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Auf dem Grunde von Lazares Traurigkeit schlummerte die Langeweile, eine schwerlastende, beständige Langeweile, die aus allem hervordrang wie das trübe Wasser aus einer vergifteten Quelle. Ihn langweilte die Ruhe, die Arbeit und noch mehr als über alles andere langweilte er sich über sich selbst. War es nicht eine Schande, daß ein Mann seines Alters die Jahre der Kraft in diesem Loche Bonneville zubrachte? Bis zur Stunde hatte er wohl Vorwände gehabt; aber jetzt hielt ihn nichts mehr zurück, er verachtete sich selbst, daß er nutzlos den Seinen zur Last war, die selbst kaum zu leben hatten. Er hätte ihnen ein Vermögen erwerben müssen: es war ein Bankerott seinerseits, denn er hatte es sich früher geschworen. Die Zukunftspläne, die großen Unternehmungen, der geniale Einfall, der ihm Reichtum bringen sollte, sie fehlten noch immer nicht. Nur wenn er sich von dem Traume losmachte, verspürte er nicht mehr den Mut zum Beginn einer Tätigkeit.
»Das kann so nicht fortgehen,« sagte er oft zu Pauline, »ich muß arbeiten. Ich habe Lust, in Caen eine Zeitung zu gründen.«
Sie antwortete ihm jedesmal:
»Warte das Ende der Trauer ab, es eilt nicht. Denke wohl darüber nach, ehe du dich in ein solches Unternehmen stürzest.«
In Wahrheit zitterte sie trotz ihres Wunsches, ihn beschäftigt zu sehen, bei dem Gedanken an diese Zeitung. Ein neues Fehlschlagen würde ihn vielleicht vernichtet haben; sie erinnerte sich der fortwährenden Fehlschläge, der Musik, der Medizin, der chemischen Fabrik, alles dessen, was er unternommen hatte. Zwei Stunden später weigerte er sich übrigens, wie von Müdigkeit zerschlagen, einen Brief zu schreiben.
Es verstrichen Wochen, eine Hochflut spülte drei Häuser von Bonneville weg. Wenn die Fischer jetzt Lazare begegneten, fragten sie ihn, ob er genug davon habe. Man konnte nichts dagegen tun, aber das wurmte einen doch, so viel gutes Holz verloren zu sehen. In ihren Klagen, in der Art, wie sie ihn anflehten, den Ort nicht von den Wogen begraben zu lassen, lag der verbissene Spott von Matrosen, die stolz auf ihr Meer mit den todbringenden Krallen sind. Er erregte sich nach und nach so darüber, daß er das Dorf zu durchschreiten vermied. Der Anblick der Trümmer des Bollwerks und der Stakete wurde ihm schon aus der Ferne unerträglich.
Prouane hielt ihn eines Tages fest, als er gerade beim Pfarrer eintreten wollte.
»Herr Lazare,« sagte er bescheiden mit einem boshaften Lächeln in den Augenwinkeln, »wissen Sie, daß die Stücke Holz da unten verfaulen?«
»Ja, weiter?«
»Wenn Sie nichts damit anfangen, könnten Sie sie uns geben... Wenigstens wärmen wir uns damit.«
Ein zurückgehaltener Zorn riß den jungen Mann fort. Er antwortete lebhaft, ohne selbst einmal daran gedacht zu haben:
»Unmöglich, in der nächsten Woche lasse ich die Zimmerleute wieder anfangen.«
Von da an lärmte der ganze Ort. Man sollte also den; Tanz noch einmal zu sehen bekommen; der junge Chanteau hatte es sich in den Kopf gesetzt. So vergingen vierzehn Tage; wenn die Fischer ihn nur sahen, fragten sie ihn, ob er nicht anfange, weil er keine Arbeiter gefunden habe. So fing er endlich an, sich wirklich mit den Pfählen zu beschäftigen; er gab damit auch seiner Base nach, die ihn in ihrer Nähe beschäftigt sehen wollte. Aber er machte sich ohne Eifer daran; nur sein Groll gegen das Meer hielt ihn aufrecht, denn er war dessen Zähmung sicher, es werde schon kommen und wie ein gehorsames Tier die Uferkiesel von Bonneville lecken.
Noch einmal zeichnete Lazare einige Entwürfe. Er hatte neue Widerstandswinkel berechnet und die Grundstützen verdoppelt. Trotzdem würden die Kosten nicht sehr hoch sein, da man das alte Holz zum größten Teile verwenden konnte. Der Zimmermann überreichte einen Voranschlag, der sich auf viertausend Franken belief. Angesichts der geringen Bedeutung dieser Summe war Lazare einverstanden, daß Pauline sie vorschoß; er war überzeugt, wie er sagte, von dem Generalrat ohne Mühe die Unterstützung zu erhalten; dies war überhaupt die einzige Möglichkeit, die erste Ausgabe vergütet zu sehen; denn der Rat werde sicher nicht einen Sou bewilligen, solange die Verpfählungen nur Trümmer blieben. Dieser Gesichtspunkt der Frage erwärmte ihn ein wenig, die Arbeiten wurden in flotten Gang gebracht. Überdies war er sehr beschäftigt; er begab sich Woche für Woche nach Caen, um den Präfekten und die einflußreichen Räte zu sprechen. Man hatte gerade die Balken gelegt, als er endlich durchsetzte, daß ein Ingenieur zur Berichterstattung abgesandt werden solle, worauf dann der Rat sofort über den Beitrag abstimmen werde. Der Ingenieur blieb einen ganzen Tag in Bonneville, ein reizender Mann, der nach seinem Spaziergange am Strande bereitwillig bei den Chanteaus frühstückte; diese vermieden aus Bescheidenheit, ihn über seine Meinung zu befragen, da sie ihn nicht beeinflussen wollten; aber er war bei Tische so galant zu Pauline, daß diese von da an selbst an den Erfolg der Sache glaubte. Als vierzehn Tage später Lazare von einer Reise nach Caen heimkehrte, war das Haus nicht wenig überrascht und bestürzt über die Nachricht, die er mitbrachte. Er erstickte vor Zorn: hatte dieser Schönling von einem Ingenieur nicht einen schauderhaften Bericht erstattet! Er war höflich geblieben, aber er hatte über jedes Stück Holz mit einer außerordentlichen Fülle technischer Worte seinen Spott getrieben. Im übrigen hätte man darauf gefaßt sein können; diese Art Herren wollen glauben machen, daß man ohne sie nichts machen könne, und wenn auch nur eine Kaninchenbude zu bauen sei. Das Schlimmste war, daß der Generalrat die Eingabe um Zuschuß zurückgewiesen hatte.
Das wurde für den jungen Mann zu einem neuen Anfall der Entmutigung. Die Balken standen, versicherte er, daß sie dem stärksten Seegange Trotz leisten und alle vereinigten Ingenieure vor eifersüchtiger Wut platzen lassen würden; aber alles das konnte das Geld nicht in die Hände seiner Base zurückbringen; er geriet in bittere Verzweiflung, sie in diese Niederlage hineingezogen zu haben. Sie aber hatte ihre Sparsamkeitsgedanken überwunden, nahm die ganze Verantwortlichkeit auf sich und berief sich darauf, ihn zur Annahme dieser Vorschüsse gezwungen zu haben; das war auch eine Barmherzigkeit, sie bedauerte nichts, hätte selbst noch mehr gegeben, um das unglückliche Dorf zu retten. Als indessen der Zimmermann mit der Rechnung kam, konnte sie eine Bewegung schmerzlichen Staunens nicht zurückhalten: die viertausend Franken des Anschlages waren beinahe achttausend geworden. Im ganzen hatte sie mehr als zwanzigtausend Franken in jene Balken gesteckt, die der erste Sturm hinwegfegen konnte.
In dieser Zeit war Paulinens Vermögen auf vierzigtausend Franken zusammengeschmolzen. Das waren zweitausend Franken Rente, gerade genug zum Leben, wenn sie sich eines Tages allein auf dem Straßenpflaster befinden sollte. Das Geld war nach und nach in dem Hause daraufgegangen, wo sie noch immer mit offenen Händen zahlte. Von da an überwachte sie mit der Strenge einer klugen Haushälterin die Ausgaben. Die Chanteaus hatten nicht einmal mehr ihre dreihundert Franken monatlich; denn nach dem Tode der Mutter hatte man den Verkauf verschiedener Rententitel bemerkt, ohne zu entdecken, was aus den in Anspruch genommenen Summen geworden. Fügte sie die eigene Rente zu jener der Chanteaus, so hatte sie kaum über vierhundert Franken monatlich, der Haushalt kostete schweres Geld, und sie mußte wahre Wunder an Sparsamkeit verrichten, um ihre Almosengelder zu retten. Seit dem letzten Winter hatte die Vormundschaft des Doktor Cazenove ein Ende genommen, Pauline war mündig und verfügte unbeschränkt über ihr Vermögen und ihre Person; der Doktor belästigte sie zweifelsohne nicht, denn er weigerte sich geradezu, um Rat gebeten zu werden, und sein Auftrag hatte gesetzlich bereits seit Wochen aufgehört, ehe die beiden dessen inne wurden; aber sie fühlte sich trotzdem jetzt reifer und freier, als sei sie ganz Frau geworden, denn sie sah sich als Herrin des Hauses ohne einen Zwang der Rechnungslegung, von ihrem Onkel angefleht, alles zu ordnen und ihm nie über etwas zu sprechen. Auch Lazare hatte ein Entsetzen vor Geldfragen. Sie verwaltete daher die gemeinschaftliche Kasse und vertrat ihre Tante mit einem praktischen Verstande, der die beiden Männer manchmal in Erstaunen setzte. Nur Veronika fand sie sehr »filzig«: mußte man sich jetzt nicht mit einem Pfund Butter des Sonnabends begnügen!
Die Tage folgten einander in einförmiger Regelmäßigkeit. Diese Ordnung, diese unaufhörlich von vorn beginnenden Gewohnheiten, die in Paulinens Augen das Glück ausmachten, verschlimmerten Lazares Langeweile bedeutend. Nie war er mit solcher Unruhe durch das Haus gewandelt als während des lächelnden Friedens, in den sie jedes Zimmer hüllte. Die Beendigung der Arbeiten an der Küste wurde für ihn eine wahre Erleichterung, denn jede vorgefaßte Meinung hielt ihn in ihrem Banne, und sobald er wieder in seinen Müßiggang zurückgesunken war, verzehrten ihn auch Scham und Unbehagen. Jeden Morgen änderte er seine Zukunftspläne: der Gedanke an eine Zeitung wurde als unwürdig verworfen, er geriet in Zorn gegen die Armut, die ihm nicht gestattete, sich ruhig einem großen literarisch-geschichtlichen Werke hinzugeben; dann liebäugelte er mit dem Plane Professor zu werden, die Prüfungen zu machen, wenn es sein müßte und sich für seine Arbeit als Schriftsteller den nötigen Brotverdienst zu sichern. Zwischen ihm und Pauline schien nur die Kameradschaft von früher übrig zu bleiben, eine gewohnheitsgemäße Zärtlichkeit, die sie zu Schwester und Bruder machte. In dieser engen Vertraulichkeit sprach er nie von ihrer Heirat, sei es aus völliger Vergessenheit, sei es, weil es eine zu oft wiederholte Geschichte war, die sich ohne Rederei vollziehen werde. Auch sie vermied es davon zu sprechen, überzeugt, daß er beim ersten Worte einwillige. Trotzdem hatte bei ihr das Verlangen nach Lazare bereits täglich abgenommen: sie fühlte es, ohne zu verstehen, daß ihre Ohnmacht ihn vor der Langenweile zu retten, keine andere Ursache hatte.
Eines Abends in der Dämmerstunde stieg sie zu ihm hinauf, um ihm zu sagen, daß aufgetragen sei; dabei ertappte sie ihn, wie er hastig einen Gegenstand verbarg, den sie nicht erkennen konnte.
»Was hast du denn da?« fragte sie lachend. »Verse für meinen Namenstag?«
»Aber nein«, sagte er sehr aufgeregt, mit wankender Stimme. »Nichts.«
Es war ein alter, von Luise vergessener Handschuh, den er hinter einem Stoß Bücher gefunden hatte. Dieser Handschuh von sächsischem Leder hatte noch einen starken Geruch bewahrt, diesen ausgesprochenen Wildgeruch, den das Lieblingsparfüm des jungen Mädchens, Heliotrop, durch einen Zusatz von Vanille milderte; er, auf den Gerüche einen großen Eindruck machten, war von diesem Gemisch von Blumen und Fleisch heftig erregt; den Handschuh auf den Lippen sog er die Wollust seiner Erinnerungen ein.
Von dem Tage an begann er über die klaffende Leere fort, die der Tod seiner Mutter in ihm geschaffen, Luise zu begehren. Zweifelsohne hatte er sie nie vergessen; aber sie schlummerte während seiner Schmerzen, und es bedurfte dieses Gegenstandes von ihr, um sie wieder zum Leben zu erwecken, ja ihn die Wärme des Atem fühlen zu lassen. War er allein, so holte er diesen Handschuh wieder hervor, atmete den Duft ein, küßte ihn, glaubte noch, sie in seinen Armen zu halten, den Mund heiß auf ihren Nacken zu pressen. Das nervöse Unbehagen, in dem er lebte, die durch seine lange Trägheit herbeigeführte Erregung machten diesen fleischlichen Rausch noch lebhafter. Es waren wahre Ausschweifungen, in denen er erschlaffte. Er ging unzufrieden über sich selbst aus ihnen hervor, verfiel ihnen trotzdem wieder, von einer Leidenschaft hingerissen, über die er nicht Meister war. Das erhöhte seine düstere Stimmung, es kam so weit, daß er seiner Base schroff gegenübertrat, als wenn er ihr seiner eigenen Torheiten halber grolle. Sie ließ seine Sinne kalt, und er floh manchmal aus einer gemeinsamen heiteren und ruhigen Plauderei, um seinem Laster nachzugehen, sich einzuschließen und sich in der brennenden Erinnerung an die andere zu verzehren. Dann ging er mit dem Widerwillen gegen das Leben wieder hinunter.
In einem Monat verwandelte er sich so sehr, daß die verzweifelte Pauline entsetzliche Nächte verlebte. Am Tage über blieb sie tapfer immer auf den Füßen in diesem Hause, das sie mit ihrer Miene sanfter Autorität leitete. Des Abends aber, wenn sie das Zimmer geschlossen hatte, war es auch ihr erlaubt, ihren Kummer zu haben; dann schwand all ihr Mut, und sie weinte wie ein schwaches Kind. Ihr blieb keine Hoffnung mehr, der Schiffbruch ihrer Güte wurde täglich fühlbarer. War es denn wirklich möglich? Die Barmherzigkeit genügte also nicht, man konnte die Menschen lieben und sie dennoch unglücklich machen? Denn sie sah ihren Vetter unglücklich, und er war es vielleicht durch ihre Schuld. Auf dem Grunde ihres Zweifels wuchs auch die Furcht vor einem nebenbuhlerischen Einflusse. Eine geraume Zeit war sie beruhigt gewesen, denn sie hatte sich die düstere Stimmung mit der Trauer des Hauses erklärt; jetzt aber kam ihr wieder der Gedanke an Luise, dieser Gedanke, der in ihr nach dem Todestage der Frau Chanteau wach geworden, den sie mit dem stolzen Vertrauen auf ihre Zärtlichkeit verscheucht hatte, und der jetzt jeden Abend in der Niederlage ihres Herzens von neuem erwachte.
Das war es, was Pauline heimsuchte. Sobald sie die Kerze hingestellt hatte, sank sie auf den Rand ihres Bettes nieder, ohne den Mut zum Entkleiden zu finden. Ihre seit dem Morgen währende Heiterkeit, ihre Ordnung und Geduld erdrückten sie wie ein zu schweres Gewand. Der Tag war – wie die verstrichenen und wie die kommenden Tage – unter dieser Langeweile Lazares verlaufen, die das ganze Haus zur Verzweiflung brachte. Was half es, daß sie sich zur Freude zwang, da sie diesen Winkel doch nicht mit Sonne erwärmen konnte? Das alte, grausame Wort tönte wieder: man lebte zu einsam, die Schuld lag in ihrer Eifersucht, die alle vertrieben hatte. Sie nannte Luise nicht, sie wollte nicht einmal an sie denken, und trotzdem sah sie dieselbe mit ihrem hübschen Gesichte vorüberziehen, Lazare mit ihrem gefallsüchtigen Schmachten unterhalten und mit dem Rauschen ihrer Röcke erheitern. Minuten vergingen, sie konnte ihr Bild nicht verscheuchen. Zweifelsohne erwartete er dieses Mädchen; holte man sie, so wäre nichts leichter als seine Heilung. Jeden Abend, wenn Pauline in ihr Zimmer ging und sich kraftlos auf den Rand ihres Bettes niederließ, tauchte das nämliche Bild vor ihr auf, und sie wurde von dem Glauben gemartert, daß das Glück der Ihren vielleicht in den Händen der andern liege.
Dennoch dauerten die Empörungen in ihr fort. Sie verließ, dem Ersticken nahe, ihr Bett und öffnete eilends das Fenster. Stundenlang blieb sie vor dieser schwarzen Unermeßlichkeit des Meeres, dessen Klagen sie hörte, mit aufgestützten Ellbogen, ohne schlafen zu können, die brennende Brust dem Meereswinde darbietend. So jämmerlich werde es nie mit ihr bestellt sein, daß sie die Rückkehr dieses Mädchens dulde. Hatte sie beide nicht bei einer Umarmung überrascht? War das nicht der niedrigste Verrat, so nahe bei ihr, im Nebenzimmer, in diesem Hause, das sie als das ihrige betrachtete? Diese Schlechtigkeit konnte nicht vergeben werden, es hieße sich zur Mitschuldigen machen, wenn man sie wieder zurückführte. Ihr eifersüchtiger Groll fieberte noch mehr bei den Bildern, die sie heraufbeschwor; sie erstickte vor Schluchzen, das Antlitz auf die nackten Arme, die Lippen auf ihr Fleisch gepreßt. Die Nacht schritt vor, der Wind streifte ihren Hals, spielte mit ihrem Haar, ohne den Zorn zu beruhigen, der das Blut in ihren Adern zum Kochen brachte. Aber dumpf und unbezwinglich dauerte der Kampf zwischen ihrer Güte und ihrer Leidenschaft fort, selbst in den heftigsten Anfällen von Empörung. Eine ihr wie fremd vorkommende Stimme der Milde sprach hartnäckig ganz leise in ihr von den Freuden des Almosens, dem Glück, sich anderen zu widmen. Sie wollte sie zum Schweigen bringen: diese bis zur Feigheit getriebene Selbstverleugnung war ein Blödsinn; trotzdem horchte sie darauf, denn es wurde ihr bald unmöglich, sich ihrer zu erwehren. Nach und nach erkannte sie ihre eigene Stimme und überlegte; was wollte ihr Leiden besagen, wenn nur die von ihr geliebten Wesen glücklich waren? Sie schluchzte leiser, lauschte der steigenden Flut in der Tiefe der nächtlichen Finsternis, erschöpft und krank, ohne noch überwunden zu sein.
In einer Nacht hatte sie sich, nachdem sie lange am Fenster geweint, zu Bett gelegt. Als sie ihr Licht ausgelöscht hatte und mit weit geöffneten Augen im Dunkel dalag, faßte sie plötzlich einen Entschluß: am nächsten Morgen wollte sie ihren Onkel vor allem an Luise schreiben lassen und sie bitten, einen Monat in Bonneville zu verbringen. Nichts schien ihr natürlicher, leichter. Sie verfiel sofort in einen guten Schlaf, seit Monaten hatte sie nicht so fest geschlummert. Als sie aber am nächsten Morgen zum Frühstück heruntergekommen war und sich wieder zwischen Onkel und Vetter an diesem Familientische sah, an dem ihre Plätze durch drei Milchnäpfe bezeichnet waren, drohte sie plötzlich zu ersticken, sie fühlte ihren Mut schwinden.
»Du ißt nicht,« sagte Chanteau, »was hast du denn?«
»Ich habe nichts«, antwortete sie. »Im Gegenteil, ich habe wie eine Selige geschlafen.«
Lazares bloßer Anblick erneuerte ihren Kampf. Er aß schweigend, von diesem neuen, erst beginnenden Tage schon wie ermattet; und sie fühlte nicht mehr die Kraft ihn einer andern zu geben! Der Gedanke, daß eine andere ihn nehmen, ihn küssen werde, um ihn zu trösten, war ihr unerträglich. Als er gegangen war, wollte sie dennoch tun, was sie beschlossen hatte.
»Geht es mit deinen Händen heute schlechter?« fragte sie ihren Onkel.
Er schaute seine Hände an, die von den Steingebilden heimgesucht wurden, und ließ mühsam die Gelenke spielen.
»Nein«, antwortete er. »Die Rechte scheint sogar geschmeidiger zu sein ... Wenn der Pfarrer kommt, werden wir eine Partie zusammen machen.«
Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Warum fragst du mich danach?«
Ohne Zweifel hatte sie gehofft, er werde nicht schreiben können. Sie errötete, verschob den Brief feige auf den folgenden Tag und stammelte:
»Mein Gott, um es zu wissen.«
Von dem Tage an verlor sie ihre ganze Ruhe. In ihrem Zimmer gelang ihr nach tränenreichen Stunden der Sieg; sie nahm sich fest vor, am nächsten Morgen ihrem Onkel den Brief zu diktieren. Sobald sie aber das tägliche Leben in der Wirtschaft zwischen ihren Geliebten wieder begann, verlor sie die Kraft. Unbedeutende Vorkommnisse selbst brachen ihr das Herz: so, wenn sie für ihren Vetter das Brot schnitt, wenn sie die Schuhe des jungen Mannes der Sorge der Magd empfahl; kurz – der gewohnte, althergebrachte Gang der Familie. Man hätte so glücklich sein können mit diesen alten Gewohnheiten des häuslichen Herdes! Wozu eine Fremde rufen? Warum so angenehme Dinge ändern, unter denen sie bereits soviele Jahre lebten? Bei dem Gedanken, daß eines Tages nicht mehr sie so das Brot schneiden und über die Kleidung wachen werde, packte sie eine Verzweiflung, sie fühlte das zuversichtlich erwartete Glück ihres Daseins zusammenbrechen. Diese Qual, die sich in die geringsten häuslichen Sorgen mischte, vergiftete ihre Tage wirtschaftlicher Tätigkeit.
»Warum das nur?« fragte sie manchmal laut, »wir lieben uns und sind nicht glücklich ... Unsere Liebe verbreitet nur Unglück um uns her.«
Sie suchte ohne Unterlaß nach der Erklärung. Vielleicht kam es davon, daß ihr Charakter und der ihres Vetters nicht zusammenpaßten. Sie wollte sich beugen, auf jeglichen persönlichen Willen verzichten; es gelang ihr nicht, die Vernunft war stärker; sie war versucht den anderen Dinge aufzuerlegen, die sie für vernünftig hielt. Manchmal ging ihre Geduld zu Ende, und dann wurde geschmollt. Sie wollte lachen, ihr Elend in Heiterkeit ertränken; aber sie konnte es nicht mehr, sie verlor ihrerseits die Kraft.
»Das ist nett!« wiederholte Veronika vom Morgen bis zum Abend. »Sie sind nur drei und werden sich schließlich noch gegenseitig verschlingen ... Die Frau hatte ihre schlimmen Tage, aber solange sie da war, ging man noch nicht soweit, sich die Schüsseln an den Kopf zu werfen.«
Auch Chanteau empfand die Wirkungen dieser langsamen, durch nichts erklärbaren Entfremdung. Wenn er einen Anfall hatte, riß er das Maul noch weiter auf, wie die Magd sagte. Er hatte dann Launen und Heftigkeitsanfälle, ein Bedürfnis, die Umgebung fortwährend zu quälen. Das Haus wurde wieder zur Hölle.
Während der letzten Eifersuchtsanfälle fragte sich das junge Mädchen, ob sie das Recht habe, ihr Glück Lazare aufzudrängen. Sicher wollte sie ihn vor allem glücklich sehen, selbst um den Preis ihrer Tränen. Warum ihn also einschließen, ihn zu einer Einsamkeit zwingen, unter der er zu leiden schien? Er liebte sie doch zweifelsohne, er würde zu ihr zurückkehren, wenn er sie besser beurteilen und Vergleiche zwischen ihr und der andern anstellen würde. Auf jeden Fall mußte sie ihm erlauben zu wählen: das war gerecht, und das Gerechtigkeitsgefühl blieb in ihr obenauf herrschend.
Alle drei Monate begab sich Pauline nach Caen, um ihre Zinsen einzuziehen. Sie reiste morgens ab und kam am Abend wieder, nachdem sie eine ganze Liste kleiner Einkäufe und Gänge erledigt hatte, die sie während der drei Monate hindurch vormerkte. Im Juniviertel dieses Jahres wartete man bis neun Uhr vergebens auf sie mit dem Essen. Der stark beunruhigte Chanteau hatte einen Unfall befürchtet Und Lazare auf die Landstraße geschickt; während Veronika mit ruhigem Gesichte meinte, man tue unrecht sich aufzuregen; ganz gewiß habe sich das Fräulein verspätet und sich entschlossen, in Caen zu übernachten, um alle Besorgungen erledigen zu können. Man schlief sehr schlecht in Bonneville; am folgenden Tage begann beim Frühstück die Sorge von neuem. Als gegen Mittag sein Vater es auf seinem Platze nicht mehr auszuhalten vermochte, entschloß sich Lazares, nach Arromanches zu gehen, als die Magd, die auf der Straße Schildwache stand, plötzlich ausrief:
»Da kommt das Fräulein!«
Man mußte Chanteaus Lehnstuhl auf die Terrasse rollen. Vater und Sohn erwarteten sie, während Veronika das nähere beschrieb:
»Es ist die Berline von Malivoire ... Ich habe das Fräulein an den Kreppbändern erkannt. Es kommt mir nur merkwürdig vor, ja, man möchte behaupten, daß jemand mit ihr kommt.«
Endlich hielt der Wagen vor der Tür. Lazare war näher getreten und öffnete schon den Mund, um Pauline, die leichtfüßig herausgesprungen war, auszufragen, als er plötzlich wie gebannt dastand: hinter ihr sprang ein anderes junges Mädchen in tausendstreifiger lila Seide heraus. Beide lachten wie gute Freundinnen. Sein Erstaunen war so groß, daß er auf seinen Vater zuging und sagte:
»Sie bringt Luise mit.«
»Luise! ... Das ist ein guter Gedanke«, rief Chanteau.
Als sie nebeneinander vor ihm standen, die eine noch in tiefer Trauer, die andere in einem heiteren Sommerkleide, fuhr er, entzückt von dieser Zerstreuung, fort:
»Was? Ihr habt Frieden geschlossen? Wißt Ihr, ich habe die Sache auch nie begriffen. War das auch dumm! Wie unrecht hattest du, Luisette, uns das in all dem Kummer, den wir hatten, so lange nachzutragen ... Nicht wahr, es ist nun endlich vorbei?«
In ihrer Verlegenheit standen die jungen Mädchen unbeweglich da. Sie waren errötet, und ihre Blicke mieden sich. Luise umarmte Chanteau, um ihre Unruhe zu verbergen. Er aber verlangte Erklärungen.
»Ihr seid Euch also begegnet?«
Da schaute sich Luise mit vor Rührung feuchten Augen nach ihrer Freundin um.
»Pauline war gerade zu meinem Vater gekommen, als ich hereintrat. Sie müssen nicht mit ihr schelten, daß sie geblieben ist, denn ich habe alles mögliche getan, um sie zurückzuhalten ... Da der Telegraph nur bis Arromanches geht, haben wir uns überlegt, daß wir ebenso schnell wie eine Depesche hier sein würden ... Verzeihen Sie mir?«
Sie umarmte Chanteau nochmals mit ihrer früheren einschmeichelnden Art. Es war ihm schon recht: wenn es nur ging, wie es ihm Vergnügen machte, fand er alles gut.
»Und du, Lazare, sagst ihr nichts?«
Der junge Mann war im Hintergrunde gezwungen lächelnd stehengeblieben. Die Bemerkung des Vaters erhöhte seine Verlegenheit, um so mehr, als Luise wieder errötete, ohne einen Schritt hin zu ihm zu machen. Warum war sie da? Warum führte die Base diese Nebenbuhlerin zurück, die sie erst in so rauher Weise verjagt hatte! In seinem Staunen fand er sich nicht mehr zurecht.
»Küsse sie, Lazare, sie wagt es nicht«, sagte Pauline freundlich.
Sie sah ganz bleich in ihrer Trauer aus, aber ihr Gesicht war ruhig, die Augen klar. Sie schaute beide mit ihrer mütterlichen, ernsten Miene an, die sie in den wichtigen Stunden des häuslichen Lebens annahm; sie lächelte nur, als er sich entschloß, die dargereichten Wangen des jungen Mädchens mit seinen Lippen flüchtig zu streifen.
Veronika, die es von ihrer Küche aus mit schlenkernden Händen ansah, wandte sich plötzlich wie dem Ersticken nahe ab. Sie verstand von alldem nichts mehr. Nach dem, was geschehen war, mußte man wirklich wenig Herz haben. Das Fräulein wurde unerträglich, wenn es gut sein wollte. Es war nicht genug, daß sie die verlausten Rangen ins Haus brachte und sogar unter das Tafelgeschirr setzte: jetzt führte sie dem Herrn Lazare schon Geliebte zu. Das Haus wurde wirklich sauber! Als die Magd brummend sich mit diesen Worten das Herz erleichtert hatte, rief sie laut hinein:
»Das Frühstück wartet bereits seit einer Stunde, wie Sie wissen. Die Kartoffeln sind schon ganz verbrannt.«
Man frühstückte mit großem Appetit, aber Chanteau allein lachte gutmütig, er war zu vergnügt, um das anhaltende Unbehagen der drei anderen zu bemerken. Sie waren alle drei von einer zärtlichen Zuvorkommenheit, schienen aber dennoch im Grunde einen Rest von Unruhe und Trauer zu bewahren, wie es nach solchen Zänkereien immer der Fall ist; man vergibt sich zwar gegenseitig, man kann jedoch die nicht wiedergutzumachenden Beleidigungen nicht vergessen. Den Nachmittag benutzte man zur Unterbringung der Neuangekommenen. Sie bezog ihr Zimmer im ersten Stock wieder. Wäre Frau Chanteau am Abend mit ihren kleinen, hastigen Schritten hinuntergekommen, um sich an den Tisch zu setzen, so hätte man glauben können, die ganze Vergangenheit sei wiedererstanden.
Fast eine volle Woche hindurch dauerte das Unbehagen an. Lazare, der Pauline nicht zu wagen fragte, erklärte sich noch immer nicht das, was er für einen absonderlichen Einfall hielt; denn der Gedanke eines möglichen Opfers, einer einfach und großmütig dargebotenen Wahl kam ihm in keiner Weise. In den Stunden der Begierden, die während seiner Untätigkeit über ihn kamen, hatte er nie daran gedacht, Luise zu heiraten. Seitdem sie alle drei beisammen lebten, fühlten sie sich denn auch in einer falschen Lage, unter der sie litten. Es entstanden verlegene Pausen, gewisse Sätze blieben ihnen halb auf den Lippen aus Furcht vor einer nicht beabsichtigten Anspielung. Pauline, von diesem unvorhergesehenen Ergebnis überrascht, war genötigt, ihr Lachen zu übertreiben, um die Sorglosigkeit von ehemals wiederzufinden. Anfänglich empfand sie jedoch eine tiefe Freude; sie glaubte zu fühlen, daß Lazare zu ihr zurückkehrte. Luisens Gegenwart hatte ihn beruhigt, er floh sie fast, vermied es, allein mit ihr zu sein, von dem Gedanken empört, daß er noch einmal das Vertrauen seiner Base hintergehen könne, und von einer fieberhaften Zärtlichkeit gequält, wandte er sich ihr wieder zu und erklärte mit gerührter Miene, sie sei die beste der Frauen, eine wahre Heilige, deren er unwürdig sei. Sie freute sich in himmlischer Seligkeit ihres Sieges, als sie ihn so wenig liebenswürdig zu der andern sah. Gegen Ende der Woche war sie es selbst, die ihm darüber Vorwürfe machte.
»Warum fliehst du, sowie ich mit ihr zusammen bin? ... Das bekümmert mich. Sie ist nicht zu uns gekommen, damit wir ihr ein saures Gesicht machen.«
Lazare vermied es zu antworten und machte eine unbestimmte Bewegung. Sie erlaubte sich darauf eine Anspielung, die einzige, die ihr je entschlüpfte.
»Wenn ich sie hergeführt habe, so geschah es, damit du weißt, daß ich euch schon seit langem verziehen habe. Ich wollte diesen häßlichen Traum auslöschen, es bleibt nichts davon übrig. Und du siehst, ich habe keine Furcht mehr, ich setze Vertrauen in euch.«
Er schlang seine Arme um sie und preßte sie heftig an sich. Dann versprach er, zu der andern liebenswürdig zu sein.
Von dem Augenblicke an flössen die Tage in einer reizenden Vertraulichkeit dahin. Lazare schien sich nicht mehr zu langweilen. Statt sich wie ein Wilder krank von der Einsamkeit in sein Zimmer einzuschließen, erfand er Spiele, schlug er Spaziergänge vor, von denen man wie berauscht von der freien Luft heimkehrte. Von da an nahm Luise ihn unmerkbar wieder ganz gefangen. Er gewöhnte sich an sie; er wagte es, ihr den Arm zu bieten und ließ sich wieder von diesem verwirrenden Wohlgeruch durchdringen, der dem kleinsten Zipfel ihrer Spitzen entströmte. Anfangs kämpfte er und wollte sich entfernen, sobald er den Rausch emporsteigen fühlte. Aber seine Base selbst rief ihm zu, dem jungen Mädchen beizustehen, wenn es zwischen den Klippen Wasserrinnen zu überspringen gab; sie selbst setzte kühn wie ein Junge darüber hinweg, während die andere sich mit dem Aufschrei eines verwundeten Schwälbleins in die Arme des jungen Mannes flüchtete. Auf dem Rückwege stützte er sie; ihr ersticktes Lachen, ihr Ohrengeflüster begann von neuem. Bisher beunruhigte Pauline noch nichts, sie behielt ihr mutiges Benehmen bei, ohne zu merken, daß sie ihr eigenes Glück aufs Spiel setzte, wenn sie nicht ebenfalls müde erscheinen und nicht gestützt sein wollte. Der gesunde Duft ihrer Arme einer Wirtschafterin regte niemanden auf. Mit einer Art lachender Kühnheit zwang sie die beiden Arm in Arm vor ihr einherzuschreiten, wie um ihnen ihr Vertrauen zu zeigen.
Übrigens würde sie keines von beiden getäuscht haben. Wenn sich Lazare auch diesem Rausche wieder hingab, so kämpfte er doch auch immer dagegen, er bemühte sich nachher sich, ihr gegenüber noch zärtlicher zu zeigen. Es war das eine Überrumpelung des Fleisches, der er sich mit Wonne hingab, nahm sich aber fest vor, daß das Spiel diesmal bei dem erlaubten Lachen bleiben solle. Warum sollte er auf dieses Vergnügen verzichten, wenn er entschlossen war, seiner Pflicht als ehrlicher Mann treu zu bleiben? Luise hatte noch größere Gewissensbisse; nicht, daß sie sich der Gefallsucht anklagte, denn sie war von Natur zärtlich, sie gab sich ohne zu wissen mit einer Bewegung, einem Atemzuge hin; aber sie würde keinen Schritt getan, kein Wort ausgesprochen haben, womit sie nach ihrer Empfindung Pauline unangenehm hätte sein können. Die Vergebung für die Vergangenheit rührte sie zu Tränen, sie wollte ihr beweisen, daß sie dessen würdig war, sie hatte ihr jene überschwängliche Frauenanbetung geweiht, die sich durch Schwüre, Küsse, alle Arten leidenschaftlicher Kosereien kundgibt. Darum beobachtete sie sie unaufhörlich, um herbeizueilen, wenn sie eine Wolke auf ihrer Stirn bemerkte. So ließ sie plötzlich Lazares Arm fahren und ergriff den ihren, ärgerlich, daß sie sich einen Augenblick hatte vergessen können; sie suchte sie zu zerstreuen, verließ sie nicht mehr und stellte sich sogar, als schmolle sie mit dem jungen Manne. Sie war nie so reizend gewesen wie in dieser fortwährenden Ergriffenheit und in dem Bedürfnis zu gefallen, von dem sie sich im Augenblick hinreißen ließ, und das sie nachher um so mehr bedauerte; sie erfüllte das Haus mit dem Rauschen ihrer Kleider und den schmachtenden Liebkosungen einer jungen Katze.
Nach und nach verfiel Pauline wieder in ihre Qualen. Ihre Hoffnung, ihr kurzer Triumph erhöhte deren Grausamkeit. Es waren nicht die heftigen Erschütterungen von früher, Eifersuchtsanfälle, die sie eine Stunde lang wie toll machten; es war ein langsames Niederdrücken wie durch eine auf sie gefallene Masse, deren Gewicht sie jede Minute mehr aufrieb. Von nun an war keine Rast und kein Heil mehr möglich: ihr Unglück hatte den Gipfel erreicht. Sie hatte ihnen sicher keine Vorwürfe zu machen, beide überhäuften sie mit Zuvorkommenheiten und kämpften gegen die Hinneigung, die sie einander zutrieb; sie litt gerade unter diesen Zuvorkommenheiten und begann von neuem klar zu sehen, seitdem jene sich zu verständigen schienen, um ihr den Schmerz ihrer gegenseitigen Liebe zu ersparen. Das Mitleid dieser beiden Liebenden wurde ihr unerträglich. War dieses hastige Flüstern, wenn sie sie beisammen ließ, kein Geständnis, und dann wieder dieses plötzliche Schweigen, wenn sie wiederkam, diese heftigen Küsse Luisens und die liebevolle Demut Lazares? Sie hätte sie lieber schuldig gesehen, daß sie sie in allen Ecken verrieten; während dieser vorsichtig beobachtete Schein von Ehrlichkeit, diese gleichsam zur Belohnung ihr gewidmeten Liebkosungen, die ihr alles sagten, sie entwaffnet ließen, so daß sie weder den Willen noch die Kraft fand, ihr Gut zurückzuerobern. An dem Tage, an dem sie ihre Nebenbuhlerin zurückgeführt, war es ihr Gedanke gewesen, nötigenfalls gegen sie zu kämpfen; allein was wollte sie gegen Kinder beginnen, die über ihre Liebe in Verzweiflung gerieten? Sie selbst hatte es so gewollt, sie hätte nur Lazare zu heiraten brauchen, ohne sich darüber zu beunruhigen, ob sie ihm ihre Hand aufzwang. Aber noch heute empörte sie trotz ihrer Qual der Gedanke, so über ihn zu verfügen, die Erfüllung eines Versprechens zu fordern, das er zweifellos bereute. Wäre sie daran gestorben, sie würde ihn ausgeschlagen haben, wenn er eine andere liebte.
Inzwischen blieb Pauline die Mutter ihrer kleinen Familie; sie pflegte Chanteau, dem es schlecht ging, sie war genötigt, Veronika nachzuarbeiten, deren Sauberkeit nachließ, ohne Lazare und Luise zu rechnen, die sie als lärmende Kinder zu behandeln heuchelte, um über ihre Streiche lachen zu können. Es gelang ihr, lauter als sie selbst zu lachen, mit ihrem schönen, vollen Lachen, aus dem mit Glockentönen Gesundheit und Lebensmut klangen. Das ganze Haus heiterte sich auf. Sie zeigte vom Morgen bis zum Abend eine übertriebene Geschäftigkeit und weigerte sich unter dem Vorwande des großen Reinemachens, der Wäsche oder der Bereitung von eingemachtem Obst die Kinder auf ihren Spaziergängen zu begleiten. Vor allem aber war Lazare der Lärmmacher, er pfiff auf der Treppe, er schlug mit den Türen, er fand die Tage zu kurz und zu ruhig. Obgleich er nichts tat, schien ihn diese neue Leidenschaft, die ihn befallen, über seine Zeit und seine Kräfte hinaus zu beschäftigen. Wieder einmal eroberte er die Welt, tagtäglich wurden bei Tische neue, außerordentliche Zukunftspläne aufgetragen. Die Literatur widerte ihn bereits an, er bekannte, die Vorbereitungen zu den Prüfungen aufgegeben zu haben, die er endlich hatte bestehen wollen, um in das Professorat einzutreten; er hatte sich eine lange Zeit unter diesem Vorwande eingeschlossen, war aber so mutlos gewesen, daß er nicht einmal ein Buch öffnete; und jetzt bespöttelte er seine Dummheit; war es nicht blödsinnig, sich einzuschließen, um später Romane und Dramen zu schreiben? Nein, nur die Politik war noch etwas, von jetzt an war sein Plan genau vorgezeichnet: er kannte den Abgeordneten von Caen ein wenig, er wollte ihn als Sekretär nach Paris begleiten und dort in einigen Monaten seinen Weg machen. Das Kaiserreich hatte großen Bedarf an jungen Leuten. Wenn Pauline über diesen Galopp seiner Gedanken beunruhigt, seinen Eifer zu beschwichtigen suchte und ihm zu einem kleinen, sicheren Amte riet, beschwerte er sich über ihre große Vorsicht und nannte sie aus Scherz: »Großmutter!« Das Getöse begann von neuem, das Haus ertönte von einer überlauten Heiterkeit wieder, aus der man die Angst eines verborgenen Elends herausfühlte.
Als eines Tages Lazare und Luise allein nach Verchemont gegangen waren, wühlte Pauline, die ein Rezept zum Auffrischen von Sammet benötigte, in dem großen Schranke des Vetters; sie glaubte, es dort auf einem Stückchen Papier zwischen zwei Seiten eines Buches gesehen zu haben. Da entdeckte sie zwischen den Flugschriften den alten Handschuh ihrer Freundin, diesen vergessenen Handschuh, an dem er sich so oft bis zur fleischlichen Sinnestäuschung berauscht hatte. Das war für sie ein Lichtstrahl; sie erkannte den Gegenstand wieder, den er an dem Abend, an dem sie unerwartet nach oben gekommen war, um ihn zum Essen zu rufen, in so großer Verwirrung verborgen hatte. Sie sank auf einen Stuhl, wie vernichtet von dieser Entdeckung. Mein Gott! Er begehrte dieses Mädchen bereits, bevor es wiedergekommen war, er lebte mit ihr, er hatte diesen Lappen mit seinen Lippen abgenutzt, weil er noch etwas von ihrem Dufte bewahrte. Ein heftiges Schluchzen erschütterte sie, während ihre von Tränen gebadeten Augen wie gebannt auf dem Handschuh ruhten, den sie immer noch in ihren zitternden Händen hielt.
»Haben Sie es gefunden, Fräulein?« fragte die laute Stimme Veronikas, die ebenfalls heraufkam, auf dem Treppenabsatze. »Ich sage Ihnen, das beste Mittel ist, den Samt mit einer Speckschwarte abreiben.«
Sie trat ein und begriff zuerst nichts, bis sie sie in Tränen sah, die Finger um den alten Handschuh gekrampft. Sie schnüffelte im Zimmer umher und erriet endlich die Ursache dieser Verzweiflung.
»Donnerwetter!« begann sie in ihrer immer mehr derben Weise, »Sie hätten darauf eigentlich gefaßt sein müssen, was jetzt gekommen ist. Ich habe Sie damals gewarnt. Sie brachten sie zusammen, und sie unterhalten sich... Die Frau hat vielleicht recht gehabt, jenes Kätzchen erheitert ihn mehr als Sie.«
Sie nickte mit dem Kopfe und setzte mit dumpfer Stimme hinzu wie zu sich selbst:
»Ach ja, die Frau sah trotz ihrer Fehler klar. Ich kann es immer noch nicht herunterwürgen, daß sie tot ist.«
Als Pauline an jenem Abend die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen und das Licht auf die Kommode gestellt hatte, sank sie auf den Bettrand nieder; sie sagte sich, daß sie Lazare und Luise jetzt verheiraten müsse. Den ganzen Tag hatte ihr der Schädel so gebrummt, daß es ihr unmöglich gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen; erst in dieser nächtlichen Stunde, in der sie ohne Zeugen leiden konnte, erkannte sie endlich diese unvermeidliche Notwendigkeit. Sie mußten verheiratet werden, das tönte in ihr wie ein Befehl, wie eine Stimme der Vernunft und der Gerechtigkeit, die sie nicht zum Schweigen bringen konnte. Sie, die so mutig, wandte sich einen Augenblick entsetzt um, denn sie meinte, die Stimme ihrer Tante zu hören, die ihr zurief zu gehorchen. Sie warf sich völlig angekleidet rücklings auf das Bett und barg den Kopf in die Kissen, um ihr Schreien zu ersticken. Ihn einer andern geben, ihn in den Armen einer andern wissen, auf ewig, ohne Hoffnung ihn je wiederzubekommen! Diesen Mut würde sie nicht haben; lieber fristete sie ihr elendes Leben fort; niemand sollte ihn haben, weder sie noch das Mädchen, und er selbst sollte harren und harren, bis er vertrocknet wäre. Lange Zeit wehrte sie sich dagegen, von einer eifersüchtigen Wut erschüttert, die häßliche, fleischliche Bilder in ihr auftauchen ließ. Immer siegte zuerst das Blut, eine Heftigkeit, die weder die Jahre noch die Klugheit milderten. Dann verfiel sie in eine große Erschöpfung, ihr Fleisch war tot.
Auf dem Rücken liegend und ohne die Kraft zum Entkleiden überlegte Pauline lange. Sie gelangte zu der Überzeugung, daß Luise mehr als sie zu dem Glücke Lazares beitragen werde. Hatte ihn dieses schwache Kind mit den Liebkosungen einer Geliebten nicht bereits aus seiner Langweile gerissen? Zweifelsohne bedurfte er einer solchen, die ihm fortwährend am Halse hing und mit ihren Küssen die trüben Gedanken, die Schrecken vor dem Tode verjagte. Pauline setzte sich selbst herab, sie fand sich zu kalt, ohne liebevolle weibliche Anmut, nur von Güte beseelt, was jungen Leuten aber nicht genügt. Eine andere Betrachtung überzeugte sie vollends. Sie war ruiniert und die Zukunftspläne ihres Vetters, diese Pläne, die sie beunruhigten, erforderten viel Geld. Sollte sie ihm die beschränkten Verhältnisse, in denen die Familie lebte, auferlegen, die Mittelmäßigkeit, unter der sie ihn leiden sah? Das würde ein schreckliches Leben sein voll beständigen Bedauerns, voll streitsüchtiger Bitterkeit wegen der verfehlten ehrgeizigen Entwürfe. Sie würde ihm den ganzen Groll über das Elend als Mitgift bringen, während Luise, die reich war, ihm die erträumten Stellungen eröffnete. Man versicherte, daß der Vater für seinen Schwiegersohn schon eine Stellung in Bereitschaft hatte, zweifelsohne handelte es sich um eine Anstellung im Bankfache, und obgleich Lazare eine Verachtung vor Geldmenschen zur Schau trug, würden sich die Dinge gewiß ordnen lassen. Sie konnte nicht länger zögern, ihr war es, als begehe sie eine feige Handlung, wenn sie die beiden nicht miteinander verheiratete. In ihrer Schlaflosigkeit wurde diese Heirat eine natürliche, notwendige Lösung, die sie beschleunigen mußte, wenn sie nicht die Achtung vor sich selbst verlieren wollte.
Die ganze Nacht verstrich in diesem Kampfe. Als es Tag wurde, entkleidete Pauline sich endlich. Sie war sehr ruhig und genoß in ihrem Bette eine vollkommene, aber schlaflose Ruhe. Noch nie hatte sie sich so leicht, so erhaben, so losgelöst von allem gefühlt. Alles war zu Ende, sie hatte die Bande ihrer Selbstsucht zerschnitten, sie hoffte nichts und von niemandem mehr; im Grunde ihres Herzens fühlte sie Glück des Opfers. Sie fand nicht einmal mehr ihr einstiges Verlangen wieder, allein das Glück der Ihren ausmachen zu wollen, dieses gebieterische Bedürfnis, das ihr jetzt wie die letzte Verschanzung ihrer Eifersucht erschien. Der Stolz ihrer Selbstverleugnung war entschwunden, sie fügte sich darin, daß die Ihren auch ohne ihr Hinzutun glücklich würden. Es war der höchste Grad der Liebe zu den anderen: zu verschwinden, alles zu geben, ohne zu glauben, genug gegeben zu haben, zu lieben bis zu dem Maße, daß man sich eines Glückes freut, das man nicht bereitet hat und nicht teilen wird. Die Sonne stieg empor, als sie in tiefen Schlaf verfiel.
An jenem Tage kam Pauline sehr spät hinab. Als sie erwacht war, hatte sie die Freude gehabt, ihre Entschlüsse vom vorhergehenden Tage klar und fest zu empfinden. Dann bemerkte sie, daß sie sich vergessen hatte und daß sie in der neuen Lage, die für sie entstehen werde, an das Morgen denken mußte. Wenn sie auch den Mut hatte, Lazare und Luise zu verheiraten: den Mut, bei ihnen zu bleiben, die Vertraulichkeit ihres Glückes zu teilen, würde sie nicht haben; die Ergebenheit hatte ihre Grenzen, sie befürchtete die Wiederkehr ihrer Heftigkeit, irgendeinen schrecklichen Auftritt, von dem sie den Tod haben werde. Tat sie nicht schließlich bereits genug? Wer wollte die Grausamkeit haben, ihr diese unnütze Qual aufzuerlegen? Auf der Stelle war ihre Entscheidung unwiderruflich gefaßt: sie wollte fortgehen, dieses Haus voll beunruhigender Erinnerungen verlassen. Es bedeutete eine vollständige Veränderung ihres Lebens, und sie schrak nicht davor zurück.
Beim Frühstück trug sie jene ruhige Heiterkeit zur Schau, die sie nicht mehr verließ. Beim Anblick Lazares und Luisens, die Seite an Seite flüsterten und lachten, blieb sie tapfer, fühlte sie keine andere Schwäche als eine große Kälte im Herzen. Da es gerade ein Sonnabend war, beschloß sie beide zu einem langen Spaziergang anzueifern, um allein zu sein, wenn Doktor Cazenove käme. Die beiden gingen fort, und sie hatte noch die Vorsicht, den Arzt auf der Straße zu erwarten. Sowie er sie erblickte, wollte er sie in seinen Wagen nehmen und nach Hause fahren. Sie aber bat ihn auszusteigen, und sie kehrten langsamen Schrittes heim, während Martin hundert Meter vor ihnen den leeren Wagen lenkte.
Pauline schüttete in wenigen, schlichten Worten ihr Herz aus. Sie sagte alles. Ihren Plan, Lazare Luisen zu geben, ihre Absicht, das Haus zu verlassen. Dieses Bekenntnis schien ihr notwendig, sie wollte nicht unüberlegt handeln, und der alte Arzt war der einzige Mann, der sie verstehen konnte.
Plötzlich blieb Cazenove mitten auf der Straße stehen, und umfaßte sie mit seinen langen, mageren Armen. Er zitterte vor Erregung und preßte einen innigen Kuß auf ihr Haar.
»Du hast recht, meine Tochter!« rief er, indem er sie duzte. »Siehst du, ich bin entzückt, denn das konnte noch schlechter enden. Es quält mich schon seit Monaten, es machte mich ordentlich krank, zu Euch zu gehen, so unglücklich fühlte ich mich ... Sie haben dich schön ausgeplündert, die guten Leute: zuerst dein Geld, dann dein Herz.«
Das junge Mädchen versuchte ihn zu unterbrechen:
Mein Freund, ich bitte Sie ... Sie beurteilen sie schlecht!«
»Möglich, das hindert mich aber nicht, mich deinethalben zu freuen. Geh, geh, gib deinen Lazare hin, du machst der andern gerade kein schönes Geschenk mit ihm ... Gewiß, er ist liebenswürdig, voll der besten Absichten; aber mir ist es lieber, daß die andere mit ihm unglücklich wird. Diese Burschen, die sich beständig langweilen, sind schwer zu ertragen selbst für so kräftige Schultern wie die deinen. Ich wünschte dir lieber einen Schlächtergehilfen, ja, einen Schlächtergehilfen, der Tag und Nacht lachte, daß ihm die Kinnbacken bersten.
Als er ihre Augen sich mit Tränen füllen sah, fuhr er fort:
»Gut! Du liebst ihn, sprechen wir nicht mehr davon. Umarme mich noch einmal, du bist ein Mädchen, wacker genug, um soviel Vernunft zu haben ... So ein Dummkopf, der es nicht versteht!«
Er hatte sie beim Arm genommen und preßte sie an sich. Dann sprachen sie vernünftig miteinander, während sie sich wieder auf den Weg machten. Sie würde sicher gut daran tun, Bonneville zu verlassen, und er wollte es auf sich nehmen, ihr eine Stellung zu verschaffen. Er hatte gerade in Saint-Lô eine alte reiche Verwandte, die eine Gesellschafterin suchte. Das junge Mädchen würde sich sehr gut dort befinden, um so mehr, als die Dame keine Kinder hatte, Neigung für sie fassen und sie später vielleicht an Kindesstatt annehmen konnte. Alles wurde geordnet, er versprach, binnen drei Tagen eine bestimmte Antwort zu bringen, und sie kamen überein, von diesem förmlichen Plan, das Haus zu verlassen, zu keinem Menschen zu sprechen. Sie fürchtete, man könne eine Drohung darin erblicken; sie wollte die Hochzeit erst vorübergehen lassen, und dann am Tage darauf ohne Geräusch wie eine überflüssig gewordene Person ihres Weges gehen.
Am dritten Tage erhielt Pauline einen Brief von dem Arzte: man erwarte sie in Saint-Lô, sobald sie frei sei. An dem nämlichen Tage führte sie während Lazares Abwesenheit Luise in den Gemüsegarten auf eine alte, von einem Tamariskenbusche überschattete Bank. Gegenüber über die niedrige Mauer hinweg erblickte man nur das Meer und den Himmel in ihrem unendlichen Blau, am Horizont durch eine große, einfache Linie durchschnitten.
»Mein Herz,« sagte Pauline in ihrer mütterlichen Art, »wir wollen wie Schwestern miteinander reden, willst du? Du liebst mich ein wenig?«
Luise unterbrach sie und umfaßte sie.
»Oh! ja.«
»Nun wohl! Wenn du mich liebst, tust du unrecht, mir nicht alles zu sagen... Warum hast du Geheimnisse vor mir?«
»Ich habe keine Geheimnisse.«
»Doch, du verstellst dich. Laß sehen, öffne mir dein Herz.«
Beide sahen sich einen Augenblick aus nächster Nähe an, daß sie gegenseitig die Wärme ihres Atems spüren konnten. Indessen verwirrten sich die Augen der einen unter dem klaren Blick der andern. Das Schweigen wurde peinlich.
»Sage mir alles. Die Dinge, über die man spricht, sind bald geklärt, und nur wenn man sie verhehlt, entsteht Böses daraus ... Nicht wahr, es wäre nicht schön, wenn wir uns erzürnten und wieder etwas täten, was wir schon einmal so tief bedauert haben?«
Da brach Luise in heftiges Schluchzen aus. Sie preßte mit krampfhaften Fingern die Hüfte der Freundin, ließ ihren Kopf auf deren Schulter sinken und verbarg ihn dort, indem sie unter Tränen stammelte:
»Oh! Es ist nicht gut, wieder darauf zurückzukommen. Man sollte nie wieder darüber sprechen, nie wieder. Schicke mich lieber gleich fort, ehe du mich diese Qual nochmals leiden läßt.«
Pauline versuchte vergeblich, sie zu beruhigen.
»Nein, ich verstehe wohl,« fuhr Luise fort; »du hast mich noch in Verdacht. Warum sprichst du mir von einem Geheimnis? Ich habe keine Geheimnisse, ich tue alles auf der Welt, damit du mir keine Vorwürfe zu machen habest. Es ist nicht meine Schuld, wenn dich etwas beunruhigt: ich wache sogar über mein Lachen, ohne daß es den Anschein hat ... Wenn du mir nicht glaubst, will ich gehen, und zwar sofort.«
Sie waren allein in dem weiten Raum. Der vom Westwind versengte Gemüsegarten breitete sich zu ihren Füßen wie ein unbebautes Gelände aus, während jenseits das unbewegliche Meer seine Unendlichkeit aufrollte.
»So höre doch,« rief Pauline; »ich mache dir keine Vorwürfe, ich möchte dich im Gegenteil beruhigen.«
Sie bei den Schultern fassend, zwang sie Luise die Augen aufzuschlagen, dann fragte sie sie sanft wie eine Mutter ihre Tochter:
»Du liebst Lazare? ... Und er liebt dich auch, ich weiß es ...« Eine Blutwelle strömte in Luisens Gesicht. Sie zitterte noch heftiger, sie wollte sich losreißen und entfliehen.
»Mein Gott! Bin ich so ungeschickt, daß du mich nicht einmal verstehst! Würde ich einen solchen Gegenstand berühren, um dich zu quälen? Nicht wahr, ihr liebt euch? Gut. Ich will euch verheiraten, das ist doch sehr einfach.«
In ihrer Bestürzung vergaß Luise, sich länger zu wehren. Ihre Tränen standen stille, ihre Hände waren kraftlos niedergesunken.
»Wie? Und du?«
»Ich, meine Teure, habe mich seit Wochen ernstlich befragt, besonders nachts in den Stunden des Wachens, in denen man klarer sieht... Und ich habe erkannt, daß ich für Lazare nur eine gute Freundschaft übrighabe. Bemerkst du es nicht selbst? Wir sind Kameraden, man möchte sagen, zwei Jungen, zwischen uns herrscht nicht dieses Ungestüm der Verliebten...«
Sie suchte nach Worten, um ihre Lüge glaubwürdig zu machen. Aber ihre Nebenbuhlerin schaute sie noch immer mit starren Augen an, als sei sie in den geheimen Sinn der Worte eingedrungen.
»Warum lügst du?« murmelte sie endlich. »Bist du nicht mehr fähig zu lieben, wenn du liebst?«
Pauline wurde verwirrt.
»Was tut das! Ihr liebt euch, es ist ganz natürlich, daß er dich heiratet... Ich bin mit ihm aufgezogen worden und bleibe seine Schwester... Die Gedanken schwinden, wenn man solange aufeinander gewartet hat... Und dann habe ich noch viele andere Gründe...«
Sie hatte das Bewußtsein, den Boden unter den Füßen zu verlieren, irre zu werden, und begann, von ihrem Freimut hingerissen:
»Lasse mich nur machen. Ich liebe ihn noch genug, um zu wünschen, daß er dein Mann werde, weil ich glaube, daß du ihm zu seinem Glücke fehlst. Mißfällt es dir? Würdest du nicht ebenso handeln?... Laß uns vernünftig miteinander reden. Willst du mit von der Verschwörung sein? Willst du, daß wir uns beide verständigen, um ihn zu zwingen, glücklich zu sein? Selbst wenn er böse würde, wenn er glaubte, mir etwas schuldig zu sein, müßtest du mir helfen, ihn zu überzeugen; denn dich liebt er, deiner bedarf er... Ich flehe dich an, sei meine Helfershelferin, verabreden wir alles, solange wir noch allein sind.«
Luise nahm wahr, wie Pauline bei ihrem Flehen zitterte, wie zerrissen sie sich fühlte, so daß sie sich ein letztes Mal dagegen auflehnte.
»Nein, nein, ich nehme es nicht an... Es wäre abscheulich, was wir da täten. Du liebst ihn noch immer, ich fühle es wohl, und erfindest es nur, um dich noch mehr zu quälen. Anstatt dazu die Hand zu bieten, werde ich ihm alles sagen. Ja, sobald er heimkommt.«
Pauline umfaßte sie von neuem in ihrer Herzensgüte und hinderte sie fortzufahren, indem sie ihren Kopf an deren Brust drückte.
»Schweige, schlimmes Kind!... Es muß sein, denken wir an ihn.«
Ein Schweigen trat ein, sie verharrten in dieser Umarmung. Schon erschöpft, ließ Luise nach und schmiegte sich zärtlich an die Freundin; ein Strom von Tränen war in ihre Augen getreten, aber es waren sanfte Tränen, die langsam herniederflossen. Ohne zu sprechen, drückte sie die Freundin für Augenblicke an sich, als könne sie nichts Zarteres, nichts Innigeres finden, um ihr zu danken. Sie fühlte sie so hoch über sich, so schmerzbewegt und so erhaben, daß sie nicht einmal die Augen zu erheben wagte, um nicht ihrem Blicke zu begegnen. Nach einigen Minuten indessen getraute sie es sich, warf den Kopf in lächelnder Verwirrung zurück, hob die Lippen und gab ihr einen stummen Kuß. Auf dem Meer in der Ferne unter dem fleckenlosen Himmel trübte keine Welle das unermeßliche Blau. Es war eine Reinheit, eine Ungestörtheit, in der sich noch lange die Worte verloren, die sie nicht mehr aussprachen.
Als Lazare heimgekehrt war, suchte Pauline ihn in seinem Zimmer auf, in jenem großen, geliebten Raume, in dem sie beide aufgewachsen waren. Sie wollte noch am nämlichen Tage ihr Werk zu Ende führen... Bei ihm suchte sie nicht nach Übergängen, sie sprach beherzt. Das Zimmer war voller Erinnerungen an ehemals: vertrocknete Algenbüschel lagen umher, das Bollwerkmodell stand auf dem Klavier, der Tisch war mit wissenschaftlichen Büchern und Musikalien überladen.
»Möchtest du mit mir plaudern?« fragte sie. »Ich habe dir ernste Dinge zu sagen.«
Er schien überrascht und stellte sich vor sie hin.
»Was denn?... Droht Papa eine Verschlimmerung?«
»Nein, höre zu... Die Sache muß endlich berührt werden, das Schweigen führt zu nichts. Du erinnerst dich, daß meine Tante den Plan gefaßt hatte, uns zu verheiraten; wir haben viel darüber gesprochen, und seit Monaten ist nicht mehr die Rede davon. Ich denke, es ist klüger, den Plan aufzugeben.«
Der junge Mann war bleich geworden: aber er ließ sie nicht vollenden und schrie heftig:
»Was faselst du? ... Bist du nicht mein Weib? Wenn du willst, gehen wir schon morgen zum Pfarrer, um ein Ende damit zu machen ... Und das nennst du ernste Dinge?«
Sie antwortete mit ruhiger Stimme:
»Das ist sehr ernst, da du dich auch darüber ärgerst ... Ich wiederhole dir, wir müssen darüber sprechen. – Gewiß, wir sind alte Kameraden, aber ich glaube nicht, daß das Zeug für ein Liebespaar in uns steckt. Wozu nützt es, uns in einen Gedanken zu verbohren, der vielleicht weder dem einen noch dem andern von uns beiden zum Glücke gereichen würde.«
Da brach Lazare in einen Strom abgebrochener Worte aus. Suchte sie etwa Streit mit ihm? Er könne doch nicht immerzu an ihrem Halse hängen. Habe man auch die Heirat von Monat zu Monat aufgeschoben, so wisse sie sehr wohl, daß er nicht die Ursache sei. Es sei unrecht zu sagen, daß er sie nicht mehr liebe. Gerade in diesem Zimmer habe er sie so sehr geliebt, daß er sie nicht mit seinen Fingern zu streifen wagte aus Furcht, sich hinreißen zu lassen, sich schlecht zu betragen. Bei dieser Erinnerung an die Vergangenheit stieg eine tiefe Röte in Paulinens Wangen; er hatte recht, sie erinnerte sich dieses kurzen Verlangens, dieses heißen Atems, mit dem er sie eingehüllt. Aber wie fern waren die Stunden köstlichen Schauers, und was für eine kalte, brüderliche Freundschaft erwies er ihr jetzt.
Sie antwortete denn auch mit trauriger Miene:
»Mein armer Freund, wenn du mich wirklich liebtest, wärest du, anstatt zu streiten, wie du es soeben tust, bereits in meinen Armen, du würdest schluchzen und zu meiner Überzeugung anderes ersinnen.«
Er erbleichte noch mehr, machte eine unbestimmte Bewegung der Abwehr und sank gleichzeitig auf einen Stuhl nieder.
»Nein,« fuhr sie fort, »es ist klar, du liebst mich nicht mehr. Was willst du? Wir sind zweifelsohne nicht füreinander geschaffen. Als wir hier zusammen eingeschlossen waren, warst du geradezu gezwungen, an mich zu denken. Später ist dir der Gedanke daran vergangen, die Sache hatte keinen Bestand, weil ich nichts besaß, um dich zu fesseln.«
Eine letzte Aufwallung von Erbitterung riß ihn fort. Er rückte auf dem Stuhle hin und her und stammelte:
»Wo hinaus willst du? Ich frage dich, was bedeutet alles das? Ich kehre gemütlich heim, gehe ruhig in mein Zimmer, um mir meine Pantoffel anzuziehen, und da fällst du über mich her und brichst eine überspannte Geschichte vom Zaune. Ich liebe dich nicht mehr, wir sind nicht füreinander geschaffen, wir müssen unsere Heirat aufgeben... Noch einmal, was bedeutet das?«
»Das bedeutet, daß du eine andere liebst und ich dir den Rat gebe, sie zu heiraten.«
Einen Augenblick blieb Lazare stumm. Dann suchte er die Sache ins Scherzhafte zu ziehen. Schön, die Auftritte begännen also von neuem, ihre Eifersucht werde wieder alles von unterst zu oberst kehren. Sie könnte ihn nicht einen Tag heiter sehen, sie müsse durchaus eine Leere um ihn herum schaffen. Pauline hörte ihm mit tieftraurigem Gesichte zu, dann legte sie ihm plötzlich ihre zitternden Hände auf die Schultern und ließ ihr Herz in den unfreiwilligen Aufschrei ausbrechen:
»Kannst du glauben, daß ich dich quälen will? Du verstehst also nicht, daß ich einzig dein Glück will, daß ich alles gern hinnehme, um dir das Vergnügen einer Stunde verschaffen zu können! Nicht wahr, du liebst Luise? Ich sage dir, heirate sie... Ich zähle nicht mehr, ich gebe sie dir.«
Er sah sie bestürzt an. In dieser nervösen, unausgeglichenen Natur sprangen die Gefühle bei der geringsten Erschütterung in das Gegenteil über. Seine Augenlider zuckten, er brach in ein Schluchzen aus. »Schweige, ich bin ein Elender! Ja, ich verachte mich wegen all dessen, was seit Jahren in diesem Hause vor sich geht... Ich bin dein Schuldner, sage nicht nein! Wir haben dir dein Geld genommen, und ich habe es wie ein Dummkopf verschleudert, und jetzt bin ich so tief gesunken, daß du mir das Almosen meines Wortes schenkst, daß du es mir aus Mitleid wiedergibst wie einem Manne ohne Mut und Ehre.«
»Lazare, Lazare!« murmelte sie entsetzt.
Mit wütender Gebärde war er aufgesprungen und ging, sich die Brust mit den Fäusten schlagend, umher.
»Laß mich; ich möchte mich am liebsten sofort töten. Wenn es nach der Gerechtigkeit ginge... müßte ich nicht dich lieben? Ist es nicht verabscheuungswürdig, diese andere zu begehren, weil sie ohne Zweifel nicht für mich bestimmt, weil sie weniger gut und weniger gesund ist, was weiß ich? Wenn ein Mensch auf solche Dinge verfällt, so hat er eben Schlamm am Grunde seines Wesens. Du siehst, daß ich nichts verhehle, daß ich mich nicht einmal zu entschuldigen suche. Höre, ehe ich dein Opfer annehme, werde ich Luise selbst vor die Tür setzen, und ich möchte nach Amerika gehen, um euch nie wiederzusehen, weder die eine noch die andere.«
Sie versuchte lange Zeit ihn zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. Konnte er denn das Leben nicht einmal nehmen, wie es war, ohne Übertreibung? Sah er denn nicht, daß sie nach reiflicher Überlegung verständig mit ihm redete? Diese Heirat sei für alle das beste. Wenn sie ihm mit so ruhiger Stimme davon spreche, so geschehe es, weil sie jetzt, weit entfernt darunter zu leiden, die Heirat sogar wünsche. Aber von dem Wunsche hingerissen, ihn zu überzeugen, hatte sie die Ungeschicklichkeit, auf Luisens Vermögen anzuspielen und durchblicken zu lassen, daß Thibaudier am Tage nach der Hochzeit für seinen Schwiegersohn eine Stellung finden werde.
»Das also ist es,« rief er mit erneuerter Heftigkeit, »verkaufe mich nur. Sage nur gleich, daß ich nichts mehr von dir wissen will, weil ich dich ruiniert habe und mir nur noch die Schlechtigkeit übrig bleibt, mir anderswo ein reiches Mädchen zu erheiraten... Nein, alles das ist schmutzig. Niemals, hörst du, niemals!«
Pauline, deren Kräfte zu Ende waren, hörte auf, in ihn zu dringen. Es trat ein Schweigen ein. Lazare war wie gebrochen auf einen Stuhl gesunken, während sie mit langsamen Schritten durch den weiten Raum ging und dabei vor jedem Möbel stehen blieb; von diesen alten, traulichen Dingen, dem Tische, den sie mit ihren Ellbogen abgenutzt hatte, dem Schranke, in dem noch ihr Kinderspielzeug vergraben lag, von all den dort noch umherliegenden Erinnerungen stieg eine Hoffnung in ihr Herz, die sie nicht hören wollte, und deren Süße sie trotzdem langsam in sich aufnahm. Wenn er sie doch wirklich so liebte, um sich einer andern zu versagen! Aber sie kannte die folgenden Tage der Vernachlässigung, die unter der ersten Hitze dieser schönen Gefühle lauerten. Sodann war es feige zu hoffen; sie fürchtete, einer List ihrer Schwäche nachzugeben.
»Du wirst darüber nachdenken«, schloß sie endlich, vor ihm stehen bleibend. »Ich will uns nicht weiter quälen... Gewiß bist du morgen vernünftiger.«
Der folgende Tag verstrich indes in großer Verlegenheit. Eine dumpfe Traurigkeit, eine Art Bitterkeit verdüsterte das Haus von neuem. Luise hatte rote Augen, Lazare floh sie und hatte sich ganze Stunden in seinem Zimmer eingeschlossen. An den folgenden Tagen schwand jedoch diese Verlegenheit nach und nach; das Lachen, das Flüstern, das zärtliche Berühren begann wieder. Pauline wartete, trotz ihrer Vernunft von tollen Hoffnungen erregt. Vor dieser schrecklichen Ungewißheit glaubte sie das Leiden nicht gekannt zu haben. Als sie eines Abends endlich in der Dämmerstunde in die Küche hinabstieg, um ein Licht zu holen, traf sie Lazare und Luise im Flur in einer Umarmung. Das junge Mädchen entfloh lachend, und er, durch das Dunkel ermutigt, ergriff Pauline und drückte ihr zwei laute brüderliche Küsse an die Wangen.
»Ich habe nachgedacht«, flüsterte er. »Du bist die Bessere, die Vernünftigere... Aber ich liebe dich immer, ich liebe dich, wie ich Mama geliebt habe.«
Sie hatte die Kraft zu antworten:
»Es ist also abgemacht, ich bin sehr zufrieden.«
Aus Furcht, ohnmächtig zu werden, wagte sie sich nicht in die Küche, so bleich fühlte sie sich an der Kälte ihres Gesichts. Dort in der Finsternis glaubte sie den Geist aufgeben zu müssen; dem Ersticken nahe, fand sie nicht einmal Tränen. Mein Gott, was hatte sie ihm getan, daß er seine Grausamkeit bis zur Vergrößerung der Wunde trieb? Konnte er nicht sofort an jenem selben Tage, an dem sie alle ihre Kräfte beisammen hatte, ihren Vorschlag annehmen, ohne sie mit eitlen Hoffnungen weich zu stimmen? Jetzt wurde das Opfer doppelt schwer, sie verlor ihn zum zweiten Male und um so schmerzlicher, als sie sich seine Zurückeroberung eingebildet hatte. Mein Gott! Sie hatte Mut, aber es war schlecht, ihr die Aufgabe so entsetzlich schwer zu machen.
Alles wurde schnell geordnet. Veronika stand mit offenem Munde da, sie begriff gar nichts mehr und fand, daß die Dinge nach dem Tode der Frau völlig verkehrt gingen. Diese Lösung aber brachte ganz besonders Chanteau außer Fassung. Er, der sich gewöhnlich um nichts kümmerte und zu jedem Willen der anderen beistimmend mit dem Kopfe nickte, wie eingekapselt in die Selbstsucht der wenigen Ruheminuten, die er dem Schmerze stahl, begann zu weinen, als Pauline selbst ihm dieses neue Abkommen mitteilte. Er schaute sie an, stammelte, Bekenntnisse entschlüpften ihm in abgerissenen Worten; es sei nicht seine Schuld, er habe schon früher sowohl hinsichtlich der Heirat wie des Geldes anders handeln wollen; aber sie wisse wohl, daß er sich zu schlecht gefühlt habe. Da küßte sie ihn und versicherte ihm, daß sie Lazare aus Gründen der Vernunft zur Heirat mit Luise zwinge. Im ersten Augenblick wagte er es nicht zu glauben, er blinzelte mit einem Rest von Traurigkeit mit den Augen und wiederholte nur:
»Wirklich wahr? Wirklich wahr?«
Als er sie lächeln sah, tröstete er sich schnell und wurde plötzlich sogar heiter. Er fühlte sein Herz schließlich erleichtert, denn diese alte Geschichte drückte ihn, ohne daß er davon zu sprechen wagte. Er küßte Luisette auf die Wangen und holte am Abend beim Nachtisch wieder ein dreistes Lied hervor. Beim Schlafengehen jedoch überkam ihn trotzdem eine letzte Unruhe.
»Du bleibst doch bei uns, nicht wahr?« fragte er Pauline. Sie zögerte einen Augenblick und entgegnete mit einem Erröten über ihre Lüge:
»Ohne Zweifel!«
Einen guten Monat beanspruchten die Förmlichkeiten. Thibaudier, Luisens Vater, hatte die Werbung Lazares, der sein Patenkind war, sofort angenommen. Nur zwei Tage vor der Hochzeit fand zwischen ihnen ein Wortwechsel statt, als der junge Mann sich geradeheraus weigerte, in Paris eine Versicherungsgesellschaft zu leiten, deren stärkster Aktionär der Bankier war. Er beabsichtigte noch ein oder zwei Jahre in Bonneville zu verleben, wo er einen Roman, ein Meisterwerk zu schreiben gedachte, ehe er nach Paris gehe. Thibaudier begnügte sich, die Achseln zu zucken, indem er ihn in aller Freundschaft einen großen Narren nannte.
Die Hochzeit sollte in Caen stattfinden. Während der letzten vierzehn Tage herrschte ein beständiges Gehen und Kommen, ein außerordentliches Reisefieber. Pauline betäubte sich, begleitete Luise und kam gebrochen heim. Da Chanteau Bonneville nicht verlassen konnte, hatte sie versprechen müssen, der Feierlichkeit beizuwohnen als einzige Vertreterin der Familie ihres Vetters. Das Herannahen des Tages ließ sie erstarren. Am Tage vorher richtete sie es so ein, daß sie nicht in Caen zu schlafen brauchte, denn sie glaubte, weniger zu leiden, wenn sie wieder in ihrem Zimmer, beim geliebten Wiegen des großen Meeres schlafe. Sie gab vor, daß die Gesundheit des Onkels ihr Besorgnis einflöße, und daß sie sich nicht auf lange Zeit von ihm entfernen könne. Er drang vergebens in sie, ein paar Tage dort zu bleiben: war er denn krank? Im Gegenteil, außergewöhnlich erregt durch den Gedanken an diese Hochzeit, an dieses Mahl, bei dem er nicht sein werde, gedachte er, von Veronika heimlich ein verbotenes Gericht zu fordern, zum Beispiel ein Rebhuhn mit Trüffeln, das er niemals aß, ohne eines Anfalls gewiß zu sein. Trotz allem erklärte das junge Mädchen, daß es am selben Abend heimkehren werde, und sie zählte auch darauf, auf diese Weise freier zu sein, am folgenden Tage ihren Koffer packen und verschwinden zu können.
Ein feiner Regen tröpfelte hernieder, es hatte Mitternacht geschlagen, als die alte Berline von Malivoire Pauline am Abend des Hochzeitstages heimführte. Sie war sehr bleich und zitterte in ihrem blauseidenen Kleide, durch einen kleinen Schal gegen die Kühle schlecht geschützt; dennoch brannten ihre Hände. In der Küche fand sie Veronika in ihrer Erwartung an einer Tischkante eingeschlafen; das sehr hoch brennende Licht ließ sie ihre Augen niederschlagen, die von einem tiefen Schwarz waren, als fülle sie noch die Finsternis des Weges, auf dem sie weit offen geblieben waren. Sie konnte der schlaftrunkenen Magd nur Worte ohne Zusammenhang entlocken: der Herr sei nicht vernünftig gewesen, jetzt schlafe er, es sei niemand gekommen. Da nahm sie das Licht und stieg, zu Eis erstarrt durch die Leere des Hauses, hinauf, bis zum Tode verzweifelt über die Finsternis und die Stille, die ihre Schultern niederdrückten.
Im zweiten Stock flüchtete sie sich voller Eile in ihr Zimmer, als ein unwiderstehlicher Trieb, über den sie selbst erstaunte, sie Lazares Tür öffnen ließ. Sie hob das Licht in die Höhe und schaute um sich, als dünke ihr das Zimmer voller Rauch. Nichts war verändert, jedes Möbel an seinem Platz; dessenungeachtet aber verspürte sie die Empfindung eines Unglücks, einer Vernichtung, einer dumpfen Furcht wie in dem Gemache eines Toten. Mit langsamen Schritten ging sie bis zum Tische vor, betrachtete das Tintenfaß, die Feder, ein noch umherliegendes begonnenes Blatt, dann ging sie. Es war zu Ende, die Tür schloß sich hinter der tönenden Leere des Raumes.
In ihrem Zimmer harrte ihrer dieselbe Empfindung von etwas Unbekanntem. War dies wirklich ihr Zimmer mit den blauen Rosen auf dem bemalten Papier, dem schmalen, von Musselinevorhängen umrahmten eisernen Bette? Sie lebte doch seit so vielen Jahren darin! Ohne das Licht hinzustellen, nahm sie, die gewöhnlich so mutig, eine Untersuchung vor, schob die Vorhänge beiseite, blickte unter das Bett, hinter die Möbel. Eine Erschütterung, eine Verwirrung hielt sie vor den Dingen fest. Sie hätte nie geglaubt, daß von der Decke, an der ihr jeder Fleck bekannt war, eine solche Beklemmung herniedersinken könne; sie bedauerte jetzt, nicht in Caen geblieben zu sein, ihr kam das Haus noch schrecklicher vor, so belebt von Erinnerungen und so leer in der kalten Finsternis dieser stürmischen Nacht. Der Gedanke, sich schlafen zu legen, war ihr unerträglich. Sie ließ sich nieder, ohne auch nur den Hut abzunehmen, und blieb so einige Minuten unbeweglich sitzen, die weit geöffneten Augen auf die sie blendende Kerze geheftet. Plötzlich erschrak sie; was tat sie an diesem Platze, den Kopf in einem Aufruhr, daß das Gesumme sie am Denken hinderte? Es war ein Uhr, sie würde besser in ihrem Bette aufgehoben sein. Und sie begann sich mit heißen, trägen Händen zu entkleiden.
Ein Bedürfnis nach Ordnung blieb ihr selbst in diesem Zusammenbruch ihres Lebens treu. Sie verschloß sorgfältig ihren Hut und überzeugte sich mit einem Blick, ob ihre Stiefelchen nicht gelitten hätten. Ihr Kleid lag schon zusammengefaltet über einer Stuhllehne, sie hatte nur noch Unterrock und Hemde an, als ihr Blick auf ihren jungfräulichen Busen fiel. Nach und nach färbte eine Flamme ihre Wange purpurn. Aus dem Gewirr ihres Gehirnes erstanden und tauchten deutliche Bilder vor ihr auf, die beiden anderen in deren Zimmer dort, in Caen, in dem Zimmer, das sie kannte, wohin sie selbst am Morgen Blumen gebracht hatte. Die Braut hatte sich niedergelegt, er trat ein und näherte sich mit einem zärtlichen Lachen. Mit einer heftigen Gebärde ließ sie den Unterrock niedergleiten, zog das Hemd aus, und jetzt völlig nackt, betrachtete sie sich noch immer. Für sie war also diese Ernte der Liebe nicht? Sicherlich werde für sie die Hochzeit niemals kommen. Ihr Blick glitt von ihrem Busen, der hart wie eine vom Saft geschwellte Knospe war, auf ihre breiten Hüften und ihren Leib nieder, in dem eine kräftige Mutterschaft schlummerte. Sie war gleichwohl reif, sie sah das Leben ihrer Glieder schwellen, in den geheimen Falten ihres Fleisches, in einem schwarzen Flaum blühen; sie atmete den Duft des Weibes ein, wie den eines aufbrechenden, die Befruchtung erwartenden Blumenstraußes. Und sie war es nicht, es war die andere in jenem Zimmer, die sie sich deutlich heraufbeschwor, vor Wollust schier vergehend in den Armen des Gatten, dessen Kommen sie selbst schon seit Jahren erwartete.
Aber sie beugte sich weiter vor. Der rote Faden eines längs der Lende herabfließenden Blutstropfens setzte sie in Staunen. Sie verstand sofort: ihr zur Erde geglittenes Hemd schien wie von einem Messerstiche mit Blut bespritzt zu sein. Also deswegen fühlte sie seit ihrer Abfahrt von Caen eine solche Schwäche im ganzen Körper? Sie erwartete diese Wunde nicht so früh, der Verlust ihrer Liebe hatte sie an den Quellen des Lebens selbst geöffnet. Der Anblick dieses nutzlos entströmenden Lebens trieb ihre Verzweiflung auf die Spitze. Sie erinnerte sich, das erstemal vor Entsetzen geschrien zu haben, als sie sich eines Morgens im Blute liegen sah. Später war sie so kindisch gewesen, am Abend, bevor sie das Licht auslöschte, mit verstohlenem Blick das volle Erblühen ihres Fleisches und ihres Geschlechtes zu beobachten. Sie war stolz wie eine Närrin, sie kostete das Glück, Weib zu sein! Welches Elend! Der rote Regen ihrer Reife strömte heute nieder, den vergeblichen Tränen vergleichbar, die ihre Jungfräulichkeit in ihr weinte. Nun würde jeder Monat dieses Hervorsprudeln aus reifer, bei der Weinlese gepreßter Traube herbeiführen, sie würde nie Frau werden und in Unfruchtbarkeit altern.
Jetzt packte sie angesichts der Bilder, welche die Erregung vor ihr entrollte, die Eifersucht. Sie wollte leben und vollkommen leben, sie wollte das Leben schaffen, sie, die das Leben so liebte. Wozu das Dasein, wenn man sein Wesen nicht hingibt? Sie sah die beiden anderen und die Versuchung, ihren nackten Leib zu zerstören, ließ sie mit dem Blick die Schere suchen. Warum nicht diese Brust zerschneiden, diese Lenden zerbrechen, diesen Leib vollends öffnen, um dieses Blut auf den letzten Tropfen herausfließen zu lassen? Sie war viel schöner als dieses magere, blonde Mädchen; sie war stärker, und er hatte sie trotzdem nicht erwählt. Sie sollte ihn nie kennen lernen, nichts an ihr durfte ihn mehr erwarten, weder ihre Arme, noch ihre Hüften, noch ihre Lippen. Alles konnte wie unnützer Plunder in den Winkel geworfen werden. War es möglich, daß jene beisammen waren, während sie allein, vor Fieber fast zitternd, in diesem kalten Hause blieb!
Sie warf sich plötzlich bäuchlings auf das Bett. Sie preßte das Kopfkissen in ihre krampfhaften Arme und biß hinein, um ihr Schluchzen zu ersticken. Und sie versuchte ihr aufrührerisches Fleisch zu töten, sie wollte es auf der Matratze zerdrücken. Lange, vom Nacken bis zu den Fersen sie durchlaufende Erschütterungen ließen sie erbeben. Vergebens schlossen sich ihre Lider, um nicht mehr zu sehen, sie sah trotzdem, Ungeheuerlichkeiten hoben sich aus dem Dunkel ab. Was tun? Sich die Augen ausbohren und dennoch sehen, vielleicht immer sehen!
Minuten verstrichen, sie hatte kein Bewußtsein mehr von der Ewigkeit ihrer Qual. Voller Schreck richtete sie sich auf. Es war jemand da, denn sie hatte lachen hören. Aber sie fand nur ihre beinahe niedergebrannte Kerze, welche die Leuchterdille zum Platzen gebracht hatte. Wenn sie dennoch jemand gesehen hätte! Dieses eingebildete Lachen lief noch wie eine rohe Liebkosung über ihre Haut. War sie es wirklich, die so nackt blieb? Eine Scham erfaßte sie, sie hatte die Arme mit einer erschrockenen Gebärde über die Brust gekreuzt, um sich selbst nicht mehr zu sehen. Endlich streifte sie sich hastig das Nachthemd über und flüchtete unter die Bettdecke, die sie bis an das Kinn hinaufzog. Ihr zitternder Körper machte sich ganz klein. Als das Licht erloschen war, rührte sie sich nicht mehr, von der Scham über diesen Anfall wie vernichtet.
Pauline packte am nächsten Morgen ihren Koffer, ohne den Mut zu haben, Chanteau ihre Abreise anzukündigen. Am Abend indessen mußte sie ihm alles sagen, denn Doktor Cazenove sollte sie am nächsten Tage abholen und in Person zu seiner Verwandten bringen. Als Chanteau, wie vor den Kopf gestoßen, begriffen hatte, hob er mit der Gebärde eines Tollen seine kranken Hände empor, als wolle er Pauline zurückhalten, und stammelte und flehte. Sie werde es nie tun, ihn niemals verlassen, denn das sei sein Tod; er werde sicherlich davon sterben. Als er sie sanft darauf bestehen sah und ihre Gründe erriet, entschloß er sich, seinen Fehltritt zu beichten, daß er am Tage vorher ein Rebhuhn gegessen habe. Leichte Stiche brannten schon in seinen Gelenken. Es war immer die nämliche Geschichte, er unterlag im Kampfe: sollte er essen, sollte er leiden? Er aß mit der Gewißheit, leiden zu müssen, befriedigt und entsetzt zugleich. Aber sie würde gewiß nicht den Mut haben, ihn mitten im Anfalle zu verlassen.
In der Tat kam gegen sechs Uhr morgens Veronika herauf, um das Fräulein zu benachrichtigen, daß sie den Herrn in seinem Zimmer heulen höre. Sie war von unausstehlicher Laune und schalt im ganzen Hause umher, daß, wenn das Fräulein gehe, sie sich auch aus dem Staube machen werde, denn sie habe es satt, einen so wenig vernünftigen Alten zu pflegen. Pauline mußte sich noch einmal am Krankenbette des Oheims häuslich niederlassen. Als der Arzt sich einstellte, um sie fortzuführen, zeigte sie ihm den Kranken, der noch lauter als zuvor heulte und ihr zuschrie, sie möge nur gehen, wenn sie das Herz habe. Alles wurde aufgeschoben.
Das junge Mädchen zitterte jeden Tag vor der Heimkehr von Lazare und Luise; es erwartete sie ihr neues Zimmer, das einstige Fremdenzimmer, zum jetzigen Zwecke nach ihren Angaben schon seit dem Tage nach der Hochzeit eingerichtet. Sie vergaßen sich in Caen, Lazare schrieb, daß er Notizen über die Finanzwelt sammele, ehe er sich in Bonneville einschließe, um einen großen Roman zu beginnen, in dem er die Wahrheit über die großen Spekulanten sagen wolle. Dann landete er eines Morgens ohne Frau und erklärte gelassen, daß er sich mit ihr in Paris niederlassen werde: sein Schwiegervater habe ihn überzeugt, er nehme die Stelle bei der Versicherungsgesellschaft unter dem Vorwande an, daß er dort Notizen aus dem Leben sammeln könne, später wolle er zurückkehren und zur Literatur übergehen.
Als Lazare zwei Kisten mit den mitzunehmenden Gegenständen vollgepackt hatte, die alte Berline von Malivoire gekommen war, um ihn und sein Gepäck abzuholen, ging Pauline wie betäubt in das Haus, sie fand nicht mehr ihre mutige Willenskraft wieder. Chanteau, der noch sehr leidend war, fragte:
»Ich hoffe, du bleibst? Warte wenigstens, bis du mich begraben hast!«
Sie wollte nicht sogleich antworten. Oben stand ihr Koffer immer noch gepackt da. Sie schaute ihn stundenlang an. Nun die anderen nach Paris gingen, war es eine Schlechtigkeit, den Oheim zu verlassen. Gewiß, sie mißtraute den Entschließungen ihres Vetters; aber wenn das Ehepaar heimkam, würde sie noch immer frei weggehen können. Cazenove hatte ihr wütend gesagt, sie gebe eine prächtige Stellung auf, um ihr Dasein bei Leuten zu vertrödeln, die seit ihrer Jugend von ihr lebten. Ihr Entschluß stand aber fest.
»Geh nur«, wiederholte ihr Chanteau jetzt. »Wenn du Taler verdienen willst und glücklich sein kannst, will ich dich nicht verpflichten, bei einem alten Krüppel, wie ich es bin, in Schlurren zu gehen. Geh nur.«
Eines Morgens antwortete sie:
»Nein, Onkel, ich bleibe.«
Der Doktor, welcher gerade zugegen war, entfernte sich, die Hände zum Himmel erhebend.
»Die Kleine ist unmöglich! Welch ein Wespennest dieses Haus! Sie kommt niemals heraus.«