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Jeden Abend, wenn Veronika das Tischtuch abgenommen hatte, fand im Speisezimmer die nämliche Unterhaltung zwischen Frau Chanteau und Luisen statt, während Herr Chanteau, in die Lektüre seiner Zeitung vertieft, sich begnügte, mit einem Worte auf die seltenen Fragen seiner Gattin zu antworten. Während der ganzen vierzehn Tage, in denen Lazare Pauline in Gefahr geglaubt, war er nicht einmal herabgekommen, um an dem Tische Platz zu nehmen; jetzt speiste er zwar unten, aber beim Nachtisch schon ging er sofort wieder zu der Genesenden. Er war kaum auf der Treppe, so nahm auch Frau Chanteau ihre Klagen vom vorhergehenden Abend wieder auf.
Zuerst spielte sie die Zärtliche.
»Armes Kind, er bringt sich um. Es ist wahrhaftig nicht vernünftig, seine Gesundheit so aufs Spiel zu setzen. Seit drei Wochen schläft er nicht mehr ... Seit gestern ist er wieder bleicher geworden.«
Sie beklagte auch Pauline: Die liebe arme Kleine leide zu sehr, man könne keinen Augenblick oben bleiben, ohne daß sich einem das Herz umwende. Aber nach und nach kam sie auf diese Unbequemlichkeiten zu sprechen, welche diese Kranke im Hause verursachte; alles bleibe in der Luft, es sei unmöglich, einen warmen Bissen zu essen, man wisse nicht mehr, ob man lebe. Hier unterbrach sie sich, um ihren Gatten zu fragen:
»Hat Veronika wenigstens an dein Malvenwasser gedacht?«
»Gewiß, gewiß«, antwortete er, über die Zeitung hinweg.
Dann wandte sie sich, die Stimme senkend, an Luise.
»Es ist komisch, diese unselige Pauline hat uns nie Glück gebracht. Man sagt, die Leute halten sie für unsern guten Engel! Laß nur, ich weiß, was für Klatschereien im Umlauf sind. In Caen, nicht wahr, Luise, erzählt man sich, daß sie uns bereichert hat. Du kannst offen sprechen, ich mache mir gerade viel aus den bösen Zungen.«
»Mein Gott, es wird über euch wie über alle Welt gesprochen«, flüsterte das junge Mädchen. »Erst im vergangenen Monat habe ich die Frau eines Notars, die davon sprach, ohne überhaupt etwas Näheres zu wissen, an ihren Platz zurückgewiesen ... Sie können die Leute nicht am Sprechen hindern.«
Von dem Augenblick an hielt Frau Chanteau nicht mehr an sich. Ja, sie seien die Opfer ihres guten Herzens. Hätten sie vor Paulines Ankunft jemandes bedurft, um ihr Auskommen zu finden? Wo werde diese jetzt sein, in welchem Winkel des Pariser Pflasters, wenn sie nicht in ihre Aufnahme in ihr Haus gewilligt hätten? Es sei wahrhaftig gut, daß die Rede auf ihr Geld gekommen sei: ein Geld, von dem sie persönlich nur zu leiden hätten; ein Geld, das den Ruin in das Haus gebracht zu haben scheine. Denn schließlich sprächen die Tatsachen laut genug; ihr Sohn hätte sich nie in diesen dummen Versuch mit den Algen eingelassen, er hätte nie seine Zeit damit verloren, das Meer an der Zertrümmerung Bonnevilles zu hindern, wenn diese unselige Pauline, die ihm den Kopf verdrehte, nicht gewesen wäre. Desto schlimmer für sie, wenn sie ihre Sous dabei gelassen habe! Der arme Junge habe seine Gesundheit und Zukunft dabei eingebüßt.
Frau Chanteau erging sich in endlosem Groll gegen die hundertfünfzigtausend Franken, nach denen ihr Schreibsekretär noch fieberte. Es waren die verschlungenen starken Summen, die kleinen noch täglich genommenen und das Loch vergrößernden Sümmchen, die sie so außer sich brachten, als spüre sie darin den bösen Gärstoff, der ihre Ehrlichkeit zersetzt hatte. Heute war diese Zersetzung bereits vollständig; sie verabscheute Pauline um all des Geldes willen, das sie ihr schuldete.
»Was soll man zu solcher Verstocktheit sagen?« fuhr sie fort. »Im Grunde ist sie entsetzlich geizig und doch die Verschwendung in Person. Sie will zwölftausend Franken für die Bonneviller Fischer, die sich über uns lustig machen, in das Meer werfen, sie füttert die verlauste Kinderschar des Dorfes durch, und ich zittere, auf Ehrenwort, wenn ich vierzig Sous von ihr zu fordern habe. Lege dir das zurecht ... Sie hat trotz ihrer Sucht, alles den anderen zu geben, ein Herz so hart wie ein Felsen.«
Oft trug Veronika das Tafelgeschirr ab und zu oder brachte den Tee; sie machte sich zu schaffen, hörte zu und erlaubte sich selbst manchmal dazwischen zu reden.
»Fräulein Pauline, ein Herz wie ein Felsen! Wie kann Madame nur so etwas sagen?«
Frau Chanteau gebot ihr mit einem strengen Blicke Schweigen. Dann erging sie sich, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, als spreche sie mit sich selbst, in verwickelte Berechnungen.
»Gott sei Dank, ich habe ihr Geld nicht mehr aufzubewahren, aber ich möchte wohl wissen, was ihr davon übrig bleibt. Gewiß nicht einmal siebenzigtausend Franken ... Rechnen wir einmal ein bißchen: dreitausend Franken bereits für die Probe mit dem Gebälk, wenigstens zweihundert Franken Almosen monatlich und neunzig für die Pension hier. Das geht schnell fort ... Wollen wir wetten, Luischen, daß sie sich ruiniert. Ja, du wirst sie noch auf dem Stroh sehen ... Und wenn sie sich ruiniert, wer will sie haben, was würde sie anfangen, um zu leben?«
Veronika konnte nicht mehr an sich halten.
»Ich hoffe wohl, daß Madame sie nicht vor die Tür setzt.«
»Wie? Was?« erwiderte ihre Herrin wütend, was will uns die da vorsingen! Es ist ganz und gar nicht die Rede davon, jemanden vor die Tür zu setzen. Ich habe niemanden vor die Tür gesetzt ... Ich sage nur, wenn jemand ein Vermögen geerbt hat, scheint mir nichts dümmer als es zu verschwenden und dann anderen zur Last zu fallen ... Geh in deine Küche und kümmere dich um deine Angelegenheiten!«
Die Magd entfernte sich mit einigen, vor sich hingebrummten Einreden. Während Luise den Tee eingoß, herrschte Schweigen. Man vernahm nur noch das leise Knistern der Zeitung, in welcher Chanteau selbst die Anzeigen las. Manchmal tauschte der letztere mit dem jungen Mädchen ein paar Worte aus.
»Geh, du kannst noch ein Stück Zucker hinzutun ... Hast du endlich einen Brief von deinem Vater erhalten?«
»Ach! Niemals!« antwortete sie lachend. »Aber Sie wissen, wenn ich Sie belästige, kann ich abreisen. Sie sind schon genug durch die kranke Pauline belästigt ... Ich wollte schon fort, aber Sie selbst haben mich zurückgehalten.«
Er versuchte, sie zu unterbrechen.
»Wer spricht davon? Es ist zu liebenswürdig von dir, uns Gesellschaft zu leisten, bis das arme Kind wieder herunterkommen kann.«
»Ich will nach Arromanches flüchten bis zur Ankunft meines Vaters, wenn Sie mich nicht mehr haben wollen.« Sie tat, als habe sie ihn nicht gehört, um ihn zu necken. »Meine Tante Leonie hat ein Landhaus gemietet; man findet dort Gesellschaft, einen Strand, wo man wenigstens baden kann ... Leider ist sie so langweilig, meine Tante Leonie.«
Chanteau lachte schließlich über diese Schelmereien dieses schmeichelnden, großen Kindes. Sein Herz aber schlug, ohne daß er es seiner Frau gegenüber einzugestehen wagte, nur für Pauline, die ihn mit so leichter Hand pflegte. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung, als Frau Chanteau aus ihrem Nachdenken plötzlich wie aus einem Traum erwachte.
»Ich vergebe ihr nie, daß sie mir meinen Sohn geraubt hat ... Er sitzt kaum eine Viertelstunde bei Tisch. Man spricht sich nur noch im Vorbeilaufen.«
»Das wird aufhören«, ließ Luise sich vernehmen. »Einer muß doch bei ihr wachen.«
Die Mutter schüttelte mißbilligend mit dem Kopfe. Sie kniff die Lippen zusammen. Die Worte, die sie scheinbar zurückhalten wollte, quollen trotzdem hervor.
»Möglich, aber es ist drollig, daß ein junger Mann stets mit einem kranken Mädchen beisammen ist. Ach, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen, ich habe gesagt, was ich dachte. Desto schlimmer, wenn etwas Unangenehmes passiert.«
Angesichts der verlegenen Blicke Luisens fuhr sie fort:
»Außerdem ist es durchaus nicht gut, diese Stubenluft zu atmen. Er könnte sich leicht mit ihrem Halsleiden anstecken... Diese jungen Mädchen, die anscheinend so gesund sind, haben manchmal allerlei lasterhafte Übel im Blute. Soll ich es dir sagen? Ich halte sie nicht für gesund.«
Luise fuhr in ihrer sanften Art fort, ihre Freundin zu verteidigen. Sie fand sie so nett. Das war der einzige Beweis, welchen sie dem Vorwurf eines schlechten Herzens und einer schlechten Gesundheit entgegenstellte. Ein Verlangen nach Anstand, nach einem glücklichen Ausgleich ließ sie den rohen Groll der Frau Chanteau bekämpfen, obwohl sie lächelnd diese täglich ihren Haß vom Abend vorher noch überbieten hörte. Sie widersprach, erregt durch die Heftigkeit der Worte, gleichzeitig aber kostete sie, rosig überhaucht, das heimliche Vergnügen, sich bevorzugt zu fühlen, jetzt die Gebieterin des Hauses zu sein. Sie war wie Minouche; sie rieb sich schmeichelnd an den anderen ohne Bosheit, wenn man sie nicht in ihrem Vergnügen störte.
Nachdem Abend für Abend die nämlichen Redensarten wiedergekaut worden, lief die Unterhaltung auf den langsam ausgesprochenen Beginn des Satzes hinaus:
»Nein, Luisette, die Frau, die mein Sohn haben müßte...«
Mit dieser Redensart hob Frau Chanteau an; sie erging sich über die Eigenschaften, die sie von einer vollkommenen Schwiegertochter beanspruchte. Ihre Augen ließen nicht mehr von denen des Mädchens; sie versuchten ihr begreiflich zu machen, was sie nicht sagte. Sie entrollte das genaue Bild einer solchen Schwiegertochter: eine junge, wohlerzogene Person, die bereits die Welt kannte, imstande war, Gesellschaft zu empfangen, eher anmutig als schön, aber vor allem ganz Weib; denn, wie sie sagte, verabscheute sie jungenhafte Mädchen, die unter dem Scheine des Freimuts einfach roh seien. Die Geldfrage dagegen, die einzig den Ausschlag gab, berührte sie nur mit einem Worte: gewiß zähle die Mitgift nicht, aber ihr Sohn habe große Pläne, er könne sich auf keine Heirat einlassen, die ihn ruiniere.
»Sieh, meine Liebe, hätte Pauline auch keinen Sou gehabt, wäre sie ohne ein Hemd auf dem Leibe in unser Haus gefallen, so hätte die Heirat schon vor Jahren stattgefunden. Aber sage selbst, muß ich nicht zittern, wenn ich sehe, wie das Geld in ihren Händen schmilzt? Wie weit will sie jetzt mit ihren sechzigtausend Franken kommen? Nein, Lazare ist mehr wert als das; ich werde ihn nie einer Tollen hingeben, die am Essen knausert, um sich mit Dummheiten zu Grunde zu richten.«
»Das Geld gibt nicht den Ausschlag«, sagte Luise, deren Augen sich senkten. »Indes hat man es nötig.«
Ohne daß noch deutlicher die Rede von Luisens Mitgift gewesen wäre, schienen die zweihunderttausend Franken dort auf dem Tische zu liegen, beleuchtet von dem schlummernden Licht der Hängelampe. Gerade weil sie diese dort sah und spürte, geriet Frau Chanteau so in Fieber; mit einer bloßen Handbewegung schob sie die armseligen sechzigtausend Franken der anderen beiseite und träumte nur noch von der Eroberung der zuletzt Gekommenen mit ihrem ungeschmälerten Vermögen. Sie hatte sehr wohl das plötzlich erwachte Verlangen in ihrem Sohne bemerkt, ehe ihn die Verdrießlichkeiten dort oben zurückhielten. Wenn das Mädchen ihn gleichfalls liebte, warum sollte man sie nicht miteinander verheiraten? Der Vater werde seine Einwilligung schon geben, besonders im Falle gegenseitiger Leidenschaft. Sie fachte diese Leidenschaft an, indem sie den Rest des Abends hindurch verwirrende Redensarten vor sich hin sprach.
»Mein Lazare ist so gut! Niemand kennt ihn. Du selbst, liebe Luisette, kannst nicht ahnen, wie zärtlich er ist... Ach, ich würde seine Frau gewiß nicht beklagen!... Sie darf sicher sein, geliebt zu werden... Und dann so gesund! Eine Haut so weiß und fein wie die eines Huhns! Mein Großvater, der Ritter de la Vignière hatte eine so weiße Haut, daß er zu den Maskenbällen seiner Zeit immer mit ausgeschnittenem Kragen ging wie eine Frau.«
Luise errötete und lachte äußerst belustigt über diese Einzelheiten. Der Hof, den ihr die Mutter um des Sohnes willen machte, diese Vertraulichkeit einer ehrlichen Maklerin, hätten sie die ganze Nacht dort festgehalten. Aber Chanteau begann über seine Zeitung einzuschlafen.
»Geht man denn noch nicht bald schlafen?« fragte er gähnend.
Da er der Unterhaltung lange nicht zugehört hatte, setzte er gleich hinzu:
»Ihr habt gut reden, sie ist nicht schlecht!... Ich werde erst zufrieden sein, wenn sie ihre Suppe wieder an meiner Seite ißt.«
»Wir werden alle zufrieden sein«, rief Frau Chanteau herb. »Man spricht und sagt, was man denkt, aber das hindert nicht, daß man die Leute lieb hat.«
»Das arme Herz!« erklärte ihrerseits Luise, »ich würde ihr gern die Hälfte ihres Leidens abnehmen, wenn das zu machen wäre... Sie ist so lieb.«
Veronika, welche die Handleuchter hereinbrachte, warf wieder etwas dazwischen. »Sie tun recht, ihre Freundin zu sein, Fräulein Luise, denn man müßte einen Pflasterstein statt eines Herzens haben, um Schlechtes gegen sie anzuzetteln.«
»Schon gut, man hat dich nicht um deine Meinung befragt«, begann Frau Chanteau von neuem. »Es wäre besser gewesen, du hättest deine Leuchter geputzt ... Der da ist ekelhaft!«
Alle standen auf. Chanteau floh vor diesen stürmischen Auseinandersetzungen in sein Zimmer zu ebener Erde. Als aber die Frauen in den ersten Stock hinauf gestiegen waren, wo ihre Stuben gegenüber gelegen waren, gingen sie noch nicht zu Bett. Fast immer nahm Frau Chanteau Luise noch einen Augenblick auf ihr Zimmer mit. Dort begann sie wieder von Lazare zu sprechen, sie breitete seine Bilder aus und holte selbst Andenken von ihm hervor: einen ihm in frühester Jugend ausgerissenen Zahn, verblichene Haare aus den Tagen der Kindheit, selbst alte Kleidungsstücke, die Krawatte vom ersten Abendmahlgange, die ersten Höschen.
»Nimm! hier hast du etwas Haar von ihm«, sagte sie eines Abends. »Du beraubst mich nicht, ich besitze solches aus allen Jahrgängen.«
Lag Luise dann endlich im Bette, konnte sie vor der Nachstellung dieses Jünglings, den ihr seine eigene Mutter in die Arme drängte, nicht die Augen schließen. Sie drehte sich, von Schlaflosigkeit gepeinigt, hin und her, sie sah ihn mit seiner weißen Haut sich von der Finsternis abheben. Oft spannte sie die Ohren, um zu lauschen, ob er noch in dem oberen Stockwerk umherging, und der Gedanke, daß er sicher noch bei der im Bette liegenden Pauline wachte, vermehrte ihr Fieber derart, daß sie die Decke von sich werfen und mit entblößtem Busen schlafen mußte.
Oben schritt die Genesung langsam vorwärts. Obgleich die Kranke außer Gefahr war, blieb sie doch noch sehr schwach, von Fieberanfällen erschöpft, die den Arzt in Erstaunen setzten. Wie Lazare sagte, waren die Ärzte immer erstaunt. Er wurde stündlich reizbarer. Die plötzliche Mattigkeit, die er gleich nach dem Umschwung der Krankheit verspürt hatte, schien sich zu steigern und artete zu einem nervösen Unbehagen aus. Seit er nicht mehr gegen den Tod ankämpfte, litt er in diesem Gemach ohne Luft, unter dem Zwang der zur bestimmten Stunde einzugebenden Arznei, unter all den kleinen Plackereien der Krankheit, an denen er zuerst so warmen Anteil genommen hatte. Sie konnte ihn jetzt entbehren, und er verfiel wieder in die Langeweile seines inhaltslosen Lebens, eine Langeweile, die er durch Schleudern mit den Armen, durch stete Veränderung seines Platzes auszufüllen suchte, die ihn mit verzweifelten Blicken um die vier Wände des Zimmers jagte oder gedankenlos am Fenster stehen ließ, ohne daß er doch etwas sah. Sobald er an ihrer Seite ein Buch öffnete, drohte ein fortwährendes Gähnen zwischen den einzelnen Seiten des Buches ihn zu ersticken.
»Lazare,« sagte Pauline ihm eines Tages, »du müßtest an die Luft gehen. Veronika würde mir jetzt genügen.«
Er weigerte sich heftig. Sie konnte ihn also nicht mehr ertragen, daß sie ihn fortschickte? Wäre das schön, sie so zu verlassen, ohne sie erst vollständig auf die Beine gebracht zu haben? Er beruhigte sich endlich, während sie ihm freundlich zuredete.
»Du würdest mich doch darum nicht verlassen, wenn du auch ein wenig frische Luft schöpfst ... Gehe am Nachmittag aus. Wir kämen weit, wenn du nun auch krank würdest.«
Sie hatte aber die Unvorsichtigkeit hinzuzufügen:
»Ich sehe dich sehr wohl den ganzen Tag gähnen!«
»Ich gähne?« rief er. »Sage doch lieber gleich, daß ich kein Herz habe ... Wahrhaftig, du lohnst es mir schön!«
Am nächsten Tage war Pauline geschickter. Sie schützte den lebhaften Wunsch vor, den Bau der Stakete und Palisaden fortgesetzt zu sehen: die Hochfluten der Winterzeit würden bald kommen, die Versuchsgerüste würden fortgespült, wenn man das Verteidigungssystem nicht vervollständige. Aber Lazare hatte bereits seine Begeisterung verloren, Er zeigte sich mit der Zusammenfügung, auf die er gerechnet, unzufrieden; neue Studien waren notwendig, man werde schließlich auch den Anschlag überschreiten, und der Generalrat habe noch keinen Sous bewilligt. Zwei Tage lang mußte sie seine Eigenliebe des Erfinders wecken: könne er damit zufrieden sein, sich vor dem ganzen Orte, der ohnehin bereits lache, vom Meere geschlagen zu sehen? Was das Geld angehe, so werde es zweifellos zurückerstattet, wenn sie es, wie abgemacht, vorschieße. Nach und nach schien Lazare sich wieder zu erwärmen. Er erneuerte seine Pläne, berief den Zimmermeister von Arromanches, mit dem er in seiner Stube bei offener Tür verhandelte, um auf den ersten Ruf herbeieilen zu können.
»Jetzt«, erklärte er eines Morgens, indem er sie umarmte, »wird uns das Meer auch nicht ein Zündhölzchen mehr zerbrechen; ich bin meiner Sache gewiß ... Sobald du wieder ausgehen kannst, werden wir den Stand der Balkenlagen in Augenschein nehmen.«
Luise war gerade heraufgekommen, um sich nach Paulinens Befinden zu erkundigen; als diese sie gleichfalls küßte, flüsterte Pauline ihr ins Ohr:
»Führe ihn hinweg.«
Lazare weigerte sich anfangs. Er erwartete den Doktor. Aber Luise lachte und wiederholte, daß er zu galant sei, um sie allein zu den Gonin gehen zu lassen, bei denen sie persönlich die nach Caen bestimmten Langusten auswählte. Im Vorübergehen könne er einen Blick auf das Bollwerk tun. »Geh, du würdest mir ein Vergnügen bereiten. Nimm doch seinen Arm, Luise ... So, lasse ihn nicht wieder los.«
Sie wurde sichtbar heiter; die beiden anderen stießen sich unter Scherzen. Als sie das Zimmer verlassen hatten, wurde sie wieder ernst und beugte sich über den Rand des Bettes, um ihre Schritte und ihr Lachen besser zu hören, das sich langsam auf der Treppe verlor.
Eine Viertelstunde später erschien Veronika mit dem Arzte. Dann ließ sie sich überhaupt am Krankenbette Paulinens nieder, ohne jedoch ihre Schüsseln zu vernachlässigen, denn alle Augenblicke schlüpfte sie für ein Stündchen zwischen einer Soße und der anderen hinauf. Die Sache ging nicht so leicht. Lazare war am Abend wiedergekommen; aber am nächsten Tage ging er wieder fort. An jedem Tage kürzte er, vom Leben draußen fortgerissen, seine Besuche ab und blieb nur so lange, bis er sich nach allem erkundigt hatte. Übrigens schickte ihn Pauline selbst fort, sowie er nur davon sprach, sich setzen zu wollen. Wenn er mit Luise heimkehrte, zwang sie beide, ihr von ihrem Spaziergange zu erzählen; sie war glücklich über ihre Aufgeräumtheit und die würzige Luft, die sie in ihren Haaren mitbrachten. Sie erschienen ihr wie gute Kameraden, so daß sie keinen Argwohn mehr fühlte. Sobald sie Veronika mit der Arznei in der Hand erblickte, rief sie heiter:
»Geht nur! Ihr stört mich.«
Manchmal rief sie Luise zurück, um ihr Lazare wie ein Kind ans Herz zu legen.
»Sieh, daß er sich nicht langweilt. Er bedarf der Zerstreuung ... Macht einen tüchtigen Spaziergang, ich will euch heute nicht mehr sehen.«
War sie allein, so schienen ihre starren Augen ihnen von weitem zu folgen. Sie vertrieb sich, in Erwartung der Rückkehr ihrer Kräfte, die Zeit mit Lesen, sie fühlte sich so schwach, daß sie zwei oder drei Stunden im Lehnstuhle völlig erschöpften. Oft ließ sie das Buch in den Schoß fallen, eine Träumerei führte sie hinter ihrem Vetter und ihrer Freundin her. Wenn sie am Strande entlang gegangen waren, mußten sie zu den Grotten kommen, wo auf dem Sande in der Frische der Flutzeit so gut weilen war. Sie glaubte angesichts der Beständigkeit dieser Vision nur den Kummer zu empfinden, daß sie nicht bei ihnen sein könnte. Übrigens langweilte sie die Lektüre. Die Romane, die sich im Hause umhertrieben, diese Liebesgeschichten mit den poetisch beschönigten Treulosigkeiten, hatten ihre Geradheit, ihr Bedürfnis, sich zu geben und sich nicht mehr zurückzunehmen, stets empört. War es denn möglich, sein Herz zu belügen und eines Tages nicht mehr zu lieben, nachdem man geliebt hatte? Sie stieß das Buch von sich. Jetzt sahen ihre umherschweifenden Augen jenseits der Mauer ihren Vetter die Freundin heimbegleiten, sie sah, wie er ihren müden Gang unterstützte, daß sie sich aneinander lehnten und lachend und zischelnd sich unterhielten.
»Ihre Arznei, Fräulein«, sagte Veronika plötzlich hinter Pauline und schreckte sie mit ihrer groben Stimme auf.
Nach Verlauf der ersten Woche trat Lazare nicht mehr ein, ohne anzuklopfen. Als er eines Morgens die Tür aufstieß, sah er Pauline, wie sie im Bette mit nackten Armen sich kämmte.
»Verzeihe!« murmelte er zurücktretend.
»Was denn?« rief sie. »Jage ich dir Furcht ein?«
Da entschloß er sich, näher zu treten, aber aus Besorgnis sie zu stören, wandte er den Kopf ab, während sie sich vollends das Haar aufsteckte.
»Bitte, gib mir eine Nachtjacke«, sagte sie ruhig. »Da, im ersten Schubkasten. Es geht mir besser, ich werde wieder gefallsüchtig.«
Er fand in seiner Verwirrung nur Hemden. Als er ihr endlich eine Jacke zugeworfen hatte, wartete er am Fenster, bis sie sich bis an das Kinn hinauf zugeknöpft hatte. Vierzehn Tage früher, als er sie noch im Todeskampfe liegen glaubte, hatte er sie wie ein kleines Kind in die Arme genommen, ohne zu bemerken, daß sie nackt war. Jetzt aber verletzte ihn selbst die Unordnung im Zimmer. Auch sie, von seiner Verlegenheit angesteckt, erbat sich bald nicht mehr die vertraulichen Dienstleistungen, die er ihr kurze Zeit erwiesen hatte.
»So schließe doch die Tür, Veronika«, rief sie eines Morgens, als sie die Schritte des jungen Mannes im Flur vernahm. »Bringe alles beiseite und reiche mir jenes Halstuch.«
Inzwischen ging es ihr täglich besser. Als sie sich aufrechthalten und an das Fenster lehnen konnte, machte es ihr großes Vergnügen, von fern der Herstellung des Bollwerkes zuzusehen. Man vernahm deutlich die Hammerschläge, man sah die sieben bis acht Leute, deren schwarze Flecke sich wie große Ameisen von den gelben Kieseln am Strande abhoben. Zwischen Ebbe und Flut tummelten sie sich eifrig; dann mußten sie vor der steigenden Flut zurückweichen. Pauline aber interessierte sich am meisten für Lazares weiße Jacke und Luisens rosa Kleid, die in der Sonne schimmerten. Sie verfolgte sie und fand sie immer wieder; sie hätte fast bis auf eine Bewegung erzählen können, in welcher Weise sie den Tag verbrachten. Jetzt, da die Arbeiten energisch in die Hand genommen waren, konnten beide nicht mehr nach den Grotten hinter den Abhängen verschwinden. Sie hatte beide stets in einer Entfernung von einem Kilometer in der belustigenden Kleinheit von Puppen unter dem ungeheuren Himmel vor sich. In diese wiederkehrenden Kräfte, die Fröhlichkeit der Genesung mischte sich ihr unbewußt die neidische Freude, auch in dieser Weise mit ihnen zusammen zu sein.
»Was? Das zerstreut Sie, jene Männer arbeiten zu sehen?« wiederholte Veronika täglich beim Ausfegen des Zimmers. »Freilich ist es besser als lesen. Mir zerbrechen die Bücher den Kopf. Sehen Sie, wenn man sich neues Blut schaffen muß, sollte man, wie die Truthähne, sich die Sonne in den Schnabel scheinen lassen, um ein paar tüchtige Schlucke zu nehmen.«
Sie war für gewöhnlich keine Schwätzerin, sogar eher duckmäuserisch. Aber mit Pauline plauderte sie aus Freundschaft in dem Glauben, ihr etwas Gutes damit zu erweisen.
»Nichtsdestoweniger eine drollige Arbeit das ... Genug, wenn sie nur Herrn Lazare gefällt ... Wenngleich ich sage, daß sie ihm gefällt, scheint er doch nicht mehr mit rechter Lust bei der Sache zu sein. Aber er ist sehr hoch hinaus und setzt seinen Kopf darauf, und wenn er dabei vor Langeweile vergehen müßte ... Und wenn er diese Saufbolde von Arbeitern nur eine Minute unbeaufsichtigt läßt, schlagen sie ihm die Nägel gleich überzwerch in die Bretter.«
Nachdem sie mit ihrem Besen unter dem Bette umhergefahren war, fuhr sie fort:
»Was die Herzogin anbelangt ...«
Pauline, die zerstreut zuhörte, erstaunte über dieses Wort.
»Wie, die Herzogin?«
»Fräulein Luise nämlich! Meint man nicht, sie sei aus dem Schenkel Jupiters gekrochen? Wenn Sie in ihrem Zimmer alle die kleinen Dosen, Pomaden, Essenzen sehen könnten! Schon beim Eintritt schnürt es einem die Kehle zu, so riecht das ... Trotzdem ist sie lange nicht so niedlich wie Sie.«
»Oh! ich bin nur eine Bäuerin«, sagte das Mädchen lächelnd. »Luise ist sehr anmutig.«
»Möglich, aber sie hat trotzdem kein Fleisch. Ich sehe das, wenn sie sich wäscht. Wenn ich ein Mann wäre, ich würde in meiner Wahl gewiß nicht zögern.«
Von dem Feuer der Überzeugung fortgerissen, pflanzte sie sich neben Pauline auf.
»Sehen Sie sich doch einmal jene da auf dem Sande an, eine wahre Krabbe! Natürlich, es ist weit ab, und sie kann von hier aus nicht so breit wie ein Turm erscheinen. Aber schließlich, nach etwas muß man doch wenigstens aussehen ... Ah! da ist ja auch der Herr Lazare, er hebt sie ein wenig, damit sie sich die Schuhe nicht naß macht. Was besonders Kräftiges hat er gerade nicht in seinen Armen. Es gibt freilich Männer, welche die Knochen lieben ...«
Veronika unterbrach sich jäh, als sie Pauline an ihrer Seite erzittern fühlte. Aber sie kam immer wieder auf diesen Gegenstand zurück, es kitzelte sie sichtlich, mehr darüber zu sagen. Alles was sie jetzt sah und hörte, blieb ihr in der Kehle stecken und würgte sie: die Abendunterhaltungen, während welcher man über das junge Mädchen herzog, das flüchtige Lächeln zwischen Lazare und Luise, die ganze Undankbarkeit dieses zum Verrat hingleitenden Hauses. Wäre sie immer sofort hinaufgegangen, wenn gerade eine starke Ungerechtigkeit ihren ehrlichen Sinn empörte, so würde sie der Genesenden alles wieder erzählt haben; aber die Furcht, diese wieder krank zu machen, bewirkte, daß sie sich damit begnügte, in ihrer Küche umherzutrampeln und die Töpfe zu mißhandeln. Sie schwor dabei, daß dies nicht so weitergehen könne und sie eines schönen Tages losplatzen werde. Sobald ihr jedoch oben ein beunruhigendes Wort entschlüpfte, versuchte sie, es zurückzunehmen und ihm mit rührender Ungeschicklichkeit einen ungefährlichen Sinn zu geben.
»Gott sei Dank liebt ja Herr Lazare die Knochen nicht. Er ist in Paris gewesen und hat einen zu guten Geschmack ... Sehen Sie, er stellt sie wieder auf die Erde, als werfe er ein Zündhölzchen fort.«
Veronika schwang in der Furcht, anderes unnützes Zeug zu sagen, den Federbesen, um vollends aufzuräumen, während Pauline, in Gedanken versunken, bis zum Abend das rosafarbene Kleid Luisens und den weißen Kittel Lazares mitten unter den dunkeln Flecken der Arbeiter verfolgte.
Als sie endlich ganz genesen war, wurde Chanteau von einem heftigen Gichtanfall ergriffen, der das junge Mädchen trotz seiner Schwäche zum Hinabgehen zwang. Als sie zum erstenmal ihr Zimmer verließ, geschah es, um sich an das Schmerzenslager eines Kranken zu setzen. Das Haus war also, wie Frau Chanteau grollend behauptete, das reine Hospital. Seit einigen Tagen verließ ihr Gatte den Liegestuhl nicht mehr. Infolge wiederholter Anfälle wurde sein ganzer Körper ergriffen, das Übel stieg von den Füßen bis in die Knie, dann in die Ellbogen und Hände. Die kleine weiße Perle am Ohr war abgefallen, andere, größere waren zum Vorschein gekommen. Die Gelenke schwollen sämtlich an, die Kreide der Steinbildungen drang unter der Haut in Gestalt von Krebsaugen vergleichbaren Punkten überallhin. Es war jetzt die chronische, unheilbare Gicht, die Gicht, welche die Gelenke steif macht und verunstaltet.
»Mein Gott! wie ich leide!« wiederholte Chanteau. »Mein linker Fuß ist steif wie Holz; es ist unmöglich, den Fuß oder das Knie zu bewegen ... Mein Ellbogen fängt auch an zu brennen. Sieh doch einmal hin.«
Pauline stellte am linken Ellenbogen eine sehr entzündete Geschwulst fest. Er klagte besonders über dieses Gelenk, in dem der Schmerz bald unerträglich wurde. Mit ausgestrecktem Arm stöhnte er, ohne die Augen von seiner Hand abzuwenden, eine bemitleidenswerte Hand, mit von Knoten geschwollenen Gliedern und einem wie durch einen Hammerschlag aus der Lage gebrachten und fast zerquetschten Daumen.
»Ich kann nicht so liegen bleiben, du mußt mir helfen... Ich hatte eine so schöne Lage herausgefunden!... Und sofort fängt es wieder an, ich möchte sagen, man reißt mir die Knochen mit einer Säge ab... Versuche doch, mich etwas aufzurichten.«
Zwanzigmal in der Stunde mußte er seine Lage verändern. Eine unaufhörliche Angst quälte ihn, er hoffte immer auf Erleichterung. Aber sie fühlte sich noch so schwach, daß sie ihn nicht allein zu bewegen wagte. Sie flüsterte:
»Veronika, hilf mir ihn vorsichtig aufheben.«
»Nein, nein!« schrie er. »Veronika nicht, sie schüttelt mich.«
So mußte Pauline selbst sich abmühen, daß ihr die Schultern krachten. Aber so leise sie ihn auch bettete, er stieß doch ein Geheul aus, das die Magd in die Flucht jagte. Diese versicherte, man müßte geradezu eine Heilige wie das Fräulein sein, um nicht einen Abscheu gegen derartige Verrichtungen zu verspüren; der liebe Gott selbst werde flüchten, höre er den Herrn so brüllen.
Die Anfälle traten jetzt zwar weniger heftig auf, dauerten aber Tag und Nacht, verschlimmert durch ein Unbehagen, und wurden durch die Beängstigung der Bewegungslosigkeit zu einer namenlosen Marter. Ein Tier zerfraß ihm nicht mehr allein die Füße, der ganze Körper wurde ihm wie von der rastlosen Bewegung eines Mühlsteines zermalmt. Es gab hierfür kein Erleichterungsmittel, sie konnte nichts anderes tun, als bei ihm bleiben, sich seinen Launen anbequemen, immer bereit sein, ihm eine andere Lage zu geben, ohne daß er sich dadurch auch nur eine einzige Stunde Ruhe verschaffte. Das Schlimmste aber war, daß das Leiden ihn ungerecht und roh machte; er sprach zu ihr mit einer Wut wie zu einer ungeschickten Magd.
»Halt! Du bist ebenso dämlich wie Veronika ... Seit wann darf man mir die Finger in den Leib bohren? Du hast Finger wie ein Gendarm ... Laß mich in Frieden, zum Donnerwetter! ... Du sollst mich nicht wieder berühren!«
Ohne zu antworten, verdoppelte sie mit einer Ergebung, die nichts erschütterte, ihre Sanftmut. Merkte sie, daß er zu erregt war, so verbarg sie sich einen Augenblick hinter den Vorhängen, damit er sich etwas beruhige, wenn er sie nicht mehr sah. Oft weinte sie dort heimlich, nicht über die Roheiten des armen Mannes, sondern der unerträglichen Marter wegen, die ihn so widerspenstig machte. Sie hörte ihn zwischen seinen Klagelauten mit halblauter Stimme zu sich selbst sprechen.
»Sie ist fortgegangen, die Herzlose ... Ich kann krepieren, nur Minouche würde mir die Augen zudrücken. Ist es denn, bei Gott, möglich, einen Christenmenschen so zu verlassen! ... Ich wette, sie ist in der Küche und trinkt eine Tasse Fleischbrühe.«
Nachdem er hierauf einen Augenblick mit sich gekämpft, murrte er lauter und sagte endlich:
»Bist du da, Pauline? ... Komm doch und hilf mir ein wenig; es ist rein unmöglich so, liegen zu bleiben ... Versuchen wir es mal mit der linken Seite, willst du?«
Dann wieder überkam ihm die Rührung, er bat sie wegen seiner Unliebenswürdigkeiten um Verzeihung. Manchmal wollte er Mathieu um sich haben, um weniger allein zu sein, in dem Wahn, die Gegenwart des Hundes sei ihm gut. Aber er hatte besonders in Minouche eine treue Genossin, denn diese schwärmte für die geschlossenen Krankenzimmer und verbrachte jetzt die Tage auf einem Lehnstuhle seinem Bette gegenüber. Die zu heftigen Schmerzensschreie schienen sie indessen zu überraschen. Wenn er aufschrie, setzte sie sich auf und sah ihn mit ihren runden Augen leiden, in denen das unwillige Erstaunen einer klugen Person aufleuchtete, deren Gemütsruhe man stört. Warum machte er all diesen unangenehmen, überflüssigen Lärm?
Sooft Pauline den Doktor Cazenove begleitete, beschwor sie ihn:
»Können Sie ihm denn keine Morphiumeinspritzung machen? Mir bricht das Herz, wenn ich ihn jammern höre.«
Der Arzt weigerte sich. Wozu? Der Anfall werde noch heftiger wiederkehren. Da das Salizyl das Leiden verschlimmert zu haben schien, wollte er keinen weiteren Versuch mit einer neuen Arznei machen. Dagegen sprach er von einer Milchkur, sobald die schlimmste Zeit des Anfalls vorüber sein würde. Bis dahin strengste Diät, urintreibende Getränke und weiter nichts.
»Im Grunde«, wiederholte er, »ist er ein Schlemmer, der die guten Bissen zu teuer bezahlt. Er hat wieder Wild gegessen, ich habe die Federn gesehen. Desto schlimmer am Ende! Ich habe ihn lange genug im voraus gewarnt, daß er leiden werde, weil er sich gern überfrißt und die Gefahr herausfordert! Aber noch ungerechter wäre es, mein Kind, wenn Sie sich wieder in das Bett legen würden. Seien Sie deshalb vernünftig! Ihre Gesundheit verlangt noch Schonung.«
Sie schonte sich indessen kaum, denn sie widmete ihm alle Stunden. In den Tagen, die sie bei ihrem Onkel zubrachte, hatte sie weder einen klaren Begriff von der Zeit noch vom Wetter, noch selbst vom Leben. Die Ohren summten ihr von den Klagen, von denen das Zimmer widerklang. Dieser Bann war so stark, daß sie darüber Lazare und Luise vergaß, sie wechselte nur im Vorübergehen ein paar Worte mit ihnen und sah sie überhaupt nur in den seltenen Augenblicken, wenn sie gerade durch das Eßzimmer eilte. Die Arbeiten am Bollwerk waren mittlerweile beendet. Heftige Regengüsse fesselten die jungen Leute schon seit einer Woche an das Haus; und wenn ihr plötzlich der Gedanke an deren Beisammensein wiederkehrte, tat es ihr wohl, jene in ihrer Nähe zu wissen.
Frau Chanteau schien noch nie so beschäftigt gewesen zu sein. Sie benutzte, wie sie sagte, die Unordnung, welche die Anfälle ihres Gatten über die Familie brachten, um ihre Papiere durchzusehen, Abrechnungen aufzustellen und ihren Briefwechsel nachzuholen. Auch des Nachmittags schloß sie sich in ihr Zimmer ein und ließ somit Luise allein, die sofort zu Lazare hinaufstieg, da ihr das Alleinsein entsetzlich war. Das war jetzt zur Gewohnheit geworden, sie blieben bis zur Mittagszeit in dem großen Gemach des zweiten Stockwerkes beisammen, das Pauline so lange als Studier- und Erholungszimmer gedient hatte. Das schmale Bett des jungen Mannes befand sich noch immer hinter dem Wandschirm verborgen dort, während das Klavier sich mit Staub bedeckte und der ungeheure Tisch unter einer Flut von Papieren, Büchern und Flugschriften verschwand. Mitten auf dem Tische stand zwischen zwei vertrockneten Algenbündeln ein wie ein Spielzeug großes Palisadenwerk, das mit einem Taschenmesser aus Tannenholz geschnitten war und an das Meisterstück des Großvaters erinnerte, an jene Brücke, die in ihrem Glaskasten das Speisezimmer schmückte.
Lazare zeigte sich seit einiger Zeit nervös. Seine Arbeiterschar hatte ihn erbittert, er war an die Arbeit gegangen wie an einen zu schweren Frondienst, ohne die Freude zu genießen, seine Gedanken endlich verwirklicht zu sehen. Andere Entwürfe beschäftigten ihn, wirre Zukunftspläne, Anstellungen in Caen, Arbeiten, die ihn sehr in die Höhe bringen sollten. Er tat aber nie einen ernstlichen Schritt, er verfiel immer wieder in einen Müßiggang, der ihn von Stunde zu Stunde verbitterter, schwächer und mutloser machte. Dieses Unbehagen vermehrte die tiefe Erschütterung, die ihn während der Krankheit Paulinens durchrüttelt hatte; es wurde gesteigert durch ein Bedürfnis nach frischer Luft und durch eine eigentümliche körperliche Erregtheit, als folge er der gebieterischen Notwendigkeit, am Schmerze Vergeltung üben zu müssen. Luisens Anwesenheit erhöhte noch dieses Fieber; sie konnte nicht mit ihm sprechen, ohne sich an seine Schulter zu lehnen, und hauchte ihm ihr hübsches Lachen in das Gesicht. Ihre katzenhafte Anmut, ihr Duft eines gefallsüchtigen Weibes, all diese freundschaftliche und verwirrende Hingabe berauschten ihn vollends. Es erwachte schließlich in ihm ein krankhaftes, von Gewissensbissen bekämpftes Verlangen. Mit einer Freundin seiner Kindheit, im Hause seiner Mutter, war es unmöglich, der Gedanke an die Rechtschaffenheit lähmte ihm jäh die Arme, wenn er sie im Spiel ergriff und ein plötzliches Feuer ihm das Blut in die Haut jagte. In diesen Kämpfen hielt ihn indessen niemals das Bild Paulinens zurück; sie würde nie etwas davon erfahren haben, ein Gatte betrügt ja auch wohl seine Frau mit einer Magd. Des Nachts erdachte er sich allerlei Geschichten; man habe Veronika, die unerträglich geworden, fortgeschickt, und Luise sei nichts weiter als eine junge Dienstmagd, zu der er, barfuß hinüberschlüpfe. Wie häßlich das Leben alles einrichtete! So übertrieb er in wütenden Ausbrüchen vom Morgen bis zum Abend seinen Pessimismus über Frauen und Liebe. Alles Übel rührte von den dummen, leichtsinnigen Weibern her, die den Schmerz mit Hilfe des Verlangens zu einem ewigen gestalten; die Liebe sei nichts als eine Prellerei, das selbstsüchtige Drängen der zukünftigen Geschlechter, die doch auch leben wollten. Der ganze Schopenhauer wurde durchgenommen und mit Roheiten erläutert, die das junge errötende Mädchen sehr belustigten. Nach und nach verliebte er sich noch mehr in sie, eine wahre Leidenschaft kam in dieser zornigen Geringschätzung zum Vorschein, er stürzte sich in diese neue zärtliche Neigung mit seiner ersten Begeisterung, immer auf der Jagd nach einem Glück, das immer wieder fehlschlug.
Lange Zeit war es bei Luise nur ein natürliches Spiel der Gefallsucht gewesen. Sie schwärmte für kleine Zuvorkommenheiten, für in das Ohr geflüsterte Schmeicheleien und für das Umflattertwerden von liebenswürdigen Männern, während sie sofort in unsicherer und trauriger Stimmung war, wenn man sich nicht mit ihr beschäftigte. Ihre jungfräulichen Sinne schlummerten noch, sie blieb noch bei dem Geplauder, den erlaubten Vertraulichkeiten eines unausgesetzten, galanten Hofmachens stehen. Vernachlässigte Lazare sie einen Augenblick, um einen Brief zu schreiben oder in seinen plötzlich, ohne augenscheinliche Veranlassung auftretenden Melancholien zu versinken, Avurde sie so unglücklich, daß sie ihn zu necken und herauszufordern begann, die Gefahr dem Vergessenwerden vorziehend. Später aber, und zwar eines Tages, als der Atem des jungen Mannes wie eine heiße Flamme über ihren zarten Nacken fuhr, war sie doch von der Furcht ergriffen. Sie war durch ihre langen Pensionsjahre hinlänglich unterrichtet, um zu wissen, was ihr drohte, und von diesem Augenblicke an hatte sie in der köstlichen und zugleich bangen Erwartung eines möglichen Unglücks gelebt; nicht daß sie es im geringsten wünschte, noch ernstlich darüber nachdachte, denn sie rechnete sicher damit, ihm zu entschlüpfen, ohne jedoch aufzuhören, sich auszusetzen, so sehr bestand ihr Frauenglück aus diesem Kampfe des Hautkitzels, ihrer Hingabe und ihres Verweigerns.
Oben, in dem großen Zimmer, fühlten Lazare und Luise noch mehr, wie sie einander angehören. Die mitschuldige Familie schien sie verderben zu wollen, ihn, der unbeschäftigt, krank infolge der Einsamkeit war, und sie, die durch die vertraulichen Einzelheiten, die leidenschaftlichen Auskünfte der Frau Chanteau über ihren Sohn in Verwirrung gebracht worden. Sie flüchteten sich dorthin unter dem Vorwande, das Geschrei des Vaters weniger zu hören, der sich unten in der Gicht wand, und sie lebten dort, ohne ein Buch zu berühren, ohne das Klavier zu öffnen, einzig mit sich selbst beschäftigt und sich mit endlosen Plaudereien betäubend.
An dem Tage, an dem Chanteaus Anfall seinen Höhepunkt erreicht hatte, erbebte das ganze Haus von seinem Geschrei. Das waren langgezogene, herzzerreißende Klagelaute, dem Geheul eines Tieres vergleichbar, das abgeschlachtet wird. Nach dem in einer nervösen Erbitterung eingenommenen Frühstück flüchtete Frau Chanteau mit den Worten:
»Ich kann nicht, ich fange sonst auch zu brüllen an. Wenn man nach mir fragt, ich bin in meinem Zimmer und schreibe ... Und du, Lazare, führe Luise schnell in deine Stube. Schließt euch gut ein und versuche sie aufzuheitern; sie hat wahrhaftig viel Vergnügen hier, die arme Luise.«
Man hörte sie im oberen Stockwerk heftig ihre Tür zuschlagen, während ihr Sohn und Luise noch höher hinaufstiegen.
Pauline war zu ihrem Oheim zurückgekehrt. Nur sie blieb in ihrem Mitleid für so viel Schmerzen gelassen. Wenn sie auch dort eben nur ausharren konnte, so wollte sie dem Unglücklichen wenigstens die Erleichterung verschaffen, nicht einsam zu dulden. Sie wußte ihn mutiger gegen das Leiden, wenn sie ihn anblickte, selbst ohne ein Wort an ihn zu richten. So saß sie stundenlang an seinem Bette, und es gelang ihr, ihn mit ihren großen teilnehmenden Augen etwas zu beruhigen. Aber an jenem Tage sah er, mit dem Kopf weit über das Rückenpolster und mit dem starr ausgestreckten, vom Schmerze am Ellbogen wie zermalmten Arme sie nicht und schrie stärker, sowie sie sich ihm näherte.
Gegen vier Uhr suchte Pauline in ihrer Verzweiflung Veronika in der Küche auf, wobei sie die Tür offen ließ. Sie hoffte gleich zurückzukehren.
»Es müßte trotzdem etwas getan werden«, murmelte sie. »Ich habe Lust, kalte Wasserumschläge zu versuchen. Der Doktor sagt zwar, es sei gefährlich, hätte aber manchmal Erfolg. Ich möchte Leinwand haben.«
Veronika war in einer unausstehlichen Laune.
»Leinwand! ... Ich war gerade wegen Waschlappen oben, und man hat mich schön empfangen. Sie wollen, wie es scheint, nicht gestört werden ... Das ist sauber!«
»Du könntest Lazare danach fragen?« sagte Pauline, ohne weiter darauf zu achten.
Aber die Magd hatte in ihrer losgelassenen Wut die Fäuste in die Seiten gestemmt, und ihre Worte flossen ohne Überlegung.
»Ah ja, die gerade da oben sind zu sehr damit beschäftigt, sich das Gesicht abzulecken.«
»Wie?« stotterte das junge Mädchen und wurde totenbleich.
Veronika, selbst erstaunt über den Klang ihrer Stimme, wollte diese vertrauliche Mitteilung, die sie schon lange Zeit bei sich behielt, zurücknehmen und suchte nach einer Erklärung, einer Lüge, ohne etwas Vernünftiges zu finden. Sie hatte sich vorsichtigerweise der Handgelenke Paulinens bemächtigt, aber diese riß sich mit einem jähen Ruck los und stürzte wie eine Tolle die Treppe hinauf, so erregt vor Zorn, daß die Magd ihr nicht zu folgen wagte; sie zitterte vor dieser farblosen, nicht wieder zu erkennenden Maske. Das Haus schien zu schlummern, eine Stille strömte von den oberen Stockwerken aus, nur das Geheul Chanteaus tönte durch diese tote Luft bis nach oben. Mit einem Sprunge erreichte das Mädchen den ersten Stock, aber dort rannte sie plötzlich gegen ihre Tante an. Diese stand dort aufrecht, vielleicht schon seit langer Zeit, auf der Lauer und versperrte wie eine Schildwache den Treppenabsatz.
Pauline, außer Atem und durch dieses Hindernis wie vor den Kopf gestoßen, konnte nicht gleich antworten.
»Laß mich«, stammelte sie endlich.
Sie machte eine so schnelle Bewegung, daß Frau Chanteau zurücktaumelte. Dann stürmte sie mit einem zweiten Satze in das höhere Stockwerk, während ihre Tante wie versteinert, ohne einen Schrei, die Arme zum Himmel erhob. Es war wieder einer jener Anfälle wütender Auflehnung, deren Sturm inmitten der heitern Milde ihrer Natur losbrach und sie, als sie noch Kind war, wie tot hinstreckte. Sie glaubte sich schon seit Jahren geheilt. Aber der Hauch der Eifersucht packte sie so rauh, daß sie nicht an sich halten konnte, ohne sich selbst zu vernichten.
Als Pauline bei der Tür Lazares angelangt war, stürzte sie sich mit einem Ruck hinein. Der Schlüssel wurde abgedreht, der Flügel schlug gegen die Mauer. Was sie sah, machte sie vollends toll. Lazare hatte Luise gegen den Schrank gedrängt und aß ordentlich mit Küssen deren Kinn und Hals, während diese, aus Furcht vor dem Manne schwach werdend, sich ihm hingab. Sie hatten zweifelsohne gespielt, und das Spiel endete schlecht.
Es folgte ein Augenblick des Entsetzens. Alle drei starrten sich an. Endlich schrie Pauline:
»Ah, du Schanddirne, du Schanddirne!«
Vor allem erbitterte sie der Verrat des Weibes. Sie hatte Lazare mit einer verächtlichen Bewegung, wie ein Kind, dessen Schwächen ihr bekannt, beiseitegestoßen. Aber dieses Weib, welches sie duzte, dieses Weib, das ihr den Gatten stahl, während sie unten einen Kranken pflegte! Sie hatte Luise bei den Schultern gepackt und schüttelte sie mit dem Verlangen, sie zu prügeln.
»Sage, warum hast du das getan? ... Du hast eine Niedertracht begangen, verstehst du!«
Außer sich, mit unsicheren Blicken, stammelte Luise:
»Er hielt mich fest, er hat mir schier die Knochen zerschlagen.«
»Er? Laß doch das! Er wäre in Tränen ausgebrochen, wenn du ihn nur weggedrängt hättest.«
Der Anblick des Zimmers peitschte ihren Groll noch mehr an, dieses Zimmers Lazares, wo sie sich geliebt hatten, in dem auch sie, unter dem glühenden Hauch des jungen Mannes, ihr Blut in den Adern hatte sieden fühlen. Was sollte sie diesem Weibe antun, um sich zu rächen? Gleichsam gelähmt in seiner Verlegenheit, entschloß sich Lazare endlich dazwischenzutreten, als sie Luise in so roher Weise freigab, daß deren Schultern gegen den Schrank stießen.
»Ich habe Furcht vor mir selbst ... Fort!«
Von diesem Augenblicke an fand sie kein anderes Wort. Sie verfolgte sie durch das Gemach, trieb sie auf den Flur, jagte sie die Treppe hinunter und schleuderte ihr immer den nämlichen Schrei nach: »Fort! Fort! Nimm deine sieben Sachen, nur fort.«
Frau Chanteau hatte sich inzwischen auf dem Absatze des ersten Stockwerkes nicht gerührt. Die Schnelligkeit, mit der sich dieser Auftritt abspielte, hatte ihr Dazwischentreten unmöglich gemacht. Sie hatte aber jetzt ihre Stimme wiedergefunden. Sie gab ihrem Sohn durch ein Zeichen zu verstehen, sich in sein Zimmer einzuschließen; dann versuchte sie Pauline dadurch zu beruhigen, daß sie zuerst Überraschung heuchelte. Nachdem letztere Luise bis in deren Schlafzimmer gejagt, wiederholte sie noch immer ihr:
»Fort! Fort!«
»Wie? Sie soll aus dem Hause! ... Hast du den Verstand verloren?«
Da erzählte das Mädchen stammelnd die Geschichte.
Der Ekel stieß ihr auf, ihrer geraden Natur galt das Geschehene als die schmählichste, unverzeihlichste Handlung; und je mehr sie daran dachte, desto mehr ließ sie sich vom Zorn hinreißen, empört in ihrem Abscheu vor der Lüge, beleidigt in der Aufrichtigkeit ihrer Liebe. Wenn man sich gegeben hatte, so nahm man sich nicht wieder zurück.
»Fort! Fort! Packe sofort deinen Koffer. Fort.«
Luise, die in ihrer Verwirrung kein Wort der Verteidigung fand, hatte bereits eine Schieblade geöffnet, um ihr die Hemden zu entnehmen. Frau Chanteau aber ward jetzt ärgerlich.
»Bleib, Luise! Am Ende bin ich noch die Herrin im Hause? Wer wagt hier zu befehlen, und wer erlaubt sich die Leute fortzuschicken? ... Das ist ja toll; wir sind doch hier nicht in der Halle! ...«
»Hörst du denn nicht?« schrie Pauline. »Ich habe sie oben mit Lazare ertappt ... Er küßte sie.«
Die Mutter zuckte die Achseln. All der Groll, der sich in ihr angesammelt hatte, machte sich in einem Worte schmählichen Verdachtes Luft.
»Sie spielten; was ist dabei Böses! Haben wir etwa die Nase hineingesteckt, als du krank im Bette lagst und er dich pflegte, um zu sehen, was ihr hättet tun können?«
Die Erregung des jungen Mädchens ließ mit einem Schlage nach. Sie stand unbeweglich, totenblaß da, gepackt von dieser Anschuldigung, die sich gegen sie selbst kehrte. Jetzt wurde sie also gar zur Schuldigen, denn ihre Tante schien abscheuliche Dinge von ihr zu glauben!
»Was willst du damit sagen?« murmelte sie. »Wenn du dergleichen gedacht, würdest du es in deinem Hause sicherlich nicht geduldet haben.«
»Ihr seid groß genug! Aber mein Sohn soll sich durch diese unverständige Aufführung nicht zugrunde richten ... Laß die Personen in Frieden, die noch anständige Frauen abgeben können.«
Pauline verstummte für einen Augenblick. Ihre großen, klaren Augen hefteten sich auf Frau Chanteau, welche die ihrigen abwandte. Dann ging sie auf ihr Zimmer und sagte kurz:
»Gut, so werde ich gehen.«
Es trat von neuem ein Schweigen ein, ein beklemmendes Schweigen, welches das Haus zu erdrücken schien. Durch diese plötzlich eingetretene Ruhe schallte wieder das Gejammer des Oheims, wie die Klage eines sterbenden, verlassenen Tieres. Es schwoll ohne Unterlaß an und übertönte schließlich die anderen Geräusche.
Frau Chanteau bereute jetzt, daß ihr diese Verdächtigung entschlüpft war. Sie fühlte den unaustilgbaren Schimpf und verspürte ein Unbehagen bei dem Gedanken, Pauline könne ihre Drohung einer sofortigen Abreise wahr machen. Einem solchen Kopfe waren alle Absonderlichkeiten möglich; was würde man von ihr und ihrem Manne sagen, wenn ihr Mündel auf den Straßen herumlief und die Geschichte ihres Bruches zum Besten gab? Vielleicht flüchtete sie gar zu Doktor Cazenove, was einen entsetzlichen Skandal in der ganzen Umgegend abgeben würde. Auf dem Grunde dieser Verlegenheit der Frau Chanteau schlummerte auch das Entsetzen vor der Vergangenheit, die Furcht wegen des verlorenen Geldes, die sich jetzt gegen sie wenden konnte.
»Weine nicht, Luisette«, wiederholte sie, und der Zorn packte sie wieder. »Du siehst, in welcher schönen Lage wir uns durch ihre Schuld befinden. Immer und immer wieder heftige Auftritte; unmöglich ruhig zu leben! ... Ich werde versuchen, die Geschichte ins reine zu bringen.«
»Ich flehe euch an, laßt mich gehen«, unterbrach sie Luise. »Ich würde zuviel leiden, wenn ich bliebe ... Sie hat recht, ich will fortgehen.«
»Auf alle Fälle nicht heute abend. Ich muß dich selbst zu deinem Vater bringen ... Warte, ich will hinaufsteigen und sehen, ob sie wirklich ihren Koffer packt.«
Frau Chanteau horchte leise an Paulinens Tür. Sie hörte sie eilig hin- und hergehen, Kästen öffnen und schließen. Ihr erster Gedanke war, hineinzugehen und eine Auseinandersetzung herbeizuführen, die alles in Tränen ertränken werde. Aber sie fürchtete sich, sie fühlte, wie sie vor diesem Kinde stammeln und erröten werde, und das erhöhte ihren Haß nur. Statt anzuklopfen, stieg sie, das Geräusch ihrer Schritte dämpfend, in die Küche hinunter. Ihr war ein neuer Gedanke gekommen.
»Hast du den Auftritt gehört, den uns das Fräulein soeben gemacht hat?« fragte sie Veronika, die wütend an ihrem Kupfer scheuerte.
Die Magd antwortete nicht und ließ die Nase in dem Tripel.
»Sie wird unerträglich. Ich weiß nichts mehr mit ihr anzufangen ... Stelle dir vor, sie will auf der Stelle fort von uns ... Ja, sie packt bereits. Wie wäre es, wenn du hinaufstiegst, wenn du versuchtest, sie zur Vernunft zu bringen.«
Als sie noch immer keine Antwort erhielt, fügte sie hinzu:
»Bist du taub?«
»Ich antworte nicht, weil ich nicht will«, rief plötzlich Veronika außer sich und scheuerte so wütend an einem Leuchter, daß sie sich schier die Finger zerschund. »Sie hat recht, wenn sie geht; an ihrer Stelle hätte ich schon längst Reißaus genommen.«
Madame Chanteau hörte sie mit offenem Munde, völlig betroffen von diesem überströmenden Redeschwall, an.
»Ich bin keine Klatschliese, Madame; aber man muß mich nicht reizen, sonst sage ich alles ... Das ist so und nicht anders; an dem Tage, an dem Sie die Kleine brachten, hätte ich diese am liebsten in das Meer werfen mögen; ich kann nur nicht leiden, daß man jemandem Böses antut, und Sie alle quälen sie so, daß ich schließlich eines Tages dem ersten Besten, der sie berührt, einige Kopfnüsse zu kosten gebe ... Ich pfeife darauf, Sie können mir den Dienst kündigen, sie soll dann schöne Dinge erfahren! ... Ja, ja, alles was Sie ihr mit Ihrer Haberei von ehrbaren Leuten angetan haben.
»Willst du wohl schweigen, Wahnsinnige?« murmelte die alte Dame, beunruhigt durch diesen neuen Auftritt.
»Nein, ich werde nicht schweigen ... Das wäre zu feige, hören Sie? Es würgt mich schon seit Jahren. War es nicht genug, ihr all ihr Geld zu nehmen? Jetzt zerreißen Sie ihr auch noch das Herz! Ich weiß, was ich weiß, ich habe gesehen, wie alles eingefädelt wurde ... Hören Sie, Herr Lazare hat vielleicht nicht so viel Berechnung, aber mehr ist er auch nicht wert, er würde ihr ebenfalls mit seiner Selbstsucht den Todesstreich geben, bloß um sich nicht zu langweilen ... Ein Elend! Manche sind nur geboren, um von den anderen aufgefressen zu werden!«
Sie schwang ihren Handleuchter und packte dann eine Schüssel, die unter dem Putzlappen wie eine Trommel erdröhnte. Frau Chanteau überlegte, ob sie die Magd nicht hinauswerfen solle. Es gelang ihr aber, sich zu überwinden und kühl zu fragen:
»Du willst also nicht mit ihr sprechen? Nur ihretwegen, damit sie keine Dummheiten begeht.«
Veronika schwieg von neuem. Endlich brummte sie:
»Ich will nach oben gehen ... Vernunft ist Vernunft, und Verbohrtheiten haben noch nie zu etwas Gutem geführt.«
Sie nahm sich die Zeit, die Hände zu waschen und ihre unsaubere Schürze abzulegen. Als sie sich endlich entschloß, die Tür nach dem Flur zu öffnen, um die Treppe zu erreichen, drangen fürchterliche Klagelaute in die Küche. Es war das unaufhörliche, entnervende Geschrei des Herrn. Frau Chanteau, die ihr auf dem Fuße folgte, schien von einem Gedanken gepackt und begann mit halblauter, eindringlicher Stimme von neuem:
»Sage ihr, daß sie den Oheim nicht in diesem Zustande allein lassen kann ... Hast du gehört?«
»Meinetwegen,« bekannte Veronika ... »er heult ja ordentlich.«
Sie stieg hinauf, während Frau Chanteau, die den Kopf nach dem Zimmer ihres Mannes hingewendet hatte, sich wohl hütete, dessen Tür zu schließen. Die Klagelaute schwollen in dem Treppenhause an und verdoppelten sich durch den Widerhall der Stockwerke. Oben fand die Magd das Fräulein im Begriff abzureisen. Pauline hatte die notwendigste Wäsche in ein Bündel geknotet und war entschlossen, das übrige am nächsten Tage durch Vater Malivoire holen zu lassen. Sie hatte sich beruhigt, war zwar noch sehr bleich und fassungslos, aber bei kaltem Verstande, ohne den geringsten Zorn zu verspüren.
»Entweder sie oder ich«, antwortete sie auf alle Worte Veronikas, und vermied es, Luise bei ihrem Namen zu nennen.
Als Veronika Frau Chanteau diesen Bescheid brachte, befand sich diese gerade in Luisens Zimmer, die sich angekleidet hatte und gleichfalls hartnäckig darauf bestand, sofort wegzugehen; bei dem kleinsten Geräusch an der Tür fuhr sie heftig zitternd zusammen. Da mußte sich Frau Chanteau wohl oder übel ergeben, sie schickte nach Verchemont, um den Wagen des Bäckers kommen zu lassen, und wollte das junge Mädchen in Person zu seiner Tante Leonie begleiten, die in Arromanches wohnte. Dieser würde man schon eine Geschichte weismachen; man konnte ja Chanteaus heftige Anfälle vorschützen, dessen Geschrei unerträglich wurde.
Nach der Abfahrt der beiden Frauen, die Lazare in den Wagen gehoben hatte, schrie Veronika vom Vorflur mit lauter Stimme hinauf:
»Sie können herunterkommen, Fräulein: es ist niemand mehr hier.«
Das Haus schien leer zu sein, es war wieder in seine dumpfe Stille verfallen; nur die Klagen des Kranken waren lauter als zuvor. Als Pauline die letzte Stufe hinabstieg, fand sie sich Lazare gegenüber, der gerade vom Hofe kam. Er blieb eine Sekunde stehen und wollte sich ohne Zweifel entschuldigen, um Verzeihung bitten. Aber Tränen erstickten ihn, und ohne daß er ein Wort hätte hervorbringen können, ging er eilig in sein Zimmer zurück. Sie war mit trockenen Augen und ernstem Gesicht in die Stube ihres Oheims eingetreten.
Chanteau streckte auf dem Bette noch immer seinen steifen Arm aus und bog den Kopf weit über die Kopfkissen hinab. Er wagte nicht mehr, sich zu bewegen, er mußte selbst die Abwesenheit des jungen Mädchens nicht bemerkt haben, da er die Augen zusammenkniff und den Mund weit öffnete, um aus Leibeskräften schreien zu können. Kein Geräusch des Hauses drang zu ihm, seine einzige Beschäftigung war nur, Klagelaute von sich zu geben, bis ihm der Atem ausging. Nach und nach dehnte er sie in seiner Verzweiflung so in das Ungeheuerliche, daß er selbst Minouche damit belästigte, von der man am Morgen wieder vier Junge in das Wasser geworfen hatte; sie hatte aber diesen Zwischenfall bereits vergessen, denn sie schnurrte jetzt behaglich auf einem Lehnstuhle.
Als Pauline ihren Platz wieder einnahm, heulte der Oheim so laut, daß die Katze mit gespitzten Ohren aufsprang. Sie sah ihn steif an mit der Entrüstung einer verständigen Person, deren Ruhe man zu stören wagt. Wenn man einen schon nicht mehr in Frieden schnurren ließ, wurde es geradezu unerträglich! Sie verschwand, den Schwanz in die Höhe streckend.