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Am ersten Sonntag im August wurde Inventur gemacht; bis zum Abend sollte sie beendet sein. Wie an Werktagen war schon am Morgen jeder auf seinem Posten, und bei geschlossenen Türen begann die Arbeit.
Denise war nicht um acht Uhr heruntergekommen wie die übrigen Verkäuferinnen. Sie hatte fünf Tage an einer Sehnenzerrung, die sie sich durch das viele Treppensteigen zugezogen hatte, krank gelegen. Mittlerweile ging es ihr besser; allein da Frau Aurélie sie überaus freundlich behandelte, beeilte sie sich nicht allzu sehr. Mit Mühe zog sie ihre Schuhe an, da sie trotz allem entschlossen war, sich in der Abteilung zu zeigen. Die Zimmer der Verkäuferinnen nahmen jetzt an der Rue Monsigny entlang den ganzen fünften Stock des neuen Gebäudes ein. Es waren insgesamt sechzig, zu beiden Seiten eines Ganges gelegen; sie waren etwas bequemer als die alten, obgleich nach wie vor nur mit einem schmalen Eisenbett, einem großen Schrank und einem kleinen Nußbaumtisch möbliert.
Denise hatte übrigens als stellvertretende Abteilungsleiterin eines der größten Zimmer bekommen, dessen zwei Mansardenfenster auf die Straße gingen. Sie war jetzt fast reich und gönnte sich manchen Luxus, so eine Daunendecke, einen kleinen Teppich vor dem Schrank und zwei blaue Glasvasen, in denen ein paar Rosen welkten.
Als sie die Schuhe angezogen hatte, versuchte sie vorsichtig, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie nahm sich vor, zeitig zu Bett zu gehen, um ihr krankes Bein zu schonen. Da klopfte die Aufseherin, Frau Cabin, an die Tür und übergab ihr mit geheimnisvoller Miene einen Brief.
Als die Tür geschlossen war, öffnete Denise das Schreiben, ganz betroffen über das geheimnisvolle Lächeln der Frau. Doch kaum hatte sie gelesen, da wurde sie sehr blaß und sank in einen Sessel. Es war ein Brief von Mouret, in dem er schrieb, daß er über ihre Genesung glücklich sei, und sie einlud, abends mit ihm zu essen, da sie doch nicht ausgehen könne. Der Ton, vertraulich und väterlich zugleich, hatte nichts Verletzendes; allein sie konnte den Sinn unmöglich mißverstehen. Im ganzen Haus wußte man nur zu gut, was diese Einladungen zu bedeuten hatten; Claire hatte mit ihm gegessen, andere auch, all jene, auf die er sein Auge geworfen hatte. Und nach dem Essen kam der Nachtisch, wie die Angestellten boshaft zu sagen pflegten. Die bleichen Wangen des Mädchens nahmen allmählich eine tiefe Schamröte an.
Sie hatte den Brief auf die Knie gleiten lassen und saß mit hochklopfendem Herzen da, die Augen starr auf die hellen Fenster gerichtet. Sie wiederholte sich ein Geständnis, das sie sich in diesem Zimmer in Stunden der Schlaflosigkeit inzwischen oft gemacht hatte: sie hatte ihn schon geliebt, als sie ihn noch fürchtete wie einen erbarmungslosen Herrn. Sie hatte ihn geliebt, als ihr törichtes Herz von Hutin träumte. Sie hätte sich vielleicht einem andern hingegeben, aber niemals hätte sie einen andern geliebt als diesen Mann, dessen Blick sie erstarren ließ. Abermals klopfte es an die Tür; sie beeilte sich, den Brief verschwinden zu lassen. Es war Pauline, die unter irgendeinem Vorwand ihre Abteilung verlassen hatte und heraufkam, um ein wenig zu plaudern.
»Wie geht es Ihnen? Man sieht Sie ja gar nicht mehr.«
Da es verboten war, in die Zimmer hinaufzugehen und insbesondere sich zu zweien einzuschließen, führte Denise sie in den Aufenthaltsraum am anderen Ende des Flurs; es war dies ein Entgegenkommen des Chefs den weiblichen Angestellten gegenüber, die dort bis elf Uhr lesend oder arbeitend den Feierabend verbringen konnten. Das Zimmer, nüchtern wie ein Hotelsaal, war mit einem Klavier, einem großen Tisch, mehreren Sesseln und einem Sofa möbliert.
»Wie Sie sehen, kann ich schon gehen«, sagte Denise. »Ich werde gleich hinunterkommen.«
»Nanu, wozu der große Eifer?« rief die andere. »Ich würde mich schonen, wenn ich so einen Vorwand hätte.«
Sie hatten sich auf das Sofa gesetzt. Paulines Haltung hatte sich etwas geändert, seit ihre Freundin Zweite in der Konfektionsabteilung geworden war. In die Herzlichkeit des gutmütigen Mädchens mengte sich ein Zug von Achtung, eine gewisse Überraschung, daß die kleine, schwächliche Verkäuferin von ehemals im Begriff war, ihr Glück zu machen. Denise aber liebte sie sehr und vertraute unter den zweihundertfünfzig Kolleginnen, die gegenwärtig im Hause beschäftigt waren, nur ihr allein.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Pauline, als sie die Verwirrung des Mädchens bemerkte.
»Oh, nichts«, beteuerte Denise mit einem Versuch zu lächeln.
»Doch, doch, es ist etwas. Sie trauen mir nicht; warum erzählen Sie mir Ihren Kummer nicht?«
Da konnte Denise nicht länger an sich halten. Sie reichte Pauline den Brief und stotterte:
»Schauen Sie, er hat mir geschrieben.«
Sie hatten untereinander noch niemals offen von Mouret gesprochen; aber eben dieses Stillschweigen war gleichsam ein Eingeständnis ihrer geheimen Gedanken. Pauline wußte Bescheid. Nachdem sie den Brief gelesen hatte, zog sie Denise an sich, legte den Arm um sie und flüsterte:
»Meine Liebe, wenn ich offen sein darf, ich meinte, es sei schon geschehen ... Seien Sie doch nicht so entrüstet; ich versichere Ihnen, das ganze Haus ist dieser Ansicht. Mein Gott, er hat Sie so rasch zur Zweiten ernannt, und dann ist er fortwährend hinter Ihnen her -- es ist zu offenkundig«
Sie küßte sie auf die Wange und fragte dann:
»Sie werden der Einladung natürlich folgen?«
Denise betrachtete sie, ohne zu antworten, dann brach sie plötzlich in Schluchzen aus und legte den Kopf auf die Schulter ihrer Freundin. Pauline war sehr überrascht.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte sie, »es ist ja nichts dabei. Warum sind Sie darüber so entsetzt?«
»Nein, nein, lassen Sie mich«, stammelte Denise; »wenn Sie wüßten, welchen Kummer mir das macht! Seit ich diesen Brief habe, bin ich ganz außer mir. Lassen Sie mich weinen, das erleichtert mir das Herz.«
Pauline war sehr gerührt und sprach ihr Trost zu, ohne sie eigentlich recht zu begreifen. Vor allem treffe er sich doch mit Claire nicht mehr, sagte sie. Man erzähle sich zwar, daß er außerhalb des Hauses zu einer Dame gehe, aber das sei nicht erwiesen. Dann erklärte sie ihr, bei einem Mann in einer solchen Stellung dürfe man nicht eifersüchtig sein. Er habe zu viel Geld und er sei schließlich der Chef.
Denise hörte ihr zu; wenn sie noch an ihrer Liebe hätte zweifeln können, so mußte sie ihr jetzt klar bewußt werden bei dem Schmerz, den ihr der Name Claires und die Anspielung auf Frau Desforges verursachten.
»Sie würden also gehen?« fragte sie.
»Natürlich; was soll man denn anderes tun?« rief Pauline, ohne lange zu überlegen.
Dann fügte sie hinzu:
»Früher wenigstens hätte ich es getan. Heute nicht mehr, denn jetzt will ich mich mit Baugé verheiraten, und da wäre es ja wirklich schlimm.«
In der Tat wollte Baugé, der das »Bon-Marché« verlassen hatte, um beim »Paradies der Damen« einzutreten, sie gegen Ende August heiraten. Bourdoncle war kein Freund von Ehepaaren im Hause, allein sie hatten die Einwilligung zu ihrer Heirat erhalten und hofften, sogar vierzehn Tage Urlaub zu bekommen.
»Sehen Sie wohl«, erklärte Denise. »Wenn ein Mann ein Mädchen liebt, muß er es heiraten. Baugé heiratet Sie.«
Pauline lachte hell auf. Dann umarmte sie sie und sagte:
»Meine Liebe, das ist doch etwas anderes. Baugé heiratet mich, weil er Baugé ist, er ist aus dem gleichen Stand wie ich, da geht die Sache von selbst ... Herr Mouret aber -- kann Herr Mouret eine seiner Verkäuferinnen heiraten?«
Sie lachte wieder und küßte Denise freundschaftlich. Ihr breites Gesicht mit den kleinen zärtlichen Augen nahm den Ausdruck mütterlicher Teilnahme an. Dann erhob sie sich, öffnete das Klavier und begann leise mit einem Finger eine Melodie zu klimpern. Denise war im Sofa zurückgesunken und stützte den Kopf auf die Lehne; sie war abermals in Schluchzen ausgebrochen und preßte krampfhaft ihr Taschentuch an die Augen.
»Schon wieder?« rief Pauline und wandte sich um. »Sie sind wirklich nicht gescheit. Warum haben Sie mich hierhergeführt? Wir hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen.«
Sie kniete vor ihr nieder und begann ihr von neuem gut zuzureden. Wieviele andere wären gerne an ihrer Stelle, sagte sie; übrigens, wenn ihr die Geschichte nicht gefalle, so brauche sie ja nur einfach nein zu sagen, ohne sich darüber viel zu kränken. Aber sie werde sich die Sache gewiß überlegen, bevor sie durch eine unerklärliche Weigerung ihre Stellung aufs Spiel setze. Sei es denn gar so schrecklich? ... Und die kleine Predigt schloß mit einem heiteren Geflüster, als man plötzlich vom Gang her Schritte vernahm.
Pauline war aufgestanden, um einen Blick durch die Tür zu werfen.
»Still, es ist Frau Aurélie«, flüsterte sie, »ich verschwinde ... Trocknen Sie sich die Augen; niemand braucht etwas zu wissen.«
Als Denise allein war, erhob sie sich und drängte gewaltsam ihre Tränen zurück; mit zitternden Händen schloß sie aus Furcht, daß man sie hier müßig überraschen könnte, das Klavier, das ihre Freundin offengelassen hatte. Sie hörte Frau Aurélie an ihre Tür klopfen; da trat sie auf den Gang.
»Wie, Sie sind aufgestanden?« rief die Abteilungsleiterin; »das ist sehr unvernünftig von Ihnen, mein liebes Kind. Ich bin heraufgekommen, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen und Ihnen zu sagen, daß wir unten auch ohne Sie fertig werden.«
Denise versicherte, daß es ihr besser gehe und ein wenig Beschäftigung ihr nur gut tun werde.
»Ich muß mich ja nicht anstrengen; ich werde mich auf einen Stuhl setzen und bei den Schreibarbeiten mittun.«
Beide gingen hinab. Frau Aurélie war sehr höflich und bat sie, sich auf ihre Schulter zu stützen. Sie hatte offenbar ihre geröteten Augen bemerkt und beobachtete sie heimlich. Sie war ohne Zweifel über so manches auf dem laufenden.
Denises Sieg in der Abteilung war, so unerwartet ihr selber das kam, nahezu vollständig. Nachdem sie in ihrer Anfangszeit Monate hindurch vergebens gegen die Böswilligkeit ihrer Umgebung angekämpft hatte, war es ihr jetzt in wenigen Wochen gelungen, sie zu beherrschen, alles um sich her entgegenkommend und achtungsvoll zu sehen. Dabei war ihr die plötzliche Aufmerksamkeit Frau Aurélies sehr behilflich gewesen. Man erzählte sich leise, daß die Abteilungsleiterin die Helfershelferin Mourets sei, daß sie ihm insgeheim gewisse heikle Dienste erweise; sie hatte das Mädchen unvermittelt mit solcher Wärme in Schutz genommen, daß man es ihr sicherlich ganz besonders empfohlen hatte. Allein auch Denise hatte alles aufgeboten, um ihre Feindinnen zu entwaffnen. Die Aufgabe war um so schwieriger, als sie die allgemeine Entrüstung über ihre Ernennung zur Zweiten beschwichtigen mußte. Die Verkäuferinnen sprachen laut von Ungerechtigkeit und beschuldigten sie, sie habe dem Chef diesen Posten beim Nachtisch abgeschwatzt, und fügten ganz abscheuliche Einzelheiten hinzu. Doch trotz ihrer Empörung imponierte ihnen der neue Rang des Mädchens.
Denise gewann eine Autorität, welche die feindseligsten unter ihnen in Erstaunen setzte und beugte. Ihre Bescheidenheit und ihre Sanftmut vervollständigten den Erfolg. Claire allein blieb bei ihrer ablehnenden Haltung. Während der kurzen Laune Mourets hatte sie die Lage dazu mißbraucht, ihre Arbeit zu vernachlässigen; als er ihrer überdrüssig ward, beklagte sie sich nicht, denn bei ihrem zügellosen Dasein kannte sie keine Eifersucht; sie begnügte sich damit, aus der Geschichte den Vorteil zu ziehen, daß man sie im Hause duldete, obgleich sie nichts tat. Allein sie dachte doch, Denise habe sie um die Nachfolge von Frau Frédéric gebracht. Sie hätte diese Stelle ja niemals angenommen, versicherte sie; es sei viel zu viel Mühsal damit verbunden. Aber was sie ärgerte, war, daß man sie überging; sie hatte die gleichen Ansprüche, ja sogar ältere als die andere!
»Schau, die Wöchnerin wird ausgeführt«, spöttelte sie, als Denise am Arm von Frau Aurélie eintrat.
Marguerite zuckte die Achseln und sagte:
»Kein besonders guter Witz, den Sie da gemacht haben.«
Zuvorkommend wandte sie sich dann an Denise.
»Warum sind Sie denn heruntergekommen? Wir sind doch Leute genug.«
»Das habe ich ihr auch gesagt«, erklärte Frau Aurélie. »Aber sie wollte durchaus helfen.«
Alle eilten herbei, um sich Denise gefällig zu zeigen; die Arbeit wurde dadurch unterbrochen. Man beglückwünschte sie und wollte alles über ihre Krankheit wissen. Endlich ließ Frau Aurélie sie auf einem Stuhl vor einem Tisch Platz nehmen; es wurde ausgemacht, daß sie nur die ausgerufenen Artikel aufschreiben solle. Bei solchen Inventuren wurden alle Angestellten, die schreiben konnten, herangezogen: Inspektoren, Kassierer, Verkäufer, ja selbst die Laufburschen. Diese Leute wurden dann auf die verschiedenen Räume verteilt, damit die Arbeit rascher vonstatten ging. Denise fand den Kassierer Lhomme und den Laufburschen Joseph an ihrer Seite, beide über große Bogen Papier gebeugt.
»Fünf Mäntel, Tuch, mit Pelzbesatz, Größe drei, zu zweihundertfünfzig Franken«, rief Marguerite. »Viermal dasselbe, Größe eins, zu zweihundertzwanzig.«
Die Arbeit ging wieder an. Drei Verkäuferinnen hinter Marguerite waren damit beschäftigt, die Schränke auszuleeren; dann ordneten sie die Artikel vor und reichten sie ihr in ganzen Packen hin. Wenn Marguerite ihrerseits sie ausgerufen hatte, warf sie sie auf die Tische, wo sie sich allmählich zu riesigen Stößen türmten. Lhomme schrieb auf, und Joseph legte zur Kontrolle eine zweite Liste an. Inzwischen war Frau Aurélie, von drei anderen Verkäuferinnen unterstützt, damit beschäftigt, die Seidenkleider zusammenzuzählen, die Denise aufnahm. Claire war damit betraut, die erledigten Stapel zu überwachen und zu ordnen, damit sie auf den Tischen so wenig Platz wie möglich einnahmen. Aber sie war ganz und gar nicht bei der Arbeit, einzelne Stöße fielen bereits auseinander.
»Sagen Sie mal«, fragte sie eine Verkäuferin, die im Laufe des Winters eingetreten war, »werden Sie auch Gehaltserhöhung bekommen? Denken Sie bloß, die Zweite soll auf zweitausend heraufgesetzt werden, und das macht mit ihrer Verkaufsprovision siebentausend Franken!«
Ohne in der Arbeit innezuhalten, erklärte die andere, daß sie die Bude im Stich lassen wolle, wenn man ihr nicht achthundert Franken gebe. Die Gehaltserhöhungen fanden gewöhnlich am Tag nach der Inventur statt; an diesem Tag bekamen auch die Abteilungsleiter ihren Anteil am Mehrgewinn gegenüber dem Vorjahr. Diese Geldfragen beschäftigten daher einen jeden während der Arbeit. Man flüsterte sich zu, daß Frau Aurélie auf fünfundzwanzigtausend Franken kommen werde. Diese Summe versetzte die Mädchen in höchste Aufregung. Marguerite, die beste Verkäuferin nach Denise, hatte es auf fünfzehnhundert Franken feste Bezahlung und dreitausend Provision gebracht, während Claire alles in allem nur zweitausendfünfhundert Franken erreichte.
»Ich kümmere mich wenig um die Gehaltsaufbesserung«, meinte diese. »Wenn mein Vater einmal tot ist, lasse ich sie alle sitzen ... Mich ärgern nur die siebentausend Franken dieser Vogelscheuche.«
Frau Aurélie unterbrach plötzlich dieses Gespräch.
»Schweigen Sie doch, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!«
Dann fuhr sie fort auszurufen:
»Sieben Rokokomäntel, Größe eins, zu hundertdreißig! Drei Pelzumhänge Surah, Größe zwei, zu hundertfünfzig. Haben Sie geschrieben, Fräulein Denise?«
Claire mußte sich wieder mit den auf den Tischen liegenden Kleidungsstücken beschäftigen; sie schob sie weiter, um Platz zu gewinnen. Doch bald ließ sie ihre Arbeit von neuem im Stich, um mit einem Verkäufer zu sprechen, der aus seiner Abteilung heraufgekomemn war. Es war Mignot, der zwanzig Franken von ihr leihen wollte. Er war ihr schon dreißig schuldig, die er nach einem Wettrennen, wo er sein ganzes Geld auf ein Pferd gesetzt und verloren hatte, von ihr geborgt hatte. Claire trug nicht mehr als zehn Franken bei sich, die sie ihm aber bereitwillig gab.
Sie plauderten noch eine Weile, dann beugte sich Mignot, der seine zwanzig Franken brauchte, zu Lhomme, um den Rest von ihm zu verlangen. Der Kassierer, in seiner Schreiberei gestört, schien sehr verlegen. Er wagte aber nicht, die Bitte abzuschlagen, und suchte in seinem Portemonnaie nach einem Zehnfrankenstück, als Frau Aurélie, überrascht, daß sie Marguerites Stimme nicht mehr hörte, sich umwandte und Mignot erblickte. Da begriff sie. Sie sandte ihn schroff in seine Abteilung zurück; er brauche nicht hierherzukommen, um die Damen von der Arbeit abzuhalten. In Wahrheit hatte sie Angst vor dem jungen Mann, der ein intimer Freund ihres Sohnes Albert und der Mitschuldige an allerlei bösen Streichen war, die, wie sie befürchtete, eines Tages ein schlimmes Ende nehmen würden. Als er seine zehn Franken hatte und davongegangen war, sagte Frau Aurélie zu ihrem Mann:
»Du wirst dich hoffentlich von diesem Gecken nicht an der Nase herumführen lassen.«
»Aber ich konnte ihn wirklich nicht abweisen ...«
Sie zuckte nur die Achseln. Als sie sah, daß die Verkäuferinnen sich über diese kleine häusliche Auseinandersetzung lustig machten, fuhr sie mit strenger Miene fort:
»Vorwärts, Fräulein Marguerite, Sie schlafen ja ein; so werden wir niemals fertig.«
Lhomme hatte sich wieder über seinen Bogen gebeugt und schrieb. Man hatte allmählich seine Bezüge auf neuntausend Franken erhöht, aber er bewahrte noch immer die alte Unterwürfigkeit gegenüber seiner Frau, die das Dreifache ins Haus brachte.
So ging die Arbeit wieder ungestört fort, ständig wurden Zahlen ausgerufen, mit dumpfem Geräusch fielen die Kleiderpacken auf die Tische. Inzwischen hatte Claire eine neue Zerstreuung gefunden. Sie neckte Joseph, den Laufburschen, wegen einer Liebschaft, die er angeblich mit einem in der Stoffmusterabteilung angestellten Fräulein angeknüpft hatte. Dieses Fräulein, achtundzwanzig Jahre alt, mager und blaß, war ein Schützling von Frau Desforges. Sie hatte Mouret eine wahre Trauergeschichte über dieses Mädchen erzählt: sie sei eine Waise, die Letzte aus dem Geschlecht der Fontenailles, einer adeligen Familie aus dem Poitou. Sie sei mit ihrem Trunkenbold von Vater nach Paris gekommen, aber trotz ihrer Armut ehrbar geblieben; leider sei sie nicht genügend ausgebildet, um sich als Gouvernante oder als Klavierlehrerin fortzubringen. Mouret wollte meistens nichts davon wissen, wenn man ihm arme Mädchen von vornehmer Herkunft empfahl; seiner Meinung nach gab es keine unfähigeren, unerträglicheren, unbrauchbareren Geschöpfe. Er nahm indessen Frau Desforges' Schützling doch auf. Fräulein von Fontenailles verdiente in der Stoffmusterabteilung täglich drei Franken, gerade genug, um in einem Kämmerchen in der Rue d'Argenteuil ihr Leben zu fristen. Ihre traurige Miene, ihre dürftige Kleidung hatten endlich Josephs Herz gerührt. Er gestand seine Leidenschaft nicht ein, aber er errötete, wenn die Mädchen aus der Konfektionsabteilung mit ihm ihren Scherz trieben; denn die Stoffmusterabteilung befand sich in einem benachbarten Raum, und man hatte ihn immer wieder vor der Tür herumlungern sehen.
»Joseph läßt sich so leicht ablenken«, flüsterte Claire, »seine Nase kehrt sich immer wieder nach der Wäscheabteilung.«
Fräulein von Fontenailles half im Augenblick dort bei der Inventur. Da Joseph in der Tat fortwährend nach dieser Abteilung blickte, begannen die Mädchen zu lachen. Er geriet in Verlegenheit und versenkte sich ganz in seine Listen, während Marguerite, um die Lachlust zu unterdrücken, die in ihr aufstieg, weiter, so laut sie konnte, ihre Zahlen schrie.
»Vierzehn Jacken, englisches Tuch, Größe zwei, zu fünfzehn Franken!«
Frau Aurélie wandte sich mit majestätischer Miene zu ihr um und sagte:
»Etwas leiser, Fräulein, wir sind doch nicht in der Markthalle ... Sie sind wirklich alle miteinander nicht recht gescheit, daß Sie sich mit solchen Kindereien unterhalten; die Zeit ist doch zu kostbar.«
In diesem Augenblick ereignete sich eine Katastrophe, weil Claire nicht mehr aufgepaßt hatte. Die Mäntel gerieten ins Rutschen und zogen sämtliche Stöße nach sich. Alles, was auf dem Tisch gelegen hatte, glitt auf den Boden hinunter, und im Nu lagen die verschiedenen Haufen kunterbunt übereinander.
»Da haben wir's, ich habe es ja gesagt«, rief die Direktrice außer sich. »Passen Sie doch ein wenig auf, Fräulein Claire; es ist ja nicht zum Aushalten!«
Da fuhr mit einemmal alles zusammen: Mouret und Bourdoncle erschienen auf ihrer Besichtigungsrunde in der Abteilung. Man hörte die Stimmen wieder hell ausrufen und die Federn kritzeln, während Claire sich beeilte, die Kleidungsstücke vom Boden aufzuheben. Der Chef unterbrach die Arbeit nicht, er blieb schweigend stehen. Als er Denise sah, machte er eine erstaunte Bewegung. Weshalb war sie denn heruntergekommen? schien er zu fragen. Seine Blicke begegneten denen Frau Aurélies. Nach kurzem Zögern entfernte er sich und ging in die nächste Abteilung.
Denise hatte, durch den plötzlichen Eifer ringsum aufmerksam gemacht, den Kopf gehoben, sich aber, als sie Mouret erkannte, gleich wieder über ihre Blätter gebeugt. Seit sie so am Schreiben war, hatte ihre Aufregung sich ein wenig gelegt, sie war ganz bei der Arbeit, entschlossen, ihr Herz zum Schweigen zu bringen und zu tun, was ihr richtig erschien.
Es schlug zehn Uhr, das Getöse im Haus nahm zu; inmitten dieses Lärms durchlief eine Nachricht mit unglaublicher Schnelligkeit alle Abteilungen: jeder Angestellte wußte bereits, daß der Chef am Morgen Denise geschrieben und sie zum Essen eingeladen hatte. Pauline hatte unvorsichtigerweise ein Wort fallen lassen. Als sie heruntergekommen war, hatte sie in der Spitzenabteilung Deloche getroffen, und ohne zu bemerken, daß Li[/e]nard in der Nähe war, hatte sie ihm die Neuigkeit erzählt.
»Nun ist's passiert, mein Lieber, sie hat soeben einen Brief erhalten, er lädt sie für heute abend ein.«
Deloche wurde blaß. Er hatte begriffen, denn er fragte Pauline des öfteren aus; sie plauderten alle Tage von ihrer gemeinsamen Freundin, von der Liebeslaune Mourets, von der berüchtigten Einladung, mit der das Abenteuer enden mußte. Sie schalt ihn übrigens aus wegen seiner heimlichen Liebe zu Denise, bei der er niemals etwas erreichen werde, und sie zuckte die Achseln, als er jetzt sagte, das junge Mädchen habe ganz recht, daß es dem Chef Widerstand leiste.
»Ihr Bein ist wieder gesund, sie kommt herunter«, fuhr Pauline fort. »Machen Sie doch keine solche Leichenbittermiene ... Es ist ein Glück für sie, was jetzt geschieht.«
Damit eilte sie in ihre Abteilung zurück.
»Aha!« sagte Liénard; »es handelt sich um das Fräulein mit dem kranken Fuß!... Nun, da hatten Sie ja allen Grund, sie gestern abend im Café so warm zu verteidigen!«
Hierauf ging auch er, und ehe er in seiner Wollwarenabteilung angelangt war, hatte er die Geschichte weiteren vier oder fünf Angestellten erzählt, und in weniger denn zehn Minuten machte sie die Runde durch alle Abteilungen.
Die letzte Bemerkung Liénards bezog sich auf eine Szene, die sich am Abend vorher im Café Saint-Roch zugetragen hatte. Deloche und Liénard waren seit kurzem eng befreundet. Deloche hatte Hutins Zimmer im Hotel Smyrna übernommen, als dieser zum Zweiten ernannt worden war und sich eine Dreizimmerwohnung gemietet hatte. Die beiden Angestellten kamen jeden Morgen zusammen ins »Paradies der Damen« und gingen am Abend miteinander fort. Ihre Zimmer lagen nebeneinander, und sie vertrugen sich trotz der Verschiedenheit der Charaktere recht gut. Nur in einem Punkt waren sie einander ähnlich: in ihrer Ungeschicklichkeit als Verkäufer, die ihnen jede Hoffnung auf ein Vorwärtskommen nahm. Wenn sie das Geschäft verließen, gingen sie ins Café Saint-Roch, das abends von dem geräuschvollen Treiben der Verkäufer erfüllt war. In einem Winkel links saß dann Liénard und ließ sich köstliche Sachen geben, denn er wurde von seinem Vater unterstützt, während Deloche sich mit einem Glas Bockbier begnügte, mit dem er vier Stunden hinbrachte. Hier nun hatte er gestern gehört, wie Favier an einem benachbarten Tisch abscheuliche Dinge über Denise erzählte, über die Art, wie sie den Chef »eingefangen« habe, indem sie die Röcke aufhob, wenn sie vor ihm die Treppe hinaufging. Deloche hatte an sich halten müssen, um ihn nicht zu ohrfeigen. Als der andere aber fortfuhr und behauptete, daß Denise jede Nacht zu ihrem Geliebten hinuntergehe, geriet Deloche in die höchste Wut und nannte Favier einen Lügner.
»Dieser widerliche Kerl! Er lügt, hören Sie, er lügt! Ich kenne sie! Ich weiß es ganz genau ... Sie hat nur für einen Mann in ihrem Leben etwas empfunden, das war Hutin, und der hat nicht einmal etwas gewußt davon; er kann sich nicht rühmen, sie auch nur mit einem Finger berührt zu haben!«
Das ganze Geschäft belustigte sich nun über diesen Streit, von dem die übertriebensten Schilderungen gegeben wurden, als die Geschichte von dem Brief Mourets die Runde machte. Liénard hatte sie zunächst einem Seidenverkäufer anvertraut. In dieser Abteilung ging die Inventur rasch vonstatten. Favier und zwei Angestellte leerten die Fächer und reichten die Stoffe Hutin, der mitten auf einem Tisch stehend die Angaben auf den Auszeichnungsanhängern ausrief. Dann warf er die Stücke zur Erde. Nach und nach bedeckten sie das ganze Parkett und bildeten einen immer größeren Haufen. Gerade rief der Zweite: »Phantasieseide, kleinkariert, einundzwanzig Meter zu sechs Franken fünfzig!«
Das Stück wanderte zu den übrigen auf den Boden, und Hutin setzte das Gespräch fort, das er mit Favier begonnen hatte.
»Also er wollte Sie prügeln?«
»Freilich, ja! ... Es war wohl der Mühe wert, mich Lügen zu strafen! Die Kleine hat soeben einen Brief vom Chef erhalten, der sie zum Essen einlädt, man spricht schon im ganzen Haus davon.«
»Wie, ist die Sache nicht längst soweit?«
Favier reichte ihm ein neues Stück.
»Nicht wahr, man hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt! Das schien doch eine uralte Geschichte zu sein.«
»Dasselbe, fünfundzwanzig Meter!« schrie Hutin dazwischen. Man hörte das Stück dumpf zur Erde fallen. Dann fuhr er leise fort:
»Sie wissen doch, sie hat da drüben auch nicht schlecht gelebt bei dem alten Narren Bourras ...«
Jetzt beteiligte sich die ganze Abteilung an der Unterhaltung, ohne daß deshalb die Arbeit gelitten hätte. Bouthemont selbst konnte sich nicht enthalten, einen abgeschmackten Scherz zu wagen. Albert, der heute hier aushalf, versicherte, er habe die Zweite aus der Konfektionsabteilung mit zwei Soldaten gesehen. Eben kam Mignot herab mit den zwanzig Franken, die er sich geborgt hatte. Er blieb bei Albert stehen, steckte ihm ein Zehnfrankenstück zu. und besprach mit ihm ein Stelldichein für den Abend; als auch er die Geschichte mit dem Brief erfuhr, machte er einen so derben Witz, daß Bouthemont sich endlich genötigt sah, dazwischenzutreten.
»Genug, meine Herren, das geht uns nichts an. Vorwärts, Herr Hutin!«
»Phantasieseide, kleinkariert, zweiunddreißig Meter zu sechs Franken fünfzig!« rief dieser.
Wieder fuhren die Federn fleißig über das Papier, die notierten Stücke fielen zu Boden, der Haufen wurde immer größer. Die Liste der Phantasieseide wollte kein Ende nehmen. Favier bemerkte halblaut, das sei ja ein prächtiger Vorrat; die Geschäftsleitung werde nicht sonderlich entzückt sein. Dieser dumme Bouthemont sei vielleicht der beste Einkäufer in Paris, aber als Verkäufer sei er nicht viel wert. Hutin lächelte entzückt und gab mit einem Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen, denn nachdem ausgerechnet er Bouthemont beim »Paradies der Damen« eingeführt hatte, um Robineau zu verdrängen, unterminierte er nun dessen Posten, um ihn für sich selbst zu erlangen. Es war der gleiche Krieg wie ehemals, gemeine Verleumdungen, die man den Vorgesetzten zuflüsterte, übertriebener Eifer, um den eigenen Wert besser hervortreten zu lassen, kurz, ein ganz hinterhältiger Feldzug.
Favier hinwiederum, gegen den Hutin nun von neuem sehr herablassend war, wartete nur darauf, daß der andere Bouthemont verschluckte, um dann seinerseits Hutin aufzufressen. Er hoffte, den Platz des Zweiten zu erhalten, falls es Hutin gelang, Bouthemont zu verdrängen. Dann würde man schon sehen.
Sie unterhielten sich weiter von den voraussichtlichen Gehaltserhöhungen, ohne deswegen ihre Arbeit zu unterbrechen. Man schätzte die Einkünfte Bouthemonts dieses Jahr auf dreißigtausend Franken; Hutin würde mehr als zehntausend bekommen, Favier rechnete einschließlich Provision mit fünftausendfünfhundert. Die Abteilung machte von Jahr zu Jahr bessere Geschäfte, und die Angestellten stiegen demzufolge in ihren Bezügen immer höher.
»Sind wir noch nicht fertig mit diesen Phantasieseiden?« rief Bouthemont ärgerlich. »Wir haben aber auch einen sauberen Frühling dieses Jahr! Nichts als Regen! Alles kauft schwarze Seide.«
Sein breites, sonst so vergnügtes Gesicht verdüsterte sich; er sah den Haufen auf der Erde immer größer werden, während Hutin fortfuhr, mit heller, triumphierender Stimme auszurufen:
»Phantasieseide, kleinkariert, achtundzwanzig Meter zu sechs Franken fünfzig!«
Es war noch ein ganzes Fach voll da. Favier war müde und beeilte sich darum nicht sehr. Während er Hutin die letzten Stücke reichte, sagte er leise:
»Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu erzählen: man spricht davon, daß die Zweite der Konfektionsabteilung in Sie vernarrt gewesen sei.«
Der junge Mann war sehr überrascht.
»Wie, was?« fragte er.
»Ja, dieser Gimpel Deloche hat das Geheimnis verraten. Ich erinnere mich aber jetzt, daß sie Ihnen früher immer auf der Spur war.«
Seit Hutin zum Zweiten aufgerückt war, gab er sich nicht mehr mit seinen Tingeltangelsängerinnen ab, sondern prahlte, daß er jetzt mit Gouvernanten und Lehrerinnen verkehre. Obwohl er sich sehr geschmeichelt fühlte, erwiderte er mit geringschätziger Miene:
»Ich mag die Weiber lieber etwas mehr gepolstert. Und dann gehe ich nicht mit der erstbesten wie unser Herr Chef.«
Er unterbrach sich, um auszurufen:
»Weiße Seide, fünfunddreißig Meter zu acht Franken fünfundsiebzig!«
»Ah, endlich!« murmelte Bouthemont erleichtert.
Gerade wurde eine Glocke geläutet: es ging zum zweiten Tisch, dem auch Favier angehörte. Er stieg von der Leiter herab, und ein anderer nahm seine Stelle ein. In allen Abteilungen war mittlerweile der Boden mit Waren bedeckt; die Fächer, die Kartons, die Schränke leerten sich allmählich, während die erfaßten Artikel auf allen Seiten sich häuften und unter den Füßen und zwischen den Tischen unaufhörlich anwuchsen. Dazwischen tönte das fortwährende Geschrei der Stimmen, die Zahlen um Zahlen ausriefen.
Favier arbeitete sich mühsam zwischen den Warenhaufen hindurch und begab sich in die Speisesäle, die seit der Erweiterung des Hauses in das vierte Stockwerk des Neubaus verlegt waren. Vor ihm gingen Deloche und Liénard die Treppe hinauf; ihm auf dem Fuß folgte Mignot.
»Alle Wetter!« rief Favier, als sie vor der Tafel mit der Speisekarte standen, »man sieht, daß heute Inventur ist! Ein wahres Fest! Huhn oder Hammelkeulenschnitten und Artischocken in Öl! Die Hammelkeule wird schön hinten runterfallen.«
Mignot seinerseits bemerkte höhnisch:
»Da scheint irgendwo die Geflügelpest ausgebrochen zu sein.«
Deloche und Liénard hatten inzwischen ihre Portionen genommen und gingen in den Speisesaal; Favier neigte sich zum Schalter hinunter und rief laut:
»Huhn!«
Allein er mußte warten, denn einer der Küchenjungen, der das Geflügel zerlegte, hatte sich in den Finger geschnitten.
»Huhn!« wiederholte Favier ungeduldig.
Dann wandte er sich zu Mignot und sagte:
»Da hat sich einer in den Finger geschnitten; ekelhaft, so was!«
Nach einer Weile erschien der Koch mit einer Pfanne und spießte ihm einen Schenkel auf.
»Endlich!« murmelte Favier.
Den Speisesaal der Verkäufer bildete jetzt ein ungeheurer Saal, in dem fünfhundert Gedecke bequem Platz fanden. Sie waren auf langen, parallel stehenden Tafeln aufgelegt, an den beiden Enden des Raumes standen die Tische für die Inspektoren und die Abteilungsleiter, in der Mitte befand sich ein Büfett für zusätzliche Speisen. Große Fenster rechts und links ließen volles, helles Licht herein. An den Wänden bildeten die Serviettenschränke den einzigen Schmuck. An diesen Speisesaal stieß ein anderer, der für die Laufburschen und die Kutscher bestimmt war, wo es aber keine regelmäßigen Mahlzeiten gab; die Leute wurden bedient, wie sie kamen.
»Wie, Mignot, Sie haben auch einen Schenkel?« sagte Favier, als sie sich an einem der Tische einander gegenüber niedergelassen hatten.
Auch die anderen Angestellten trafen mittlerweile ein und nahmen ringsum Platz. Es war kein Tischtuch aufgelegt, und die Teller gaben ein dumpfes Geklapper auf den eichenen Tischen. Alle waren erstaunt, denn die Anzahl der verteilten Schenkel war in der Tat sehr groß.
»Das ist wirklich ein merkwürdiges Geflügel, das nichts als Beine hat«, bemerkte Mignot.
Diejenigen, die Rumpfstücke bekommen hatten, ärgerten sich, und doch war das Essen seit der Neueröffnung weit besser geworden. Moutet hatte keinen Vertrag mehr mit einem Unternehmer, sondern führte die Küche selbst; er hatte daraus eine Abteilung gemacht wie die übrigen, mit einem Leiter, mehreren Gehilfen und einem Inspektor. Und wenn die Kost jetzt größere Auslagen verursachte, so arbeitete dafür das besser genährte Personal auch mehr. Diese wohlberechnete Menschlichkeit hatte Bourdoncle ganz aus der Fassung gebracht.
Deloche saß zwischen Baugé und Liénard, Favier fast gegenüber. Sie schleuderten einander gehässige Blicke zu. Ihre Nachbarn flüsterten über den Streit vom Tag vorher. Schließlich lachte alles über das Mißgeschick Deloches, der immer am hungrigsten war und immer das schlechteste Stück bekam. Diesmal hatte er einen Hals erwischt.
Ruhig und still ließ er diese Scherze über sich ergehen; er verschlang große Bissen Brot, während er den Hühnerknochen abschabte mit der Sorgfalt eines Menschen, der den Wert eines Stückchens Fleisch zu schätzen weiß.
»Warum beschweren Sie sich nicht?« fragte Baugé.
Deloche zuckte die Achseln.
»Was nützt das?« sagte er, »Wenn man sich beschwert, wird es noch schlimmer.«
Es dauerte nicht lange, bis Favier wieder bei seinem Lieblingsthema war.
»Wissen Sie schon das Neueste?« sagte er zu seinem Nachbarn zur Rechten. »Er hat sie zum Essen eingeladen.«
Der ganze Tisch wußte es; man hatte seit dem Morgen bereits zum Überfluß davon gesprochen. Die gleichen Scherze gingen von Mund zu Mund. Deloche war wieder ganz blaß geworden. Er schaute die andern an; seine Augen hafteten schließlich auf Favier, der wiederholte:
»Wenn er sie noch nicht gehabt hat, so kriegt er sie jetzt. Und er ist nicht der erste, o nein! ...«
Nun blickte er seinerseits auf Deloche, dann fügte er herausfordernd hinzu:
»Wer ein Freund von Knochen ist, kann sie für hundert Sous haben.«
Doch plötzlich duckte er den Kopf.
Deloche, einer unwiderstehlichen Regung nachgebend, schüttete ihm ein volles Glas Wein ins Gesicht.
»Schmutziger Lügner! Das hättest du schon gestern verdient!«
Jetzt gab es großes Aufsehen. Einige Tropfen Wein waren auf die Nachbarn gespritzt, Favier selbst waren nur die Haare ein wenig naß geworden. Alle waren wütend. Schlief Deloche denn mit ihr, daß er sie so in Schutz nahm? Dieser Narr! Er hätte ein paar Ohrfeigen verdient, damit er lernte, wie man sich in Gesellschaft benahm. Indessen wurde es bald wieder still, denn der Inspektor nahte, und es war überflüssig, daß er von diesem Streit erfuhr. Favier begnügte sich mit der Bemerkung:
»Das hätte einen schönen Tanz gegeben, wenn er mich richtig getroffen hätte.«
Schließlich ging die Sache in Sticheleien unter.
Deloche saß unbeweglich auf seinem Stuhl; er nahm keine Kenntnis von den Scherzen, die auf seine Kosten gemacht wurden, er bereute, was er getan hatte. Diese Leute hatten ganz recht: mit welchem Recht verteidigte er sie? Nun würde man das Schlimmste glauben. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt, weil er Denise bloßgestellt hatte, indem er sie schützen wollte. Die Tränen traten ihm in die Augen. War es denn nicht auch seine Schuld, daß schon das ganze Haus von dem Brief sprach, den der Chef ihr geschrieben hatte? Er hörte sie rohe Witze reißen über diese Einladung und beschuldigte sich selbst; er hätte Pauline nicht vor Liénard sprechen lassen sollen. Er machte sich allein verantwortlich für alles.
»Warum haben Sie die Geschichte weitererzählt?« fragte er Liénard vorwurfsvoll. »Das war schlecht von Ihnen.«
»Ich habe sie nur einem oder zweien erzählt«, erwiderte Liénard, »und habe verlangt, sie sollten es für sich behalten. Aber man weiß nie, wie so etwas weiterläuft.«
Das Mahl war zu Ende: die Verkäufer saßen auf ihren Stühlen, harrten des Glockenzeichens und unterhielten sich. Der Lärm der Stimmen war so laut, daß die Glocke, als sie schließlich ertönte, nur von den bei der Tür Sitzenden gehört wurde. Allmählich erhoben sich alle und begaben sich in langer Reihe über den Flur wieder in die Geschäftsräume hinab.
Deloche war als einer der letzten fortgegangen, um die nicht enden wollenden Spötteleien nicht zu hören. Selbst Baugé war schon weg, der sonst immer der letzte war. Er machte gewöhnlich einen Umweg, um Pauline in dem Moment zu begegnen, da diese sich in den Speisesaal der Verkäuferinnen begab. Sie hatten dieses Manöver verabredet; es war das einzige Mittel, sich während der langen Arbeitsstunden kurz zu sehen.
Als sie sich an diesem Tag begegneten und sich in einem Winkel des Korridors eben herzhaft küßten, wurden sie von Denise überrascht, die ebenfalls zum Essen kam. Sie ging ziemlich unbeholfen wegen ihres schmerzenden Fußes.
»Oh, meine Liebe!« stammelte Pauline hoch errötend, »sagen Sie nichts, bitte!«
Selbst Baugé, dieser Koloß, zitterte an allen Gliedern wie ein kleiner Junge. Er flüsterte:
»Sie würden uns sonst hinauswerfen. Wenn auch unser Aufgebot schon bestellt ist, so begreifen diese Kerle doch nicht, daß man sich hier und da einen Kuß geben will.«
Sehr verlegen tat Denise, als habe sie gar nichts gesehen. Baugé entfloh gerade, als Deloche, der als letzter herabkam, erschien. Er wollte sich entschuldigen und stammelte allerlei, was Denise nicht sogleich begriff. Als er aber Pauline Vorwürfe machte, daß sie in Gegenwart Liénards gesprochen habe, und Pauline offensichtlich ein schlechtes Gewissen hatte, begriff Denise endlich das Geflüster, das schon seit dem Morgen hinter ihr herlief. Die Geschichte mit dem Brief ging um! Sie schrak wieder zusammen wie in dem Augenblick, als sie ihn erhalten hatte. Es war ihr, als stünde sie nackt und bloß vor all diesen Männern da.
»Ich wußte nicht, daß Liénard in der Nähe war«, stammelte Pauline. »Übrigens ist ja nichts Schlimmes dabei! ... Läßt man die Leute eben reden; sie platzen ja alle nur vor Neid!«
»Ich bin Ihnen gar nicht böse, meine Liebe«, sagte Denise mit ihrer ruhigen Besonnenheit. »Sie haben nur die Wahrheit gesagt. Ich habe einen Brief erhalten, und es ist meine Sache, darauf zu antworten.«
Deloche entfernte sich tiefbekümmert, denn er entnahm daraus, daß Denise die Einladung annehmen und sich zum Abendessen einfinden werde.
Als Denise nach Tisch in die Konfektionsabteilung zurückkehrte, war Marguerite unter der Aufsicht von Frau Aurélie eben damit beschäftigt, die letzten Stücke auszurufen. Nun blieb nur noch die Kontrolle; um bei dieser Tätigkeit Ruhe zu haben, zog sich Frau Aurélie in die Stoffmusterabteilung zurück, wohin sie Denise mitnahm.
»Kommen Sie, wir wollen vergleichen; dann können Sie addieren.«
Allein da sie die Tür offenließ, um die Arbeitenden besser überwachen zu können, drang der Lärm herein, und man verstand auch in diesem Raum nur schwer. Es war ein großer, quadratischer Saal; die ganze Einrichtung bestand aus drei langen Tischen und zahllosen Stühlen. In einer Ecke stand die große Schneidemaschine für die Stoffmuster. Ganze Ballen wurden da zerschnitten; für sechzigtausend Franken wurden jährlich Probesendungen in alle Welt geschickt.
»Leiser, meine Damen«, rief von Zeit zu Zeit Frau Aurélie, die nicht hören konnte, was Denise ansagte.
Als das Vergleichen der ersten Listen beendet war, ließ Frau Aurélie Denise allein, damit sie ungestört addieren konnte. Sie kehrte aber bald wieder zurück und brachte Fräulein von Fontenailles mit, die Denise helfen sollte. Die Erscheinung der »Marquise« – wie Ciaire sie boshafterweise stets nannte – brachte die ganze Abteilung in Aufruhr. Man lachte und scherzte über Joseph; es fielen grausame Worte, die man durch die offene Tür hörte.
Plötzlich verstummte das Gelächter, die Arbeit nahm wieder ihren regelmäßigen Fortgang. Mouret machte von neuem seinen Rundgang durch die Abteilungen. Er war überrascht, Denise nicht in der Konfektionsabteilung zu finden, und winkte Frau Aurélie herbei; sie traten beiseite und sprachen leise miteinander. Er mußte sie wohl gefragt haben, denn sie wies mit den Augen nach dem Stoffmustersaal und schien ihm Bericht zu erstatten. Ohne Zweifel erzählte sie ihm, daß das Mädchen am Morgen geweint habe.
»Gut«, sagte Mouret dann laut. »Zeigen Sie mir die Listen!«
»Sie sind da drinnen«, erwiderte Frau Aurélie; »wir mußten uns vor dem Lärm zurückziehen.«
Er folgte ihr in den benachbarten Raum. Ciaire ließ sich durch das Manöver nicht täuschen; sie murmelte vor sich hin, es wäre doch besser, gleich ein Bett zu holen. Allein Marguerite warf ihr immer rascher die Kleidungsstücke zu, um sie zu beschäftigen und ihr den Mund zu schließen. War denn die Zweite nicht wirklich eine gute Kameradin? Ihre Privatangelegenheiten gingen keinen etwas an. Die ganze Abteilung verbündete sich stillschweigend. Lhomme und Joseph schrieben eifrig, über ihre Listen gebeugt, und schienen nichts zu hören. Der Inspektor Jouve, der Frau Aurélies Manöver sehr wohl bemerkt hatte, ging jetzt vor der Tür des Stoffmustersaales auf und ab mit den regelmäßigen Schritten einer Schildwache, die über die Herzensaffären eines Vorgesetzten wacht.
»Geben Sie Herrn Mouret die Listen«, sagte Frau Aurélie beim Eintreten.
Denise reichte die Listen hin und blieb stehen, die Augen ruhig zu ihm aufgeschlagen. Sie war beim Eintritt Mourets zusammengefahren, hatte sich aber gleich wieder gefaßt; sie war sehr blaß, doch sie hielt auf ihrem Posten aus. Mouret schien sich eine Weile ganz in die Ziffern zu versenken, ohne einen Blick für das Mädchen zu haben. Es herrschte Schweigen. Frau Aurélie trat schließlich zu Fräulein von Fontenailles, die nicht einmal den Kopf umgewandt hatte, und sagte ihr leise ins Ohr:
»Gehen Sie nur hinüber; Sie sind ans Rechnen nicht gewöhnt.«
Fräulein von Fontenailles erhob sich und ging in die Konfektionsabteilung, wo sie mit vielsagendem Getuschel empfangen wurde. Joseph, der die spöttischen Blicke der Mädchen auf sich ruhen fühlte, war so verlegen, daß er einen Fehler nach dem anderen machte. Claire hinwiederum war zwar froh über die unerwartete Hilfe, allein in ihrem Haß gegen alles Weibliche im Haus konnte sie es nicht lassen, Fräulein von Fontenailles mit allerlei Sticheleien zu kränken. War das blöd, sich in einen Arbeiter zu verlieben, wenn man Marquise war!
»Sehr gut! Sehr gut!« wiederholte inzwischen Mouret im Nebenraum, während er tat, als lese er aufmerksam die Listen.
Frau Aurélie war in größter Verlegenheit, wie sie sich unter einem passenden Vorwand entfernen sollte. Sie trippelte hin und her und war wütend darüber, daß ihr Mann nichts erfand, um sie hinauszurufen. Aber der war ja im Ernstfall nie zu etwas zu gebrauchen. Schließlich war Marguerite so schlau, sie um eine Auskunft zu bitten.
»Ich komme gleich«, erwiderte die Abteilungsleiterin.
Als sie somit ihre Würde gewahrt sah und in den Augen der sie beobachtenden Mädchen einen Vorwand hatte, ließ sie Mouret und Denise endlich allein; sie trat mit einer solch königlichen Miene aus der Tür, daß keine ihrer Untergebenen auch nur zu lächeln wagte.
Mouret legte die Listen langsam auf den Tisch. Er betrachtete das junge Mädchen, das sich wieder gesetzt hatte.
»Werden Sie kommen?« fragte er sie endlich halblaut.
»Nein«, erwiderte sie; »ich kann nicht. Meine Brüder sind heute abend bei meinem Onkel drüben; ich habe versprochen, mit ihnen zu essen.«
»Aber Ihr Fuß? Das Gehen macht Ihnen doch Schmerzen!«
»So weit kann ich schon gehen; ich fühle mich seit heute morgen besser.«
Bei dieser ruhigen Weigerung war er blaß geworden, seine Lippen zuckten nervös. Er hielt indessen an sich und sagte mit der Miene des wohlmeinenden Chefs, der sich einer Angestellten freundlich erweisen will:
»Und wenn ich Sie bitte? Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze ...«
Denise bewahrte ihre achtungsvolle Haltung und antwortete:
»Ich bin sehr gerührt von Ihrer Güte und danke Ihnen für Ihre Einladung. Aber ich kann nicht; ich wiederhole: meine Brüder erwarten mich heute abend.«
Sie wollte ihn durchaus nicht verstehen. Die Tür war offengeblieben, und sie hatte das Gefühl, als dränge das ganze Geschäft sie, ja zu sagen. Pauline hatte sie wie ein dummes Gänschen behandelt, und die anderen würden sich gewiß über sie lustig machen, weil sie diese Einladung ausschlug. Frau Aurélie, die so taktvoll hinausgegangen war; Marguerite, deren Stimme sie immer lauter werden hörte; Lhomme, der ihr unbeweglich und verschwiegen den Rücken zukehrte: sie alle wollten ihren Fall, alle drängten sie sie dem Chef in die Arme.
Eine Weile schwiegen sie. Dann fragte Mouret:
»Wann werden Sie kommen? Morgen?«
Diese einfache Frage versetzte Denise in arge Verlegenheit. Sie verlor einen Augenblick ihre Ruhe und stotterte:
»Ich weiß nicht ... ich kann nicht ...«
Er lächelte und versuchte ihre Hand zu fassen, die sie ihm aber entzog.
»Was fürchten Sie denn?« fragte er.
Da blickte sie ihm gerade ins Gesicht und antwortete lächelnd und fest:
»Ich fürchte gar nichts, Herr Mouret ... Aber man tut doch nur, was man will, und ich will nicht!«
Wieder schwieg sie, als sie zu ihrer Überraschung ein Knarren hörte. Sie wandte sich um und sah, wie die Tür sich langsam schloß. Es war der Inspektor Jouve, der es auf sich genommen hatte, sie zuzumachen; die Türen gehörten zu seinem Ressort, keine durfte offenbleiben. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, nur Claire flüsterte Fräulein von Fontenailles, in deren Gesicht keine Wimper zuckte, ein freches Wort ins Ohr.
Mittlerweile hatte Denise sich erhoben. Da sagte Mouret mit leiser und bebender Stimme:
»Aber ich liebe Sie doch; Sie wissen es seit langer Zeit, treiben Sie kein grausames Spiel mit mir, als wüßten Sie es nicht ... Haben Sie keine Angst. Ich hatte schon zwanzigmal die Absicht, Sie in mein Arbeitszimmer zu rufen. Dort wären wir allein gewesen, ich hätte nur den Riegel vorzuschieben brauchen. Aber ich wollte nicht. Sie sehen ja, daß ich hier mit Ihnen spreche, wo jeder hereinkommen kann. Ich liebe Sie, Denise!«
Sie stand totenblaß vor ihm und hörte ihn an, während sie ihm immer noch ins Gesicht blickte.
»Warum weigern Sie sich? Haben Sie keine Wünsche? Ihre Brüder sind Ihnen doch eine schwere Last. Alles, was Sie von mir verlangen würden –«
Sie unterbrach ihn:
»Danke, ich verdiene jetzt mehr, als ich brauche.«
»Aber ich biete Ihnen alle Freiheit, ein Leben voll Vergnügen und Luxus, ich will Ihnen eine eigene Wohnung einrichten, ein kleines Vermögen schenken!«
»Nein, danke, ich würde mich langweilen, wenn ich nichts zu tun hätte. Ich war noch nicht zehn Jahre alt, als ich mir schon selbst meinen Lebensunterhalt verdiente.«
Er machte eine verzweifelte Bewegung; das war die erste, die ihm nicht nachgab. Er brauchte sich nur zu bücken, um die anderen aufzulesen, alle harrten sie als willfährige Dienerinnen seiner Launen, und diese eine sagte nein, ohne auch nur einen vernünftigen Grund anzugeben. Sein so lange zurückgehaltenes, durch den Widerstand nur noch mehr aufgestacheltes Verlangen brach jäh hervor. Vielleicht hatte er ihr nicht genug geboten? Er verdoppelte sein Anerbieten, er drang noch mehr in sie.
»Nein, nein, ich danke Ihnen«, erwiderte sie immer wieder.
Da stieß er wie einen Verzweiflungsschrei hervor:
»Sehen Sie denn nicht, daß ich leide? Ja, es ist albern, aber ich leide wie ein Kind!«
Seine Augen waren von Tränen feucht. Von neuem schwiegen sie; hinter der geschlossenen Tür hörte man das gedämpfte Geräusch der Inventurarbeiten.
»Und wenn ich es doch so gern möchte!« sagte er mit bebender Stimme und ergriff ihre Hände.
Sie überließ sie ihm, und ihre Blicke wurden matt, ihre Kräfte schwanden dahin. Von den warmen Händen dieses Mannes strömte eine Glut aus, die ihren ganzen Körper erfüllte und eine himmlische Schlaffheit erzeugte. Mein Gott, wie sehr liebte sie ihn, welche Wonne wäre es für sie gewesen, sich an seinen Hals zu werfen und an seiner Brust zu ruhen!
»Ich will es, ich will es!« wiederholte er ganz außer sich; »ich erwarte Sie heute abend, oder ich werde Maßnahmen ergreifen ...«
Er wurde grob. Sie stieß einen leisen Schrei aus; der Schmerz, den sie in den Handknöcheln fühlte, gab ihr den Mut wieder. Mit einem kräftigen Stoß machte sie sich frei. Hoch aufgerichtet sagte sie:
»Nein, lassen Sie mich, ich bin keine Claire, die man am andern Tag wieder stehen lassen kann. Übrigens lieben Sie ja eine Frau, diese Dame, die zuweilen hierherkommt. Bleiben Sie bei ihr, ich will nicht teilen.«
Er stand starr vor Überraschung; was sagte sie da, was wollte sie? Niemals hatten die Mädchen, die er in den verschiedenen Abteilungen aufgelesen hatte, danach gefragt, ob er sie allein liebte. Er hätte lachen mögen, aber diese keusch-stolze Haltung verwirrte ihn vollends.
»Machen Sie die Tür auf«, fuhr sie fort, »es gehört sich nicht, daß wir hier so eingeschlossen sind.«
Er gehorchte mit hämmernden Schläfen und wußte nicht, wie er seine Erregung verbergen sollte. Er rief Frau Aurélie herbei und wurde wütend über den großen Vorrat an Umhängen; man müsse den Preis herabsetzen, sagte er, und zwar so lange, bis kein einziger mehr vorrätig sei. Das war eine Regel des Hauses, jedes Jahr wurde Auskehr gehalten; man verkaufte lieber mit sechzig Prozent Verlust, als daß man ein altes Modell oder einen abgelegten Stoff am Lager behielt.
Mittlerweile erwartete ihn Bourdoncle, vor der geschlossenen Tür durch Jouve zurückgehalten, der ihm mit ernster Miene ein Wort ins Ohr geflüstert hatte. Er war ungeduldig, hatte aber doch nicht gewagt, den Chef zu stören. War es möglich? An einem solchen Tag und mit einem so erbärmlichen Geschöpf! Als Mouret endlich herauskam, berichtete ihm Bourdoncle von den Phantasieseiden, deren Vorrat noch enorm sei. Es war eine Erleichterung für Mouret, sich so recht austoben zu können. Wo hatte dieser Bouthemont seinen Kopf? Er könne nicht dulden, erklärte er im Weggehen, daß ein Einkäufer so unvernünftig sei, weit über den Bedarf hinaus zu kaufen.
»Was hat er denn?« flüsterte Frau Aurélie, ganz verwirrt über seine Vorwürfe.
Auch die Verkäuferinnen betrachteten einander mit überraschten Mienen. Um sechs Uhr war die Inventur zu Ende. In den einzelnen Abteilungen war es allmählich still geworden, man hörte nur noch hier und da Stimmen, die sich die letzten Angaben zuriefen. Schränke, Regale und Kästen waren jetzt leer, nicht ein Meter Stoff, nicht ein einziger Artikel war auf seinem Platz geblieben. Die weiten Räume zeigten nur das Gerippe ihrer Einrichtung, so weit man blickte, nichts als Gestelle. Auf dem Fußboden dagegen türmten sich Waren für sechzehn Millionen Franken. Langsam fingen die Verkäufer an, alles wieder einzuräumen. Man hoffte, damit bis zehn Uhr fertig zu werden. Frau Aurélie, die als erste vom Essen zurückkam, brachte die Umsatzziffer des verflossenen Jahres mit: achtzig Millionen Franken, zehn Millionen mehr als im Vorjahr. Nur bei den Phantasieseiden hatte es einen Rückgang gegeben.
»Wenn Herr Mouret damit noch immer nicht zufrieden ist, weiß ich wirklich nicht, was er will. Da, sehen Sie ihn sich an, wie er mit wütender Miene an der großen Treppe steht!«
Alle beeilten sich, einen Blick auf ihn zu werfen; er stand in der Tat mit düsterem Gesicht über den Millionen, die zu seinen Füßen hingebreitet waren.
»Gnädige Frau«, sagte in diesem Augenblick Denise, »gestatten Sie, daß ich mich zurückziehe? Ich kann ja jetzt wegen meines kranken Beins doch nichts mehr helfen, und da ich heute abend bei meinem Onkel esse ...«
Alle waren erstaunt. Wie, sie hatte nicht nachgegeben? Frau Aurélie zögerte; sie schien auf dem Punkt, ihr das Ausgehen zu verbieten. Claire dagegen zuckte mit geringschätziger Miene die Achseln, als wollte sie sagen: Laßt's gut sein! Die Sache ist doch sehr einfach: er will nichts mehr von ihr wissen!
Pauline stand gerade bei Deloche, als sie von dieser Entwicklung erfuhren. Die plötzliche Freude des jungen Mannes versetzte sie in heftigen Zorn. Das werde ihm wenig nützen, meinte sie. War er vielleicht gar glücklich darüber, daß ihre Freundin dumm genug war, ihr Glück zu verscherzen?
Die allgemeine Erregung griff selbst auf Bourdoncle über, der Mouret in seiner gereizten Vereinsamung nicht zu stören wagte und verstimmt und unruhig umherwanderte.
Mittlerweile ging Denise langsam nach unten, sich immer auf das Geländer stützend. Als sie an der kleinen Treppe links ankam, stieß sie auf eine Gruppe von Verkäufern, die noch immer ihren Spott trieben. Sie hörte ihren Namen nennen und begriff, daß man nach wie vor von ihrem Abenteuer sprach. Man hatte ihre Anwesenheit nicht bemerkt.
»Habt ihr so ein geziertes Getue schon gesehen?« rief Favier.
»Sie ist lasterhaft durch und durch. Ja, ich kenne jemanden, den sie mit Gewalt haben wollte!«
Dabei blickte er auf Hutin, der in seiner Würde als Zweiter sich einige Schritte entfernt hielt und sich in die Gespräche nicht einmengte. Aber er war so geschmeichelt von den neidischen Mienen der anderen, daß er zu murmeln geruhte:
»Ja, sie hat mir viel Verdruß gemacht!«
Zutiefst getroffen stützte sich Denise auf das Treppengeländer. Nun schien man sie bemerkt zu haben, denn die Verkäufer gingen lachend auseinander ... Er hatte ganz recht; sie machte sich heute selber Vorwürfe über ihr unbesonnenes Benehmen von damals. Aber wie feig er war! Wie verachtete sie ihn jetzt! ... Eine tiefe Verwirrung bemächtigte sich ihrer: war es nicht seltsam, daß sie soeben die Kraft gefunden hatte, einen angebeteten Mann zurückzuweisen, während sie seinerzeit vor diesem elenden Burschen, von dessen Liebe sie nur geträumt hatte, sich so schwach gefühlt hatte?
Sie ging rasch durch die Halle. Während ein Inspektor die Tür öffnete, die seit dem Morgen geschlossen war, blickte sie unwillkürlich nach oben. Da sah sie Mouret; er stand noch immer an der Treppe, von wo aus er alles überschauen konnte. Doch er hatte die Inventur vergessen; er sah sein Reich, diese von Schätzen strotzenden Räume gar nicht mehr. Alles war versunken, die lärmenden Triumphe des vergangenen, das ungeheure Vermögen der kommenden Tage. Mit verzweifelten Blicken folgte er Denise, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, gab es um ihn nichts mehr, das Haus war finster.