Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am 20. September begannen die Arbeiten an der neuen Fassade des »Paradieses der Damen«. Baron Hartmann hatte seinem Versprechen gemäß in der letzten Generalversammlung der Immobilienbank die Sache durchgesetzt. Mouret näherte sich endlich der Verwirklichung seines Traums. Diese Front, die sich längs der Rue du Dix-Décembre erstrecken sollte, würde sein Glück zur vollen Blüte bringen. Daher wollte er auch die Grundsteinlegung feierlich begehen. Er machte ein Fest daraus, verteilte Geschenke an seine Angestellten und bewirtete sie am Abend mit Wildbret und Champagner. Den ganzen Nachmittag über war er sehr heiter und trug eine strahlende Miene zur Schau. Aber als er abends beim Essen durch den Speisesaal ging, um mit seinem Personal ein Glas Champagner zu leeren, war er wieder fieberhaft erregt, sein Lächeln war gezwungen, seine Züge verrieten uneingestandenes Leid.
Am folgenden Tag suchte Ciaire in der Konfektionsabteilung Denise zu ärgern. Sie hatte die hartnäckige Liebe Colombans endlich bemerkt und kam auf den Gedanken, sich über die Baudus lustig zu machen. Mit lauter Stimme rief sie zu Marguerite hinüber:
»Mein Anbeter da drüben dauert mich wahrhaftig in seiner finsteren Bude, wo niemals Kundschaft hinkommt ...«
»Der ist gar nicht so unglücklich«, erwiderte Marguerite, »er heiratet doch die Tochter seines Chefs.«
»Sieh an«, rief Ciaire, »wäre das ein Vergnügen, ihn der wegzuholen! Den Spaß will ich mir machen!«
Sie fuhr in diesem Ton fort, entzückt darüber, Denise empört zu sehen. Diese konnte ihr alles verzeihen, aber der Gedanke an ihre kranke Kusine, der diese Grausamkeit den Rest geben mußte, brachte sie außer sich. Eben trat eine Kundin ein, und sie übernahm, da Frau Aurélie in den Keller gegangen war, die Leitung der Abteilung. Sie rief Ciaire herbei:
»Sie täten besser daran, sich um diese Dame zu kümmern, anstatt zu schwatzen.«
»Ich schwatze nicht.«
»Schweigen Sie und nehmen Sie sich sofort der Dame an.«
Ciaire fügte sich. Wenn Denise, ohne auch nur die Stimme zu heben, ihren festen Willen zeigte, wagte keine sich zu widersetzen. Durch ihre Sanftmut hatte sie sich ein unbeschränktes Ansehen erworben.
Einen Augenblick ging sie schweigend zwischen den ernst gewordenen Kolleginnen einher. Marguerite als einzige gab ihr recht, daß sie dem Chef Widerstand leistete. Sie erklärte, man solle lieber anständig bleiben; diese Dummheiten brächten nichts als Unannehmlichkeiten ein.
»Sie ärgern sich?« flüsterte jetzt eine Stimme hinter Denise.
Es war Pauline, die eben durch die Abteilung ging.
»Ich muß wohl«, erwiderte Denise; »es ist so schwer, diese Mädchen in Zaum zu halten.«
»Lassen Sie's gut sein«, bemerkte Pauline achselzuckend; »Sie können uns doch alle beherrschen, wenn Sie nur wollen.«
Sie konnte die Weigerung ihrer Freundin noch immer nicht begreifen. Sie hatte Ende August Baugé geheiratet, eine große Dummheit, wie sie lachend versicherte. Bourdoncle behandelte sie jetzt, als wäre sie für das Geschäft verloren. Sie zitterte davor, daß man sie und ihren Mann eines schönen Tages entlassen könnte, denn die Herren von der Direktion wollten von verliebten Paaren nichts wissen. Das ging so weit, daß sie tat, als kenne sie ihren Mann nicht, wenn sie ihm im Hause begegnete. Sie hatte gerade wieder einen Schrecken hinter sich: der Inspektor Jouve hatte sie beinahe dabei ertappt, wie sie mit ihrem Mann in einem Winkel geplaudert hatte.
»Er hat mich sogar verfolgt«, fügte sie hinzu, nachdem sie Denise das Abenteuer erzählt hatte. »Sehen Sie ihn da, wie er mit seiner großen Nase hinter mir herschnüffelt?«
In der Tat kam Jouve eben aus der Spitzenabteilung. Doch als er Denise erblickte, krümmte er den Rücken und entfernte sich mit freundlicher Miene.
»Gerettet!« murmelte Pauline. »Sie haben ihm das Maul gestopft, Liebste. Sie werden ein gutes Wort für mich einlegen, wenn mir etwas passieren sollte, nicht wahr? Ja, ja, seien Sie nicht so erstaunt! Man weiß doch, daß Sie alles durchsetzen können.«
Damit eilte sie in ihre Abteilung. Denise war sehr rot geworden; aber Pauline hatte die Wahrheit gesagt. An den Schmeicheleien, die sie umgaben, erkannte Denise ihre Macht. Als Frau Aurélie wieder in die Abteilung kam und unter der Obhut ihrer Stellvertreterin alles ruhig bei der Arbeit fand, lächelte sie Denise freundschaftlich zu. Sie ließ selbst Mouret im Stich und wurde täglich liebenswürdiger gegen eine Person, die eines Tages den Ehrgeiz haben konnte, nach der Stelle der Abteilungsleiterin zu trachten. Denises Herrschaft begann.
Nur Bourdoncle wollte die Waffen nicht strecken. Der geheime Krieg, den er gegen das junge Mädchen führte, beruhte auf instinktivem Widerwillen. Er verabscheute sie wegen ihrer Sanftmut, wegen des geheimen Zaubers, den sie ausübte. Des weiteren bekämpfte er sie, weil er ihren verhängnisvollen Einfluß auf das Geschäft fürchtete, der dem Haus an dem Tag gefährlich werden konnte, an dem Mouret ihr erliegen würde. Die geschäftlichen Fähigkeiten des Chefs, dachte er, müßten unter dieser dummen Leidenschaft verkümmern; was er durch die anderen Frauen errungen hatte, würde er durch diese eine wieder verlieren. Ihn selbst ließen alle kalt, er behandelte sie mit der Verachtung eines leidenschaftslosen Mannes, dessen Beruf es war, von ihnen zu leben, und der seine letzten Illusionen eingebüßt hatte, weil er sie als Geschäftsmann in ihrem wahren Wesen erkannt hatte. Er prügelte seine Geliebten, sobald er zwischen seinen vier Wänden war. Am meisten aber beunruhigte ihn an dieser kleinen Verkäuferin, die nach und nach so mächtig geworden war, daß er an ihre Uneigennützigkeit, an die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung nicht glauben konnte. In seinen Augen spielte sie eine Komödie, eine ganz raffinierte Komödie. Denn hätte sie am ersten Tag nachgegeben, so hätte Mouret sie gewiß am anderen Morgen schon vergessen gehabt; durch ihre Weigerung jedoch hatte sie seine Begierden aufgestachelt, ihn verrückt, zu jeder Torheit fähig gemacht. Eine in allen Lastern erfahrene Dirne hätte nicht durchtriebener handeln können als diese Unschuld. Wenn Bourdoncle sie sah mit ihren klaren Augen, ihrem sanften Gesicht, ihrer schlichten Haltung, wurde er geradezu von Furcht ergriffen, als hätte er eine verkappte Menschenfresserin vor sich, das düstere Rätsel alles Weiblichen, den Tod unter der Maske der Jungfrau. Wie sollte er die Taktik dieser falschen Unschuld zunichte machen? Er suchte immer hartnäckiger ihre Schliche zu durchschauen, in der Hoffnung, sie eines Tages zu entlarven. Sicherlich würde sie einen Fehler begehen, er würde sie mit einem Liebhaber überraschen, und dann konnte man sie von neuem davonjagen, und das Haus würde wieder den geregelten Gang einer gut funktionierenden Maschine annehmen.
»Passen Sie auf wie ein Luchs, Herr Jouve«, pflegte er zu dem Inspektor zu sagen; »ich werde Sie belohnen.«
Allein Jouve ging dabei recht lässig zu Werk; er fragte sich, ob es nicht besser sei, sich gut zu stellen mit diesem Kind, das von heute auf morgen die Herrin des Hauses werden konnte. Wenn er sich ihr aucht nicht mehr zu nähern wagte, so hinderte ihn das doch nicht, sie ganz verteufelt anziehend zu finden.
»Ich passe ja auf«, versicherte er; »aber ich kann nichts entdecken, auf Ehre!«
Indessen waren trotz der äußerlichen Achtung allerlei abscheuliche Geschichten über Denise im Umlauf. Man erzählte sich jetzt allgemein, daß Hutin früher ihr Geliebter gewesen sei; man wagte nicht zu behaupten, daß er es noch immer sei, aber man vermutete, daß sie sich von Zeit zu Zeit träfen. Auch Deloche schlafe mit ihr, wußte man zu berichten; sie hätten Zusammenkünfte in verschiedenen dunklen Winkeln, wo sie stundenlang plauderten. Der reinste Skandal!
»Nichts mit dem Ersten in der Seidenabteilung? Auch nichts mit dem jungen Mann bei den Spitzen?« fragte Bourdoncle wiederholt.
»Nein, noch nichts«, versicherte der Inspektor.
Bourdoncle rechnete besonders darauf, sie mit Deloche zu überraschen. Eines Tages hatte er selbst bemerkt, wie sie im Keller miteinander gelacht hatten. Einstweilen aber behandelte er das junge Mädchen wie einen ernstzunehmenden Gegner, er unterschätzte sie keineswegs; er war überzeugt, daß sie stark genug sein würde, selbst ihn, der doch schon zehn Jahre im Haus war, zu Fall zu bringen, wenn sie eines Tages die Partie gewinnen sollte.
»Achten Sie besonders auf den jungen Mann aus der Spitzenabteilung«, schloß er jedesmal. »Sie stecken immer beisammen. Wenn Sie sie erwischen, rufen Sie mich. Alles übrige soll meine Sache sein.«
Mouret lebte inzwischen in Herzensangst und Unruhe. War es möglich, daß dieses Kind ihn dermaßen quälte? Immer wieder tauchte sie in seiner Erinnerung auf, wie sie zum ersten Mal im »Paradies der Damen« erschienen war, mit ihren plumpen Schuhen und ihrem fadenscheinigen schwarzen Kleidchen. Sie hatte kaum ein vernünftiges Wort hervorgebracht, alle hatten sich über sie lustig gemacht, er selbst hatte sie anfangs häßlich gefunden – und jetzt hätte sie ihn mit einem Blick dahin gebracht, daß er sich ihr zu Füßen geworfen hätte! Lang war sie die Letzte im Hause geblieben, herumgestoßen, verhöhnt, von ihm selbst wie ein Unikum behandelt. Monate hindurch hatte er beobachten wollen, wie so ein junges Mädchen sich entwickelte, diese Erfahrung schien ihn zu belustigen, und er begriff nicht, daß er dabei sein Herz aufs Spiel setzte. Sie aber wuchs allmählich und wurde ihm gefährlich. Vielleicht hatte er sie von der ersten Minute an geliebt, selbst damals schon, als er nur Mitleid für sie zu empfinden geglaubt hatte. Entdeckt aber hatte er seine Neigung für sie erst an jenem Abend, als sie miteinander unter den Kastanien der Tuilerien spazierengegangen waren. Von da ab hatte er erst zu leben begonnen; wie es dann weitergegangen war, wußte er nicht mehr. Von Stunde zu Stunde hatte sich sein Fieber gesteigert, sein ganzes Wesen hatte sich ihr hingegeben. War es möglich? Ein solches Kind! Er hatte sich lange aufgelehnt gegen diese Leidenschaft; zuweilen war er über sich selbst entrüstet und wollte sich von diesem albernen Bann befreien. Was besaß sie denn, was ihn so an sie fesselte? Hatte er sie denn nicht in ihren primitivsten Anfängen gesehen, war sie nicht sozusagen aus Mitleid in sein Haus aufgenommen worden? Wenn es sich wenigstens um eines jener herrlichen Geschöpfe gehandelt hätte, welche alle Welt in Aufruhr versetzten; aber dieses kleine, unscheinbare Mädchen! Sie hatte alles in allem eines jener Dutzendgesichter, von denen man nicht spricht. Sie konnte nicht einmal besonders klug sein, denn er erinnerte sich, wie ungeschickt sie sich zu Beginn als Verkäuferin gezeigt hatte. Aber nach jeder Zornesanwandlung wurde seine Leidenschaft nur tiefer, es packte ihn gleichsam eine heilige Furcht, sein Idol beleidigt zu haben. Alles, was es Gutes gab an einer Frau, hatte sie mitgebracht: Mut, Heiterkeit, Einfachheit, und von ihrer Sanftmut strömte ein Zauber wie von einem köstlichen, durchdringenden Parfüm aus. Man konnte nicht mit Gleichgültigkeit an ihr vorübergehen wie an der ersten besten. Ihr Zauber wirkte mit langsamer, unbezwinglicher Macht, man war ihr verfallen für immer, wenn sie nur zu lächeln geruhte. Dann strahlte alles in ihrem hellen Gesicht, ihre Augen, ihre Wangen, ihr Kinn mit den Grübchen, und ihr reiches blondes Haar schien zu leuchten in königlicher, siegreicher Schönheit. Er gestand sich ein, daß er besiegt war, sie war ebenso klug wie schön, und ihre Klugheit entsprang dem Besten ihres Wesens. Während die anderen Verkäuferinnen in seinem Haus nur eine oberflächliche Bildung hatten, jenen Firnis, der bei heruntergekommenen Mädchen bald wieder abbröckelt, bewahrte sie, ohne sich eine falsche Eleganz beizulegen, ihre natürliche Anmut und Frische. Die vernünftigsten und praktischsten kaufmännischen Gedanken reiften unter dieser schmalen Stirn, deren reine Linien festen Willen und Ordnungssinn verrieten. Und er war versucht, die Hände zu falten und sie um Verzeihung zu bitten für die Kränkungen, deren er in Stunden innerer Auflehnung sich schuldig gemacht hatte.
Warum weigerte sie sich nur mit solcher Hartnäckigkeit? Zwanzigmal schon hatte er sie angefleht und jedesmal seine Anerbietungen erhöht, ihr Geld, sehr viel Geld angeboten. Dann hatte er sich gesagt, daß sie vielleicht ehrgeizig sei, und hatte ihr versprochen, sie zur Direktrice zu ernennen, sobald eine Abteilung frei werde. Aber sie weigerte sich immer noch! Es war für ihn ein Rätsel, dieser Kampf steigerte sein Verlangen bis zur Erbitterung. Das war doch nicht möglich, dieses Kind mußte endlich nachgeben; er hatte die Sittsamkeit einer Frau stets als eine zweifelhafte Sache betrachtet. Er sah kein anderes Ziel mehr vor sich, alles ging in diesem Verlangen unter, sie endlich bei sich zu haben, sie in den Armen zu halten, sie zu küssen; und bei dieser Vorstellung hämmerte das Blut in seinen Adern, er wurde ganz verstört und zitterte in seiner Ohnmacht.
In dieser schmerzlichen Gemütsstimmung flössen seine Tage dahin. Am Morgen beim Aufstehen stand Denises Bild ihm vor Augen, in der Nacht hatte er von ihr geträumt, sie folgte ihm an seinen Schreibtisch, wo er von neun bis zehn Wechsel und Aufträge unterschrieb, eine Arbeit, die er mechanisch erledigte, wobei er sie immer an seiner Seite fühlte und ihr ruhiges Nein zu hören glaubte. Um zehn Uhr folgte die übliche Beratung mit seinen Teilhabern; man besprach Fragen der inneren Organisation, man überprüfte die Einkäufe, erörterte Werbemaßnahmen. Sie war stets zugegen, er hörte ihre weiche Stimme mitten unter den Zahlen, in den verwickeltsten finanziellen Überlegungen sah er ihr sanftes Lächeln vor sich. Nach der Beratung begleitete sie ihn weiter. Sie machte mit ihm den täglichen Rundgang durch die Abteilungen, kehrte mit ihm nachmittags in sein Büro zurück und stand unsichtbar neben seinem Sessel, wenn er von zwei bis vier alle möglichen Leute empfing, Fabrikanten, Großindustrielle, Bankiers, gelegentlich sogar Erfinder. Es war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen von Reichtum und Verstand, ein Tanz der Millionen. Und nach jedem Geschäft, das er abgeschlossen hatte, tauchte sofort die Frage in ihm auf: Wozu dieses ungeheure Vermögen, wenn sie doch nicht wollte? Um fünf Uhr endlich mußte er die Post unterzeichnen; wieder begann eine mechanische Tätigkeit, während deren sie gebieterisch von ihm Besitz ergriff, um ihn dann während der einsamen Stunden der Nacht ganz für sich allein zu haben. Am andern Morgen fing alles von vorn an, und der Schatten dieses Kindes genügte, ihn inmitten der ungeheuren Arbeit, die er täglich verrichtete, mit Angst und Unruhe zu erfüllen.
Am schlimmsten fühlte er seinen Jammer während seiner täglichen Besichtigung der Geschäftsräume. Eine solche Riesenmaschine aufgebaut zu haben, über eine derartige Welt zu herrschen und dabei langsam vor Schmerz zu vergehen, weil ein unbedeutendes, kleines Mädchen nicht wollte! ... Er verachtete sich, daß er dieses Fiebers nicht Herr wurde. An manchen Tagen ekelte es ihn vor seiner Macht. Dann wieder hätte er sein Reich am liebsten noch weiter ausgedehnt, es so groß und mächtig werden lassen, daß sie sich ihm vielleicht in Furcht und Bewunderung von selbst ergeben hätte.
Aber seine Leiden sollten noch schlimmer werden. Er wurde eifersüchtig. Eines Tages hatte vor der üblichen Besprechung in seinem Kabinett Bourdoncle die Kühnheit besessen, ihm zu verstehen zu geben, daß die Kleine aus der Konfekionsabteilung sich über ihn lustig mache.
»Wieso?« fragte er und wurde blaß.
»Nun ja, sie hat sogar hier im Haus Liebhaber.«
Mouret lächelte gezwungen und sagte:
»Ich denke gar nicht mehr an sie, mein Lieber; Sie können ganz frei sprechen. Wer sind denn ihre Liebhaber?«
»Man behauptet, Hutin und außerdem ein Verkäufer aus der Spitzenabteilung, Deloche, dieser große, dumme Bursche. Ich kann nichts dazu sagen, denn ich habe sie nicht zusammen gesehen; aber es muß wohl stimmen, denn alles spricht davon.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Mouret tat, als ordnete er die Papiere auf seinem Schreibtisch, um das Zittern seiner Hände zu verbergen. Endlich sagte er, ohne aufzublicken:
»Man müßte Beweise haben, bringen Sie mir Beweise ... Ich wiederhole Ihnen, daß ich mir gar nichts daraus mache, denn schließlich hat sie mich nur geärgert, aber wir dürfen in unserem Haus solche Dinge nicht dulden.«
Bourdoncle erwiderte nur:
»Seien Sie beruhigt, Sie sollen in Kürze Beweise haben. Ich werde schon aufpassen.«
Jetzt verlor Mouret vollends die Ruhe. Er fand nicht mehr den Mut, auf dieses Gespräch zurückzukommen, und lebte in fortwährender Erwartung einer Katastrophe. Seine Seelenqual machte ihn furchtbar, das ganze Haus zitterte vor ihm. Er nahm sich nicht einmal mehr die Mühe, sich hinter Bourdoncle zu verstecken, er vollstreckte die Urteile selbst, in einem nervösen Bedürfnis, sich zu rächen, seine Macht fühlen zu lassen, diese Macht, die nicht ausreichte, um ihm zur Befriedigung seines einzigen Wunsches zu verhelfen. Jeder seiner Besichtigungsgänge hatte ein Massaker zur Folge. Man konnte ihn nicht mehr auftauchen sehen, ohne daß eine Panik sich von Tisch zu Tisch verbreitete. Eben begann die tote Zeit des Winterhalbjahres, und er fegte sämtliche Abteilungen aus, häufte Opfer auf Opfer, stieß alle auf die Straße hinaus. Sein erster Gedanke war, Hutin und Deloche davonzujagen. Dann überlegte er, daß er, wenn er sie nicht behielt, niemals die Wahrheit erfahren würde, und so büßten die anderen für die beiden. Der gesamte Personalbestand geriet aus den Fugen. Wenn er danach am Abend allein in seinem Zimmer war, rannen ihm die hellen Tränen über die Wangen.
Besonders an einem Tag herrschte panischer Schrecken im ganzen Haus. Ein Inspektor glaubte bemerkt zu haben, daß der Handschuhverkäufer Mignot stehle. Fortwährend sah man Mädchen mit sonderbarem Benehmen um seinen Tisch herumstreichen; schließlich hatte man eine erwischt, die sich Busen und Hüften mit sechzig Paar Handschuhen ausgestopft hatte. Seitdem wurde eine strenge Überwachung organisiert, und man ertappte Mignot, wie er einer großen Blondine, einer ehemaligen Verkäuferin aus dem »Louvre«, die jetzt beschäftigungslos auf der Straße saß, den Diebstahl erleichterte. Das Verfahren war sehr einfach. Er tat, als probiere er ihr Handschuhe an, bis sie sich die Taschen vollgestopft hatte, und brachte sie dann zu einer Kasse, wo sie ein Paar Handschuhe bezahlte. Mouret stand eben in der Nähe. Gewöhnlich zog er es vor, sich in solche Vorfälle nicht einzumengen; so etwas war nichts Ungewöhnliches, denn trotz des im allgemeinen gut geregelten Gangs herrschte in einigen Abteilungen des »Paradieses der Damen« große Unordnung, und es verging kaum eine Woche, in der nicht ein Angestellter wegen Diebstahls davongejagt wurde. Die Geschäftsleitung zog es vor, diese kleinen Diebereien zu vertuschen, sie fand es überflüssig, deswegen die Polizei zu bemühen, denn dadurch wäre eine der bösen Schattenseiten der großen Warenhäuser ans Tageslicht gekommen. Heute aber wollte Mouret sich austoben, und dementsprechend behandelte er den hübschen Mignot, der zitternd, bleich und verstört vor ihm stand.
»Ich sollte die Polizei holen lassen!« schrie er ihn im Beisein der anderen Verkäufer an. »Antworten Sie mir: Wer ist dieses Frauenzimmer? Ich schwöre Ihnen, daß ich die Polizei rufen lasse, wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen.«
Man hatte die Schuldige weggeführt, zwei Verkäuferinnen durchsuchten sie. Mignot stammelte:
»Ich kenne sie nicht näher. Sie ist nur gekommen –«
»Lügen Sie doch nicht!« unterbrach ihn Mouret noch heftiger als zuvor. »Ist niemand da, der in der Sache Bescheid weiß? Ihr haltet alle zusammen! Das ist ja wie unter Räubern, so werden wir bestohlen und ausgeplündert! Man müßte jedem einzelnen die Taschen durchsuchen, wenn er fortgeht.«
Die Angestellten begannen zu murren. Einige Kunden, die Handschuhe kaufen wollten, blieben erschrocken und verstört stehen.
»Ruhe!« schrie Mouret wütend, »oder ich jage euch alle zum Teufel!«
Jetzt eilte Bourdoncle herbei, um einen Skandal zu verhüten. Er flüsterte Mouret einige Worte ins Ohr, die Geschichte schien eine ernste Wendung nehmen zu wollen; sie führten Mignot in das Aufsichtsbüro, das im Erdgeschoß in der Nähe der Tür nach der Place Gaillon lag. Hier war das Frauenzimmer gerade im Begriff, sich in aller Ruhe wieder anzuziehen. Als man energischer in sie gedrungen war, hatte sie Albert Lhommes Namen genannt. Mignot, von neuem befragt, verlor nun den Kopf und beteuerte schluchzend, er sei nicht schuld an der Sache; Albert schicke ihm seine Geliebten. Anfangs hatte er sie nur in der Weise unterstützt, daß er sie auf günstige Gelegenheiten aufmerksam machte, später, als er merkte, daß sie stahlen, war er schon zu sehr bloßgestellt, um die Geschäftsleitung zu benachrichtigen. Die Herren erfuhren jetzt eine ganze Reihe abgefeimter Diebstähle: angefangen von den Waren, die diese Dirnen unter ihren Röcken mitnahmen, und den Käufen, die die betreffenden Angestellten bei der Kasse nicht registrieren ließen und deren Preis sie dann mit dem Kassierer teilten, bis zu den vorgetäuschten Rückgaben, die man meldete, um das Geld dafür einzustecken. Seit vierzehn Monaten betrieben Mignot und mit ihm ohne Zweifel noch andere Verkäufer, die zu nennen er sich weigerte, an der Kasse Alberts dieses unsaubere Geschäft, und es waren dabei Summen unterschlagen worden, deren genaue Höhe wohl niemals festgestellt werden konnte.
Die Nachricht von dem Vorfall verbreitete sich rasch durch die Abteilungen; die ein schuldbeladenes Gewissen hatten, zitterten, aber auch die Ehrenhaftesten fürchteten eine allgemeine Säuberung. Man hatte Albert im Aufsichtsbüro verschwinden sehen. Dann war Lhomme nachgefolgt, hochrot im Gesicht, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. Endlich war Frau Aurélie gerufen worden; sie trug trotz aller Schmach den Kopf hoch, war aber sehr blaß. Die Auseinandersetzung dauerte lange, niemand erfuhr etwas Näheres; doch erzählte man sich, die Direktrice der Konfektionsabteilung habe ihren Sohn geohrfeigt und der brave alte Vater habe geweint wie ein Kind, während der Chef ganz entgegen seinen Gewohnheiten geflucht habe wie ein Bierkutscher und die Schuldigen durchaus dem Gericht habe übergeben wollen. Indessen wurde der Skandal unterdrückt, nur Mignot wurde auf der Stelle davongejagt. Albert verschwand erst zwei Tage später; ohne Zweifel hatte seine Mutter erwirkt, daß man die Familie nicht durch seine fristlose Entlassung bloßstellte. Allein noch tagelang wirkte der Schrecken in allen Abteilungen nach. Mouret ging mit wütender Miene umher und mähte jeden nieder, der nur den Blick zu erheben wagte.
»Was stehen Sie hier herum und betrachten die Fliegen? Gehen Sie zur Kasse!«
Endlich brach das Gewitter doch über Hutin nieder. Favier, der zum Zweiten aufgerückt war, arbeitete jetzt gegen den andern, um ihn von seinem Posten zu verdrängen. Als eines Morgens Mouret durch die Seidenabteilung ging, blieb er überrascht stehen: Favier war damit beschäftigt, schwarzen Samt niedriger auszuzeichnen.
»Warum setzen Sie den Preis herab?« fragte er; »wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?«
Favier, der seine Arbeit sehr auffällig verrichtet hatte, um die Aufmerksamkeit des vorübergehenden Chefs auf sich zu lenken, sagte scheinbar überrascht:
»Wer? Nun, Herr Hutin.«
»Herr Hutin? – Wo ist Herr Hutin?«
Man holte Hutin, der gerade in der Warenabnahme war, und es entspann sich eine erregte Auseinandersetzung. Wie? fragte Mouret, er setze eigenmächtig die Preise herab? Hutin war sehr erstaunt, als er das hörte; er habe mit Favier nur darüber gesprochen, erwiderte er, ohne ihm einen bestimmten Auftrag zu geben. Favier nahm die beleidigte Miene eines Untergebenen an, der in der unangenehmen Lage ist, seinem Vorgesetzten widersprechen zu müssen, aber dennoch den Fehler auf sich nimmt, um den anderen aus der Patsche zu ziehen. Damit wurde die Sache prompt noch schlimmer.
»Herr Hutin«, rief Mouret, »ich habe solche Eigenmächtigkeiten niemals geduldet! Wir allein setzen die Preise fest!«
Man war überrascht von dieser Schärfe, denn im Grunde konnte der Fehler doch wirklich einem Mißverständnis entsprungen sein. Es schien, als wollte der Chef Hutin seine ganze Strenge fühlen lassen, um sich an ihm zu rächen, weil er allgemein als Denises Geliebter galt.
»Ich hatte nur die Absicht«, wiederholte Hutin, »Ihnen diese Preisermäßigung vorzuschlagen, denn der schwarze Samt ist nicht gegangen, wie Sie wissen.«
Mouret wollte kurz abbrechen und sagte in erbittertem Ton:
»Es ist gut, wir werden die Angelegenheit prüfen, künftig aber lassen Sie sich solche Dinge nicht wieder einfallen, wenn Sie in unserem Haus bleiben wollen.«
Damit wandte er ihm den Rücken. Hutin war wie betäubt und mit Recht wütend; da gerade niemand anderer da war, dem er sein Herz hätte ausschütten können, als Favier, schwur er ihm, daß er dem brutalen Kerl demnächst seine Entlassung an den Kopf werfen wolle. Später sprach er aber nicht mehr davon, wegzugehen; er begnügte sich damit, all die schmutzigen Geschichten wieder aufzurühren, die über die Herren von der Geschäftsleitung im Umlauf waren. Favier seinerseits verteidigte sich und versicherte Hutin seiner wärmsten Teilnahme. Er hatte doch antworten müssen – das würde jeder einsehen; und wer hätte schon geglaubt, daß wegen einer solchen Kinderei so viel Krawall gemacht würde? Was war mit dem Chef in letzter Zeit bloß los, daß man ihm gar nichts mehr recht machen konnte?
»Was mit ihm ist?« sagte Hutin. »Das weiß doch jeder. Ist es denn meine Schuld, daß diese Dirne aus der Konfektionsabteilung ihn nicht mag? Daher weht der Wind! ... Er weiß, daß ich mit ihr geschlafen habe, und das ist ihm nicht angenehm ... Oder vielleicht will sie mich hinauswerfen lassen, weil ich ihr unbequem bin! ... Kommt sie mir einmal in den Wurf, dann soll sie etwas von mir zu hören kriegen!«
Als Hutin zwei Tage später ins Atelier der Konfektionsabteilung hinaufstieg, um eine Arbeiterin zu empfehlen, sah er zu seiner großen Überraschung Denise und Deloche am anderen Ende des Ganges an eine Fensterbrüstung gelehnt und so ins Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal den Kopf umwandten. Als er zu seinem Erstaunen bemerkte, daß Deloche weinte, kam ihm plötzlich der Gedanke, sie überraschen zu lassen. Geräuschlos zog er sich zurück. Auf der Treppe traf er Bourdoncle und Jouve. Er erzählte ihnen schnell ein Märchen von einer Tür, die oben aus den Angeln gerissen zu sein schien. Dies veranlaßte die beiden hinaufzugehen, und da sah Bourdoncle natürlich das Paar. Er sandte Jouve sofort zum Chef.
Es war dies ein verlorener Winkel in dem weiten Riesenbau. Denise war hier schon mehrmals Deloche begegnet, der offenbar auf sie gewartet hatte. Es gehörte zu ihren Pflichten als Zweite die Verbindung zwischen der Konfektionsabteilung und dem Atelier aufrechtzuhalten, wo übrigens nur Entwürfe und Änderungen gemacht wurden. Alle Augenblicke kam sie herauf, um ihre Anweisungen zu erteilen. Er paßte ständig auf wie ein Luchs, erfand immer wieder einen Vorwand und flitzte davon. Wenn sie ihn gleich darauf an der Tür des Ateliers traf, tat er überrascht und entschuldigte sich. Schließlich mußte sie über diese Begegnungen lachen, ja es sah aus, als gehe sie auf seine List ein. Sie zogen sich dann an das Fenster am Ende des Gangs zurück, stützten sich mit dem Ellbogen auf das Gesims und vergaßen sich in heiterem Geplauder, in endlosen Erinnerungen an die Heimat, an das Land ihrer Kindheit. Unter ihnen erstreckte sich das ungeheure Glasdach des Mittelbaus, und darüber hinaus sahen sie nichts als den Himmel, dessen flüchtige Wolken und zartes Blau sich in dem Glasdach widerspiegelten.
An diesem Tag sprach Deloche eben wieder von Valognes. Traumverloren standen sie da, wie ein Zauberbild schienen vor ihren Augen die Wiesen und Weiden des Cotentin zu erstehen, in einen leuchtenden Dunst gebadet, der den Horizont in zartem Grau verschwimmen ließ. Das Gesumme des rastlos tätigen Betriebs unter ihnen klang ihnen wie das Raunen des Windes, der vom Meer herüberkam, über die Gräser strich und in den Bäumen rauschte.
»Mein Gott, Fräulein Denise«, sagte Deloche endlich, »warum sind Sie nicht etwas freundlicher gegen mich? Ich liebe Sie so sehr!«
Die Tränen traten ihm in die Augen. Als sie ihn unterbrechen wollte, fuhr er lebhaft fort:
»Nein, lassen Sie es mich noch einmal sagen. Wir würden einander so gut verstehen: man hat doch immer etwas zu plaudern, wenn man aus der gleichen Gegend ist.«
Seine Stimme versagte, und sie konnte ihm endlich in sanftem Ton erwidern:
»Sie sind unvernünftig, Sie haben mir doch versprochen, nicht mehr davon zu reden ... Es ist unmöglich. Ich bin Ihnen sehr gut, weil Sie ein braver Junge sind, aber ich will frei bleiben.«
»Ja, ja, ich weiß es«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Sie lieben mich nicht. Sie können es mir ruhig sagen, ich sehe es ja. Warum sollten Sie auch; an mir ist schließlich nichts, weshalb Sie mich liebgewinnen könnten. Eine glückliche Stunde hatte ich in meinem Leben, das war an jenem Abend, als ich Sie in Joinville traf. Sie erinnern sich doch noch? Als wir unter den schattigen Bäumen spazierengingen, fühlte ich einen Augenblick Ihren Arm in meinem zittern. Und ich war dumm genug, mir einzubilden –«
Sie unterbrach ihn von neuem. Ihr feines Ohr hatte den Schritt von Bourdoncle und Jouve am anderen Ende des Ganges wahrgenommen.
»Hören Sie? Es kommt jemand.«
»Nein«, sagte er und hielt sie zurück, als sie vom Fenster wegtreten wollte. »Das ist das Plätschern des Wassers in dem Behälter dort.«
Er fuhr in seinen schüchternen und einschmeichelnden Klagen fort. Der liebkosende Klang dieser zärtlichen Reden ließ sie wieder in ihre Träume versinken, sie hörte gar nicht mehr, was er sagte, ihre Blicke schweiften über die Dächer, die in der Sonne glänzten. Aus der Ferne vernahm man das dumpfe Tosen von Paris.
Als Denise aus ihrer Träumerei erwachte, sah sie, daß Deloche ihre Hand ergriffen hatte. Sein Gesicht war so verstört, daß sie nicht den Mut hatte, sich von ihm loszumachen.
»Verzeihen Sie mir«, murmelte er. »Es ist schon vorbei; ich wäre zu unglücklich, wenn Sie mir Ihre Freundschaft entziehen würden. Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen etwas anderes sagen wollte. Ja, ich hatte mir vorgenommen, mich in das Unvermeidliche zu fügen, mich vernünftig zu benehmen ... Ich sehe ja, wie es mir immer ergeht, und das wird nicht mehr besser: geschlagen zu Hause, geschlagen in Paris, überall geschlagen. Ich bin seit vier Jahren hier und nach wie vor der Letzte in der Abteilung ... Ich wollte Ihnen sagen, Sie möchten sich meinetwegen keine Sorge machen. Seien Sie glücklich, lieben Sie einen andern; wenn Sie glücklich sind, werde auch ich glücklich sein. Ihr Glück wird auch das meine sein.«
Er konnte nicht weiter; gleichsam um sein Versprechen zu besiegeln, hatte er seine Lippen auf die Hand des jungen Mädchens gedrückt und küßte sie mit der Untergebenheit eines Sklaven. Sie war tief verwirrt und sagte voll schwesterlicher Zärtlichkeit:
»Mein armer Junge!«
Da schraken sie beide zusammen. Sie wandten sich um, Mouret stand vor ihnen.
Jouve hatte den Chef seit zehn Minuten in allen Räumen gesucht. Endlich hatte er ihn auf dem Bauplatz für die neue Fassade an der Rue du Dix-Décembre gefunden. Täglich verbrachte er hier viele Stunden, bemüht, sich in diese so lang erträumten Arbeiten zu versenken. Hier, mitten unter den Maurern und den Gerüstarbeitern, hatte er einen Zufluchtsort vor seinen Qualen gefunden. Er pflegte auf den Leitern emporzuklettern, besprach sich mit dem Architekten, stieg über Berge von Baumaterial hinweg und verschwand in den Kellern. Das Getöse der Maschinen, das Geschrei der Arbeiter betäubte ihn für kurze Zeit; doch in dem Maß, wie der Lärm des Bauplatzes sich hinter ihm verlor, erwachte von neuem das Leid im Innersten seines Herzens.
Heute hatte diese Zerstreuung ihm gerade wieder ein wenig von seiner alten Unbekümmertheit geschenkt, da kam Jouve ganz atemlos herbeigeeilt, um ihn zu holen.
Zuerst war er verdrossen über die Störung und meinte, man werde wohl einen Augenblick auf ihn warten können. Als der Inspektor ihm aber einige Worte ins Ohr geflüstert hatte, folgte er ihm in fieberhafter Hast. Nun war alles aus, die Mauer stürzte ein, noch ehe sie aufgerichtet war. Was nützte ihm dieser höchste Triumph seines Stolzes, wenn der bloße Name einer Frau, ihm leise zugeflüstert, ihn derart quälen konnte?
Oben befanden Bourdoncle und Jouve es für gut, zu verschwinden. Deloche entfloh, und Denise stand Mouret allein gegenüber; sie war blasser als sonst, blickte ihm aber frei und offen ins Gesicht.
»Folgen Sie mir, Fräulein«, sagte er mit harter Stimme.
Sie ging wortlos hinter ihm her die zwei Stockwerke hinab und durch die Möbel- und Teppichabteilung. Als sie vor seinem Arbeitszimmer ankamen, öffnete er die Tür.
»Treten Sie ein, Fräulein.«
Er schloß die Tür und ging zu seinem Schreibtisch. Sein neues Arbeitszimmer war mit größerem Luxus eingerichtet als das frühere, der grüne Rips war durch Samt ersetzt worden, eine Wand war vollständig von einem mit Elfenbein eingelegten Bücherregal ausgefüllt. An der Wand hing noch immer das Bild Frau Hédouins, einer jungen Frau mit schönem, sanftem Gesicht, die aus ihrem Goldrahmen herablächelte.
»Fräulein«, sagte er und suchte kühl und streng zu bleiben, »es gibt gewisse Dinge, die wir nicht dulden können. Eine anständige Aufführung ist in unserem Haus unerläßlich ...«
Er hielt inne und suchte nach Worten, um dem aus seinem Innern aufsteigenden Zorn nicht nachzugeben. Wie, diesen Burschen liebte sie also, diesen kümmerlichen Verkäufer, das Gespött seiner Abteilung? Den Niedrigsten, den Ungeschicktesten von allen zog sie ihm, dem Chef, vor? Er hatte ja gesehen, wie sie ihm ihre Hand überlassen und er sie mit Küssen bedeckt hatte.
»Ich war sehr gut zu Ihnen, Fräulein«, fuhr er fort, »aber diesen Lohn habe ich von Ihnen nicht erwartet.«
Denise betrachtete, seit sie über die Schwelle getreten war, unablässig das Porträt von Frau Hédouin; trotz ihrer Verwirrung konnte sie die Augen von dem Bild nicht abwenden. Sooft sie das Zimmer der Geschäftsleitung betrat, kreuzten sich ihre Blicke mit denen von Frau Hédouin. Sie fürchtete sich ein wenig vor ihr, fand sie andererseits aber wieder sehr gütig.
»Sicher, Herr Mouret«, sagte sie sanft, »es war nicht recht von mir, daß ich mich dort oben aufgehalten habe, um zu plaudern, und ich bitte Sie um Verzeihung. Der junge Mann ist aus meiner Heimat.«
»Ich werde ihn davonjagen!« schrie Mouret, der all seinem Leid in diesem wütenden Ausruf Luft machte.
Verstört, wie er war, fiel er ganz aus der Rolle des Chefs, der eine Verkäuferin wegen eines Verstoßes gegen die Betriebsordnung zur Rechenschaft zu ziehen hat, und erging sich in heftigen Ausdrücken. Schämte sie sich nicht, sie, ein junges Mädchen, sich einem solchen Burschen hinzugeben? Dann kam er auf noch schwerere Anschuldigungen zu sprechen, er warf ihr Hutin vor und andere, und das alles in einer solchen Flut von Worten, daß sie sich nicht verteidigen konnte. Aber von nun an werde Ordnung herrschen, versicherte er, er werde alle mit Fußtritten hinausbefördern. Die strenge Auseinandersetzung, die er beabsichtigt hatte, verwandelte sich in eine wilde Eifersuchtsszene.
»Ja, Ihre Liebhaber! Man hat mir schon längst berichtet, daß Sie welche haben, aber ich war dumm genug, daran zu zweifeln ... Ich allein habe nicht daran geglaubt, ich allein!«
Atemlos und benommen hörte Denise diese abscheulichen Vorwürfe an. Sie hatte anfangs gar nicht begriffen. Mein Gott, hielt er sie denn für eine Dirne? Bei einem sehr harten Wort wandte sie sich stillschweigend zur Tür; und da er sie mit einer Bewegung zurückhalten wollte, sagte sie:
»Lassen Sie mich, ich gehe; wenn Sie von mir glauben, was Sie da sagen, will ich keine Sekunde länger in Ihrem Haus bleiben.«
Da lief er zur Tür und stellte sich ihr in den Weg.
»Verteidigen Sie sich doch wenigstens, sagen Sie etwas!«
Sie stand aufrecht vor ihm und verharrte in eisigem Schweigen. In steigender Angst drang er mit Fragen in sie. Die stumme Würde dieses jungen Mädchens schien wieder einmal das wohlberechnete Spiel einer Frau zu sein, die in allen Winkelzügen der Verführungskunst bewandert ist.
»Sie sagen, er sei aus Ihrer Heimat. Sie sind einander dort vielleicht schon begegnet ... Schwören Sie mir, daß zwischen Ihnen nichts vorgefallen ist!«
Als sie noch immer schwieg und die Tür öffnen wollte, um hinauszugehen, verlor er vollends den Kopf und überließ sich hemmungslos seiner Leidenschaft.
»Mein Gott, ich liebe Sie, ich liebe Sie!« rief er; »finden Sie denn ein Vergnügen daran, mich dermaßen zu quälen? Sehen Sie denn nicht, daß außer Ihnen gar nichts mehr für mich existiert? Daß alle Leute, von denen ich mit Ihnen spreche, mich nur Ihretwegen interessieren? Daß Sie allein es sind, die für mich in der Welt Bedeutung hat? Ich glaubte, Sie seien eifersüchtig, und habe Ihnen meine Vergnügungen geopfert. Man hat Ihnen gesagt, daß ich Geliebte habe; nun, ich habe keine mehr, ich komme kaum aus dem Haus. Habe ich Sie jener Dame nicht vorgezogen? Habe ich mit ihr nicht gebrochen, um Ihnen allein anzugehören? Ich warte noch immer auf Erkenntlichkeit, auf ein Wort des Dankes. Wenn Sie glauben, ich könnte vielleicht zu ihr zurückkehren, so dürfen Sie ganz ruhig sein; sie rächt sich, indem sie einem unserer früheren Angestellten behilflich ist, ein Konkurrenzunternehmen gegen mich ins Leben zu rufen! ... Sagen Sie, muß ich erst vor Ihnen in die Knie sinken, um Ihr Herz zu rühren?«
So weit war es also gekommen: er, der seinen Verkäuferinnen nicht das kleinste Vergehen nachsah, der sie bei der geringsten Laune vor die Tür setzte, sah sich genötigt, eine von ihnen anzuflehen, sie möge nicht weggehen, ihn nicht in seinem Elend verlassen. Er verwehrte ihr die Tür, war bereit, ihr zu verzeihen, ja sich blind zu stellen, wenn sie ihn belügen wollte. Er sprach die Wahrheit, er war der Dirnen überdrüssig, die er hinter den Kulissen der kleinen Theater und in den Varietes aufgelesen hatte; er traf Claire nicht mehr, er setzte keinen Fuß in das Haus von Frau Desforges, wo jetzt Bouthemont herrschte und auf die Eröffnung seines neuen Warenhauses »Zu den vier Jahreszeiten« wartete, das bereits alle Zeitungen mit seiner Reklame füllte.
»Sagen Sie, muß ich zu Ihren Füßen niedersinken?« wiederholte er mit tränenerstickter Stimme.
Sie hielt ihn mit der Hand zurück und konnte ihre eigene Verwirrung kaum meistern angesichts dieses leidenschaftlichen Schmerzes.
»Es ist nicht recht von Ihnen, daß Sie sich so grämen«, antwortete sie endlich. »Ich schwöre Ihnen, daß all die abscheulichen Geschichten erlogen sind; der arme junge Mann hat sich ebensowenig strafbar gemacht wie ich selbst.«
Sie stand wieder in ihrer gewinnenden Offenheit da, ihre klaren Augen bückten ihn freimütig an.
»Es ist gut, ich glaube Ihnen«, murmelte er. »Ich werde niemanden von Ihren Freunden entlassen, da Sie sie alle in Schutz nehmen ... Aber warum stoßen Sie mich zurück, wenn Sie niemand anderen lieben?«
Eine peinigende Verlegenheit, eine schamvolle Unruhe bemächtigte sich plötzlich des jungen Mädchens.
»Sie lieben jemanden, nicht wahr?« fragte er mit zitternder Stimme. »Sie können es mir sagen, ich habe ja kein Recht auf Ihre Zuneigung. Sie lieben jemanden ...«
Sie errötete tief und war nahe daran, ihr Geheimnis preiszugeben. Sie fühlte, daß es ihr in ihrer Bewegung unmöglich gewesen wäre, zu lügen, zumal ihr die Wahrheit im Gesicht geschrieben stand.
»Ja«, gestand sie endlich leise. »Aber ich bitte Sie, lassen Sie mich, Sie tun mir weh.«
Jetzt waren die Qualen an ihr. War es denn nicht genug, daß sie sich gegen ihn verteidigen mußte? Sollte sie sich noch gegen sich selbst verteidigen müssen, gegen die Aufwallungen der Liebe zu ihm, die ihr manchmal allen Mut raubten? Wenn er so zu ihr sprach, wenn sie ihn so bewegt, so verstört vor sich sah, begriff sie nicht mehr, warum sie sich weigerte. Nur mühsam fand sie dann ihren Stolz und ihre Vernunft wieder, die sie in ihrer jungfräulichen Sprödigkeit verharren ließen. Sie blieb hartnäckig allein aus dem Wunsch nach einem ruhigen, dauerhaften Glück, nicht weil sie dem Gedanken der Tugend an sich gehorchen wollte. Sie wäre diesem Mann in die Arme gesunken, wenn es ihr nicht widerstrebt hätte, ihr ganzes Wesen für immer hinzugeben, ohne auch nur zu wissen, was der morgige Tag bringen mochte.
Mouret machte eine Gebärde dumpfer Verzweiflung, er hatte sie nicht verstanden. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, blätterte in den Papieren, legte sie dann wieder hin und sagte:
»Ich will nicht in Sie dringen, Fräulein, ich kann Sie ja nicht gegen Ihren Willen zurückhalten.«
»Aber ich will ja gar nicht weggehen«, erwiderte sie lächelnd.
»Wenn Sie mich für anständig halten, bleibe ich ... Man sollte die Frauen immer für anständig halten, es gibt viele, die es sind, glauben Sie mir.«
Sie hatte unwillkürlich die Augen zu dem Bild Frau Hédouins erhoben. Mouret folgte ihrem Blick und schrak zusammen, denn es war ihm, als hätte seine Frau diese Worte gesprochen, so vertraut kamen sie ihm vor. Er fand bei Denise den gesunden Sinn, jenes wohltuende seelische Gleichgewicht wieder, das auch sie besessen hatte, bis hin zu der sanften Stimme, die nicht mehr sprach, als notwendig war. Er war betroffen und wurde noch trauriger als zuvor.
»Sie wissen jetzt, daß ich ganz Ihnen gehöre«, murmelte er, um zu einem Ende zu kommen; »machen Sie mit mir, was Sie wollen.«
Da sagte sie in heiterem Ton:
»So ist's recht, Herr Mouret; es ist immer gut, auf eine Frau zu hören, und mag sie noch so niedrig stehen, wenn sie nur ein wenig Verstand besitzt. Ich werde aus Ihnen nichts anderes als einen rechtschaffenen Menschen machen, wenn Sie sich mir anvertrauen wollen.«
Sie brachte diesen Scherz in ihrer schlichten Art vor, die so reizvoll war. Nun lächelte auch er und geleitete sie zur Tür wie eine Dame.
Am folgenden Tag wurde Denise zur Direktrice ernannt. Die Geschäftsleitung teilte die Konfektionsabteilung und schuf nur ihretwegen eine Abteilung für Kinderkleidung, die gleich daneben eingerichtet wurde.
Seit der Entlassung ihres Sohnes hatte Frau Aurélie in fortwährender Angst gelebt, denn sie sah, daß die Herren ihr gegenüber kühler geworden waren und daß die Macht des jungen Mädchens immer mehr zunahm. Würde man sie nicht bei der erstbesten Gelegenheit Denise aufopfern? Als diese nun als Direktrice in die Abteilung für Kinderkleidung hinüberzog, war Frau Aurélie darüber so glücklich, daß sie nur noch das Gefühl wärmster Zuneigung und Ergebenheit für sie zur Schau trug. Sie überhäufte Denise mit Freundschaftsbeweisen, behandelte sie von nun an als völlig gleichgestellt und ging oft zu ihr hinüber, um sich mit ihr zu besprechen.
Denise war jetzt auf dem Gipfel ihrer Macht. Ihre Ernennung zur Direktrice hatte den letzten Widerstand ihrer Umgebung vernichtet. Wenn auch hinter ihrem Rücken immer noch geklatscht wurde, so verneigten sich doch alle vor ihr bis zur Erde. Marguerite, die zur Zweiten in der Konfektionsabteilung ernannt worden war, floß über von Lobeserhebungen. Selbst Claire, von geheimem Respekt vor solchem Glück erfüllt, duckte sich.
Noch vollständiger war Denises Triumph über die Männerwelt, über Jouve, der ihr nur mehr mit tiefster Demut begegnete, über Hutin, den jetzt die Angst packte, weil er seine Stellung wanken sah, über Bourdoncle, der endlich zur Ohnmacht verurteilt war. Als er sie aus dem Zimmer der Geschäftsleitung hatte treten sehen, lächelnd, mit sanfter Miene, und als der Chef am folgenden Tag in der Besprechung die Einrichtung einer neuen Abteilung gefordert hatte, gab er sich besiegt. Diesmal war die Frau die stärkere geblieben, und er war darauf gefaßt, daß das Verhängnis auch ihn hinwegfegen würde.
Denise genoß indessen in aller Liebenswürdigkeit ihren Triumph. Sie war gerührt von den Beweisen der Achtung, die sie umgaben, sie wollte darin nur eine ausgleichende Teilnahme für die Härte ihrer Anfangszeit erblicken. Sie nahm lächelnd die ihr dargebotenen Freundschaftsbeweise entgegen und brachte es dahin, daß sie von einigen wirklich geliebt wurde. Nur gegen Claire bewahrte sie eine unüberwindliche Abneigung. Sie hatte erfahren, daß diese sich tatsächlich den grausamen Scherz erlaubt hatte, eines Abends Colomban mit zu sich zu nehmen. Ganz fortgerissen von seiner endlich befriedigten Leidenschaft, brachte er seither öfter die Nacht außer Haus zu, während die arme Geneviève langsam dem Ende entgegenging. Im »Paradies der Damen« wurde viel davon gesprochen, man fand die Sache sehr spaßig.
Allein dieser Kummer vermochte Denise nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war eine Freude, sie in ihrer Abteilung zu sehen, umgeben von ihrem kleinen Völkchen, von Knirpsen jeden Alters. Sie vergötterte Kinder, und man hätte keinen geeigneteren Platz für sie finden können. Sie lebte unter ihren Kleinen wie in einer natürlichen Familie, selbst verjüngt durch diese Unschuld und Frische, die sich um sie her immer wieder erneuerte.
Es kam jetzt zuweilen vor, daß sie lange Unterredungen mit Mouret hatte. Wenn sie sich zur Geschäftsleitung begeben mußte, um Aufträge entgegenzunehmen oder Bericht zu erstatten, hielt er sie zurück, um mit ihr zu plaudern, denn er liebte es, ihr zuzuhören. Das war es, was sie lachend »einen rechtschaffenen Menschen aus ihm machen« genannt hatte. In ihrem besonnenen Köpfchen gab es allerlei Pläne; alles, was sie sah, suchte sie zu ordnen, zu verbessern. So sann sie beispielsweise, seitdem sie beim »Paradies der Damen« wieder eingetreten war, über die unsichere Lage der Angestellten nach. Die plötzlichen Entlassungen kränkten sie; sie fand dieses Vorgehen ebenso ungeschickt wie ungerecht, von Nachteil für beide Seiten, für die Angestellten wie für das Geschäft. Noch schmerzten die Wunden ihrer Anfangszeit, und nicht ohne tiefes Mitleid beobachtete sie jede Neue, die das gleiche Elend durchmachte. Dieses Dasein eines geprügelten Hundes verdarb die Besten unter ihnen, alle waren noch vor den Vierzig durch den Beruf aufgebraucht, verschwanden, gingen unter. Viele starben vor der Zeit, andere gerieten auf die Straße, und nur die wenigsten waren so glücklich, sich zu verheiraten und in irgendeinem Provinzladen unterzutauchen. Dieser ungeheure Verschleiß an Menschen, den die großen Warenhäuser von Jahr zu Jahr trieben – war das menschlich, war das gerecht? Doch sie war nicht gefühlsselig in ihren Ansichten, sie kämpfte vielmehr mit sachlichen Argumenten. Wenn man eine zuverlässig funktionierende Maschine haben wolle, erklärte sie, müsse man gutes Material verwenden; andernfalls stehe die Arbeit immer wieder still, und die Kosten würden nur immer höher. Wenn sie so ihrer Phantasie freien Lauf ließ, sah sie im Geist das vollkommene, ungeheure Warenhaus der Zukunft schon vor sich, eine Hochburg des Handels, in der jeder nach seinen Verdiensten seinen Anteil am Gewinn hatte und durch Verträge gesichert war. Solche Pläne erheiterten Mouret, er beschuldigte sie dann wohl, sie sei eine Sozialistin, und brachte sie in Verlegenheit, indem er ihr die Schwierigkeiten der Durchführung erläuterte. Aber obgleich er sie mit ihren Vorstellungen aufzog, verwirklichte er einen Teil ihrer Gedanken. Das Los der Angestellten wurde allmählich besser; an die Stelle der massenhaften Entlassungen trat ein Urlaubssystem, das der toten Zeit angepaßt war; schließlich gründete man Aushilfskassen zur Unterstützung der Angestellten im Falle unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Es waren die Anfänge der großen Arbeitervereinigungen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Denise begnügte sich übrigens nicht damit, die Wunden zu heilen, an denen sie selbst einst geblutet hatte; ihr weiblicher Zartsinn gab ihr allerlei Ideen ein, durch deren Ausführung Mouret die Kundschaft entzückte. Den Kassierer Lhomme unterstützte sie in seinem lang gehegten Plan, aus den Angestellten des Hauses eine Musikkapelle zusammenzustellen. Drei Monate später hatte Lhomme hundertzwanzig Musiker unter seiner Leitung, der Traum seines Lebens war verwirklicht. Es wurde ein großes Fest veranstaltet, ein Konzert mit Ball, um dem Publikum die Kapelle des »Paradieses der Damen« vorzuführen. Die Zeitungen beschäftigten sich mit dem Ereignis, und selbst Boudoncle, den alle diese Neuerungen erbitterten, mußte sich vor dieser enormen Reklame beugen. Später wurde ein Spielsaal für die Angestellten eingerichtet, wo sie Billard, Tricktrack und Schach spielen konnten. Endlich wurden Abendkurse in Deutsch und Englisch, in Geographie und in Arithmetik eingeführt. Eine Bibliothek von zehntausend Bänden zum Gebrauch der Angestellten entstand. Ein Arzt im Haus hielt unentgeltlich Sprechstunden ab; es gab Bäder, Erfrischungsräume, einen Frisiersalon. Das ganze Leben spielte sich hier ab, man brauchte nicht mehr aus dem Haus zu gehen, für alles war gesorgt: Bildung, Essen, Unterkunft und Kleidung. Was Arbeit und Vergnügen anbelangte, war inmitten der ungeheuren Stadt Paris das »Paradies der Damen« eine Welt für sich.
Erneut gab es einen Stimmungsumschwung zugunsten Denises. Da Bourdoncle seinen Getreuen voller Verzweiflung immer wieder beteuerte, daß er viel darum gegeben hätte, wenn er selbst sie Mouret hätte ins Bett legen können, nahm man allgemein davon Kenntnis, daß sie nicht nachgegeben hatte, daß ihre Allmacht eben aus dieser Weigerung entsprang. Von diesem Augenblick an wurde sie beliebt. Da war endlich eine, die dem Chef den Fuß auf den Nacken setzte, die alle anderen rächte und ihm mehr als bloße Versprechungen zu entreißen wußte. Wenn sie jetzt durch die Abteilungen ging mit ihrer sanften, aber unbeugsamen Miene, lächelten die Angestellten ihr zu, sie waren stolz auf sie und hätten sie am liebsten aller Welt gezeigt. Denise fühlte sich glücklich, von dieser wachsenden Sympathie getragen. Mein Gott, war das möglich! Sie sah sich wieder, wie sie angekommen war, in ihrem ärmlichen Kleidchen, scheu, verloren inmitten des Räderwerks dieses ungeheuren Betriebes; lange Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, ein Nichts zu sein, kaum ein Hirsekorn unter den Mühlsteinen, die eine Welt zermalmten. Und heute war sie die Seele dieser Welt, sie allein zählte, mit einem Wort konnte sie den ihr zu Füßen liegenden Riesenapparat schneller oder langsamer laufen lassen. Und doch hatte sie nichts davon gewollt; sie war ohne Berechnung, ihre Herrschaft überraschte sie manchmal selbst. Was hatten sie nur, daß sie ihr alle gehorchten? Sie war nicht schön und schon gar nicht hintertrieben, sie besaß nichts als ihre Güte und ihre Klugheit, ihre Aufrichtigkeit und ihre Logik.
Zu Denises größten Freuden in ihrer neuen Lage gehörte es, daß sie Pauline nützlich sein konnte. Diese war schwanger und lebte in fortwährender Angst, denn zwei Verkäuferinnen hatten im siebenten Monat binnen vierzehn Tagen das Haus verlassen müssen. Die Geschäftsleitung duldete solche Zwischenfälle nicht. Ehen wurden allenfalls gestattet, Kinder aber waren entschieden verboten. Um die voraussichtliche Kündigung so lange wie möglich hinauszuschieben, schnürte Pauline sich zum Ersticken. Eine der beiden entlassenen Verkäuferinnen hatte einige Tage zuvor ein totes Kind geboren, nur weil sie es ebenso gemacht hatte; man wußte nicht einmal, ob sie selber durchkommen würde. Bourdoncle bemerkte indessen, daß Paulines Gesichtsfarbe immer bleierner und ihr Gang immer schwerfälliger wurde. Eines Morgens war er eben in der Nähe, als ein Laufbursche, der ein Paket forttragen wollte, sie aus Versehen so hart anstieß, daß sie aufschrie und beide Hände auf ihren Bauch drückte. Sogleich führte er sie fort, verhörte sie, bis sie beichtete, und stellte in der nächsten Besprechung mit den Herren von der Geschäftsleitung den Antrag auf ihre Entlassung. Mouret, der an dieser Beratung nicht teilgenommen hatte, konnte seine Meinung erst am Abend abgeben. Allein bis dahin hatte Denise Zeit gehabt, sich ins Mittel zu legen, und er schnitt Bourdoncle kurzerhand das Wort ab, gerade in Hinsicht auf die Interessen des Hauses. Ein solches Vorgehen, sagte er, müßte alle Mütter, alle jungen Wöchnerinnen unter der Kundschaft verletzen. Und zu guter Letzt wurde beschlossen, daß jede verheiratete Verkäuferin, wenn sie schwanger wurde, einer besonderen Hebamme anvertraut werden sollte, sobald ihre Anwesenheit im Geschäft anstandshalber unmöglich wurde.
Als Denise am Tag danach in das Krankenzimmer hinaufging, um Pauline zu besuchen, die sich infolge des erlittenen Stoßes hatte zu Bett legen müssen, küßte diese sie dankbar auf beide Wangen.
»Wie gut Sie sind! Ohne Sie hätte man mich hinausgeworfen ... Machen Sie sich keine Sorgen; der Arzt sagt, es habe nichts zu bedeuten.«
Das Krankenzimmer war ein langer, heller Raum mit zwölf Betten, die mit sauberen, weißen Vorhängen versehen waren. Hier wurden die Angestellten gepflegt, die im Haus wohnten, wenn sie nicht ausdrücklich zu ihren Familien gehen wollten. An diesem Tag lag Pauline allein hier, ihr Bett stand in der Nähe eines der großen Fenster, die auf die Rue Neuve-Saint-Augustin gingen.
»Er tut also alles, was Sie wollen? Wie grausam von Ihnen, ihn so zu quälen! Erklären Sie mir das mal, da wir schon davon sprechen. Hassen Sie ihn denn?«
Sie hielt Denise, die neben ihrem Bett saß, bei der Hand. Angesichts dieser direkten und unerwarteten Frage ließ das junge Mädchen, von einer plötzlichen Erregung ergriffen, sich das Geheimnis ihres Herzens entschlüpfen. Sie verbarg das hochrote Gesicht in den Kissen und flüsterte:
»Ich liebe ihn!«
Pauline war ganz verblüfft.
»Wie, Sie lieben ihn? Nun, dann ist es doch sehr einfach: sagen Sie ja!«
Denise aber sagte nein, indem sie energisch den Kopf schüttelte. Sie sagte nein, gerade weil sie ihn liebte, ohne daß sie die Sache hätte näher erklären können. Es war gewiß lächerlich, doch sie war nun einmal so und konnte sich nicht plötzlich ändern.
Die Verwunderung ihrer Freundin stieg immer höher. Endlich fragte sie:
»Sie tun das also nur, um seine Frau zu werden?«
Da richtete sich Denise mit einem Ruck auf. Sie war ganz verstört.
»Wie, um seine Frau zu werden? Ich schwöre Ihnen, daß ich nie daran gedacht habe! Nein, nie ist mir eine solche Berechnung durch den Kopf gegangen, und Sie wissen doch, daß ich nicht lüge.«
»Nun, wenn Sie es jedenfalls gewollt hätten«, sagte Pauline, »dann hätten Sie sich nicht anders benehmen können, als Sie es tun ... Die Sache muß doch mal ein Ende nehmen, und da gibt es kein anderes Mittel als Heirat, da Sie das andere nicht wollen! Hören Sie: alle hier denken so wie ich, man ist überzeugt, daß Sie ihm den Brotkorb nur so hoch hängen, um ihn zum Standesbeamten zu führen ... Mein Gott, sind Sie komisch!«
Sie mußte Denise trösten, die abermals mit dem Kopf auf das Kissen gesunken war und schluchzend wiederholte, sie werde schließlich doch noch fortgehen müssen, wenn man ihr ununterbrochen Geschichten andichte, die ihr niemals in den Sinn gekommen wären. --
Zur selben Zeit ging Mouret unten durch das Geschäft. Um seinen Kummer zu betäuben, wollte er wieder einmal die Bauarbeiten besichtigen. Monate waren verflossen, die neue Fassade stand kurz vor der Fertigstellung. Die Rue du Dix-Décembre, seit kurzer Zeit eröffnet, war vom Morgen bis zum Abend voll von einer Menge Neugieriger, die zu den verkleideten Gerüsten emporstarrten und sich mit den Wundern beschäftigten, die man sich von diesem Bau erzählte. Allein gerade auf diesem von fieberhafter Arbeit erfüllten Bauplatz mitten unter den Handwerkern, welche die Verwirklichung seines Traums vollendeten, empfand Mouret bitterer als sonstwo die Nichtigkeit seines Glücks. Der Gedanke an Denise schnürte ihm die Brust zu. Was nützte ihm all diese Pracht, wenn sie doch die Leere seines Herzens nicht ausfüllen konnte?
Als Mouret in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, würgte ihn ein Schluchzen. Was wollte sie denn? Er wagte nicht mehr, ihr Geld anzubieten. Und zum erstenmal tauchte in dem noch widerstrebenden jungen Witwer unklar der Gedanke an eine Heirat auf. Das Gefühl seiner Machtlosigkeit erpreßte ihm endlich heiße Tränen; er war unglücklich.