dabei übel werden kann!«
Er war aus Neugierde hinter ihr hergegangen, bis zur andern Seite der Engelsbrücke, bis in das neue Viertel, das auf den Prati del Castello Wiesen der Engelsburg. gebaut wurde; und dort im ersten Stock eines der verlassenen, kaum noch trockenen und schon verfallenen Häuser war er auf ein schreckliches Schauspiel gestoßen, von dem ihm noch immer übel war: eine ganze Familie, Mutter, Vater, ein alter, kranker Oheim, mehrere Kinder starben beinahe vor Hunger, verfaulten im Schmutz. Er gebrauchte bei dieser Schilderung die edelsten Ausdrücke und wehrte die furchtbare Vision mit einer erschreckten Handbewegung ab.
»Nun, ich machte, daß ich fort kam. Und ich stehe euch gut dafür, daß ich nicht mehr hingehe.«
In der kalten und verlegenen Stille, die darauf folgte, entstand ein allgemeines mißbilligendes Kopfschütteln. Morano beschuldigte mit bitteren Worten die Räuber, die vom Quirinal, daß sie die einzige Ursache des ganzen Elends von Rom seien. Sprach man denn nicht davon, den Deputirten Sacco, diesen Intriguanten, der sich in allen Arten von verdächtigen Abenteuern kompromittirt hatte, zum Minister zu machen? Das wäre der Gipfel der Frechheit, der unfehlbare und nahe Bankerott.
Nur Benedetta, deren Blick sich auf Pierre richtete, da sie an sein Buch dachte, murmelte:
»Die armen Leute! Wie traurig! Aber warum sollte man nicht wieder nach ihnen sehen?«
Pierre, der anfangs zerstreut und nicht in seinem Element war, wurde von der Erzählung Darios tief erschüttert. Er durchlebte wieder sein Apostelamt inmitten des Elends von Paris; ein tiefes Erbarmen überkam ihn, als er gleich bei seiner Ankunft in Rom auf ähnliche Leiden stieß. Ohne es zu wollen, hob er die Stimme und sagte ganz laut:
»O Madame, gehen wir zusammen hin! Führen Sie mich hin! Diese Fragen ziehen mich so sehr an.«
Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden wurde dadurch wieder auf ihn gelenkt. Man begann ihn auszufragen; er fühlte heraus, daß alle neugierig waren, zu erfahren, wie der erste Eindruck gewesen, den er empfangen, was er von ihrer Stadt und von ihnen selbst denke. Er dürfe Rom nicht voreilig nach dem äußern Schein beurteilen. Was hatte er gesehen, wie fand er es? Er entschuldigte sich höflich, daß er darauf keine Antwort geben könne, da er nichts gesehen habe, noch nicht einmal ausgegangen sei. Aber man drängte desto eifriger in ihn; er hatte das deutliche Gefühl, daß man einen Druck auf ihn ausüben, ihn gewaltsam zur Bewunderung und Liebe zwingen wolle. Man erteilte ihm Ratschläge, beschwor ihn, sich nicht von fatalen Enttäuschungen beeinflußen zu lassen, auszuharren und zu warten, bis Rom ihm seine Seele enthülle.
»Wie lange gedenken Sie bei uns zu bleiben, Herr Abbé?« fragte eine höfliche, sanfte und klare Stimme.
Es war der Monsignore Nani. Er saß im Dunkeln und sprach zum erstenmale mit lauter Stimme. Pierre meinte mehrmals zu bemerken, daß der Prälat den Blick seiner blauen, äußerst lebhaften Augen nicht von ihm wandte, während er aufmerksam dem langsamen Geschwätz der Tante Celias zuzuhören schien.
Ehe er antwortete, blickte er ihn an. In seiner karmesinrot eingefaßten Sutane, der um die Taille geschlungenen violetten Seidenschärpe sah er mit seinem noch blonden Haar, der geraden und feinen Nase, dem äußerst zart und äußerst fest gezeichneten Munde, den bewunderungswürdig weißen Zähnen noch ziemlich jung aus, obwohl er das fünfzigste Jahr überschritten hatte.
»Monsignore, etwa vierzehn Tage, vielleicht drei Wochen.«
Der ganze Salon protestirte. Wie, drei Wochen? Er bildete sich ein, Rom in drei Wochen kennen zu lernen! Dazu gehörte ein halbes Jahr, ein Jahr, zehn Jahre! Der erste Eindruck sei immer ungünstig; um ihn zu überwinden, sei ein langer Aufenthalt erforderlich.
»Drei Wochen!« wiederholte Donna Serafina mit ihrer geringschätzigen Miene. »Kann man sich denn in drei Wochen studiren und lieben lernen? Die zu uns zurückkehren, das sind die, welche uns zuletzt kennen gelernt haben.«
Nani hatte sich, ohne sich mit den anderen zu ereifern, zuerst damit begnügt, zu lächeln. Er machte eine leichte Bewegung mit seiner feinen Hand, die seine aristokratische Abstammung verriet. Aber als Pierre bescheiden auseinandersetzte, daß er, da er nur gekommen sei, um gewisse Schritte einzuleiten, abreisen werde, sobald diese Schritte erledigt wären, schloß der Prälat noch immer lächelnd:
»O, der Herr Abbé wird mehr als drei Wochen hier bleiben! Ich hoffe, wir werden Das Glück haben, ihn noch lange zu besitzen.«
Obwohl diese Worte mit ruhiger Höflichkeit gesprochen wurden, beunruhigten sie doch den jungen Priester. Was wußte der Prälat? Was wollte er damit sagen? Er beugte sich zu dem stumm neben ihm sitzenden Don Vigilio herab und fragte ganz leise:
»Wer ist denn der Monsignore Nani?«
Aber der Sekretär antwortete nicht sogleich. Sein fieberverzehrtes Gesicht nahm eine noch grauere Färbung an. Seine glühenden Augen fuhren umher, vergewisserten sich, daß niemand ihn beobachte, und dann hauchte er:
»Der Assessor beim S. Offizio.«
Die Auskunft genügte, denn Pierre war es nicht unbekannt, daß der Assessor, der schweigend den Versammlungen des S. Offizio beiwohnte, sich jeden Mittwoch Abend nach der Sitzung zum heiligen Vater begab, um ihm über die am Nachmittag verhandelten Angelegenheiten Bericht zu erstatten. Diese wöchentliche Audienz, diese vertrauliche Stunde beim Papst, die erlaubte, jedes Thema anzuschlagen, verlieh dem Betreffenden eine besondere Stellung, eine beträchtliche Macht. Außerdem führte dieses Amt zur Kardinalswürde; der Assessor konnte in der Folge nur noch zum Kardinal ernannt werden.
Monsignore Nani, der ein äußerst einfacher und liebenswürdiger Mann zu sein schien, fuhr fort, den jungen Priester mit so aufmunternder Miene anzublicken, daß der letztere verpflichtet war, sich auf dem von der alten Tante Celias endlich freigegebenen Platz neben ihm niederzulassen. War diese gleich am ersten Tage erfolgte Begegnung mit einem mächtigen Prälaten, dessen Einfluß ihm vielleicht alle Thüren öffnen würde, nicht ein Vorzeichen des Sieges? Er war daher sehr bewegt, als dieser ihn gleich nach den ersten Worten höflich, mit dem Ton tiefsten Interesses fragte:
»Also, mein liebes Kind, Sie haben ein Buch veröffentlicht?«
Und Pierre, nach und nach aufs neue von Begeisterung ergriffen, vergaß ganz, wo er sich befand, und vertraute sich ihm an; er erzählte, wie er durch die Leidenden und Geringen in die brennende Nächstenliebe eingeweiht worden sei, träumte ganz laut von der Rückkehr zur christlichen Gemeinde, frohlockte mit dem verjüngten Katholizismus, der die Religion der universellen Demokratie geworden. Allmälich hatte er abermals die Stimme erhoben und in dem alten, strengen Salon ward es still; alle hörten ihm abermals zu, inmitten einer wachsenden Ueberraschung, einer eisigen Kälte, die er nicht empfand.
Zuletzt unterbrach ihn Nani sanft mit seinem ewigen Lächeln, dessen ironischer Anstrich nicht einmal mehr sichtbar war.
»Gewiß, gewiß, mein liebes Kind, das alles ist sehr schön. O, sehr schön, der reinen, edlen Phantasie eines Christen vollkommen würdig. – Aber was gedenken Sie nun zu thun?«
»Geradewegs zum heiligen Vater zu gehen und mich zu verteidigen.«
Ein leises, unterdrücktes Gelächter entstand, und Donna Serafina drückte die Ansicht aller aus, indem sie rief:
»Man bekommt den heiligen Vater nicht so mir nichts dir nichts zu sehen!«
Aber Pierre ereiferte sich.
»Ich hoffe doch ihn zu sehen! habe ich denn nicht seine eigenen Ideen ausgesprochen? Habe ich nicht seine Politik verteidigt? Kann er mein Buch verdammen lassen, mein Buch, zu dem mich, wie ich glaube, sein bestes Selbst inspirirt hat?«
»Gewiß, gewiß,« wiederholte Nani hastig, als befürchte er, daß man es mit diesem jungen Enthusiasten verderben könne. »Der heilige Vater besitzt eine so hohe Intelligenz! Ja, Sie müssen ihn sehen ... nur, mein liebes Kind, dürfen Sie sich nicht derart aufregen. Denken Sie ein wenig nach, Warten Sie Ihre Zeit ab!«
Dann wandte er sich zu Benedetta.
»Seine Eminenz hat den Herrn Abbé noch nicht gesehen, nicht wahr?« fragte er. »Es wäre gut, wenn er gleich morgen geruhen würde, ihn zu empfangen, um ihn mit seinen weisen Ratschlagen zu leiten.«
Der Kardinal Boccanera wohnte niemals den Empfängen seiner Schwester am Montag Abend bei. Im Geiste war er als der abwesende oberste Gebieter immer anwesend.
»Ich fürchte nämlich,« antwortete die Contessina zögernd, »daß der Oheim die Ideen des Herrn Abbé nicht teilt.«
Nani begann wieder zu lächeln.
»Eben deshalb wird er ihm vieles sagen können, was des Anhörens wert ist.«
Und es wurde sofort mit Don Vigilio abgemacht, daß dieser Pierre zur Audienz für den nächsten Vormittag um zehn Uhr vormerken solle.
Aber in diesem Augenblick trat ein Kardinal ein; er trug die Tracht, die die Kardinäle beim Ausgehen anlegen, den roten Gürtel und die roten Strümpfe, die schwarze, rotbortirte Zimarra mit den roten Knöpfen. Es war der Kardinal Sarno, ein sehr alter Freund der Familie Boccanera. Während er sich damit entschuldigte, daß er bis sehr spät habe arbeiten müssen, schwieg alles im Salon und drängte sich ehrerbietig um ihn. Aber Pierre, der zum erstenmal einen Kardinal sah, empfand eine lebhafte Enttäuschung, denn es war nicht die majestätische Erscheinung, der schöne, dekorative Anblick, wie er es erwartet hatte. Dieser Kardinal sah klein und etwas verwachsen aus, die linke Schulter war höher als die rechte, das Gesicht ausgemergelt und erdfahl, die Augen erloschen. Er machte auf ihn den Eindruck eines sehr alten, siebenzigjährigen Beamten, der durch ein halbes Jahrhundert beschränkten Bureaukratenlebens abgestumpft, träge und mißgestaltet geworden war, weil er niemals den runden Lehnsessel verließ, in dem er seine Existenz verbrachte. Und in der That, seine ganze Geschichte ließ sich in folgendem zusammenfassen: er war der kränkliche Sprößling einer unbedeutenden, bürgerlichen Familie, wurde im römischen Seminar erzogen, war dann zehn Jahre lang Professor des kanonischen Rechts an demselben Seminar, hierauf Sekretär der Propaganda und nun seit fünfundzwanzig Jahren Kardinal. Vor kurzem hatte er sein Kardinaljubiläum gefeiert. In Rom geboren, hatte er keinen einzigen Tag außerhalb Roms zugebracht; er war der richtige Typus des im Schatten des Vatikans, des Herrn der Welt, aufgewachsenen Priesters. Obwohl er niemals eine diplomatische Funktion ausgeübt hatte, war er der Propaganda durch seine methodischen Arbeitsgewohnheiten so unentbehrlich geworden, daß man ihn zum Präsidenten einer der zwei Kommissionen ernannte, die sich in die Leitung der ungeheuren, noch nicht katholisirten Gebiete des Westens teilen. So kam es, daß auf dem Grunde dieser erloschenen Augen, hinter diesem niedrigen, stumpfen Schädel die ungeheure Landkarte der Christenheit lag.
Selbst Nani hatte sich voll geheimer Ehrfurcht vor diesem unscheinbaren und schrecklichen Manne erhoben, der überall, in den entferntesten Winkeln der Erde seine Hand im Spiele hatte, ohne jemals sein Bureau verlassen zu haben. Er wußte, daß er trotz seiner scheinbaren Unbedeutendheit durch seine langsame, methodische und organisirte Eroberungsarbeit eine Macht war, die Reiche erschüttern konnte.
»Haben Eminenz sich schon von Ihrem Schnupfen erholt? Wir waren ganz verzweifelt ...«
»Nein, nein, ich huste noch immer ... Es ist ein gefährlicher Korridor. Ich erstarre zu Eis, wie ich nur mein Kabinet verlasse.«
Von diesem Augenblick an kam sich Pierre ganz klein und verloren vor. Man vergaß sogar, ihn dem Kardinal vorzustellen. Und er mußte noch beinahe eine Stunde da bleiben, auf das Zusehen und Beobachten beschränkt. Nun kam ihm diese ganze, gealterte Gesellschaft kindisch vor, als wären alle in eine traurige Kindheit zurückgefallen. Er erriet jetzt, daß sich hinter der ernsten Haltung, der hochmütigen Zurückhaltung, eine wirkliche Schüchternheit, das uneingestandene Mißtrauen einer großen Unwissenheit verbarg. Wenn das Gespräch nicht allgemein ward, so rührte das daher, weil niemand sich hervorwagte. Aus den Winkeln aber horte er läppisches, endloses Geschwätz, die unbedeutenden Histörchen der Woche, kleinen Sakristei- und Salonklatsch. Man kam nur selten mit einander zusammen, die geringsten Ereignisse nahmen ungeheure Dimensionen an. Zuletzt hatte er das deutliche Gefühl, als sei er in einen französischen Salon in einer der großen bischöflichen Provinzstädte zur Zeit Karls X. versetzt. Keinerlei Erfrischungen wurden gereicht. Die alte Tante Celias bemächtigte sich des Kardinals Sarno, der ihr leine Antwort gab und nur von Zeit zu Zeit das Kinn vorschob. Don Vigilio hatte den ganzen Abend über nicht den Mund aufgethan. Zwischen Nani und Morano hatte sich ein langes, mit ganz leiser Stimme geführtes Gespräch entwickelt, während Donna Serafina, die sich zu ihnen herabbeugte, um zuzuhören, langsam und beifällig mit dem Kopfe nickte. Zweifellos sprachen sie von der Scheidung Benedettas, denn sie sahen sie von Zeit zu Zeit mit ernster Miene an. Und in dem riesigen, von dem ruhigen Licht der Lampen erhellten Gemach schien nur die aus Benedetta, Dario und Celia bestehende Gruppe der Jungen zu leben. Sie plauderten halblaut und erstickten manchmal ein Lachen.
Plötzlich fiel Pierre die große Ähnlichkeit zwischen Benedetta und dem an der Wand hängenden Porträt der Cassia auf. Es war dieselbe kindliche Zartheit, derselbe leidenschaftliche Mund und dieselben großen, unendlichen Augen, in demselben runden, vernünftigen und gesunden Gesicht. Das war sicherlich eine redliche Seele und ein feuriges Herz. Dann schoß ihm eine Erinnerung durch den Kopf: die Erinnerung an ein Gemälde von Guido Reni, den anbetungswürdigen, reinen Kopf der Beatrice Cenci. Und das Porträt der Cassia schien ihm in diesem Augenblick dessen genaue Reproduktion zu sein. Diese doppelte Ähnlichkeit rührte ihn und bewog ihn, Benedetta mit unruhiger Teilnahme anzusehen, als sollte das gewaltige Verhängnis des Landes und der Rasse auf sie niederstürzen. Aber sie sah so ruhig, so entschlossen und geduldig aus! Seit er sich im Salon befand, hatte er zwischen ihr und Dario keine andere als eine rein geschwisterliche und muntere Zärtlichkeit beobachten können. Besonders ließ sich das von ihr behaupten; ihr Gesicht bewahrte den heiter klaren Ausdruck einer großen Liebe, die vor aller Welt eingestanden werden kann. Einmal hatte Dario im Scherz ihre Hände ergriffen und gedrückt; aber wenn er dabei auch ein wenig nervös zu lachen begann und mächtige Flammen unter seinen Wimpern hervorzuckten, so hatte sie hingegen ruhig ihre Finger losgemacht, wie bei einem Spiel alter, zärtlicher Kameraden. Sie liebte ihn, sich nachbarlich, mit ihrem ganzen Sein, fürs ganze Leben.
Aber nachdem Dario ein leichtes Gähnen erstickt, nach der Uhr gesehen und sich gedrückt hatte, um sich mit einigen Freunden zu treffen, die bei einer Dame spielten, ließen sich Benedetta und Celia auf ein Kanapee neben dem Stuhl Pierres nieder; und ohne es zu wollen, fing dieser ein paar Worte ihres Gespräches auf. Die kleine Prinzessin war die älteste Tochter des Fürsten Matteo Buongiovanni, der bereits Vater von fünf Kindern mit einer Mortimer, einer Engländerin, vermählt war, die ihm fünf Millionen zugebracht hatte. Uebrigens führte man die Buongiovannis als eine der seltenen Familien des römischen Patriziats an, die noch Reichtum besaßen und inmitten der von allen Seiten zusammenbrechenden Ruinen der Vergangenheit noch aufrecht standen. Auch sie hatten zwei Päpste in der Familie gehabt, was den Fürsten Matteo nicht hinderte, sich dem Quirinal anzuschließen, ohne sich mit dem Vatikan zu überwerfen. In seinen Adern floß, da er selbst der Sohn einer Amerikanerin war, nicht mehr das reine römische Blut; seine Politik war geschmeidiger; auch hieß es, daß er geizig sei. Er kämpfte, um als einer der letzten den einstigen Reichtum und die einstige Allmacht zu bewahren, die, wie er fühlte, unvermeidlich zur Vernichtung verurteilt waren In dieser stolzen Familie nun, deren Glanz noch immer die Stadt erfüllte, hatte sich eben etwas begeben, was endloses Geschwätz aufwirbelte. Es war die plötzliche Liebe Celias zu einem jungen Lieutenant, mit dem sie noch nie gesprochen hatte, das leidenschaftliche Einverständnis der zwei Liebenden, die sich täglich auf dem Corso sahen und sich mit nichts als durch Blicke verständigen konnten, die zähe Energie des jungen Mädchens, das dem Vater erklärt hatte, sie werde nie einen andern Gatten haben, und nun unerschütterlich wartete, fest überzeugt, daß man ihr den Mann ihrer Wahl geben werde Das Schlimmste dabei war, daß dieser Lieutenant, Attilio Sacco, gerade der Sohn des Deputirten Sacco war, eines Emporkömmlings, den die schwarze Gesellschaft verachtete, weil er sich dem Quirinal verkauft hatte und zu den schmutzigsten Geschäften fähig war.
»Morano hat das vorhin nur meinetwegen gesagt.« flüsterte Celia Benedetta ms Ohr »Ja, ja, vorhin, als er dem Vater Attilios wegen des geplanten Ministeriums so übel mitspielte ... Er wollte nur eine Lektion erteilen.«
Die beiden halten sich noch im Sacré-Coeur ewige Freundschaft geschworen. Benedetta, um fünf Jahre älter als Celia, nahm eine mütterliche Haltung an
»Du bist also noch nicht vernünftig geworden? Denkst Du noch immer an diesen jungen Mann?« »O Liebe! Willst Du mich denn auch kränken. Du auch? ... Attilio gefällt mir, ich will ihn haben. Er, hörst Du? Er und kein anderer! Ich will ihn haben und werde ihn bekommen, denn ich liebe ihn und er liebt mich ... Das ist doch ganz einfach.«
Pierre sah sie betroffen an. Mit ihrem sanften, jungfräulichen Gesicht glich sie einer weißen, geschlossenen Lilie. Stirn und Nase von blumenhafter Reinheit, ein Unschuldsmund, dessen Lippen sich fest über den weißen Zähnen schlössen, Augen, klar wie Quellwasser und grundlos. Und kein Schauer lief über die wie Atlas glänzenden Wangen, nicht die leiseste Unruhe oder Neugierde zuckte in dem naiven Blick. Dachte sie? Wußte sie? Wer hätte das zu sagen vermocht? Sie war die Jungfrau in ihrer ganzen beängstigenden Unerkanntheit.
»Ach, Liebe,« fuhr Benedetta fort, »fang nicht meine traurige Geschichte von neuem an. Es geht nicht, Papst und König lassen sich nicht vermählen.«
»Aber Du hast Prada nicht geliebt,« sagte Celia ruhig. »Ich aber liebe Attilio. Das Leben ist da, man muß lieben.«
Dieses Wort aus dem Munde dieses unwissenden Kindes regte Pierre derart auf, daß er fühlte, wie ihm die Thränen in die Augen stiegen. Die Liebe! Ja, sie war die Lösung aller Streitigkeiten; sie würde den Bund zwischen den Völkern, Friede und Freude in der ganzen Welt bewirken. Aber Donna Serasina hatte sich erhoben; sie schien kein rechtes Vertrauen zu dem Gesprächsgegenstande zu haben, der die beiden Freundinnen so lebhaft beschäftigte. Dabei warf sie Don Vigilio einen Blick zu, den dieser verstand; denn er trat auf Pierre zu und sagte ihm ganz leise, daß es Zeit sei, sich zurückzuziehen. Es schlug elf Uhr. Celia entfernte sich mit ihrer Tante. Zweifellos wollte der Advokat Morano den Kardinal Sarno und Nani noch einen Augenblick zurückbehalten, um im, Familienkreise irgend eine auftauchende, die Scheidungsangelegenheit betreffende Schwierigkeit zu besprechen. Als Benedetta Celia auf beide Wangen geküßt hatte, verabschiedete sie sich im ersten Salon mit großer Liebenswürdigkeit von Pierre.
»Morgen vormittag antworte ich dem Vicomte und werde ihm schreiben, wie glücklich wir sind, Sie bei uns zu haben. Und Sie werden viel langer bleiben, als Sie glauben ... Vergessen Sie nur nicht, morgen um zehn Uhr meinen Oheim, den Kardinal, zu besuchen.«
Als Pierre und Don Vigilio, ein jeder den ihm vom Diener gereichten Leuchter in der Hand, oben im dritten Stock sich vor ihren Thüren trennen wollten, konnte der erstere sich nicht enthalten, an den letzteren eine Frage zu stellen, die ihn peinigte.
»Monsignore Nani ist wohl eine sehr einflußreiche Persönlichkeit?«
Don Vigilio erschrak abermals. Er machte bloß eine Geberde, indem er beide Arme ausbreitete, als wolle er die Welt umarmen. Dann flammten seine Augen auf; auch ihn schien die Neugierde zu packen. »Sie kannten ihn schon früher nicht wahr?« fragte er, ohne zu antworten.
»Ich! Keine Spur!«
»Wirklich!... Nun, er kannte Sie sehr gut. Ich hörte ihn vorigen Montag in so bestimmten Ausdrücken von Ihnen reden, daß es mir schien, er sei über die geringsten Einzelheiten Ihres Lebens und Ihres Charakters unterrichtet.«
»Ich habe niemals auch nur seinen Namen nennen hören.«
»Dann wird er sich eben erkundigt haben,«
Don Vigilio grüßte und trat in sein Zimmer. Zu seinem Erstaunen sah Pierre die Thüre des seinigen offen stehen und Victorine mit ihrer ruhigen und geschäftigen Miene daraus herauskommen.
»Ah, Herr Abbé! Ich wollte mich selbst überzeugen, daß es Ihnen an nichts fehlt! Sie haben Ihr Licht, Sie haben Wasser, Zucker, Zündhölzchen. Und was nehmen Sie des Morgens? Kaffee? Nein? Bloße Milch mit einem Brötchen. Schön! Also um acht Uhr, nicht wahr?... Schlafen Sie wohl! Ruhen Sie sich gut aus! O, ich hatte in den ersten Nächten eine schreckliche Angst vor den Gespenstern in diesem alten Palast! Aber ich habe nie auch nur einen Zipfel von einem gesehen. Wenn man tot ist, ist man froh, daß man's ist. Man ruht sich aus.«
Endlich war Pierre allein. Er war froh, daß er sich ausstrecken konnte, daß er dem Unbehagen der unbekannten Umgebung, diesem Salon, diesen Leuten entronnen war, die sich unter dem stillen Licht der Lampen vermischten, verwischten. Gespenster – das sind die alten Toten von einst, deren unruhige Seelen wiederkehren, um in der Brust der Lebenden von heute wieder zu lieben und zu leiden. Trotzdem er am Tage so lange geruht hatte, hatte er noch nie eine solche Mattigkeit, ein solches Schlafbedürfnis empfunden; sein Kopf war ganz wirr und verdreht; er fürchtete, daß er nichts verstanden habe. Als er sich zu entkleiden begann, erfaßte ihn das Erstaunen, daß er sich hier befand, sich hier niederlegte, wieder mit solcher Heftigkeit, daß er sich einen Augenblick wie ein ganz anderer Mensch vorkam. Was dachten diese Leute von seinem Buche? Warum hatte man ihn in dieses kalte Haus kommen lassen, das ihm – er ahnte es – feindlich gesinnt war? Geschah es, um ihm zu helfen oder um ihn zu besiegen? Und er sah in dem gelben Lichte des Salons nichts mehr als Donna Serafina und den Advokaten Morano zu beiden Seiten des Kamins, während hinter dem leidenschaftlichen und ruhigen Kopfe Benedettas das lächelnde Gesicht Monsignore Nanis mit den listigen Augen und dem unbezähmbare Energie atmenden Munde erschien.
Er legte sich nieder, aber bald stand er wieder auf; er erstickte, er empfand ein solches Bedürfnis nach frischer, freier Luft, daß er das Fenster weit aufmachte und sich hinauslehnte. Aber die Nacht war schwarz wie Tinte; die Schatten hatten den Horizont verschlungen. Die Sterne am Firmament wurden wahrscheinlich von Nebeln verdeckt, das undurchsichtige Gewölbe lastete bleischwer herab. Die Häuser des gegenüberliegenden Trastevere schliefen schon lange; kein einziges Fenster war erleuchtet; nur in der Ferne leuchtete ein Gasflämmchen gleich einem verlorenen Stern. Vergebens suchte er den Janiculus. Alles ging in diesem Meer von Nichts unter – die vierundzwanzig Jahrhunderte Roms, der antike Palatin, der moderne Quirinal, der von der Schattenflut vom Himmel verdrängte Riesendom von S. Peter. Er sah, er hörte nicht einmal unter sich den Tiber, den toten Strom in der toten Stadt.