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Viertes Kapitel.

Als Luise, die zwei Monate bei den Chanteaus verweilen sollte, an jenem Sonnabend auf ihrer Terrasse landete, fand sie dort die Familie versammelt. Der Tag, ein sehr heißer, von der Meeresbrise erfrischter Augusttag, ging zur Neige. Abbé Horteur war schon dort und mit Chanteau in das Damenspiel vertieft, während Frau Chanteau an ihrer Seite an einem Taschentuche stickte. Wenige Schritte von ihnen entfernt, stand Pauline vor einer Steinbank, auf der sie vier Straßenbälge, zwei Mädchen und zwei kleine Jungen, hatte Platz nehmen lassen.

»Wie! Du schon hier?« rief Frau Chanteau. »Ich legte soeben meine Arbeit zusammen, um dir bis zur Gabelung der Straße entgegenzugehen.«

Luise setzte aufgeräumt auseinander, daß Vater Malivoire sie wie der Wind hergeführt habe. Sie befand sich wohlauf und wünschte nicht einmal, das Kleid zu wechseln. Während ihre Patin ihre Unterbringung überwachen ging, begnügte sie sich, ihren Hut an den eisernen Riegel eines Fensterflügels aufzuhängen. Sie hatte sie alle umarmt, dann ging sie wieder zu Pauline zurück, die sie lächelnd, anschmeichelnd um die Hüfte faßte.

»Aber schau mich nur an! ... Wir sind jetzt groß, he? ... Ich mit meinen neunzehn Jahren bin schon eine alte Jungfer ...«

Sie unterbrach sich und setzte lebhaft hinzu:

»Übrigens wünsche ich dir Glück ... Stelle dich nur nicht dumm, man sagt mir, im nächsten Monat werde es so weit sein.«

Pauline hatte die Liebkosungen Luisens mit der besorgt zärtlichen Miene einer älteren Schwester erwidert, trotzdem sie um achtzehn Monate jünger war. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, es handelte sich um ihre Hochzeit mit Lazare.

»Nicht doch, man hat dich getäuscht, versichere ich dir«, antwortete sie. »Es ist nichts bestimmt, es ist nur von diesem Herbst die Rede.«

In der Tat hatte Frau Chanteau, zur Erfüllung ihrer Zusage gedrängt, vom Herbst gesprochen trotz des Widerstrebens, das die jungen Leute an ihr zu bemerken begannen. Sie war wieder auf ihren ersten Vorwand zurückgekommen und sagte, sie wolle lieber warten, bis ihr Sohn eine Stellung habe.

»Gut,« sagte Luise, »du bist eine Geheimniskrämerin. Natürlich werde ich doch auch dabei sein, nicht wahr? Und Lazare ist nicht hier?«

Chanteau, den der Abbé geschlagen hatte, übernahm es zu antworten.

»Du bist ihm also nicht begegnet, Luisette? Soeben sprachen wir noch davon, daß ihr zusammen ankommen würdet. Ja, er ist in Bayeux, um bei unserm Unterpräfekten vorstellig zu werden. Er kommt indessen noch heute Abend wieder, vielleicht ein wenig spät.«

Dann nahmen sie das Spiel wieder auf.

»Ich habe anzufangen, Abbé. Ihr müßt wissen, daß wir die viel besprochenen Schutzwehren nunmehr doch erhalten werden, denn der Kreis kann uns in dieser Angelegenheit eine Unterstützung nicht verweigern.«

Es war dies eine neue Sache, für die Lazare sich ereiferte. Gelegentlich der letzten Hochflut hatte das Meer zwei weitere Häuser von Bonneville fortgerissen. Nach und nach auf der engen Strandsteinschicht aufgefressen, drohte dem Dorfe ernstlich die Gefahr an den Felsenhängen platt gedrückt zu werden, wenn man sich nicht entschloß, es durch ernste Arbeiten zu schützen. Der Flecken aber mit seinen dreißig baufälligen Hütten war von so verschwindend geringer Bedeutung, daß Chanteau in seiner Eigenschaft als Bürgermeister schon seit zehn Jahren vergeblich die Aufmerksamkeit des Unterpräfekten auf die verzweifelte Lage der Bewohner gelenkt hatte. Endlich hatte Lazare, von Pauline gedrängt, deren Wunsch es war, ihn wieder in Tätigkeit zu sehen, ein ganzes System von Dämmen und Pfahlwerken erdacht, das dem Meere den Maulkorb anlegen sollte.

Es fehlten nur noch die Mittel, zwölftausend Franken wenigstens.

»Den puste ich Ihnen, mein Freund«, sagte der Priester und nahm einen Stein.

Dann gab er gefällig nähere Aufschlüsse über das einstige Bonneville.

»Die Alten erzählen, daß unterhalb der Kirche selbst, einen Kilometer vom jetzigen Strande entfernt, ein Pachthof gelegen hat. Seit länger als fünfhundert Jahren schon frißt an ihnen die See ... Es ist unbegreiflich, sie müssen von Geschlecht zu Geschlecht ihre Schandtaten büßen.«

Währenddessen war Pauline zu der Bank zurückgekehrt, auf der ihre vier schmutzigen, zerlumpten Gören mit offenen Mäulern warteten.

»Was bedeutet das?« fragte Luise, ohne sich zu nahe heranzuwagen.

»Das sind meine kleinen Freunde«, antwortete sie.

Ihre tatenlustige Barmherzigkeit breitete sich schon über die ganze Gegend aus. Sie liebte unwillkürlich die Armen und Elenden, fühlte sich nicht von deren Verkommenheit abgestoßen, und trieb diesen Geschmack soweit, daß sie den Hühnern Verbände an die gebrochenen Füße anlegte und Näpfe mit Suppe für die verlaufenen Katzen des Nachts hinausstellte. In ihr lebte beständig die Sorge um die Leidenden, das Bedürfnis und die Freude an ihrer Tröstung. Es kamen denn auch die Armen zu ihren ausgestreckten Händen, wie die spitzbübischen Spatzen zu den offenen Fenstern der Scheunen hereinflattern. Ganz Bonneville, diese Handvoll von Fischern, elendiglich verkümmernd unter der Plage der Überschwemmungen, stieg zu dem Fräulein hinauf, wie man sie nannte. Sie aber schwärmte namentlich für die Kinder, die Kleinen, durch deren zerrissene Höschen das rosige Fleisch blickte; für die kleinen Blaßschnäbel, die sich nicht satt essen konnten und daher mit den Augen die unter sie verteilten Brotschnitte verschlangen. Die verschlagenen Eltern rechneten mit diesem zarten Empfinden und schickten Pauline ihre Brut, die zerlumpteste, die armseligste, um ihr Erbarmen noch mehr zu wecken.

»Du siehst,« begann sie wieder, »ich habe meinen Empfangstag, den Sonnabend, wie eine vornehme Dame. Man macht mir Besuche ... Du, kleine Gonin, willst du wohl nicht dieses große Schaf Houtelards kneifen! Ich werde böse, wenn ihr nicht artig seid ... Wir wollen einmal versuchen, nach der Reihe vorzugehen.«

Jetzt begann die Verteilung. Sie belehrte, sie schob sie hierhin und dorthin wie eine Mutter. Der zuerst Aufgerufene war der Sohn Houtelards, ein Junge von zehn Jahren, mit gelber Gesichtsfarbe und düsterer, abgezehrter Miene. Er zeigte sein Bein, er hatte am Knie eine lange Schramme, und sein Vater schickte ihn dem Fräulein, damit sie ihm etwas darauf tue. Sie versorgte das ganze Dorf mit Arnika und Borsäure. Ihre Leidenschaft, den Arzt zu machen, hatte sie nach und nach zur Anschaffung einer vollständigen Apotheke veranlaßt, auf die sie sehr stolz war. Als sie das Kind verbunden hatte, senkte sie die Stimme und gab Luisen einige Aufschlüsse.

»Reiche Leute, diese Houtelards, meine Liebe, die einzigen wohlhabenden Fischer in Bonneville. Die große Barke gehört ihnen ... Aber von einem entsetzlichen Geiz, ein Hundeleben inmitten einem unaussprechlichen Schmutz. Und das Schlimme ist, daß der Vater, nachdem er seine Frau zu Tode geprügelt, seine Magd geheiratet hat, eine entsetzliche Dirne und noch roher als er. Jetzt mißhandeln sie beide dieses arme Wesen.«

Ohne auf den ängstlichen Widerwillen ihrer Freundin zu achten, sprach sie wieder laut.

»Jetzt zu dir, Kleine ... Hast du die Flasche Chinawein ausgetrunken?«

Es war die Tochter von Prouane, dem Küster. Man hätte sie eine heilige Therese als Kind nennen können, denn sie war von Skrofeln bedeckt, von einer furchtbaren Magerkeit, mit großen hervorstehenden Augen, in denen schon die Hysterie flammte. Sie zählte elf Jahre und schien kaum sieben zu haben.

»Ja, Fräulein,« stotterte sie, »ich habe getrunken.«

»Lügnerin«, rief der Geistliche, ohne den Blick vom Spielbrett zu erheben. »Dein Vater roch gestern Abend wieder nach Wein.«

Pauline wurde plötzlich böse. Die Prouane besaßen keine Barke, lasen Seespinnen und Schaltiere auf und lebten vom Krabbenfang. Aber dank seiner Stellung als Küster hätten sie alle Tage ihr Brot essen können, wenn ihre Trunksucht nicht gewesen wäre. Man fand Vater und Mutter vom Calvados, dem schrecklichen normannischen Branntwein betäubt, quer vor der Türe liegen, während die Kleine über sie hinwegschritt, um ihre Gläser abzutröpfeln. Wenn es an Calvados fehlte, trank Prouane den Chinawein seiner Tochter!«

»Und ich mache mir noch die Mühe ihn zu bereiten!« sagte Pauline. »Höre, ich behalte die Flasche bei mir, du kommst alle Nachmittage um fünf Uhr her, und trinkst ihn hier ... Ich werde dir auch ein wenig gehacktes rohes Fleisch geben, der Doktor hat es verordnet.«

Sodann kam die Reihe an einen großen Jungen von zwölf Jahren, den Sohn der Cuche, einen dürren Bengel, durch frühzeitiges Laster ausgemergelt. Diesem händigte sie ein Brot, einen Fleischtopf und ein Fünffrankenstück ein. Es war auch eine schmachvolle Geschichte. Nach der Zerstörung seines Hauses hatte Cuche seine Frau verlassen, um sich bei einer Base einzuquartieren, und die Frau, die gegenwärtig in dem Inneren eines in Trümmern liegenden Zollwächterhauses lebte, schlief trotz ihrer abstoßenden Häßlichkeit mit dem ganzen Dorfe. Man zahlte sie mit natürlichen Erzeugnissen, manchmal auch mit drei Sous. Der Knabe, der alles mit ansah, starb fast vor Hunger. Doch er entschlüpfte wie eine wilde Ziege, sooft auf seine zwangsweise Entfernung aus dieser Kloake die Rede kam.

Luise wandte sich verlegen ab, während Pauline ihr diese Geschichte ohne jede Verlegenheit erzählte. Frei erzogen, zeigte sie den ruhigen Mut der Barmherzigkeit gegenüber den Schmählichkeiten der Menschen, wußte alles und sprach von allem mit dem Freimut ihrer Unschuld. Die Andere dagegen, durch die zehn Jahre ihres Pensionslebens aufgeklärt, errötete bei den Vorstellungen, welche die Worte in ihrem, durch die Träume des gemeinsamen Schlafsaales verheerten Kopfe erweckten. Das waren Dinge, an die man dachte, von denen man aber nicht reden mußte.

»Halt!« sagte Pauline, »die letzte Kleine, diese Blondine von neun Jahren, so nett und rosig, ist gerade die Tochter der Gonin, bei der sich dieser Taugenichts von Cuche eingenistet hat. Die Gonin, die ganz zufrieden lebten, besaßen ein Boot, allein der Vater bekam es an den Beinen, eine in unsern Dörfern sehr häufig auftretende Lähmung, und Cuche, einfacher Bordmatrose, wurde bald Herr der Barke und der Frau. Jetzt gehört das Haus ihm, er schlägt auf den Kranken, einen großen, alten Menschen herum, der Tag und Nacht in einer alten Kohlenkiste liegt, während der Matrose und die Base in dem nämlichen Zimmer im Bette liegen... Seitdem gebe ich mich mit dem Kinde ab. Das Unglück ist, daß auch sie zuweilen Hiebe abbekommt; abgesehen davon ist sie schon viel zu klug, und sieht Dinge...«

Sie unterbrach sich und befragte die Kleine.

»Wie geht es bei euch?«

Diese hatte mit den Augen die halblaute Erzählung verfolgt. Ihr niedliches Gesicht einer lasterhaften, kleinen Dirne lachte spitzbübisch bei den von ihr erratenen Einzelheiten.

»Sie haben ihn wieder geprügelt«, sagte sie, ohne in ihrem Lachen innezuhalten. »Heute Nacht ist Mutter aufgestanden und hat ein dickes Scheit genommen... Ach, Fräulein, Sie sind wohl so gut und geben ihm ein wenig Wein, denn sie haben ihm einen Krug vor die Kiste gestellt und geschrien, er solle krepieren.«

Luise machte eine Bewegung der Entrüstung. Welch abscheuliches Volk! Und ihre Freundin hatte Teilnahme für solche Schandmenschen! War es möglich, daß es dicht bei einer so großen Stadt wie Caen noch Löcher gab, in denen die Bewohner wie die wahren Wilden hausten? Schließlich konnten doch nur Wilde alle göttlichen und menschlichen Gesetze derart verletzen!

»Nein, meine Liebe,« murmelte sie und ließ sich neben Chanteau nieder, »ich habe genug von deinen kleinen Freunden. Das Meer mag sie ausmerzen, ich würde sie nicht beklagen!«

Der Abbé machte soeben Dame. Er rief:

»Sodom und Gomorrha!... Ich prophezeie es ihnen seit zwanzig Jahren! Desto schlimmer für sie!«

»Ich bin um eine Schule eingekommen«, sagte Chanteau, der betrübt die Partie verloren sah. »Aber sie sind nicht zahlreich genug; ihre Kinder sollen nach Verchemont zum Unterricht, doch sie gehen nicht in die Schule, sondern streichen längs der Landstraße herum.«

Pauline schaute sie verwundert an. Wenn die Elenden saubere Leute wären, brauchte man sie nicht zu waschen. Übel und Elend gingen zusammen: sie hatte keinen Abscheu vor dem Leiden, selbst wenn ihr dieses das Ergebnis des Lasters schien. Mit einer weit ausholenden Bewegung begnügte sie sich von der Duldsamkeit ihrer Barmherzigkeit zureden. Sie versprach gerade der kleinen Gonin, ihren Vater zu besuchen, als Veronika kam und ein anderes Mädchen vor sich herschob.

»Da haben Sie, Fräulein. Hier ist noch eine!«

Diese zuletzt Gekommene, ein ganz junges Ding von fünf Jahren, ging vollständig in Lumpen, ihr Gesicht war schwarz, die Haare zerzaust. Mit der außerordentlichen Sicherheit eines schon mit dem Bettelwesen auf den Straßen vertrauten kleinen Ausbundes hob sie sofort zu jammern an.

»Haben Sie Mitleid... Mein armer Vater hat sich das Bein gebrochen...«

»Das ist die Tochter der Tourmal, nicht wahr?« fragte Pauline die Magd.

Aber der Pfarrer brauste auf.

»Ah, diese Lügnerin! Hören Sie nicht auf sie; ihr Vater hat sich schon vor fünfundzwanzig Jahren den Fuß zerquetscht ... Eine Diebsfamilie, die vom Raube lebt... Der Vater hilft schmuggeln, die Mutter bestiehlt die Felder von Verchemont, der Großvater sammelt des Nachts Austern im staatlichen Gehege zu Roqueboise. Und Sie sehen selbst, was sie aus ihrer Tochter machen, eine Bettlerin, eine Spitzbübin, die sie zu den Leuten schicken, um alles zu klemmen, was herumliegt... Schauen Sie nur, wie sie nach meiner Tabaksdose schielt!«

Die lebhaften Augen des Kindes, die zuerst alle Ecken der Terrasse abgesucht, hatten in der Tat beim Anblick der alten Tabaksdose des Priesters eine blitzartige Flamme durchzuckt. Sie verlor aber ihre Sicherheit nicht, sie wiederholte, als habe der Geistliche ihre Geschichte nicht erzählt:

»Das Bein gebrochen ... Geben Sie mir etwas, gutes Fräulein.«

Diesmal begann Luise zu lachen, so drollig erschien ihr diese fünfjährige Spottgeburt, bereits verderbt wie Vater und Mutter. Pauline war ernst geblieben, sie langte ihren Geldbeutel hervor und entnahm ihm ein neues Fünffrankenstück.

»Höre,« sagte sie, »du sollst alle Sonnabend soviel haben, wenn ich erfahre, daß du die ganze Woche nicht auf den Straßen herumgelaufen bist.«

»Verstecken Sie die Gedecke!« rief abermals Abbé Horteur. »Sie wird Sie bestehlen!«

Pauline aber verabschiedete die Kinder, ohne zu antworten. Diese trollten, ihre Latschen nachschleppend, mit einem »schönen Dank«, und »Gott vergelt es Ihnen« von dannen. Indessen schalt Frau Chanteau, die soeben von der Inaugenscheinnahme des für Luise bestimmten Zimmers zurückgekommen war, leise auf Veronika. Es sei unerträglich, selbst die Magd beginne die Bettler einzuführen. Als ob das Fräulein nicht schon genug in das Haus schleppe! Ein Haufe Gezücht, das sie auffresse und sich hinterher noch über sie lustig mache. Das Geld gehöre allerdings ihr, und sie könne es nach ihrem Belieben zum Fenster hinauswerfen, aber diese Begünstigung des Lasters werde wahrhaftig geradehin zur Unmoral. Frau Chanteau hatte noch gehört, wie das junge Mädchen der kleinen Tourmal für jeden Sonnabend hundert Sous versprach. Abermals zwanzig Franken monatlich. Das Vermögen eines Satrapen würde hier nicht ausreichen.

»Du weißt, daß ich diese Diebin nicht wieder sehen will«, sagte sie zu Pauline. »Wenn du auch jetzt Herrin deines Vermögens bist, kann ich doch nicht deinen törichten Ruin zugeben. Ich habe eine moralische Verantwortlichkeit ... Ja, du wirst dich ruinieren, meine Liebe und schneller, als du glaubst!«

Veronika, die wütend über den von der Frau erhaltenen Verweis in die Küche zurückgekehrt war, erschien jetzt wieder mit der schroff herausgestoßenen Meldung:

»Der Schlächter ist hier... Er will bezahlt sein; sechsundvierzig Franken zehn Centimes.«

Eine große Bestürzung schnitt Frau Chanteau das Wort ab. Sie kramte in den Taschen und machte eine Bewegung des Erstaunens. Dann fragte sie leise:

»Sage, Pauline, hast du soviel bei dir? Ich habe kein kleines Geld zur Hand, ich müßte erst nach oben gehen. Wir rechnen später ab.«

Pauline folgte dem Mädchen, um dem Schlächter zu zahlen. Seit sie das Geld in der Kommode hatte, begann diese Komödie jedesmal von neuem, sooft eine Rechnung vorgezeigt wurde. Es war dies eine regelmäßige Ausbeutung in Gestalt kleiner Beträge, die ganz natürlich schien. Die Tante machte sich nicht einmal mehr die Mühe, von dem Haufen zu nehmen: sie forderte und ließ das junge Mädchen sich mit eigenen Händen ausplündern. Zuerst hatte man abgerechnet, man gab ihr zehn und fünfzehn Franken wieder; mit der Zeit jedoch hatten sich die Abrechnungen derart verwickelt, daß man nur noch von späteren Auseinandersetzungen sprach zur Zeit der Heirat; das hinderte sie aber keineswegs, am ersten Tage jedes Monats pünktlich ihre Pension zu zahlen, die jene auf neunzig Franken emporgeschraubt hatten.

»Wieder Ihr Geld, das dahin tanzt«, brummte Veronika im Flur. »Ich an Ihrer Stelle hätte sie ihren Geldbeutel holen lassen!... Gott kann nicht zugeben, daß man Ihnen auf diese Weise die Wolle vom Rücken frißt.«

Als Pauline mit der quittierten Rechnung zurückkam und sie der Tante übergab, triumphierte der Geistliche eben laut. Chanteau war geschlagen; er sollte wirklich keine einzige Partie gewinnen. Die Sonne ging unter, die schrägen Strahlen tauchten das Meer in Purpur, das langsam stieg. Luise lächelte mit traumverlorenen Blicken dieser Freude des unermeßlichen Horizontes zu.

»Seht doch, Luisette auf der Reise nach den Wolken«, sagte Frau Chanteau. »Du, Luisette, ich habe deinen Koffer hinaufbringen lassen. Wir sind wieder einmal Nachbarn!«

Lazare kam erst am folgenden Tage heim. Nach seinem Besuch bei dem Unterpräfekten hatte er sich entschlossen, nach Caen zu gehen, um den Präfekten aufzusuchen. Wenn er auch nicht den staatlichen Zuschuß in seiner Tasche mitbrachte, war er doch überzeugt, wie er sagte, daß der Generalrat wenigstens den Betrag von zwölftausend Franken bewilligen werde. Der Präfekt hatte ihn bis an die Tür begleitet und sich durch förmliche Versprechen gebunden: man könne Bonneville nicht so im Stich lassen, die Verwaltung sei bereit, den Eifer der Bewohner der Gemeinde zu unterstützen. Lazare verzweifelte nur deswegen, weil er Verzögerungen aller Art voraussah, und der geringste Verzug in der Erfüllung seiner Wünsche wurde für ihn eine wahre Folter.

»Auf Ehrenwort,« rief er, »wenn ich die zwölftausend Franken hätte, würde ich sie am liebsten selbst vorschießen ... Um einen ersten Versuch zu machen, bedarf es nicht einmal dieser Summe. Ihr sollt erst die Verdrießlichkeiten sehen, wenn sie ihre Beisteuer bewilligt haben! Alle Ingenieure des Kreises haben wir dann auf dem Rücken. Wenn wir dagegen ohne sie beginnen, müssen sie gezwungen sich vor den Erfolgen beugen... Ich bin meines Entwurfes sicher. Der Präfekt, dem ich ihn kurz auseinandersetzte, war überrascht von der Billigkeit und Einfachheit der Ausführung.«

Die Hoffnung auf die Besiegung des Meeres erregte ihn fieberhaft. Er hatte einen Groll gegen die See behalten, seit er sie in der Angelegenheit der Algen heimlich seines Ruins beschuldigte. Wenn er sie auch nicht laut schmähte, so nährte er doch den Gedanken, eines Tages Rache an ihr üben zu können. Gab es eine schönere Hoffnung, als ihr in ihrer blinden Zerstörungswut Einhalt gebieten, ihr als Meister zurufen zu können: »Weiter sollst du nicht gehen!« Außer der Großartigkeit des Kampfes selbst war für dieses Unternehmen auch ein Zug von Menschenliebe bestimmend, der ihn vollends begeisterte. Als seine Mutter ihn mit dem Schnitzen von Holzstücken, die Nase über ein Handbuch der Mechanik gebeugt, seine Tage hatte vertrödeln sehen, rief sie sich zagend den Großvater in die Erinnerung, den unternehmenden und brauseköpfigen Zimmermann, dessen unnützes Meisterwerk in einem Glaskasten ruhte. Wollte der Alte in diesem Jüngling wiederauferstehen, um den Ruin der Familie zu vollenden? Dann hatte sie sich von dem angebeteten Sohn überzeugen lassen. Wenn es ihm glückte, und es mußte ihm ganz selbstverständlich glücken, war das endlich der erste Schritt; eine schöne Tat, ein uneigennütziges Werk, das ihm Ruhm bringen mußte; von hier aus konnte er leicht vorwärtsschreiten, soweit es ihm beliebte, so hoch er dazu den Ehrgeiz fühle. Von jenem Tage an träumte das ganze Haus nur noch von der Demütigung des Meeres, von seiner Fesselung zu Füßen der Terrasse, daß es gehorsam werden solle wie ein geprügelter Hund.

Der Entwurf war übrigens, wie Lazare sagte, von großer Einfachheit. Er setzte schwere Holzpfähle voraus, die mit Bohlen gedeckt in den Sand gesenkt werden sollten: vor ihnen mußten die von der Flut herbeigeführten Kiesel sich zu einer Art unerschütterlicher Mauer auftürmen, an der sich in der Folge die Wogen brechen würden: das Meer selbst wurde also mit der Erbauung der Schanze beauftragt, die ihm Einhalt gebieten sollte. Schutzdämme, lange Stützbalken auf Dachstuhlsäulen gehoben und als Sturzseebrecher auf eine große Entfernung dienend, sollten vor die Kieselmauer gestellt, das System vervollständigen. Hatte man die notwendigen Mittel, so konnte man auch noch zwei oder drei große Pfahlwerke errichten, mächtige, auf Gebälk gesetzte Täfelungen, deren dichte Massen den Druck der hochgehenden Fluten brechen würden. Lazare hatte die erste Idee im »Handbuch des vollendeten Zimmermannes« gefunden, einem Schmöker mit einfachen Kupferstichen, der zweifellos einstmals vom Großvater erworben war. Er aber vervollständigte diesen Gedanken, stellte beträchtliche Untersuchungen an, studierte die Theorie der Kräfte, die Widerstandsfähigkeit der Materialien: er war vor allem stolz auf eine neue Anordnung und Neigung der Pfähle, die nach seiner Meinung das Gelingen durchaus gewiß machten.

Pauline hatte sich noch einmal für diese Studien erwärmt. Auch sie belebte gleich dem jungen Manne eine durch Versuche unablässig rege gehaltene Neugier, die sie zu dem Kampfe mit dem Unbekannten aneiferte. Jedoch von kühlem Verstände täuschte sie sich nicht mehr über die möglichen Mißerfolge. Wenn sie das Meer steigen, den festen Boden mit seinem Hohlgange wegfegen sah, richtete sie Blicke des Zweifels auf das von Lazare erbaute Spielzeug, auf die Reihen von Pfählen, Dämmen und Pfahlwerken im kleinen. Das große Zimmer war jetzt damit angefüllt.

Eines Abends blieb das Mädchen lange am Fenster. Seit zwei Tagen sprach ihr Vetter davon, alles zu verbrennen; eines Abends bei Tische hatte er ausgerufen, er wolle nach Australien gehen, weil in Frankreich kein Platz mehr für ihn sei. Sie dachte an diese Dinge, während die Flut in ihrer vollen Höhe im Schoße der Dunkelheit Bonneville peitschte. Jeder Anprall erschütterte sie, sie glaubte in regelmäßigen Zwischenräumen das Heulen der von der See Gefressenen zu hören. Der Kampf, den die Liebe zum Gelde wieder einmal ihrer Güte lieferte, wurde jetzt unerträglich. Sie schloß das Fenster, wollte nichts mehr hören. Aber die fernen Schläge durchrüttelten sie in ihrem Bette. Warum nicht das Unmögliche versuchen? Was galt das in das Wasser geworfene Geld, wenn man dafür selbst nur eine einzige Möglichkeit der Rettung des Dorfes eintauschte? Sie schlief erst gegen Morgen ein mit dem Gedanken an die Freude ihres Vetters, der aus einer düstren Traurigkeit gerissen, endlich vielleicht auf seinen wirklichen Weg gebracht wurde, glücklich durch sie, weil er ihr alles schuldete.

Am nächsten Morgen rief sie ihn, ehe sie nach unten ging, zu sich.

»Weißt du schon? Ich habe geträumt, ich liehe dir zwölftausend Franken?«

Er wurde zornig und weigerte sich heftig.

»Du willst also, daß ich abreise und nicht wieder, zum Vorschein komme ... Nein, es mag an der Fabrik genug sein. Ich sterbe daran vor Schande, ohne es dir zu sagen.«

Zwei Stunden später nahm er ihr Anerbieten an; er drückte ihr die Hände in einem leidenschaftlichen Ausbruch. Es war bloß ein Vorschuß, ihr Geld laufe keine Gefahr, denn die Bewilligung des Zuschusses seitens des Generalrates unterliege keinem Zweifel, namentlich angesichts des Beginns der Ausführung. Am selben Abend noch wurde der Zimmermeister von Arromanches berufen. Es gab endlose Besprechungen, Spaziergänge längs der Küste, eine heftige Auseinandersetzung über den Kostenanschlag. Das ganze Haus verlor darüber den Kopf.

Frau Chanteau dagegen war außer sich geraten, als sie von dem Darlehen der zwölftausend Franken hörte. Lazare war erstaunt und begriff nicht. Seine Mutter überhäufte ihn mit seltsamen Beweisführungen. Pauline strecke ihnen ohne Zweifel von Zeit zu Zeit kleine Beträge vor, doch sie könne sich unentbehrlich glauben, deshalb habe man lieber den Vater Luisens um die Eröffnung eines Kredits angehen können. Luise selbst, die eine Mitgift von zweihunderttausend Franken bekam, verursachte mit ihrem Vermögen nicht so viele Verlegenheiten. Diese Ziffer von zweihunderttausend Franken kehrte unaufhörlich auf Frau Chanteaus Lippen wieder, und sie schien eine gereizte Geringschätzung gegen die Trümmer jenes andern Vermögens zu empfinden, dessen Zerfließen in dem Schreibsekretär begonnen hatte und sich jetzt in der Kommode fortsetzte.

Chanteau heuchelte auf Antreiben seiner Frau ebenfalls Verdrossenheit über die Sache. Pauline machte es großen Kummer; trotzdem sie ihr Geld hingab, fühlte sie sich dennoch weniger geliebt als ehedem; sie glaubte sich von einem geheimen Groll umgeben, dessen Ursache sie sich nicht erklären konnte, und der von Tag zu Tag wuchs. Doktor Cazenove brummte ebenfalls, als sie ihn der Form halber zu Rate zog; aber er war wohl oder übel genötigt gewesen, zu allen geliehenen Beträgen, den kleinen wie den großen, ja zu sagen. Sein Amt als Kurator blieb illusorisch, er fand sich in diesem Hause entwaffnet, in dem er als alter Freund empfangen wurde. Am Tage der zwölftausend Franken lehnte er jede Verantwortung ab.

»Mein Kind,« sagte er und nahm Pauline beiseite, »ich will nicht mehr ihr Mitschuldiger sein. Fragen Sie mich nicht mehr um Rat, ruinieren Sie sich, wie es Ihnen Ihr Herz eingibt. Sie wissen sehr wohl, daß ich Ihren Bitten nie widerstehen würde, und ich leide nachher wirklich darunter, denn mein Gewissen fühlt sich ganz bedrückt. Ich möchte lieber nichts von dem wissen, was ich doch mißbillige.«

Sie blickte ihn tief gerührt an. Nach einer Pause aber sagte sie:

»Tausend Dank, mein guter Doktor ... Aber ist das so nicht vernünftiger? Was tut es, wenn ich glücklich bin?«

Er hatte ihre Hände gefaßt, er drückte sie väterlich in ernster Ergriffenheit.

»Ja, wenn Sie glücklich sind? ... Auch das Unglück wird mitunter recht teuer erkauft.«

In der Hitze dieser dem Meere zu liefernden Schlacht hatte Lazare natürlich die Musik völlig aufgegeben. Ein feiner Staub legte sich auf das Klavier, die Partitur seiner großen Symphonie war in das Schiebfach zurückgekehrt dank Paulinen, welche die einzelnen Blätter unter den Möbeln selbst aufgelesen hatte. Einzelne Sätze befriedigten ihn nicht mehr; die himmlische Süße der Vernichtung am Schlüsse, in alltäglicher Weise durch einen Walzerrhythmus ausgedrückt, würde wahrscheinlich besser durch das Tempo eines sehr verlangsamten Marsches wiedergegeben werden. Eines Abends hatte er erklärt, er wolle alles von vorn beginnen, sobald er Zeit habe. Sein begehrliches Verlangen, sein Unbehagen, aus der beständigen Berührung mit dem jungen Mädchen hervorgegangen, schien mit dem Fieber seines Genies ebenfalls verflogen zu sein. Es war ein Meisterwerk, auf eine bessere Zeit verschoben, eine große Leidenschaft, deren Stunde er nach Belieben vorrücken und verlangsamen zu können glaubte, gleichfalls zurückgestellt. Er behandelte seine Base von neuem wie eine alte Freundin, wie die angetraute Frau, die sich ihm an dem Tage hingeben werde, an welchem er die Arme öffnet. Seit dem April lebten sie nicht mehr in enger Eingeschlossenheit, der Wind trug die Glut ihrer Wangen davon. Das große Zimmer blieb leer, beide liefen jenseits von Bonneville am felsigen Strande entlang und prüften die Punkte, an denen die Palissaden und Dämme errichtet werden sollten. Oft kehrten sie mit den Füßen im frischen Wasser, abgespannt und rein zurück wie in den fernen Tagen der Kindheit. Wenn Pauline, um ihn zu necken, den famosen Todesmarsch spielte, rief Lazare:

»So schweige doch! ... Das sind Dummheiten!«

Noch am Abend des Besuches des Zimmermeisters wurde Chanteau von einem Gichtanfall betroffen. Die Anfälle kehrten jetzt fast alle Monate wieder; nachdem das Salizyl sie zuerst beschwichtigt hatte, schien es jetzt ihre Heftigkeit zu verdoppeln. Pauline sah sich vierzehn Tage an das Bett des Onkels gefesselt. Lazare, der seine Studien am Strande fortsetzte, nahm nunmehr Luise mit, um sie von dem Kranken fernzuhalten, dessen Anfälle sie erschreckten. Da sie das Fremdenzimmer gerade über dem Chanteaus bewohnte, mußte sie, um schlafen zu können, sich die Ohren verstopfen und den Kopf in das Kissen stecken. Draußen lächelte sie wieder liebenswürdig, sie war entzückt von dem Spaziergange und vergaß den armen, heulenden Mann.

Es waren reizende Tage. Der junge Mensch hatte seine neue Begleiterin zuerst überrascht betrachtet. Sie war so ganz anders wie jene; sie schrie auf, wenn eine Seespinne ihren Halbschuh streifte, sie fürchtete sich vor dem großen Wasser und glaubte sich bereits ertrunken, wenn sie über eine Pfütze springen mußte. Die Kiesel verwundeten ihre kleinen Füße, sie schloß nie den Sonnenschirm und ihre Hände staken bis zu den Ellenbogen in Handschuhen, in beständiger Furcht, der Sonne ein Eckchen ihrer zarten Hand überlassen zu müssen. Nach dem ersten Erstaunen hatte er sich durch diese ängstliche Anmut verführen lassen, diese Hilflosigkeit, die stets bereit war, bei ihm Zuflucht zu suchen. Sie roch nicht nach der freien Luft; sie berauschte ihn vielmehr durch ihren lauen Heliotropduft. Schließlich war es kein Knabe, der an seiner Seite dahingaloppierte, es war ein Weib, dessen Strümpfe, wenn er bei einem Windstoße sie erblickte, das Blut in seinen Adern rascher pulsieren ließen. Aber sie war nicht so schön wie die andere, älter und schon verblichen; sie besaß indessen einen einschmeichelnden Reiz, ihre kleinen, schmiegsamen Gliedmaßen ließen sich gehen, ihre ganze kokette Persönlichkeit versprach ein Glück. Es war ihm, als entdecke er sie mit einem Male, er erkannte das hagere Mädchen von ehemals nicht wieder. War es möglich, daß die langen Jahre des Pensionats dieses so beunruhigende, junge Mädchen geschaffen hatten, das in seiner Jungfräulichkeit so voll vom Manne war und auf dem Grunde der klaren Augen die Lüge seiner Erziehung trug? Er ließ sich nach und nach von einem besonderen Geschmack für sie einnehmen, von einer vererbten Leidenschaft, in welcher sich seine einstige Kinderfreundschaft zu sinnlichen Gelüsten verfeinerte.

Als Pauline das Zimmer des Onkels verlassen konnte und Lazare wieder zu begleiten begann, fühlte sie sofort, daß zwischen ihm und Luise eine neue Luft wehte; es wurden Blicke, Lachen ausgetauscht, an denen sie keinen Anteil hatte. Sie wollte sich erklären lassen, was jene belustigte, und lächelte kaum darüber. Während der ersten Tage spielte sie sich auf die Mütterliche hinaus und behandelte sie wie junge Narren, die über ein Nichts scherzen können. Bald aber wurde sie trübselig, jeder Spaziergang deuchte ihr eine Last. Doch keine Klage entschlüpfte ihr; sie sprach von unaufhörlichen Migränen; als ihr der Vetter riet, nicht auszugehen, ärgerte sie sich und ließ ihn selbst nicht mehr im Hause allein. Als er eines Nachts um zwei Uhr noch wach war, um einen Plan zu vollenden, öffnete er die Tür, weil er zu seiner Überraschung Schritte hörte. Sein Staunen wuchs, als er sie im bloßen Unterrock, ohne Licht über das Geländer gebeugt sah, um auf Geräusche in den unteren Zimmern zu lauschen. Sie erzählte, daß sie selbst Klagen zu vernehmen geglaubt hätte. Diese Lüge jedoch färbte ihr die Wangen; er errötete, ebenfalls von einem Zweifel befallen. Seitdem grollten sie sich gegenseitig ohne eine weitere Aussprache. Er wandte den Kopf, fand sie lächerlich, wegen derartiger Kindereien derart zu maulen; während sie immer düsterer wurde und ihn keinen Augenblick mit Luise allein ließ, deren geringste Bewegungen beobachtete und am Abend in ihrem Zimmer Todesqualen durchkämpfte, wenn sie jene auf der Heimkehr vom Strande miteinander hatte flüstern sehen.

Mit den Arbeiten ging es vorwärts. Eine Schar Zimmerleute führte jetzt ein erstes Bollwerk aus, nachdem sie vorher starke Bohlen auf eine Reihe Spitzpfähle genagelt hatten. Es war dies übrigens ein einfacher Versuch, sie beeilten sich in der Voraussicht des Eintritts einer Hochflut; wenn die Holzstücke widerstanden, wollte man das System der Verteidigung vervollständigen. Das Wetter war unglücklicherweise abscheulich. Wolkenbrüche fielen ohne Unterlaß, ganz Bonneville ließ sich durchweichen, um die Pfähle mit Hilfe einer Stampfe in den Boden treiben zu sehen. Am Morgen des Tages endlich, an welchem man die große Flut erwartete, verdunkelte ein tintenfarbener Himmel das Meer; seit acht Tagen verdoppelte sich der Regen, und ertränkte den Horizont in einem eisigen Nebel. Es war zum Verzweifeln, denn man hatte einen Ausflug mit Kind und Kegel geplant, um dem Siege der Bohlen und Stützbalken beim Angriff der Hochflut beizuwohnen.

Frau Chanteau beschloß, bei dem noch sehr leidenden Gatten zu bleiben. Man tat alles Mögliche, um auch Pauline zurückzuhalten, die seit einer Woche einen entzündeten Hals hatte: sie war etwas heiser, und allabendlich befiel sie ein leichtes Fieber. Sie wies indessen alle Ratschläge zur Vorsicht zurück und wollte an den Strand gehen, weil Lazare und Luise sich dorthin begaben. Diese Luise mit ihrem gebrechlichen Tun und stets Ohnmachten nahe war im Grunde von einer überraschenden, nervösen Kraft, wenn ein Vergnügen sie aufrecht hielt.

Alle drei brachen nach dem Frühstück auf. Ein Windstoß fegte soeben die Wolken fort; triumphierendes Lachen begrüßte diese unerwartete Freude. Der Himmel zeigte so breite, blaue, noch von einigen schwarzen Fetzen durchquerte Felder, daß die Mädchen nur ihre Sonnenschirme mitnehmen wollten. Lazare allein trug einen Regenschirm. Im übrigen bürgte er für ihre Gesundheit, er wollte sie schon irgendwo unterbringen, falls die Regengüsse von neuem begännen.

Pauline und Luise schritten voraus. Bei Beginn des steilen Abhanges nach Bonneville hinunter schien letztere jedoch auf dem schlüpfrigen Boden einen Fehltritt zu machen, und Lazare, der sich an ihre Seite begab, bot sich ihr zur Stütze an. Pauline mußte ihnen folgen. Ihre bei dem Aufbruche gezeigte Fröhlichkeit war dahin, ihre argwöhnischen Augen bemerkten, daß der Ellbogen ihres Vetters sich mit einer beständigen Liebkosung an der Hüfte von Luise rieb. Bald sah sie nur noch diese Berührung, alles andere verschwand, sowohl das Ufer, an dem die Fischer des Ortes mit spöttisch belustigten Mienen der Dinge harrten, wie auch das bereits steigende Meer und die vom Gischt schon weiße Schutzwehr. Am Horizont vergrößerte sich eine düstere Barre, eine pfeilgeschwind aufsteigende Wolke.

»Teufel«, murmelte der junge Mann und schaute sich um, wir werden gleich wieder eine Suppe bekommen ... Der Regen wird uns jedoch noch Zeit zum Sehen lassen, und wir können uns gegenüber zu den Houtelard retten.

Die Flut, welche den Wind gegen sich hatte, stieg mit einer ärgerlichen Langsamkeit. Der Wind hinderte sie zweifellos so stark zu werden, wie man vorausgesagt hatte. Niemand aber wich vom Strande. Die halb bedeckte Wehr tat ihre Schuldigkeit, zerschnitt die Wogen, deren niederfallendes Wasser dann bis zu den Füßen der Zuschauer aufbrodelte. Der Triumph jedoch galt dem siegreichen Widerstande der Pfähle. Nach jeder sie bedeckenden und die Meereskiesel heranschaufelnden Welle hörte man diese Steine niederprasseln und sich auf der anderen Seite der Bohlen auftürmen wie das plötzliche Entladen einer Wagenladung Steine; diese sich so bildende Mauer war der Erfolg, die Verwirklichung des verheißenen Walles.

»Ich sagte es gleich!« schrie Lazare. »Jetzt könnt ihr euch alle über ihn lustig machen.«

Prouane, der seit drei Tagen nicht nüchtern geworden war, schüttelte neben ihm den Kopf und stotterte.

»Erst sehen, wenn der Wind von draußen pfeift.«

Die übrigen Fischer schwiegen. An dem verzogenen Munde von Cuche und Houtelard jedoch merkte man, daß sie nur ein mäßiges Vertrauen zu allen diesen Kniffen hatten. Auch wünschten sie nicht, dieses sie zermalmende Meer von diesem Hanswurst von Bürger geschlagen zu sehen. Sie würden schon lachen an dem Tage, an dem es diese Balken wie Strohhalme fortwälzt. Das konnte zwar das ganze Dorf verwüsten, aber ein Spaß blieb es immerhin.

Der Platzregen brach plötzlich los. Dicke Tropfen fielen aus der fahlen Wolke, die drei Viertel des Himmels überzogen hatte.

»Das ist nichts, warten wir noch einen Augenblick«, wiederholte Lazare begeistert. »Seht doch, seht doch, nicht ein einziger Pfahl rührt sich.«

Er hatte seinen Schirm über Luisens Kopf aufgespannt. Sie drängte sich mit dem Gehaben einer fröstelnden Turteltaube noch enger an ihn. Pauline, sich selbst überlassen, blickte sie immerfort wütend an; sie glaubte die Wärme ihres Zusammenschmiegens in ihr eigenes Gesicht steigen zu fühlen. Der Regen strömte jetzt geradezu. Lazare wandte sich plötzlich um.

»Was gibt es?« schrie er. »Bist du toll? ... Öffne wenigstens den Sonnenschirm.«

Sie stand aufrecht, starr unter dieser Sündflut, die sie nicht zu empfinden schien. Mit einer rauhen Stimme erwiderte sie:

»Laß mich in Ruhe, ich befinde mich vollkommen wohl.«

»Oh! Lazare, ich bitte Sie, zwingen Sie sie, zu uns zu kommen«, sagte Luise verzweifelt ... Wir werden uns alle drei fest unterfassen.

Aber Pauline würdigte sie in ihrer wilden Verbohrtheit nicht einmal mehr einer Weigerung. Sie befand sich ganz gut so, warum störte man sie? Als er am Ende mit seinen Bitten anhob:

»Aber das ist doch zu dumm; laßt uns zu den Houtelards eilen!« antwortete sie abweisend:

»Lauft, wohin ihr wollt ... Wir sind hier, um etwas zu sehen, so will ich eben sehen.«

Die Fischer waren geflohen. Sie aber stand unbeweglich unter dem Wolkenbruch, den Blick den Balken zugewandt, welche die Wogen völlig zudeckten. Dieses Schauspiel schien sie völlig in Anspruch zu nehmen trotz des Wasserstaubes, in welchem jetzt alles verschwamm, einer grauen Wolke, die durch den Regen gesiebt, vom Meere aufstieg. Ihr triefendes Gewand zeichnete sich an den Schultern und Armen mit breiten, schwarzen Flecken ab. Sie war nicht eher zum Verlassen des Ortes zu bewegen, als bis der Westwind die Wolke davongejagt hatte.

Alle drei kehrten schweigend heim. Nicht ein Wort von dem Abenteuer wurde weder der Tante noch dem Onkel erzählt. Pauline hatte sich sofort hinaufbegeben, um die Leibwäsche zu wechseln, während Lazare von dem vollständigen Erfolg seines Versuches erzählte. Am Abend bei Tische wurde Pauline von einem abermaligen Fieberanfalle heimgesucht; aber sie behauptete, nicht zu leiden, trotz der ersichtlichen Qual, die ihr das Hinunterschlucken eines jeden Bissens verursachte. Sie gab schließlich Luisen grobe Antworten, die sich zärtlich besorgt ihretwegen beunruhigte und sie unaufhörlich nach ihrem Befinden fragte.

»Sie wird durch ihren bösartigen Charakter wirklich unausstehlich«, hatte Frau Chanteau hinter ihr her gebrummt. »Man kann schließlich nicht einmal mehr mit ihr reden.«

In derselben Nacht wurde Lazare um die erste Morgenstunde durch das Geräusch eines so schrecklichen trockenen Hustens geweckt, daß er sich aufrichtete, um zu lauschen. Sein erster Gedanke galt seiner Mutter; während er noch horchte, trieb ihn der jähe Fall eines Körpers, der die Dielen zittern ließ, aus dem Bette und hastig in die Kleider. Das konnte nur Pauline sein, der Körper schien hinter der Scheidewand aufgeschlagen zu haben. Mit seinen zitternden Fingern suchte er die Streichhölzer anzuzünden. Endlich konnte er mit seinem Wachsstock hinaus und sah zu seiner Überraschung die gegenüberbefindliche Tür offen. Auf der Schwelle sah er das junge Mädchen im Hemde, mit nackten Füßen und Armen liegen.

»Was ist geschehen?« rief er. »Bist du gefallen?«

Der Gedanke, daß sie herumlungerte, um ihn auszuspionieren, durchkreuzte sein Gehirn. Sie aber antwortete nicht, sie rührte sich nicht; und er sah sie mit geschlossenen Augen, wie erschlagen, vor sich liegen. Ohne Zweifel hatte in dem Augenblicke, in welchem sie Hilfe suchen gegangen war, eine Ohnmacht sie auf die Fliesen hingestreckt.

»Pauline, antworte mir, ich beschwöre dich ... Wo leidest du?«

Er hatte sich gebückt und leuchtete ihr ins Gesicht. Hoch gerötet, schien sie von einem heftigen Fieber durchglüht zu werden. Das unwillkürliche Verlegenheitsgefühl, das ihn angesichts dieser jungfräulichen Nacktheit zurückhielt von dem Versuch, sie auf den Armen in ihr Bett zurückzutragen, wich sofort seiner brüderlichen Besorgnis. Er bemerkte ihre Blöße nicht mehr, er packte sie an den Schenkeln und unter dem Kreuze, ohne sich auch nur dieser zarten Frauenhaut an seiner Männerbrust bewußt zu sein. Als er sie wieder gebettet hatte, befragte er sie abermals, ohne an ein Heraufziehen der Bettdecke zu denken.

»Mein Gott, so sprich doch! Bist du vielleicht verwundet?«

Die Erschütterung öffnete ihr die Augen. Aber sie sprach noch immer nicht, sie sah ihn starr an; als er noch des weiteren in sie drängte, führte sie endlich die Hand an ihre Kehle.

»Du leidest am Halse?«

Mit einer veränderten, mühsam pfeifenden Stimme flüsterte sie nur ganz leise:

»Zwinge mich nicht zum Sprechen, ich bitte dich ... Es tut mir zu weh!«

Abermals wurde sie von einem Hustenanfalle heimgesucht, von demselben Keuchhusten, den er in seinem Zimmer vernommen hatte. Ihr Gesicht lief bläulich an, der Schmerz war so entsetzlich, daß ihre Augen sich mit schweren Tränen füllten. Sie legte beide Hände an ihren armen, erschütterten Kopf, in dem das Hämmern eines schrecklichen Kopfschmerzes arbeitete.

»Das hast du dir heute geholt«, stotterte er fassungslos. »War das wohl vernünftig, krank wie du schon warst?«

Er stockte jedoch, als er von neuem ihre flehenden Blicke auf sich gerichtet sah. Mit tastender Hand suchte sie nach dem Oberbett. Er deckte sie bis an das Kinn zu.

»Willst du den Mund öffnen, um mich hineinschauen zu lassen?«

Sie konnte kaum die Kiefer auseinander bekommen. Er näherte die Flamme des Wachslichtes, er erkannte nur mühsam den trocknen, in einem lebhaften Rot schimmernden hinteren Teil des Halses. Das war zweifellos eine Bräune. Dieses entsetzliche Fieber, dieser fürchterliche Kopfschmerz nur ängstigte ihn betreffs der Natur dieser Bräune. Das Gesicht der Kranken drückte ein so angstvolles Erwürgungsgefühl aus, daß er eine tolle Furcht hatte, sie vor seinen Augen ersticken zu sehen. Sie schlang nicht mehr, jede Schluckbewegung erschütterte sie vollständig. Ein neuer Hustenanfall ließ sie abermals die Besinnung verlieren. Da geriet er in die äußerste Bestürzung und donnerte mit Faustschlägen an die Tür der Magd.

»Veronika! Veronika! Steh auf! ... Pauline stirbt!«

Als Veronika bestürzt und halb bekleidet bei dem Fräulein eintrat, fand sie ihn fluchend und mit Händen und Füßen gestikulierend mitten im Zimmer. Welch ein elendes Nest! Man könnte hier wie ein Hund krepieren ... Mehr als zwei Meilen weit muß man nach Hilfe schicken!«

Er kam ihr entgegen.

»Suche jemanden aufzutreiben, der zum Arzt läuft und ihn gleich herbringt.«

Sie hatte sich dem Bette genähert und beschaute die Kranke. Es ergriff sie tief, sie so gerötet zu sehen, und sie fühlte sich in ihrer wachsenden Neigung für das zuerst so verabscheute Kind aufs höchste erschrocken.

»Ich laufe selbst,« sagte sie ohne weiteres, »dann geht es um so schneller ... Die Frau kann im Notfalle unten Feuer machen!«

Kaum richtig aufgewacht, steckte sie die Füße in große Stiefel und hüllte sich in ein Umschlagetuch. Nachdem sie Frau Chanteau beim Heruntergehen von dem Vorgefallenen benachrichtigt, lief sie mit weit ausholenden Schritten auf der aufgeweichten Straße davon. Von der Kirche schlug es zwei Uhr, die Nacht war so schwarz, daß sie gegen die Steinhaufen anlief.

»Was gibt es denn?« fragte Frau Chanteau, als sie hinaufkam.

Lazare antwortete kaum. Er hatte soeben mit toller Hast im Schranke nach seinen alten medizinischen Büchern gesucht; über die Kommode gebeugt, durchblätterte er mit zitternden Fingern die Seiten und versuchte sich die ehemaligen Studien in das Gedächtnis zurückzurufen. Aber alles ging wirr durcheinander, alles verwirrte sich, er griff unaufhörlich auf das Inhaltsverzeichnis zurück und fand nichts mehr.

»Es ist jedenfalls eine starke Migräne,« wiederholte Frau Chanteau, die sich gesetzt hatte; »das beste ist, sie schlafen zu lassen.«

»Eine Migräne! Eine Migräne!... Höre, Mama, du reizest mich, wenn du dabei so ruhig bleiben kannst. Geh hinunter und mache Wasser heiß.«

»Es ist wohl nicht nötig, Luise zu stören?« fragte sie noch.

»Völlig überflüssig... Ich brauche niemanden. Ich werde rufen.«

Als er wieder allein war, ergriff er Paulinens Hand, um ihre Pulsschläge zu fühlen. Er zählte hundertfünfzehn. Er fühlte diese brennende Hand, die unaufhörlich die seine preßte. Das Mädchen, dessen schwere Lider geschlossen blieben, legte in diesen Druck einen Dank und eine Bitte um Verzeihung. Konnte sie nicht mehr lächeln, so wollte sie dennoch zu verstehen, geben, daß sie alles gehört hatte und gerührt war, ihn bei sich zu wissen, allein bei ihr ohne Gedanken an eine andere. Gewöhnlich hatte er einen tiefen Abscheu vor allen Leiden, er flüchtete vor dem geringsten Übelbefinden der Seinen als schlechter Krankenwärter, so wenig seiner Nerven sicher, wie er sagte, daß er in ein Schluchzen auszubrechen drohte. Sie empfand denn auch eine mit Dankbarkeit gemischte Überraschung, als sie ihn so ergeben sah. Er selbst hätte nicht sagen können, welche Teilnahme ihn aufrichtete, welches Bedürfnis, sich ganz auf sich selbst zu verlassen, um ihr Linderung zu verschaffen. Der Druck dieser kleinen Hand machte ihn wirr, er wollte ihr Mut machen.

»Das hat nichts zu bedeuten, Liebe. Ich erwarte Cazenove... Vor allem, fürchte dich nicht.«

Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen und flüsterte mühsam:

»Ich habe keine Furcht... Es tut mir nur leid, dich zu stören.« Mit noch leiserer Stimme, die flüchtig wie ein Hauch klang:

»Du verzeihst mir?... Ich bin heute recht häßlich gewesen.«

Er beugte sich über sie, um sie, als sei sie seine Frau, auf die Stirn zu küssen. Dann wandte er sich ab, denn Tränen erstickten ihn. Es fiel ihm ein, wenigstens, ein Beruhigungsmittel zu bereiten, bis der Doktor komme. Die kleine Apotheke des jungen Mädchens befand sich in einer schmalen Wandverkleidung. Er fürchtete nur, sich zu irren, befragte sie über alle Flaschen und goß schließlich einige Morphiumtropfen in ein Glas Zuckerwasser. Wenn sie einen Löffel davon schluckte, wurde der Schmerz so heftig, daß er jedesmal zögerte, ihr eine weitere Dosis zugeben. Das war alles, er fühlte sich nicht imstande mehr zu versuchen. Das Warten wurde unerträglich. Als er sie nicht mehr leiden sehen konnte und ihm durch das Stehen am Bette die Beine zu brechen drohten, öffnete er abermals die Bücher in dem guten Glauben, endlich den Fall und das Mittel zu finden. War es eine Blutbräune? Er hatte indessen keine falschen Häutchen auf den Bändern des Weichteils des Gaumens bemerkt, vertiefte sich in die Lektüre der Beschreibung und Behandlung der Blutbräune, verlor sich in die Reihe von langen Sätzen, deren Sinn ihm entging, und klammerte sich an unnütze Einzelheiten, wie ein Kind, das eine ihm unverständliche Aufgabe auswendig lernt. Dann führte ihn ein Seufzer an das Bett zurück; er zitterte, und der Kopf summte ihm vor wissenschaftlichen Bezeichnungen, deren holperige Silben seine Ängstlichkeit verdoppelten.

»Nun?« fragte Frau Chanteau: die ganz sacht heraufgekommen war.

»Noch dasselbe«, antwortete er. Erregt fügte er hinzu:

»Unerträglich, dieser Arzt ... Bis dahin kann man zwanzigmal tot sein.«

Die Türen waren offen geblieben; Mathieu, der unter dem Küchentische schlief, kam in seiner Sucht, den Leuten durch alle Räume des Hauses zu folgen, soeben die Treppe herauf. Seine dicken Pfoten machten auf dem Fußboden das Geräusch von alten Wollschuhen. Er war höchst vergnügt über dieses nächtliche Abenteuer, wollte zu Pauline hinaufspringen und schnappte nach seinem Schwanze als ein die Trauer seiner Herren nicht kennendes Tier. Aufgebracht durch diese ungelegene Fröhlichkeit, versetzte Lazare dem Tier einen Fußtritt.

»Marsch fort, oder ich erwürge dich! ... Siehst du nicht, Dummkopf!«

Der Hund, den es überraschte, daß man ihn schlug, schnupperte und kroch dann, als habe er plötzlich alles begriffen, demütig unter das Bett. Aber diese Roheit hatte Frau Chanteau aufgebracht. Ohne länger zu warten, ging sie wieder in die Küche hinunter und sagte vorher trocken:

»Wenn du willst ... Das Wasser wird gleich heiß sein.«

Lazare hörte sie auf der Treppe brummen, es sei empörend, ein Tier so zu schlagen; er werde schließlich sie auch noch schlagen, wenn sie da bleibe. Er, der gewöhnlich auf den Knien vor der Mutter lag, machte eine gereizte Miene hinter ihr her. Minute für Minute kam er zurück, um einen Blick auf Pauline zu werfen. Von dem Fieber verzehrt, schien sie völlig bewußtlos, und in dem erschauernden Schweigen des Zimmers war nichts weiter mehr von ihr vorhanden als das Rasseln ihres Atems, das in ein Röcheln des Todeskampfes überzugehen schien. Von neuem packte ihn die törichte, unsinnige Furcht: sie werde sicher ersticken, wenn keine Hilfe komme. Er wanderte von einer Ecke des Zimmers in die andere und befragte unaufhörlich die Wanduhr. Es war knapp drei Uhr, Veronika also noch nicht einmal beim Arzte angelangt. Er folgte ihr auf der Straße nach Arromanches durch die schwarze Nacht: Sie war am Eichenwald vorübergekommen, dann an die Brücke gelangt und konnte fünf Minuten gewinnen, wenn sie das Ufer im Laufschritt hinunterging. Ein heftiges Verlangen, etwas zu hören, veranlaßte ihn das Fenster zu öffnen, trotzdem er in diesem Abgrunde von Finsternis nichts unterscheiden konnte. Ein einziges Licht schimmerte von Bonneville herauf, wahrscheinlich die Laterne eines auf das Meer hinausfahrenden Schiffes. Eine todesbange Finsternis, eine unendliche Verlassenheit breitete sich draußen aus; er glaubte zu spüren, wie in ihr alles Leben dahinfloß und erlosch. Er schloß das Fenster, dann öffnete er es wieder, um es bald abermals zu schließen. Das Verständnis für Zeit und Stunde schwand ihm schließlich, er wunderte sich, als es drei Uhr schlug. In diesem Augenblicke hatte der Doktor schon anspannen lassen, und der Wagen rollte bereits auf der Landstraße dahin, mit dem gelben Auge seiner Laterne die Schatten durchbohrend. Lazare war vor Ungeduld bei der wachsenden Erstickungsnot der Kranken schon so stumpfsinnig, daß er wie aus dem Schlafe auffuhr, als gegen vier Uhr jemand in raschen Schritten die Treppe heraufkam.

»Endlich sind Sie da!« rief er.

Doktor Cazenove ließ sofort ein zweites Licht anzünden, um Pauline zu untersuchen. Lazare hielt die eine, während die vom Winde zerzauste und bis zu den Lenden mit Kot beschmutzte Veronika die andere dem Kopfende des Bettes näherte. Frau Chanteau schaute zu. Die schlaftrunkene Kranke konnte nicht ohne Äußerung des Schmerzes den Mund öffnen. Als der bei seinem Eintritt höchst besorgte Arzt sie wieder sanft gebettet hatte und in die Mitte des Zimmers zurücktrat, zeigte er eine ruhigere Miene.

»Veronika hat mir eine schöne Furcht eingejagt«, brummte er. »Nach ihrer übertriebenen Erzählung glaubte ich an eine Vergiftung ... Wie Sie sehen, habe ich mir die Taschen mit Arzeneien vollgestopft.«

»Es ist eine Bräune, nicht wahr?« fragte Lazare.

»Ja, eine einfache Bräune ... Eine unmittelbare Gefahr liegt nicht vor.«

Frau Chanteau machte eine triumphierende Miene, um auszudrücken, daß sie es vorher gewußt habe.

»Keine unmittelbare Gefahr,« wiederholte Lazare, von neuem von Besorgnissen heimgesucht: »befürchten Sie Verwicklungen?«

»Nein,« erwiderte der Arzt nach einigem Zögern, »aber bei diesen verwünschten Halsleiden weiß man nie, woran man ist!«

Er gestand, daß nichts zu machen sei, und wollte den nächsten Morgen abwarten, um die Kranke zur Ader zu lassen. Als der junge Mann bat, daß ihr wenigstens eine Erleichterung verschafft werde, wollte er es mit Senfpflasterumschlägen versuchen. Veronika machte einen Kessel heißes Wasser zurecht, der Arzt legte selbst die eingeweichten Blätter auf und ließ sie die Beine hinunter, von den Knien bis zu den Knöcheln gleiten. Dies war jedoch nur ein Leiden mehr, das Fieber blieb beständig, der Kopfschmerz wurde unerträglich. Auch erweichende Gurgelungen waren angezeigt, und Frau Chanteau bereitete einen Aufguß von Brombeerblättern, den man jedoch nach dem ersten Versuch wieder beiseitestellen mußte, weil der Schmerz jegliche Bewegung der Gurgel unmöglich machte. Es war fast sechs Uhr, der Tag brach an, als der Arzt sich zurückzog.

»Ich werde gegen Mittag wiederkommen«, sagte er zu Lazare im Flur. »Beruhigen Sie sich ... Zwar wird sie leiden müssen, aber es ist keine Gefahr vorhanden.«

»Leiden ist also nichts!« rief der junge Mensch, den das Übel aufbrachte. »Man sollte nicht leiden.«

Der Arzt sah ihn an, dann hob er vor einer so außerordentlichen Anmaßung die Arme zum Himmel.

Als Lazare in das Zimmer zurückkehrte, hieß er seine Mutter und Veronika sich noch ein wenig ausruhen: er hätte ohnehin nicht schlafen können. Er sah das Tageslicht in dem in Unordnung geratenen Zimmer anbrechen, dieses traurige Morgenrot der in Todeskämpfen verbrachten Nächte. Die Stirn an eine Scheibe gepreßt, blickte er verzweiflungsvoll den bleifarbenen Himmel an, als ein Geräusch ihn zwang, den Kopf zu wenden. Er glaubte, Pauline stehe auf. Es war indessen der von allen vergessene Mathieu, der endlich den Platz unter dem Bette verlassen und sich dem jungen Mädchen genähert hatte, dessen eine Hand über die Decke hinabhing. Der Hund leckte diese Hand mit solcher Zartheit, daß Lazare völlig gerührt ihn am Halse faßte und sagte:

»Du siehst, mein armer Dicker, deine Herrin ist krank ... Aber es ist nichts, geh! Wir galoppieren alle drei wieder lustig herum.«

Pauline hatte die Augen aufgeschlagen und lächelte trotz des schmerzlichen Zuckens ihres Gesichtes.

Jetzt begann ein Leben voller Beängstigungen, der Alpdruck, der uns im Zimmer eines Kranken befällt. Lazare trieb im Gefühle einer wilden Leidenschaft alle hinaus, er erlaubte es kaum, daß seine Mutter oder Luise des Morgens kamen, um sich zu erkundigen; er ließ nur Veronika zu, bei der er eine wahre Zärtlichkeit herausfühlte. Während der ersten Tage hatte Frau Chanteau ihm die Unschicklichkeit begreiflich machen wollen, daß ein Mann ein junges Mädchen pflege; aber er war aufgebraust; sei er nicht ihr Gatte? Außerdem pflegten Ärzte sehr wohl Frauen. Zwischen ihnen gab es in der Tat keinerlei schamhaften Zwang. Das Leiden, vielleicht gar der bevorstehende Tod, verscheuchte die Sinnlichkeit. Er leistete ihr alle die kleinen Dienste, hob und legte sie wie ein mitleidiger Bruder, der in diesem begehrenswerten Körper nur das Fieber sah, das ihn durchschauerte. Es war wie eine Verlängerung ihrer gesunden Kindheit, sie kehrten zu der keuschen Nacktheit ihrer ersten Bäder zurück, als er sie noch wie ein unreifes Kind behandelte. Die Welt verschwand, nichts war mehr vorhanden als die zu trinkende Arznei, die vergebens von Stunde zu Stunde erwartete Besserung, die niederen, plötzlich eine große Wichtigkeit annehmenden Einzelheiten des tierischen Lebens, die für die Heiterkeit oder Traurigkeit der Tage ausschlaggebend waren. Die Nächte folgten den Tagen; das Dasein Lazares schwebte gleichsam über der Leere auf und nieder mit der von Minute zu Minute drohenden Gefahr eines Sturzes in das Dunkel.

Doktor Cazenove besuchte Pauline alle Morgen, er sprach selbst des öfteren noch einmal des Abends nach Tische vor. Bei seinem zweiten Besuche hatte er sich zu einem reichlichen Aderlaß entschlossen. Aber das für einen Augenblick verscheuchte Fieber war wieder erschienen. Zwei Tage verstrichen, er war sichtlich betroffen, denn er begriff die Zähigkeit des Übels nicht. Weil das Mädchen immer größere Mühe hatte, den Mund zu öffnen, konnte er den Schlund nicht untersuchen, der ihm geschwollen und von einer blassen Röte erschien. Endlich klagte Pauline über eine wachsende Spannung, die ihren Hals zu sprengen drohte, und der Doktor sagte eines Morgens zu Lazare:

»Ich vermute ein Blutgeschwür.«

Der junge Mann führte ihn in sein Zimmer. Er hatte gerade am Abend vorher beim Durchblättern eines alten Handbuches der Pathologie die Seiten über die retro-pharyngitischen Blutgeschwüre gelesen, die den Tod durch Ersticken zur Folge haben können, indem sie die Luftröhre zusammendrücken. Er fragte sehr bleich:

»Dann ist sie verloren?«

»Ich hoffe nein«, erwiderte der Arzt. »Wir werden sehen.«

Doch verbarg er selbst seine Besorgtheit nicht. Er gestand seine fast völlige Ohnmacht in dem vorliegenden Falle ein. Wie wollte man ein Blutgeschwür im Grunde dieses zusammengezogenen Mundes aufspüren? Es zu früh öffnen, konnte gleichfalls bedenkliche Folgen herbeiführen. Das beste war, die Natur walten zu lassen, was jedoch sehr lange dauern und mit großen Schmerzen verbunden sein würde.

»Ich bin nicht der liebe Gott!« rief er, als Lazare ihm das Unnütze der Wissenschaft vorhielt.

Die Zärtlichkeit, welche der Doktor Cazenove für Pauline empfand, wandelte sich bei ihm in eine verdoppelte prahlerische Schroffheit. Dieser stattliche Greis, dürr wie ein wilder Rosenstamm, war in das Herz getroffen. Dreißig Jahre lang hatte er die Welt durchfahren, war er von Schiff zu Schiff gewandert, hatte er den Lazarettdienst in allen französischen Kolonien versehen. Er hatte die Epidemien an Bord, die ungeheuerlichen Krankheiten der Tropen, die Elefantiasis in Cayenne, die Schlangenbisse in Indien behandelt; er hatte Menschen aller Farben getötet, die Wirkungen der Gifte an Chinesen studiert und Neger in den heiklen Versuchen der Vivisektion geopfert. Und heute brachte ihn dieses kleine Mädchen mit ihrem bißchen Halsweh um allen Schlaf; seine eisernen Hände zitterten, seine Vertrautheit mit dem Tode ließ ihn aus Furcht vor einem verhängnisvollen Ausgange im Stich. Um diese merkwürdige Regung zu verbergen, versuchte er sogar die Verachtung des Leidens zu heucheln. Man sei zum Leiden geboren, wozu sich also darüber aufregen?

Jeden Morgen sagte Lazare zu ihm:

»Versuchen Sie etwas, Doktor, ich beschwöre Sie ... Es ist fürchterlich, sie kann keinen Augenblick mehr schlummern. Sie hat die ganze Nacht geschrien.«

»Aber zum Donnerwetter, das ist doch nicht meine Schuld«, pflegte der Arzt aufgebracht zu antworten. »Ich kann ihr doch nicht den Hals abschneiden; das wäre freilich das Einfachste, sie zu heilen.«

Der junge Mann ärgerte sich ebenfalls.

»Dann ist die Medizin zu nichts gut?«

»Zu gar nichts, wenn die Maschine aus dem Gange kommt. Das Chinin hebt das Fieber auf, ein Abführungsmittel wirkt auf die Därme, man muß bei einem Schlaganfall zu Ader lassen ... In allem übrigen geht es auf gut Glück. Man muß sich der Natur anheimgeben.«

Das waren Zornesausbrüche über die Ohnmacht seines Könnens. Gewöhnlich wagte er nicht die Medizin so rundweg zu verleugnen, obgleich er genug praktiziert hatte, um zweifelnd und bescheiden zu sein. Er verlor ganze Stunden am Bette beim Studium der Kranken und ging mit gebundenen Händen davon, ohne selbst ein Rezept zurückzulassen, weil er nichts anderes tun konnte, als der vollen Entwicklung des eiterigen Geschwüres beizuwohnen, das um eine Linie mehr oder weniger das Leben oder den Tod bedeuten mußte.

Lazare schleppte sich acht volle Tage in schrecklicher Angst hin. Auch er erwartete von einem Augenblick zum andern den Urteilsspruch der Natur. Bei jedem mühseligen Atemholen glaubte er, alles sei zu Ende. Das Blutgeschwür verkörperte sich zu einem lebendigen Bilde; er sah es ungeheuerlich, die Luftröhre versperren; noch ein geringes Anwachsen der Schwellung und die Luft würde keinen Durchgang mehr finden. Seine schlecht verdauten zwei Jahre Medizin verdoppelten seine Angst. Besonders brachte ihn der Schmerz außer sich, versetzte ihn in eine nervöse Aufregung, gab ihm eine leidenschaftliche Auflehnung gegen das Dasein ein. Warum dieser Greuel des Schmerzes? War es nicht furchtbar überflüssig, dieses Zwicken des Fleisches, dieses Brennen und Verkrümmen der Muskel, wenn das Übel sich an einem Mädchenkörper von so zarter Weiße machte?« Ein Bann des Übels führte ihn unaufhörlich an das Bett zurück. Er fragte sie, auf die Gefahr hin, sie zu ermüden: ob sie noch leide? wo es jetzt sitze? Oft ergriff sie seine Hand und legte sie an ihren Hals: dort war es wie ein unerträgliches Gewicht, wie eine Kugel von glühendem Blei, die zum Ersticken pulsierte. Die Migräne wich nicht mehr von ihr, sie wußte nicht von Schläfrigkeit gefoltert, wie den Kopf betten; in den zehn Tagen, seitdem das Fieber sie schüttelte, hatte sie keine zwei Stunden geschlafen. Eines Abends hatten sich, um das Elend voll zu machen, auch noch heftige Ohrenschmerzen eingestellt; bei diesen Anfällen verlor sie völlig das Bewußtsein, es war ihr, als zermalme man ihr die Backenknochen. Sie gestand jedoch dieses ganze Martyrium nicht Lazare, sie zeigte einen festen Mut, denn sie fühlte, daß er fast ebenso krank war wie sie selbst, sein Blut von ihrem Finger glühend, seine Kehle von ihrer Geschwulst gewürgt. Oft log sie sogar, es gelang ihr im Augenblick der heftigsten Beängstigungen zu lächeln: es lege sich, sagte sie, und nötigte ihn zu einer kurzen Rast. Das Schlimme war, daß sie selbst den Speichel nicht mehr schlucken konnte, ohne einen Schrei auszustoßen, so entsetzlich war ihr Kehlkopf bereits geschwollen. Lazare fuhr jäh aus dem Schlafe: begann die Geschichte von neuem? Abermals befragte er sie, wollte den Sitz des Übels wissen, während sie mit schmerzerfülltem Gesicht und geschlossenen Augen kämpfte, um ihn zu täuschen, und stotterte, es sei nichts, irgendein Etwas, das ihr einen Kitzel verursacht habe.

»Schlafe und sorge dich nicht ... Ich will ebenfalls schlafen.«

Diese Schlafkomödie spielte sie des Abends ab, um ihn zu Bett zu schicken. Er aber bestand hartnäckig darauf, bei ihr in einem Lehnstuhl zu wachen. Die Nächte waren so schlecht, daß er den Tag nicht ohne einen abergläubischen Schrecken schwinden sah. Werde die Sonne jemals wieder aufgehen?

Eines Nachts hielt Lazare, an das Bett gelehnt, Paulinens Hand in der seinen, wie er oft tat, um ihr in dieser Weise zu sagen, daß er bei ihr sei und sie nicht verlasse. Doktor Cazenove war um zehn Uhr abgefahren, wütend, für nichts mehr bürgend. Bis dahin hatte der junge Mann Trost in dem Glauben gefunden, daß sie selbst sich nicht in Gefahr sehe. In ihrer Nähe sprach man von einer einfachen, sehr schmerzlichen Halsentzündung, die aber ebenso leicht vorübergehen werde wie ein Schnupfen. Sie selbst schien ruhig mit ihrem tapfern Gesicht, stets heiter trotz ihres Leidens. Wenn man von ihrer Heilung sprach und Pläne daran knüpfte, lächelte sie. So hörte sie auch in jener Nacht noch Lazare den Plan eines Spazierganges an den Strand bei Gelegenheit ihres ersten Ausganges erörtern. Dann war Schweigen eingetreten; sie schien zu schlummern, als sie plötzlich zu Ende einer langen, langen Viertelstunde mit deutlicher Stimme flüsterte:

»Mein armer Freund, ich glaube, du wirst eine andere Frau heiraten.«

Er war wie vor den Kopf geschlagen, ein eisiges Frösteln kroch ihm über den Nacken.

»Wie meinst du das?« fragte er.

Sie hatte die Augen geöffnet und sah ihn mit ihrem Ausdrucke mutiger Entsagung an.

»Geh! ich weiß sehr gut, was mir fehlt ... Es ist mir lieber, wenn ich alles weiß, damit ich euch wenigstens noch einmal küssen kann.«

Lazare wurde böse; es sei toll, sich solche Gedanken zu machen; eine weitere Woche, und sie werde wieder auf den Füßen sein. Er ließ ihre Hand fahren und flüchtete unter einem Vorwande in sein Zimmer, denn das Schluchzen erstickte ihn. Dort im Dunkel überließ er sich seinem Schmerze, quer über das Bett hingesunken, in dem er seit langer Zeit nicht mehr schlief. Eine entsetzliche Gewißheit hatte ihm das Herz mit einem Male zusammengeschnürt. Pauline ging dem Tode entgegen, vielleicht überlebte sie diese Nacht nicht mehr. Der Gedanke, daß sie es wußte, daß ihr bisheriges Schweigen eine Heldentat des Weibes war, das selbst im Tode die Empfindung der anderen schont, brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Sie wußte es, sie sah den Todeskampf kommen, und er werde ohnmächtig dabeistehen. Schon glaubte er das letzte Lebewohl zu hören, die Szene mit ihren traurigen Einzelheiten inmitten der Finsternis des Zimmers sich abspielen zu sehen. Es war das Ende von allem; er nahm das Kopfkissen zwischen seine krampfhaft zuckenden Arme und drückte das Haupt hinein, um sein Schluchzen zu ersticken.

Die Nacht verstrich indessen ohne Katastrophe. Ebenso zwei weitere Tage. Jetzt aber knüpfte sie ein neues Band aneinander: die stete Gegenwart des Todes. Sie gab sich keiner Täuschung mehr über die Bedenklichkeit ihres Zustandes hin und fand noch die Kraft zu lächeln; ihm selbst gelang es, eine völlige Gelassenheit zu heucheln, die Hoffnung, sie von einer Stunde zur andern sich erheben zu sehen, trotzdem sagte sich alles, bei ihr wie bei ihm ein beständiges Lebewohl inmitten der anhaltenden Zärtlichkeit sich begegnender Blicke. In der Nacht namentlich, während er bei ihr wachte, hörten sie schließlich selbst ihre gegenseitigen Gedanken heraus; die Drohung der ewigen Trennung brachte tiefe Rührung selbst in ihr Schweigen. Nichts war von so grausamer Süße; nie hatten sie ihre Wesen so völlig ineinander übergehen fühlen.

Eines Morgens bei Sonnenaufgang erstaunte Lazare über seine Ruhe bei dem Gedanken an den Tod. Er versuchte, sich die Daten in das Gedächtnis zurückzurufen: seit dem Tage, an dem Pauline erkrankt war, hatte er nicht ein einziges Mal vom Scheitel bis zu den Sohlen den kalten Schrecken des Nicht-mehr-seins gefühlt. Wenn er um den Verlust seiner Genossin zitterte, so war es ein anderer Schrecken, der nichts mit der Zerstörung seines Ichs zu tun hatte. Das Herz blutete ihm, aber ihm war, als ob diese dem Tode gelieferte Schlacht ihn dem Tode gleich stark mache, ihm Mut einflöße, jenem ins Antlitz zu schauen. Vielleicht lagen auch nur Ermüdung und Abstumpfung in dem Schlafe, der seine Furcht betäubte. Er schloß die Augen, um die Sonne nicht aufsteigen zu sehen, er wollte den Angstschauer wiederfinden, indem er sich bis zur Furcht aufregte, indem er sich wiederholte, daß auch er eines Tages sterben werde: nichts gab Antwort darauf, es war ihm gleichgültig geworden, die Dinge hatten eine eigene Leichtigkeit angenommen. Selbst sein Pessimismus scheiterte an diesem Schmerzenslager; anstatt ihn in den Haß gegen die Welt zu versenken, war seine Empörung gegen den Schmerz nur noch ein glühendes Verlangen nach Gesundheit, die zum äußersten getriebene Lebenslust. Er sprach nicht mehr davon, die Erde wie einen alten unbewohnbaren Bau in die Luft sprengen zu wollen; die einzige ihn heimsuchende Vorstellung war die gesunde Pauline an seinem Arme unter den Strahlen einer heiteren Sonne; und sein einziges Verlangen war, sie noch einmal mit ihren kräftigen Schritten fröhlich die Wege entlang führen zu können, die sie gemeinsam gewandelt waren.

An jenem Tage glaubte Lazare, der Tod komme. Seit acht Uhr wurde die Kranke von Übelkeiten heimgesucht, jede Anstrengung endete mit einem sehr beunruhigenden Erstickungsanfall. Bald machten sich Schauer bemerkbar; sie wurde von einem solchen Zittern geschüttelt, daß man ihre Zähne klappern hörte. Lazare rief erschrocken aus dem Fenster, man sollte sofort einen Jungen nach Arromanches schicken, obwohl er den Doktor wie gewöhnlich gegen elf Uhr erwartete. Das Haus war in ein düsteres Schweigen versunken, eine Leere machte sich geltend, seitdem Pauline es nicht mehr mit ihrer Lebhaftigkeit erfüllte. Chanteau verbrachte, die Blicke auf seine Beine gerichtet, mit der Furcht vor einem Anfalle unten schweigsam seine Tage; niemand war zu seiner Pflege da; Frau Chanteau zwang Luise zum Ausgehen, sie beide hatten sich aneinander geschlossen und lebten jetzt draußen in innigster Gemeinschaft; nur der schwere Schritt der unaufhörlich hinauf und hinunter steigenden Veronika störte den Frieden der Treppe und der leeren Stube. Dreimal hatte sich Lazare über die Brüstung gelehnt; ihn verzehrte die Ungeduld, ob die Magd jemanden zum Gange nach Arromanches bewogen hatte. Er kehrte gerade in das Zimmer zurück und betrachtete die etwas ruhiger gewordene Kranke, als die halb offene Tür leise knackte.

»Nun, Veronika?«

Es war indes seine Mutter. Sie wollte an diesem Morgen gerade Luise zu Freunden nach Verchemont begleiten.

»Der kleine Cuche hat sich sofort aufgemacht«, erwiderte sie. »Er hat gute Beine.«

Nach einer Pause fragte sie:

»Es geht also nicht besser?«

Lazare wies mit einer Gebärde der Verzweiflung wortlos auf die unbeweglich wie tot daliegende Pauline, deren Gesicht in einem kalten Schweiße gebadet war.

»Dann werden wir nicht nach Verchemont gehen«, fuhr sie fort. »Sind diese Krankheiten, von denen man nichts versteht, nicht entsetzlich hartnäckig? ... Das arme Kind ist wahrlich schwer geprüft.«

Sie hatte sich gesetzt und sagte ihre Sätze mit derselben tiefen und eintönigen Stimme her.

»Wir hatten uns schon um sieben Uhr auf den Weg machen wollen! Es ist ein Glück, daß Luise nicht früh genug aufgestanden ist ... Was heute Morgen auch alles zusammentrifft! Man könnte meinen, es geschehe mit Absicht. Der Gewürzkrämer von Arromanches ist mit der Rechnung gekommen, ich habe sie bezahlen müssen. Jetzt ist der Bäcker unten ... Wieder für vierzig Franken Brot im Monat! Ich kann mir nicht vorstellen, wohin das alles geht.

Lazare hörte nicht; die Furcht, den Schauer wiederkehren zu sehen, nahm ihn völlig in Anspruch. Das dumpfe Geräusch dieses Wortflusses aber reizte ihn. Er versuchte, sie hinauszuschicken.

»Gib Veronika zwei Mundtücher und schicke sie mir durch sie herauf.«

»Natürlich muß der Bäcker bezahlt werden«, fuhr sie fort, als habe sie nicht gehört. »Er hat mit mir gesprochen, man kann ihm also nicht sagen, daß ich ausgegangen sei ... Ach, ich habe genug mit diesem Hause! Die Last wird zu schwer, schließlich lasse ich alles stehen und liegen ... Wenn Pauline nicht so übel daran wäre, könnte sie uns die neunzig Franken für ihre Pension vorschießen. Heute ist der zwanzigste, also ohnehin nur noch zehn Tage ... Die arme Kleine scheint so schwach ...

Lazare wendete sich mit heftiger Bewegung zu ihr.

»Was willst du?«

»Du weißt wohl nicht, wohin sie ihr Geld gelegt hat?«

»Nein.«

»Es muß sich in der Kommode befinden, vielleicht siehst du einmal nach.«

Er weigerte sich dessen mit einer erbitterten Miene. Seine Hände zitterten.

»Ich bitte dich, Mama ... Laßt mich allein!«

Diese wenigen Sätze waren hastig im Hintergrunde des Zimmers gezischelt worden. Ein peinliches Schweigen trat ein, als sich eine leise Stimme vom Bette her erhob.

»Nimm den Schlüssel unter meinem Kopfkissen, Lazare, und gib der Tante, was sie will.«

Beide standen betroffen da. Er wehrte sich, wollte nicht in der Kommode herumkramen. Aber man mußte nachgeben, um Pauline nicht zu quälen. Als er seiner Mutter einen Hundertfrankenschein eingehändigt hatte und den Schlüssel wieder unter das Kopfkissen schob, fand er die Kranke in einem abermaligen Schauer, der sie wie einen jungen Baum fast bis zum Knicken schüttelte. Zwei schwere Tränen rannen aus ihren armen, geschlossenen Augen über ihre Wangen.

Doktor Cazenove erschien erst zur üblichen Stunde. Er hatte den kleinen Cuche, der wahrscheinlich im Straßengraben spielte, nicht gesehen. Sobald er Lazare angehört und einen Blick auf Pauline geworfen hatte, rief er:

»Sie ist gerettet!«

Diese Übelkeiten, diese schrecklichen Schauer waren ganz einfach die Anzeichen für das endliche Aufgehen des Geschwürs. Die Erstickung war nicht mehr zu befürchten, sobald das Übel sich von selbst zu lösen begann. Die Freude war groß, Lazare begleitete den Arzt, und da Martin, der mit seinem Holzbeine im Dienste des letzteren gebliebene ehemalige Matrose in der Küche ein Glas Wein trank, wollten alle auf die Genesung anstoßen. Frau Chanteau und Luise nahmen einen Nußschnaps zu sich.

»Ich bin nie ernstlich besorgt gewesen«, sagte die erstere. »Ich fühlte gleich, daß es nichts zu bedeuten habe.«

»Das hindert nicht, daß das liebe Kind schwere Tage gesehen hat«, entgegnete Veronika. »Wahrhaftig; wenn mir einer hundert Sous schenkte, würde ich nicht so zufrieden sein.«

In diesem Augenblicke trat Abbé Horteur in die Küche. Er wollte sich erkundigen und nahm einen Tropfen Likör an, um dem Beispiele aller zu folgen. Er war jeden Tag als guter Nachbar gekommen, Nachfrage zu halten. Lazare hatte ihm gleich bei dem ersten Besuch bedeutet, er werde ihn nicht zu der Kranken lassen, um sie nicht zu erschrecken, und der Priester hatte darauf erwidert, daß er es vollkommen verstehe. Er begnügte sich mit dem Lesen von Messen für das arme Fräulein. Während Chanteau mit ihm anstieß, lobte er ihn wegen seiner Duldsamkeit.

»Sie sehen, daß sie sich auch ohne das »oremus« aus der Geschichte gezogen hat.«

»Jeder rettet sich, wie er es versteht«, erklärte der Geistliche im lehrhaften Tone und trank sein Glas vollends aus.

Als der Doktor fort war, wollte Luise hinauf, um Pauline zu umarmen. Diese litt noch große Schmerzen, aber das Leiden schien nicht mehr ins Gewicht zu fallen. Lazare rief ihr vergnügt Mut zu; er gab das Heucheln auf und übertrieb selbst die überstandene Gefahr, indem er ihr erzählte, er habe sie dreimal tot in den Armen zu halten geglaubt. Sie dagegen bezeugte ihre Freude über die Rettung nicht so laut, aber fühlte sich von der Süße des Lebens durchdrungen, nachdem sie den Mut gehabt, sich an den Tod zu gewöhnen. Zärtliche Empfindungen huschten über ihr Gesicht, sie hatte ihm die Hand gedrückt und mit einem Lächeln geflüstert:

»Jetzt, lieber Freund, kannst du nicht entschlüpfen; ich werde dein Weib sein.«

Die Genesung begann mit Zeiten langen Schlafes. Sie schlief ganz ruhig mit sanftem Atmen tagelang in einer Genesung bringenden Bewußtlosigkeit. Minouche, die man in den bittersten Stunden der Krankheit aus dem Zimmer gejagt, benutzte diesen Frieden, um sich wieder einzuschleichen; sie glitt ganz leise auf das Bett und rollte sich zur Seite ihrer Herrin zusammen und verbrachte den ganzen Tag im Genuß der lauen Bettwärme; oftmals putzte sie sich unendlich lange, wobei sie das Fell mit Zungenstrichen behandelte; aber ihre Bewegungen waren so geschmeidig, daß die Kranke sie nicht einmal sich regen fühlte. Unterdessen schnarchte nach Menschenart der ebenfalls in das Zimmer zugelassene Mathieu, quer am Fußende des Bettes gelagert.

Eine der ersten Launen Paulines war, am folgenden Sonnabend ihre kleinen Freunde aus dem Dorfe zu sich zu entbieten. Man begann bereits nach der, drei Wochen hindurch beobachteten strengen Diät, ihr weich gekochte Eier zu erlauben. Sie war noch sehr schwach und konnte die Kinder nur sitzend empfangen. Lazare hatte abermals in ihrer Kommode nachsehen müssen, um ihr Fünffrankenstücke einzuhändigen. Aber als sie ihre Armen ausgefragt und eigensinnig das mit ihnen geregelt hatte, was sie ihre rückständigen Rechnungen nannte, überfiel sie eine derartige Schwäche, daß man sie besinnungslos niederlegen mußte. Sie nahm an dem Damm und den Verpfändungen ebenfalls Anteil und fragte täglich, ob sie gut hielten. Schon waren einige Balken lose geworden; allein ihr Vetter log und sprach nur von zwei-drei Brettern, welche die Nägel verloren hätten. Als sie eines Morgens allein geblieben, war sie aus den Decken geschlüpft, um die hohe Flut von fern gegen die Gebälke schlagen zu sehen; auch diesmal hatten sie die wiederkehrenden Kräfte im Stich gelassen; sie wäre gefallen, wenn Veronika nicht rechtzeitig in das Zimmer gekommen wäre, um sie noch mit ihren Armen aufzufangen.

»Traue dir nicht zu viel zu! Ich binde dich an, wenn du nicht vernünftig bist«, neckte Lazare wiederholt.

Er bestand noch immer darauf, sie zu überwachen; doch von der Müdigkeit übermannt, schlief er in dem Armstuhl ein. Zuerst hatte er die lebhafteste Freude empfunden, als er sie die ersten Tassen Fleischbrühe hatte trinken sehen. Diese in den jugendlichen Körper zurückkehrende Gesundheit war ein köstliches Ding, eine Erneuerung des Daseins, in welcher er selbst sich aufleben fühlte. Als dann die Gewohnheit der Gesundung ihn übernahm und der Schmerz geschwunden war, hörte er auf, sich ihrer wie einer unerwarteten Wohltat zu freuen. Es blieb in ihm nur eine Abstumpfung zurück, eine nervöse Reizlosigkeit nach dem Kampfe, der wirre Gedanke, daß die Leere von neuem anhob.

Eine Nacht schlief Lazare fest, als Pauline ihn mit einem Seufzer der Beängstigung emporfahren hörte. Beim schwachen Lichte der Nachtlampe sah sie seine Miene höchlich bestürzt, seine Augen vor Schrecken geöffnet, die Hände wie zu einer Beschwörung verflochten. Er stotterte abgebrochene Worte.

»Mein Gott! ... Mein Gott!«

Besorgt hatte sie sich lebhaft zu ihm gebeugt.

»Was hast du, Lazare? Leidest du?«

Diese Stimme ließ ihn erzittern. Man sah ihn also? Er saß verlegen da und konnte nur eine ungeschickte Lüge zusammenbringen.

»Aber mir ist nichts ... Du klagtest soeben.«

Die Furcht vor dem Tode begann wieder in seinem Schlafe aufzutauchen, eine grundlose Furcht, wie aus dem Nichts selbst hervorgegangen, eine Furcht, deren eisiger Hauch ihn mit einem heftigen Schauer aus dem Schlafe geschreckt hatte. Mein Gott! Eines Tages müßte man dennoch sterben! Dieser Gedanke stieg in ihm auf und erstickte ihn, während Pauline, die den Kopf wieder auf das Kissen gebettet hatte, ihn mit ihrer Miene mütterlichen Mitleids anschaute.


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