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VII.

Zwei Monate später, an einem grauen, milden November-Nachmittag, ging Madame Caroline sogleich nach der Mahlzeit in den Saal der Entwürfe hinauf, um sich an die Arbeit zu machen. Ihr Bruder, damals in Konstantinopel, wo er sich mit der großen Unternehmung der Orientbahnen beschäftigte, hatte sie beauftragt alle Notizen durchzusehen, welche er ehemals, während ihrer ersten Reise, aufgenommen hatte, und eine Art Denkschrift zu verfassen, gleichsam ein geschichtliches Resumé der Frage. Seit zwei Wochen trachtete sie sich völlig in diese Arbeit zu versenken. An jenem Tage war so warm, daß sie das Feuer ausgehen ließ und das Fenster öffnete, von wo sie, ehe sie sich zur Arbeit niederließ, einen Augenblick die großen, kahlen Bäume des Hôtel Beauvilliers, die unter dem fahlen Himmel eine röthlich-blaue Färbung zeigten, betrachtete.

Sie schrieb ungefähr seit einer halben Stunde, als das Bedürfniß nach einem bestimmten Dokumente sie nöthigte, unter den auf dem Tische aufgehäuften Schriftenbündeln lange nachzusuchen. Sie erhob sich, suchte unter anderen Papieren und setzte sich wieder, die Hände voll mit Schriftstücken; und während sie so die fliegenden Blätter ordnete, stieß sie auf Heiligenbilder: eine illuminirte Ansicht des heiligen Grabes, ein mit den Werkzeugen der Passion eingerahmtes Gebet, in Augenblicken der höchsten Seelennoth zu sprechen und von unausbleiblicher Wirkung. Sie erinnerte sich: ihr Bruder, ein gläubiges Gemüth, hatte diese Bilder in Jerusalem gekauft. Sie ward von einer plötzlichen Rührung ergriffen und Thränen netzten ihre Wangen. Ach, dieser Bruder! er war so verständig und doch so lange verkannt, daß er glücklich war in seiner Gläubigkeit und nicht lächelte über diese naiven Bilder, die mehr für Bonbons-Schachteln paßten, vielmehr eine wahre Kraft schöpfte aus seinem Vertrauen auf die Wirkung dieses in Knittelversen abgefaßten Gebetes! Und sie sah ihn wieder: vielleicht zu vertrauensselig, vielleicht zu leichtgläubig, aber so rechtschaffen, so ruhig, ohne Auflehnung und ohne Kampf. Und sie, die seit zwei Monaten kämpfte und litt, sie, die vom Lesen und Nachdenken im Innern verheert, ihren Glauben verloren hatte: wie sehr wünschte sie in den Stunden der Schwäche, daß sie schlicht und treuherzig geblieben wäre wie er, so daß sie ihr blutendes Herz einschläfern könnte, indem sie des Morgens und des Abends dreimal das kindliche Gebet hersagen würde, welches von den Nägeln und dem Speer, von der Dornenkrone und dem Schwamm der Passion eingerahmt war.

Am Morgen nach dem grausamen Zufall, durch welchen sie das Verhältniß Saccard's mit der Baronin Sandorff erfahren, hatte sie sich mit ihrer ganzen Willenskraft wappnen müssen, um dem Bedürfniß zu widerstehen, sie zu überwachen, um mehr zu erfahren. Sie war nicht die Frau dieses Mannes, sie wollte auch nicht seine leidenschaftliche, bis zum Skandal eifersüchtige Geliebte sein; und ihr Jammer war, daß sie bei ihrem traulichen Beisammensein fortfuhr sich ihm hinzugeben. Das kam von der ruhigen, einfach zuneigenden Art, wie sie anfänglich ihr Abenteuer aufgefaßt hatte: es war eine Freundschaft, welche verhängnißvoller Weise zur Hingabe ihrer Person führte, wie es zwischen Mann und Frau stets geschieht. Sie war nicht mehr zwanzig Jahre alt; nach den bösen Erfahrungen ihrer Ehe war sie sehr duldsam geworden. Konnte sie in ihrem Alter von sechsunddreißig Jahren, sonst so verständig, von allen Illusionen sich frei glaubend, nicht die Augen zudrücken, sich mehr als Mutter denn als Geliebte betragen diesem Freunde gegenüber, welchem sie sich in ihren reifen Jahren, in einer Minute moralischer Abwesenheit angeschlossen hatte, und welcher ja auch selbst das Alter der Liebeshelden längst hinter sich hatte? Zuweilen wiederholte sie, daß man zu viel Wichtigkeit diesen Beziehungen der Geschlechter beilege, welche oft bloße Begegnungen sind und nachher eine Verlegenheit für das ganze Leben werden. Uebrigens lächelte sie selbst zuerst über das Unmoralische dieser Bemerkung; denn waren dann nicht alle Fehltritte gestattet und gehörten nicht alle Frauen allen Männern? Und doch: wie viele Frauen sind vernünftig genug und lassen sich die Theilung mit einer Nebenbuhlerin gefallen! Und wie hat die landläufige Praxis in froher Gemüthlichkeit den Sieg über die eifersüchtige Idee des alleinigen und vollständigen Besitzes davon getragen! Doch das waren nur theoretische Ausflüchte, um das Leben erträglich zu machen; vergebens zwang sie sich zur Selbstverleugnung, vergebens zwang sie sich dazu, auch künftig nur die ergebene Hausverwalterin, die mit überlegenem Verstande begabte Magd zu sein, die auch ihren Körper hingeben will, nachdem sie ihr Herz und ihren Kopf hingegeben: eine Empörung ihres Fleisches, ihrer Leidenschaft ergriff sie; sie litt furchtbar, weil sie nicht Alles wußte und nicht gewaltsam das Verhältniß mit Saccard löste, nachdem sie ihm das grausame Leid, das er ihr verursachte, vorgeworfen haben würde. Sie hatte sich indessen bemeistert, so daß sie schwieg und ihre lächelnde Ruhe bewahrte; niemals in ihrem bisher so rauhen Dasein hatte sie mehr der Kraft bedurft.

Einen Augenblick noch betrachtete sie die Heiligenbilder, die sie in der Hand hielt, mit ihrem schmerzlichen Lächeln einer Ungläubigen, von Zärtlichkeit völlig ergriffen. Allein, sie schaute auf die Bilder, ohne sie zu sehen; sie sann darüber nach, was Saccard gestern gethan haben mochte und was er heute that; es war eine unwillkürliche und unaufhörliche Arbeit ihres Geistes, welcher aus Instinkt zu dieser Späherei zurückkehrte, sobald sie ihn nicht anderweitig beschäftigte. Saccard schien übrigens sein gewohntes Leben zu führen: am Morgen die Plackereien seiner Direktion, Nachmittags die Börse, am Abend Einladungen zu Diners, Erstaufführungen im Theater, ein Leben voll Vergnügungen, Theaterdamen, wegen deren sie nicht eifersüchtig war. Und dennoch merkte sie, daß es bei ihm ein neues Interesse gebe, eine Sache, die ihm Stunden in Anspruch nahm, welche er früher in anderer Weise ausgefüllt hatte. Ohne Zweifel war es diese Frau und Begegnungen mit derselben an irgend einem Orte, welchen sie – Caroline – nicht kennen wollte. Dies machte sie argwöhnisch und mißtrauisch; unwillkürlich begann sie wieder »den Gendarm zu machen«, wie ihr Bruder lachend gesagt hatte. Sie machte den Gendarm selbst in Angelegenheiten der Universalbank, welche sie zu überwachen aufgehört hatte, weil ihr Vertrauen einen Augenblick so groß geworden war. Gewisse Unregelmäßigkeiten zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich und betrübten sie. Dann merkte sie zu ihrer Ueberraschung, daß sie im Grunde sich nichts daraus machte und nicht die Kraft fand zu sprechen oder zu handeln, so sehr haftete eine einzige Beklemmung in ihrem Herzen: dieser Verrath, mit dem sie sich abfinden hatte wollen und der sie schier erstickte. Und der neuerdings hervorbrechenden Thränen sich schämend, verbarg sie die Bilder mit dem tödtlichen Bedauern im Herzen, daß sie nicht in einer Kirche sich auf die Kniee werfen und dort ihren Schmerz ausweinen konnte.

Sie hatte sich – beruhigt – seit etwa zehn Minuten wieder an die Denkschrift gemacht, als der Kammerdiener ihr meldete, daß Charles, ein gestern entlassener Kutscher, da sei und darauf bestehe, mit Madame zu sprechen. Saccard selbst hatte diesen Kutscher in seinen Dienst genommen und bei einem Haferdiebstahl ertappt. Sie zögerte ihn zu empfangen, willigte aber schließlich dennoch ein.

Charles war ein großer, hübscher Bursche, mit rasirtem Gesicht und Nacken; er wiegte sich in den Hüften und hatte die zuversichtliche, geckenhafte Miene solcher Männer, welche von den Weibern bezahlt werden. Sein ganzes Auftreten war ein freches.

– Madame, begann er, ich komme wegen meiner zwei Hemden, welche die Wäscherin verloren hat und für welche sie mir nicht Rede stehen will. Madame werden gewiß nicht glauben, daß ich einen solchen Schaden tragen soll. Und da Madame verantwortlich sind, will ich meine Hemden bezahlt haben. Jawohl, fünfzehn Francs.

Madame Caroline war in Fragen der Hauswirthschaft sehr streng. Vielleicht würde sie ihm die fünfzehn Francs gegeben haben, um allen weiteren Diskussionen vorzubeugen; allein die Frechheit dieses Menschen, den man gestern bei einem Diebstahl ertappt, empörte sie.

– Sie haben nichts von mir zu fordern und ich werde Ihnen keinen Sou geben. Uebrigens hat der Herr mich gewarnt und mir absolut verboten etwas für Sie zu thun.

Da trat Charles drohend näher.

– Ei, hat der Herr Das gesagt? Ich vermuthete dies wohl und der Herr hat unrecht gehandelt, denn wir werden nunmehr einen Spaß sehen ... Ich bin nicht so dumm, um nicht bemerkt zu haben, daß Madame die Geliebte sind ...

Madame Caroline erhob sich erröthend und wollte ihn hinausweisen. Aber er ließ ihr nicht die Zeit dazu und fuhr noch lauter fort:

– Und es wird Madame vielleicht interessiren zu erfahren, wohin der Herr sich zwei- oder dreimal in der Woche begibt, immer in der Zeit zwischen 4 und 6 Uhr, wenn er sicher ist, die Person allein zu treffen ...

Sie war plötzlich sehr bleich geworden; all' ihr Blut strömte nach ihrem Herzen zurück. Mit einer heftigen Geberde wollte sie ihn hindern Dasjenige auszusprechen, was sie seit zwei Monaten zu hören vermied.

– Ich verbiete Ihnen ...

Allein, er überschrie sie.

– Es ist die Frau Baronin Sandorff. Herr Delcambre hält sie aus und hat zu seiner Bequemlichkeit eine kleine Erdgeschoßwohnung in der Rue Caumartin gemiethet, fast an der Ecke der Rue Saint-Nicolas, in einem Hause, wo es eine Früchtenhändlerin gibt. Dorthin geht der Herr, um den noch warmen Platz einzunehmen ...

Sie hatte die Hand nach der Klingel ausgestreckt, um diesen Menschen hinausjagen zu lassen; allein er würde ohne Zweifel vor den Dienstboten weiter geredet haben.

– Wenn ich sage: den noch warmen Platz, – so ist es eigentlich nicht Das ... Ich habe dort eine Freundin, die Kammerfrau Clarisse, welche sie durch das Schlüsselloch beisammen belauscht und gesehen hat, wie ihre Herrin – ein rechter Eiszapfen – ihm allerlei schmutzige Dinge gemacht hat ...

– Schweigen Sie, Unglücklicher! Da haben Sie Ihre fünfzehn Francs!

Mit einer Geberde voll unsäglichen Ekels übergab sie ihm das Geld, weil sie begriff, daß dies das einzige Mittel sei ihn fortzuschicken. In der That wurde er sogleich höflich.

– Ich will nur Ihr Bestes, Madame. Es ist in dem Hause, wo es eine Früchtenhändlerin gibt. Der Perron im Hintergrunde des Hofes. Heute ist Donnerstag und eben vier Uhr. Wenn Madame sie überraschen wollen ...

Sie war noch immer ganz bleich und drängte ihn zur Thür, ohne die Lippen zu öffnen.

– Umso mehr, als Madame heute vielleicht irgend eine drollige Geschichte mit ansehen könnten ... Clarisse würde in einer solchen Höhle gewiß nicht länger bleiben! Und wenn man gute Herrenleute gehabt hat, läßt man ihnen ein kleines Andenken zurück, nicht wahr? Guten Abend, Madame!

Endlich war er fort. Madame Caroline blieb einige Augenblicke unbeweglich. Sie sann nach und begriff, daß Saccard von einer ähnlichen Scene bedroht sei. Dann sank sie kraftlos, mit einem langen Seufzer auf den Arbeitstisch nieder und die Thränen, die sie seit Langem erstickten, quollen unaufhaltsam hervor.

Diese Clarisse, ein mageres, blondes Mädchen, hatte einfach ihre Herrin verrathen, indem sie sich erbötig machte, Delcambre Gelegenheit zu geben, daß er seine Geliebte mit einem anderen Manne überrasche, und vollends in der Wohnung, die er bezahlte. Sie hatte zuerst fünfhundert Francs gefordert; aber, da er sehr geizig war, mußte sie sich schließlich mit zweihundert Francs begnügen, auf die Hand zu zahlen in dem Augenblicke, wo sie ihm die Thür des Zimmers öffnen würde. Sie schlief dort, in dem kleinen Gelaß, hinter dem Toilette-Zimmer. Die Baronin hatte sie, von einem gewissen Zartsinn geleitet, in ihren Dienst genommen, um die Besorgung der Wäsche nicht der Hausmeisterin zu überlassen. Zwischen einem Stelldichein und dem andern lebte sie müßig in dieser leeren Wohnung; wenn Delcambre oder Saccard kam, verschwand sie. In diesem Hause hatte sie die Bekanntschaft Charles' gemacht, der lange Zeit des Nachts kam, um mit ihr das breite Bett der Herrenleute einzunehmen, das noch von den Lüsten des Tages zerwühlt war. Sie selbst hatte ihn als einen guten, rechtschaffenen Diener an Saccard empfohlen. Seitdem er entlassen worden, theilte sie seinen Groll, umsomehr, als ihre Herrin sich ihr gegenüber schmutzig benahm und sie einen Platz gefunden hatte, wo sie monatlich um fünf Francs mehr Lohn bekam. Zuerst hatte Charles daran gedacht, dem Baron Sandorff zu schreiben; Clarisse aber hatte es drolliger und gewinnreicher gefunden, eine kleine Ueberraschung mit Delcambre zu veranstalten. Diesen Donnerstag hatte sie Alles vorbereitet und harrte nun der kommenden Dinge.

Als Saccard um vier Uhr ankam, war die Baronin schon da, auf der Chaise longue vor dem Kamin ausgestreckt. Sie war gewöhnlich sehr pünktlich, als Geschäftsfrau, welche den Werth der Zeit kennt. Anfänglich war er enttäuscht, denn er fand in ihr nicht jene glühende Geliebte, die er bei dieser so braunen Frau mit den so blauen Augenlidern und dem herausfordernden Gange einer tollen Bacchantin zu finden gehofft hatte. Sie war von Marmor, müde seiner vergeblichen Anstrengung ein Lustgefühl zu suchen, welches nicht kommen wollte, völlig von dem Spiel gefangen, bei welchem wenigstens die Angst ihr das Blut erhitzte. Dann, als er merkte, daß sie neugierig sei und keinen Ekel kenne, selbst das Widerliche über sich ergehen lassen wolle, wenn sie einen neuen Wonneschauer dabei zu entdecken glaubte, hatte er sie ganz verderbt und jede Liebkosung von ihr erlangt. Sie sprach von der Börse, erlangte Wegweisungen von ihm; und da sie, ohne Zweifel vom Zufall unterstützt, seit ihrem Verhältniß mit ihm an der Börse gewann, behandelte sie diesen Saccard wie einen Fetisch, wie einen vom Boden aufgelesenen Gegenstand, den man behält und küßt, trotz seiner Unsauberkeit, weil er Glück bringt.

Clarisse hatte an jenem Abend so stark eingeheizt, daß sie nicht das Bett aufsuchten; es schien ihnen eine Verfeinerung mehr, vor dem hellen Kaminfeuer, auf der Chaise longue zu bleiben. Draußen senkte sich die Nacht herab; doch die Fensterläden waren geschlossen, die Vorhänge sorgfältig herabgelassen; zwei große Lampen mit matten Kugeln und ohne Schirm verbreiteten in dem Zimmer ein helles Licht.

Kaum war Saccard eingetreten, als draußen auch Delcambre vom Wagen stieg. Der Generalprokurator Delcambre, mit dem Kaiser persönlich befreundet, für einen Ministerposten in Aussicht genommen, war ein magerer, gelber Mann von fünfzig Jahren, mit hohem Wuchse und feierlicher Haltung und rasirtem, tief durchfurchtem Gesichte, welches einen sehr strengen Ausdruck hatte. Seine harte Adlernase kannte keine Schwäche und keine Vergebung. Als er mit seinem gewöhnlichen ernsten, gemessenen Gang den Perron hinanstieg, hatte er seine ganze Würde, die kühle Miene, die er an Tagen großer Verhandlungen aufsteckte. Niemand kannte ihn in dem Hause; er kam dahin nur nach Einbruch der Nacht.

Clarisse erwartete ihn in dem engen Vorzimmer.

– Ich bitte Sie mir zu folgen, mein Herr, aber ohne jedes Geräusch.

Er zögerte; warum sollte er nicht durch jene Thür eintreten, welche direkt in das Zimmer führte? Doch sie erklärte ihm im Flüstertone, daß ohne Zweifel der Riegel vorgeschoben sei, daß man Alles einbrechen müßte und daß Madame inzwischen Zeit finden würde sich in Ordnung zu bringen. Nein; sie wollte, daß er Madame so überrasche, wie sie – Clarisse – sie eines Tages gesehen hatte, als sie ein Auge an das Schlüsselloch gedrückt hatte. Um dieses Ziel zu erreichen hatte sie etwas sehr Einfaches ersonnen. Ihr Zimmer war früher mit dem Toilette-Zimmer durch eine Thür verbunden, welche jetzt mittelst Schlüssels verschlossen war. Der Schlüssel lag in einem Schubfach; sie brauchte ihn nur zu nehmen und die Thür zu öffnen; so daß man jetzt – dank dieser vergessenen Thür – geräuschlos in das Toilette-Zimmer eintreten konnte, welches von dem Schlafzimmer nur durch einen Thürvorhang getrennt war. Madame war gewiß nicht darauf gefaßt, daß von dieser Seite her Jemand eintreten könnte.

– Vertrauen Sie mir, mein Herr, sagte Clarisse. Ich habe ja ein Interesse daran, daß die Sache gelinge.

Sie schlüpfte durch die halb offene Thür und verschwand einen Augenblick, Delcambre allein lassend in ihrem engen Dienstbotenzimmer mit dem ungeordneten Bett, mit dem Waschbecken voll Seifenwasser. Sie hatte ihren Koffer schon am Morgen weggeschafft und wollte das Haus verlassen, sobald der Streich gespielt sein würde. Dann kam sie zurück und schloß sachte die Thür.

– Sie müssen noch ein wenig warten, mein Herr. Es ist noch nicht das Richtige. Sie plaudern.

Delcambre bewahrte seine würdige Haltung und sagte kein Wort. Er stand unbeweglich da, den spöttischen Blicken dieser Magd ausgesetzt. Indessen verlor er die Geduld, ein nervöses Zucken verzerrte die linke Hälfte seines Antlitzes in der unterdrückten Wuth, die zu seinem Schädel emporstieg. Der gierige Sinnesmensch, der in ihm stak und sich hinter der eisigen Strenge seiner professionellen Maske verbarg, begann dumpf zu grollen, gereizt wegen dieses Fleisches, das man ihm stahl.

– Machen wir rasch, machen wir rasch, wiederholte er, ohne zu wissen was er sagte, wobei seine Hände sich in fieberischer Unruhe bewegten.

Doch Clarisse, die von Neuem verschwunden war, kehrte jetzt mit einem Finger an den Lippen zurück und bat ihn, noch Geduld zu haben.

– Seien Sie vernünftig, mein Herr, sonst werden Sie das Schönste versäumen ... In einem Augenblick werden sie dabei sein.

Delcambre, dem die Beine versagten, mußte sich auf das schmale Bett der Magd setzen. Die Nacht war hereingebrochen; er blieb im Dunkel, während die Kammerfrau, die auf der Lauer lag, selbst auf das leiseste der Geräusche horchte, die aus dem Zimmer kamen. Ihm selbst, dem mit gespannten Sinnen Lauschenden, summten die Ohren dermaßen, daß er das Getrappel einer marschirenden Armee zu hören glaubte.

Endlich fühlte er die Hand Clarissens nach seinem Arm tasten. Er begriff und reichte ihr wortlos einen Briefumschlag, welcher die versprochenen zweihundert Francs enthielt. Nun ging sie voraus, zog den Thürvorhang zur Seite und schob ihn mit den Worten in das Zimmer:

– So, da sind sie!

Vor dem starken Kaminfeuer lag Saccard am Rande der Chaise longue auf dem Rücken; er hatte nur sein Hemd an, welches eingerollt und bis zu den Achselhöhlen zurückgeschlagen war und so von den Füßen bis zu den Schultern seine braune Haut enthüllte, welche sich mit zunehmendem Alter mit Haaren bedeckt hatte wie das Fell eines Raubthieres. Vor ihm kniete die Baronin, ganz nackt, rosig im Scheine der Flammen, die sie erhitzten. Die beiden großen Lampen beleuchteten sie mit einem so hellen Lichte, daß die geringsten Einzelheiten mit der Deutlichkeit eines Reliefbildes hervortraten.

Betroffen, sprachlos beim Anblick dieser auf frischer That betroffenen treulosen Sünderin war Delcambre stehen geblieben, während die Anderen wie vom Blitz getroffen, als sie diesen Mann durch das Kabinet eintreten sahen, in Unbeweglichkeit, mit wahnsinnig aufgerissenen Augen verharrten.

– Ha, Schweine! stammelte endlich der Generalprokurator. Schweine! Schweine!

Er fand nur dieses Wort und wiederholte es ohne Ende, betonte, unterstützte es mit derselben hastigen Geste. Die Frau war endlich mit einem Satz in die Höhe gefahren, trostlos wegen ihrer Nacktheit, sich um sich selbst drehend, ihre Kleider suchend, die sie in dem Toilettezimmer gelassen hatte, wohin sie jetzt nicht gehen konnte, um sie zu holen; und als sie endlich einen weißen Unterrock fand, der da geblieben war, bedeckte sie damit ihre Schultern und nahm die beiden Enden des Gürtels zwischen die Zähne, um den Rock knapper um den Hals und vor der Brust zu haben. Der Mann, der von der Chaise longue aufgestanden war, schlug mit verdrossener Miene sein Hemd herab.

– Schweine! Schweine! wiederholte Delcambre. In diesem Zimmer, welches ich bezahle!

Er ballte gegen Saccard die Faust. Der Gedanke, daß diese Scheußlichkeiten auf einem Möbelstück getrieben wurden, welches er gekauft hatte, brachte ihn außer sich.

– Sie sind hier in meiner Wohnung und dieses Weib ist mein! Sie sind ein Schwein und ein Dieb!

Saccard, der nicht in Zorn gerathen war und ihn beruhigen wollte, war verlegen, weil er so im Hemde angetroffen worden, und sehr geärgert durch das ganze Abenteuer. Aber das Wort »Dieb« verletzte ihn.

– Mein Herr, sagte er, wenn man eine Frau für sich allein haben will, so gibt man ihr, was sie braucht.

Diese Anspielung auf seinen Geiz versetzte Delcambre in die höchste Wuth. Er war nicht mehr zu erkennen, furchtbar, als ob der menschliche Bock, der in ihm steckende Priapus ihm durch die Haut hervordränge. Dieses sonst so würdige und kalte Gesicht war plötzlich roth geworden, schwoll an, bedeckte sich mit Beulen, streckte sich als wüthende Fratze vor. Der Zorn ließ in dem furchtbaren Weh dieses aufgerüttelten Schmutzes das fleischliche Thier los.

– Was sie braucht ... was sie braucht ... Diese Dirne aus der Gosse! ... stammelte er.

Und er machte eine so heftige Geberde gegen die Baronin, daß diese erschrack. Sie war unbeweglich stehen geblieben und sie vermochte mit dem Unterrocke ihre Brust nur zu bedecken, indem sie ihren Bauch und ihre Schenkel unverhüllt ließ. Und als sie begriff, daß diese sträfliche Nacktheit, in solcher Weise zur Schau gestellt, ihn noch mehr erbitterte, wich sie bis zu einem Sessel zurück und ließ sich auf demselben nieder, indem sie die Beine zusammenpreßte und die Kniee hinaufzog, so daß sie Alles verbarg, was sie verbergen konnte. Dort verblieb sie, ohne eine Bewegung, ohne ein Wort, den Kopf ein wenig gesenkt, die schiefen, tückischen Blicke auf den Kampf gerichtet, als Weibchen, um welches die Männchen raufen und welches wartet, um dem Sieger anzugehören.

Saccard hatte sich muthig vor sie hingestellt, um sie zu schützen.

– Sie werden sie doch vielleicht nicht schlagen wollen?

Die beiden Männer standen jetzt Aug' in Aug' einander gegenüber.

– Machen wir ein Ende, mein Herr. Wir können doch nicht zanken, wie die Kutscher. Es ist wahr, ich bin der Liebhaber dieser Frau, und wenn Sie die Möbel bezahlen, so bezahle ich ...

– Was?

– Viele Dinge: zum Beispiel neulich die zehntausend Francs ihrer alten Schuld bei Mazaud, welche Sie durchaus nicht begleichen wollten ... Ich habe eben so viele Rechte, wie Sie. Ein Schwein – das gebe ich zu; aber ein Dieb bin ich nicht. Sie werden das Wort zurücknehmen.

Außer sich schrie Delcambre:

– Sie sind ein Dieb und ich werde Ihnen den Schädel einschlagen, wenn Sie sich nicht augenblicklich trollen!

Nun erzürnte sich auch Saccard. Während er seine Hosen anzog, protestirte er:

– Sie werden schließlich langweilig. Ich gehe, wenn ich will. Sie werden mir nicht Angst machen, mein Lieber!

Und als er seine Schuhe angezogen hatte, stampfte er entschlossen mit dem Fuße auf den Teppich und rief:

– Ich bin da und bleibe da.

Von Wuth erstickt war Delcambre näher gerückt und streckte ihm das Gesicht entgegen.

– Schmutziges Schwein, willst du abfahren?

– Nicht früher als du, alter Hallunke!

– Und wenn ich dir meine Faust in die Fratze sende?

– Dann pflanze ich dir meinen Fuß irgendwohin.

So bellten sie einander an, Nase an Nase, die Zähne fletschend. Ihrer selbst vergessend in diesem Zusammenbruch ihrer Erziehung, in diesem Aufstieg des schmutzigen Bodensatzes der Brunst, um die sie sich stritten, geriethen der Richter und der Finanzmann in einen Streit betrunkener Kärrner, mit abscheulichen Worten, die sie in einem wachsenden Bedürfnisse nach Unflath einander ins Gesicht spieen. Ihre Worte erstickten in ihren Kehlen, sie schäumten vom Koth.

Auf ihrem Sessel hockend wartete die Baronin noch immer, daß der Eine den Andern hinauswerfe. Sie war schon ruhig und richtete im Stillen ihre Zukunft ein; lästig war ihr nur die Anwesenheit der Kammerfrau, die sie hinter dem Thürvorhang vermuthete, wo dieselbe lauschend stehen geblieben war, um sich ein wenig zu erheitern. Das Mädchen hatte in der That den Kopf vorgestreckt und kicherte vergnügt, als es hörte, wie die feinen Herren sich gegenseitig so ekelhafte Dinge sagten. Und die beiden Frauen bemerkten einander, die Geliebte nackt auf dem Sessel hockend, die Magd aufrecht und korrekt, mit ihrem schmalen, weißen Kragen. Und sie tauschten einen flammenden Blick aus, den hundertjährigen Haß der Nebenbuhlerinnen, in jener Gleichheit zwischen Herzogin und Kuhmagd, welche sich einstellt, wenn sie das Hemd abgestreift haben.

Aber auch Saccard hatte Clarisse bemerkt. Er kleidete sich hastig an, schlüpfte in sein Gilet und schleuderte dabei Delcambre einen Schimpf ins Angesicht, schlüpfte in den linken Aermel seines Rockes und schrie Jenem eine andere Beschimpfung zu und bei dem rechten Aermel wieder eine andere und immer andere; sie flogen nur so scheffelweise. Dann, um ein Ende zu machen, schrie er:

– Clarisse, kommen Sie näher! ... Oeffnen Sie die Thüren, öffnen Sie die Fenster, damit das ganze Haus, die ganze Straße höre! ... Der Herr Generalprokurator will, daß man wisse, daß er hier ist; und ich will es bekannt machen.

Delcambre wich erbleichend zurück, als er Jenen auf eines der Fenster zugehen sah, wie um dasselbe zu öffnen. Dieser furchtbare Mensch, der sich aus dem Skandal gar nichts machte, war sehr wohl im Stande, seine Drohung auszuführen.

– Ha, der Hundsfott! murmelte der Richter. Ein richtiges Paar, Sie und diese Metze. Ich überlasse sie Ihnen ...

– Ja, ja; machen Sie, daß Sie fortkommen! Man braucht Sie nicht. Wenigstens werden fortan ihre Rechnungen bezahlt werden und sie wird keine Noth zu leiden haben ... Wollen Sie sechs Sous für den Omnibus?

Bei diesem Schimpf blieb Delcambre auf der Schwelle des Toilette-Zimmers einen Augenblick stehen. Er hatte jetzt wieder seine hoch aufgerichtete Gestalt, sein bleiches Gesicht voll strenger Runzeln. Er streckte den Arm aus wie zu einem Eid.

– Ich schwöre, daß Sie mir Alldas vergelten sollen ... Ich werde Sie wiederfinden; nehmen Sie sich in Acht!

Dann verschwand er. Gleich hinter ihm hörte man das Rauschen von Frauenröcken. Es war die Kammerfrau, welche aus Furcht vor einer Auseinandersetzung die Flucht ergriff, sehr ergötzt durch die Scene, deren Zeugin sie gewesen.

In großer Erregtheit herumtrippelnd ging Saccard die Thüren schließen. Dann kehrte er in das Zimmer zurück, wo die Baronin allein geblieben war, wie auf dem Sessel festgenagelt. Mit langen Schritten ging er hin und her, stieß einen Feuerbrand, der herauszufallen drohte, in den Kamin zurück; und als er sie jetzt erst bemerkte, so seltsam in ihrer Nacktheit, mit diesem Unterrock auf den Schultern, zeigte er sich sehr anständig.

– Kleiden Sie sich an, Liebste ... Und regen Sie sich nicht auf. Es ist eine dumme Geschichte, hat aber sonst gar nichts zu bedeuten ... Wir werden uns übermorgen hier wiedersehen, um uns für die Zukunft einzurichten. Nicht so? Ich muß jetzt fort; ich habe eine Begegnung mit Huret. Und während sie endlich ihr Hemd anzog, rief er noch aus dem Vorzimmer zurück:

– Wenn Sie Italiener kaufen, seien Sie vernünftig; nehmen Sie nur mit Prämie!

Während dieser Zeit, fast zur selben Stunde, saß Madame Caroline über ihren Arbeitstisch gebeugt und schluchzte; die brutale Enthüllung, welche der Kutscher gemacht, dieser Verrath Saccards, den sie fortan nicht ignoriren konnte, regte in ihr allen Argwohn und alle Befürchtungen wieder auf, welche sie begraben hatte wollen. Sie hatte in den Angelegenheiten der Universalbank sich zur Ruhe und Hoffnung gezwungen, mitschuldig durch die Verblendung ihrer Liebe an Allem, was man ihr nicht sagte, an Allem, was sie nicht zu wissen trachtete; sie machte sich denn auch jetzt heftige Vorwürfe wegen des beruhigenden Briefes, welchen sie ihrem Bruder zur Zeit der letzten Generalversammlung geschrieben hatte. Denn seitdem ihre Eifersucht ihr die Augen und die Ohren öffnete, kannte sie die Unregelmäßigkeiten, welche bei der Bank fortdauerten und immer größere Dimensionen annahmen; das Conto Sabatani war riesig angewachsen, die Gesellschaft spielte unter dem Namen dieses Strohmannes immer mehr, abgesehen von den riesigen und trügerischen Reklamen, von den auf Sand und Koth gebauten Gründungen, welche man dem riesenhaften Bankinstitut zuschrieb, dessen so rascher, wunderbarer Aufschwung ihr mehr Entsetzen als Freude verursachte. Was sie hauptsächlich ängstigte, war dieser unaufhörliche Galopp, in welchem die Geschäfte der Universalbank geführt wurden, gleich einer überheizten Lokomotive, welche auf teuflischen Geleisen losgelassen dahinrennt, bis bei einem letzten Anprall Alles in Trümmer geht. Sie war keine naive, einfältige Person, die man täuschen konnte. Obgleich in der Technik der Bankoperationen unbewandert, begriff sie dennoch vollkommen die Ursachen dieser Ueberhastung, dieses Fiebers, welches dazu bestimmt war, die Menge zu betäuben und in diesem epidemischen Veitstanz der Millionen mitzureißen. Jeder Morgen mußte seine Hausse bringen, man mußte die Leute an immer mehr Erfolge glauben machen, an riesenhafte, verzauberte Kassenschalter, welche das Geld in Bächen aufnahmen, um es in Strömen, in Meeren wiederzugeben. Sollte sie ihren armen Bruder, diesen leichtgläubigen, bethörten Bruder verrathen, ihn dieser Fluth überlassen, welche eines Tages alle Beide zu verschlingen drohte? Sie war trostlos wegen ihrer Unthätigkeit und Ohnmacht.

Inzwischen ward es im Saale immer dunkler; der erloschene Feuerherd im Kamin warf nur einen schwachen Schein in den Raum; in dem wachsenden Dunkel fuhr Madame Caroline fort zu schluchzen; es war feige, so zu weinen, denn sie fühlte es wohl, daß alle die Thränen nicht ihrer Unruhe wegen der Geschäfte der Universalbank entstammten. Allerdings war es Saccard allein, welcher diesen furchtbaren Galopp anführte, das Thier mit einer Grausamkeit und mit einer ganz außerordentlichen moralischen Unbewußtheit antrieb, bis es zusammenzubrechen drohte. Er allein war der Schuldige und sie schauderte zusammen, wenn sie in ihm zu lesen trachtete, in dieser dunklen Seele eines Geldmenschen, welche ihm selbst nicht bekannt war, wo der Schatten den Schatten deckte, die unfläthige Unermeßlichkeit aller Verworfenheit der Menschen. Was sie noch nicht deutlich zu erkennen vermochte, das vermuthete sie und davor zitterte sie. Aber die langsame Entdeckung so vieler Wunden, die Furcht vor einer möglichen Katastrophe würden sie nicht wankend und kraftlos auf diesen Tisch hingestreckt, vielmehr in einem Bedürfniß nach Kampf und Heilung aufgerichtet haben. Sie kannte sich, sie war eine Kampfnatur. Nein, wenn sie so stark weinte, wie ein schwächliches Kind, so war es, weil sie Saccard liebte und weil Saccard in diesem Augenblick sich bei einer anderen Frau befand; und dieses Geständniß, welches sie sich machen mußte, erfüllte sie mit Schande und erpreßte ihr neue Thränen, daß sie schier erstickte.

– Alles Selbstbewußtsein verloren zu haben, mein Gott! stammelte sie mit lauter Stimme. In diesem Grade gebrechlich und erbärmlich zu sein, nicht mehr können, wenn man möchte!

In diesem Augenblick vernahm sie erstaunt eine Stimme in dem dunklen Zimmer. Es war Maxime, der als Vertrauter des Hauses eingetreten war.

– Wie, Sie sind ohne Licht und weinen?

Verlegen ob solcher Ueberraschung, zwang sie sich, ihren Kummer zu beherrschen, während er hinzufügte:

– Ich bitte Sie um Verzeihung, ich glaubte, mein Vater wäre schon von der Börse heimgekehrt ... Eine Dame hat mich gebeten, ihn zum Diner mitzubringen.

Ein Diener brachte eine Lampe und stellte sie auf den Tisch, worauf er das Zimmer wieder verließ. Der ganze große Raum wurde durch das sanfte Licht erhellt, welches unter dem Schirm hervordrang.

– Es ist nichts, wollte Madame Caroline erklären: eine frauenhafte Empfindsamkeit; und ich bin doch sonst so wenig nervös.

Mit trockenen Augen und in aufrechter Haltung lächelte sie bereits mit ihrer heroischen, kriegerischen Miene. Der junge Mann betrachtete sie einen Augenblick, wie sie so stolz aufgerichtet, mit ihren großen, hellen Augen, ihren starken Lippen und ihrem mannhaft gütigen Antlitz dasaß, welchem der dichte Kranz ihrer weißen Haare einen milden und sehr anziehenden Ausdruck verlieh; und er fand sie noch jung mit ihren weißen Haaren und ihren weißen Zähnen, eine anbetungswürdige, schöne Frau. Dann dachte er an seinen Vater und zuckte in verächtlichem Mitleid die Schulter.

– Nicht wahr, er ist es, der Sie in diesen Zustand versetzt hat?

Sie wollte leugnen, aber die Thränen erstickten ihre Stimme.

– Ach, liebe Frau, ich sagte Ihnen ja, daß Sie sich über Papa Illusionen hingeben und daß Sie schlecht belohnt werden würden ... Es ist doch ein Verhängniß, daß er nun auch Sie zu Grunde richtet.

Nun erinnerte sie sich des Tages, da sie zu ihm gegangen war, um 2000 Francs von ihm zu entlehnen, die Summe, um welche sie Victor bei Madame Méchain auslöste. Er hatte ihr damals versprochen, mit ihr abermals zu plaudern, wenn sie mehr erfahren wollte. Jetzt bot sich die Gelegenheit, die ganze Vergangenheit zu erfahren, wenn sie ihn befragte. Und ein unwiderstehliches Bedürfniß drängte sie: jetzt, da sie angefangen zu sinken, mußte sie bis auf den Grund hinabsteigen. Dies allein war tapfer, ihrer würdig und allein ersprießlich. Aber, diese Untersuchung widerstrebte ihr; sie wich dem Gegenstande aus, als wollte sie die Unterredung abbrechen.

– Ich bin Ihnen noch immer 2000 Francs schuldig, sagte sie. Sie zürnen mir wohl nicht, daß ich Sie warten lasse?

Er machte eine Handbewegung, welche besagen wollte: sie möge sich Zeit lassen, so viel sie wolle; dann fügte er plötzlich hinzu:

– Und wie ist es denn mit meinem kleinen Bruder, diesem Ungeheuer?

– Ich bin seinetwegen trostlos; ich habe Ihrem Vater noch nichts gesagt ... Ich möchte den armen Kerl ein wenig von seinem Schmutz reinigen, damit es möglich sei, ihn zu lieben.

Maxime lachte und als sie ihn beunruhigt anblickte, sagte er:

– Mein Gott, ich glaube, daß Sie sich da wieder eine unnütze Sorge aufladen. Papa wird von all' diesen Mühen nichts begreifen ... Er hat schon so viel Ungemach in seiner Familie gesehen!

Sie betrachtete ihn noch immer, wie er so korrekt war in seiner egoistischen Lebensfreude, so hübsch ernüchtert von den menschlichen Banden, selbst von jenen, welche das Vergnügen schafft. Er hatte gelächelt und genoß allein die versteckte Bosheit dieses letzten Satzes. Und sie hatte das Bewußtsein, daß sie das Geheimniß dieser beiden Männer berührte.

– Sie haben Ihre Mutter früh verloren? fragte sie.

– Ja, ich habe sie kaum gekannt. Ich war noch im Kolleg zu Plassans, als sie hier in Paris starb. Unser Onkel, der Doktor Pascal, hat dort meine Schwester Clotilde zu sich genommen, die ich seither nur einmal wiedergesehen habe.

– Aber Ihr Vater hat wieder geheirathet?

Er zögerte. Seine so hellen, leeren Augen trübten sich wie in einem leichten, rothen Dunste.

– Oh ja, er hat wieder geheirathet ... Die Tochter eines Richters, eine Béraud du Châtel ... Renée war für mich keine Mutter, sondern eine gute Freundin ...

Dann setzte er sich mit einer vertraulichen Bewegung zu ihr und fuhr fort:

– Sehen Sie, man muß Papa verstehen. Mein Gott! er ist nicht schlechter als die Anderen. Allein, seine Kinder, seine Frauen, mit einem Worte: Alles was ihn umgibt, kommt bei ihm erst nach dem Gelde. Oh, verstehen wir uns recht: er liebt das Geld nicht wie ein Geiziger, um es in großen Mengen zu haben und in seinem Keller zu verstecken. Nein, wenn er überall welches hervorschießen lassen will, wenn er welches aus allen Quellen schöpft, welcher Art immer sie sind, so geschieht es nur, um es bei sich in Strömen fließen zu sehen, nur wegen der Genüsse, die es ihm verschafft, wegen des Luxus, des Vergnügens, der Macht ... Was wollen Sie? Es liegt ihm im Blute. Er würde uns verkaufen, mich, Sie, wen immer, wenn wir mit zu irgend einem Handel gehörten. Und Alldies als unbewußter und überlegener Mann; denn er ist wahrhaftig der Poet der Million, so sehr macht ihn das Geld zu einem Narren und Schelm, oh, zu einem Schelm in sehr großem Style.

Madame Caroline hatte dies sehr wohl begriffen und sie hörte Maxime zu, wobei sie mit dem Kopfe zustimmend nickte. Ach, das Geld! das Fäulniß erregende, vergiftende Geld, welches die Seelen austrocknet, die Güte, die Zärtlichkeit, die Liebe zu den Anderen daraus verscheucht! Das Geld allein war der große Schuldtragende, der Vermittler aller Grausamkeit und allen Schmutzes der Menschen. In diesem Augenblicke fluchte sie ihm, verabscheute sie es in der unmuthigen Auflehnung ihres Edelsinns und ihrer frauenhaften Geradheit. Hätte sie die Macht besessen, sie hätte mit einer Handbewegung alles Geld der Welt vernichtet, wie man ein Uebel mit einem Fußtritt zermalmen möchte, um die Gesundheit der Erde zu retten.

– Und Ihr Vater hat wieder geheirathet? wiederholte sie nach kurzem Stillschweigen, mit langsamer, verlegener Stimme, in einer unklaren Wiederkehr von Erinnerungen.

Wer hatte denn vor ihr Anspielung auf diese Geschichte gemacht? Sie hätte es nicht zu sagen vermocht; ohne Zweifel eine Frau, irgend eine Freundin, in der ersten Zeit ihres Wohnens in der Rue Saint-Lazare, als Saccard, der neue Miether, das erste Stockwerk bezog. Handelte es sich nicht um eine Geldheirath, um irgend einen schmählichen Handel? Und hat nicht später das Verbrechen ganz ruhig seinen Einzug in Saccards Haus gehalten und war dort geduldet worden: ein ungeheuerlicher Ehebruch, fast an Blutschande streifend?

– Renée war nur um wenige Jahre älter als ich, sagte Maxime ganz leise, wie unwillkürlich ...

Er hatte den Kopf erhoben und betrachtete Madame Caroline. Und in plötzlicher Hingebung, in einem unvernünftigen Zutrauen zu dieser Frau, die ihm so gesund und so klug schien, erzählte er die Vergangenheit, nicht in zusammenhängenden Sätzen, sondern bruchstückweise, in unvollständigen, gleichsam unwillkürlichen Bekenntnissen, welche Caroline sich zu einem Ganzen zusammenfügen mußte. Erleichterte er sich in solcher Weise von einem alten Groll gegen seinen Vater, von jener Nebenbuhlerschaft, die zwischen ihnen bestanden, und welche bewirkte, daß sie noch heute einander fremd waren, ohne jedes gemeinsame Interesse? Er beschuldigte ihn nicht, schien unfähig zu zürnen; aber sein Kichern ward zum Hohn; er sprach von diesen Abscheulichkeiten mit der boshaften, tückischen Freude Jenen zu beschmutzen, indem er so viele häßliche Dinge wieder aufrührt.

So erfuhr denn Madame Caroline lang und breit die furchtbare Geschichte: Saccard hatte seinen Namen verkauft, indem er ein verführtes Mädchen um des Geldes willen heirathete; durch sein Geld, durch seine tolle, prunksüchtige Lebensführung hatte er jenes große, kranke Kind völlig verdorben; in seinem Bedürfniß nach Geld und weil er ihre Unterschriften haben mußte, duldete er in seinem Hause die Liebschaften seiner Frau mit seinem Sohne, drückte die Augen zu, als gutmüthiger Patriarch, dem es recht ist, wenn man sich vergnügt. Das Geld war sein König, das Geld war sein Gott, galt ihm mehr als Blut und mehr als Thränen und war in der Unendlichkeit seiner Allmacht höher verehrt als alle eitlen Skrupel der Menschen! Und in dem Maße, in welchem das Geld anwuchs und Saccard sich ihr in dieser teuflischen Größe enthüllte, fühlte sich Madame Caroline von einem wahrhaften Entsetzen ergriffen, zu Eis erstarrt, außer sich bei dem Gedanken, daß sie – nach so vielen anderen Frauen – diesem Ungeheuer gehörte.

– Das ist's, sagte Maxime, seine Erzählung schließend, Sie dauern mich; es ist besser, daß Sie gewarnt seien ... Und es soll Sie Alldies mit meinem Vater nicht entzweien. Ich wäre trostlos darüber, denn nur Sie würden es zu beweinen haben, nicht er ... Begreifen Sie jetzt, weshalb ich mich weigere, ihm auch nur einen Sou zu leihen?

Sie antwortete nicht, denn es schnürte ihr die Kehle zusammen und sie fühlte sich im Herzen getroffen. Er erhob sich und warf einen Blick in den Spiegel, mit dem ruhigen Behagen eines hübschen Mannes, welcher der Korrektheit seiner Lebensführung sicher ist. Dann stellte er sich wieder vor sie hin.

– Solche Beispiele machen Einen schnell alt, nicht wahr? Ich habe in meinem Leben bald Ordnung geschafft; ich habe ein Mädchen geheirathet, welches krank war und starb; ich kann heute ruhig schwören, daß man mich nicht wieder zu Thorheiten verleiten werde ... Nein, Papa ist unverbesserlich, weil er keinen moralischen Sinn hat.

Er nahm ihre Hand und behielt sie einen Augenblick in der seinigen, wobei er fühlte daß sie ganz kalt sei.

– Ich gehe, da er nicht heimkehrt, sagte er ... Machen Sie sich doch keinen Kummer! Ich hielt Sie für so klug und stark! Und sagen Sie mir Dank, denn nichts ist dümmer, als von Anderen genarrt zu werden.

Endlich ging er; doch auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um und sagte lachend:

– Fast hätte ich vergessen ... Ich bitte ihm zu sagen, daß Madame Jeumont ihn zum Essen erwarte ... Sie wissen ja: Madame Jeumont; dieselbe, die für hunderttausend Francs mit dem Kaiser geschlafen hat ... Und seien Sie unbesorgt; so unbesonnen Papa auch geblieben ist, hoffe ich dennoch, daß er nicht fähig ist, einer Frau einen solchen Preis zu bezahlen.

Madame Caroline war allein geblieben und rührte sich nicht. Wie vernichtet saß sie auf ihrem Sessel, in dem weiten, stillen Gemach, und starrte mit weit offenen Augen in die Lampe. Es war, als wäre plötzlich der Schleier zerrissen: was sie bisher nicht deutlich hatte sehen wollen, was sie nur zitternd vermuthet hat, das sah sie jetzt in seiner abscheulichen Nacktheit, ohne Möglichkeit einer Milderung. Sie sah Saccard in seiner Blöße, sie sah diese wüste komplizirte und trübe Seele eines Geldmenschen. Er kannte in der That keine Bande und keine Schranken und ging seinen Begierden nach mit dem zügellosen Instinkt des Mannes, der nur vor seinem Unvermögen Halt macht. Er hatte seine Frau mit seinem Sohne getheilt, er hatte seinen Sohn verkauft, seine Frau verkauft, er hatte alle Jene verkauft, die ihm in die Hände gefallen waren; und er hatte sich selbst verkauft und würde auch sie und ihren Bruder verkaufen, um aus ihren Herzen und ihren Köpfen Geld zu schlagen. Er war nur mehr ein Geldmacher, der die Dinge und die Menschen in den Schmelzofen warf, um Geld daraus zu ziehen. In einem kurzen Aufleuchten sah sie die Universalbank von allen Seiten Geld schwitzen, einen See, einen Ozean von Geld, in welchem das Bankhaus plötzlich mit einem furchtbaren Krachen versank. Ach, das Geld, das furchtbare Geld, das beschmutzt und verschlingt!

Mit einer unwilligen Bewegung erhob sich Madame Caroline. Nein, nein, das war ungeheuerlich, das war aus; sie konnte nicht länger mit diesem Manne bleiben. Seinen Verrath würde sie ihm verziehen haben; aber ein Ekel ergriff sie vor all' dem Schmutz der Vergangenheit, und ein Entsetzen schüttelte sie bei dem drohenden Gedanken an die Verbrechen, welche der morgige Tag bringen konnte. Ihr blieb nichts übrig als augenblicklich fortzugehen, wenn sie nicht gleichfalls vom Koth besudelt, unter den Trümmern begraben werden wollte. Und sie ward von dem Bedürfniß ergriffen, weit, sehr weit zu gehen, ihren Bruder im fernen Orient aufzusuchen, mehr noch um zu verschwinden, als um ihn aufzuklären. Fort, fort, sogleich! Es war noch nicht sechs Uhr, sie konnte den um sieben Uhr fünfzig Minuten abgehenden Eilzug nach Marseille benützen; denn sie fühlte sich nicht stark genug Saccard wiederzusehen. In Marseille wird sie vor ihrer Einschiffung die nöthigen Käufe machen; nichts als etwas Leibwäsche in einem Koffer, ein Kleid zum Abwechseln und sie konnte an Bord gehen. In einer Viertelstunde wird sie reisefertig sein. Dann als sie ihre Arbeit auf dem Tische erblickte, die in Angriff genommene Denkschrift, schwankte sie einen Augenblick. Wozu das mitnehmen, da das ganze Gebäude, in seinen Grundlagen morsch, einstürzen mußte? In ihrer Gewohnheit einer guten Hauswirthin, die nichts in Unordnung zurücklassen will, begann sie indessen die Schriftstücke und Notizen zu ordnen. Diese Arbeit nahm einige Minuten in Anspruch und beschwichtigte das erste Fieber ihres Entschlusses. Sie war wieder im vollen Besitze ihrer Ruhe, als sie einen letzten Rundblick auf das Zimmer warf, ehe sie es verlassen wollte. Da erschien der Diener und brachte ihr ein Bündel Briefe und Zeitungen.

Mit einem mechanischen Blick betrachtete Madame Caroline die Adressen und erkannte in dem Haufen einen an sie gerichteten Brief ihres Bruders. Der Brief kam aus Damaskus, wo Hamelin sich damals befand, um den Bau der von dieser Stadt nach Beyrut zu führenden Zweigbahn zu betreiben. Neben der Lampe stehend wollte sie den Brief zuerst nur rasch durchfliegen und gedachte denselben später, auf dem Eisenbahnzuge aufmerksamer zu lesen. Allein, jeder Satz fesselte sie, so daß sie nicht ein Wort mehr überspringen konnte; schließlich setzte sie sich vor den Tisch hin und widmete sich völlig der Lesung dieses zwölf Seiten langen Briefes, der ein leidenschaftliches Interesse in ihr erregte.

Hamelin hatte eben einen seiner heiteren Tage. Er dankte seiner Schwester für die letzten guten Nachrichten, die sie ihm von Paris gesandt hatte, und er sandte ihr deren noch bessere, denn Alles ging dort nach Wunsch. Die erste Bilanz der vereinigten Packetschifffahrts-Gesellschaft verhieß glänzend zu werden; die neuen Transportdampfer machten große Einnahmen, dank ihrer vollkommenen Einrichtung und ihrer größeren Geschwindigkeit. Er sagte scherzend, man reise auf diesen Schiffen wie zum Vergnügen, die asiatischen Häfen seien mit Reisenden aus den Abendländern überschwemmt; auf den entlegensten Pfaden treffe er Boulevard-Pariser an. Es sei wie er vorausgesehen: der Orient für Frankreich erschlossen. Bald werden an den fruchtbaren Hängen des Libanon neue Städte erstehen. Eine besonders lebhafte Schilderung aber entwarf er von der fernen Schlucht des Karmel, wo die Ausbeutung der Silbermine in vollem Gange war. Die verwilderte Gegend bevölkerte sich; unter dem riesigen Felsensturz, welcher das Thal nach Norden verschloß, hatte man Quellen entdeckt; es entstanden Aecker, das Getreide verdrängte die Pistazienstaude; neben dem Bergwerk war schon ein ganzes Dorf erbaut, zuerst einfache hölzerne Baraken, welche den Arbeitern als Obdach dienten, jetzt kleine Steinhäuser mit Gärten, der Beginn einer Stadt, die immer mehr anwachsen wird, insolange die Flötze sich nicht erschöpfen werden. Es waren nahezu fünfhundert Einwohner da; eine Straße war angelegt worden, welche das Dorf mit Saint-Jean-d'Acre verband. Vom Morgen bis zum Abend pusteten die Fördermaschinen, die Karren setzten sich unter hellem Peitschenknall in Bewegung, Weiber sangen, Kinder spielten und schrieen in dieser Wüste, in dieser Todtenstille, wo früher nur der Adler langsam kreiste. Die Myrthe und der Ginster erfüllten die laue, köstlich reine Luft mit ihren balsamischen Düften. Und dann konnte Hamelin nicht genug erzählen über die erste Eisenbahnlinie, die – über Angora und Aleppo – von Brussa nach Beyrut führen sollte. In Konstantinopel waren alle Formalitäten beendigt; er war entzückt von gewissen gelungenen Aenderungen an der Trace, welche die schwierigen Uebergänge über die Joche des Taurusgebirges erleichterten. Und er sprach von diesen Bergrücken, von den Ebenen, die sich am Fuße der Berge dehnten, mit dem Entzücken eines Mannes der Wissenschaft, der dort neue Kohlengruben entdeckt hat und das Land sich mit Fabriken bedecken sah. Seine Merkzeichen waren festgesetzt, die Stationen ausgewählt, einige derselben mitten in der Einöde: hier eine Stadt, weiterhin wieder eine Stadt; und so sollten Städte entstehen um jede dieser Stationen, an der Kreuzung der natürlichen Straßen. Schon war die Ernte der Menschen und der künftigen großen Dinge gesäet; Alles keimte; in einigen Jahren wird es dort eine neue Welt geben. Zum Schlusse küßte er zärtlich seine vielgeliebte Schwester, glücklich darüber, daß er sie bei dieser Wiedererweckung eines Volkes zu seiner Genossin machen konnte, an welchem Werke sie einen großen Antheil haben wird, nachdem sie ihm so lange mit ihrem Muthe und mit ihrer ausdauernden Gesundheit beigestanden.

Madame Caroline hatte die Lesung des Briefes beendet; derselbe blieb geöffnet auf dem Tische liegen und sie sann von Neuem nach, die Augen auf die Lampe gerichtet. Dann hoben sich ihre Blicke mechanisch, machten die Runde auf den Wänden, hielten bei jedem Entwurfe, bei jedem Aquarell inne. In Beyrut war der Pavillon des Direktors der Packetschifffahrts-Gesellschaft jetzt erbaut, mitten unter weitläufigen Lagerhäusern. Am Berge Karmel war es diese mit Gestrüpp und Steinen verlegte wilde Schlucht, die sich bevölkerte, gleich dem riesigen Nest eines neu entstehenden Geschlechtes. Im Taurus veränderten diese Nivellirungen, diese Profile die Horizonte, eröffneten dem freien Handel einen Weg. Und aus diesen durch vier kleine Nägel festgehaltenen Blättern mit den geometrischen Linien und den Wasserfarben stieg – wie durch Zauber – das ferne, ehemals bereiste Land vor ihr auf, das ihr so lieb gewesen wegen seines schönen, ewig blauen Himmels und wegen seines so fruchtbaren Bodens. Sie sah die staffelförmig sich erhebenden Gärten von Beyrut wieder, die Thäler des Libanon mit ihren großen Oelbaum- und Maulbeerbaumwäldern, die Ebenen von Antiochia und Aleppo, endlose Obstgärten mit köstlichen Früchten. Und sie sah sich mit ihrem Bruder wieder, wie sie unaufhörlich dieses Wunderland durchkreuzten, dessen unermeßliche Reichthümer ungekannt und verdorben, ohne Straßen, ohne Industrie und Bodenkultur, ohne Schulen, in Trägheit und Unwissenheit verloren gingen. Aber Alldies belebte sich jetzt unter dem außerordentlichen Andrang junger Säfte. Die zauberische Vision dieses Orients einer nahen Zukunft richtete vor ihren Augen reiche Städte auf, kultivirte Landschaften, eine ganze glückliche Menschheit. Und sie sah sie und sie hörte das emsige Geräusch der Werkplätze und sie konstatirte, daß diese alte, eingeschlafene, endlich wiedererwachte Erde eine neue Welt gebar.

Und da hatte Madame Caroline die plötzliche Ueberzeugung, daß das Geld der Dünger sei, in welchem diese künftige Menschheit gedieh. Und sie erinnerte sich gewisser Aussprüche Saccard's, gewisser Bruchstücke von Theorieen über die Spekulation. Sie erinnerte sich seiner Idee, daß es ohne die Spekulation keine lebendigen und fruchtbaren Unternehmungen geben wird, ebensowenig wie ohne die Unzucht Kinder gezeugt werden. Diese Ausschreitung der Leidenschaft, alldas niedrig vergeudete Leben war zur Fortsetzung des Lebens selbst nothwendig. Wenn in jenen fernen Ländern ihr Bruder frohen Muthes war und Siegeslieder anstimmte inmitten der Werkplätze, die eingerichtet wurden und der Bauten, die aus dem Fußboden hervorzuwachsen schienen, so geschah es, weil in Paris das Geld regnete und in der Spielwuth Alles ansteckte. Das vergiftende und zerstörende Geld wurde der Gährstoff alles sozialen Wachsthums, die nothwendige Düngererde der großen Arbeiten, deren Ausführung die Völker einander näher bringen und der Erde den Frieden geben sollte. Sie hatte dem Gelde geflucht, jetzt versank sie vor demselben in eine scheue Bewunderung; war nicht das Geld allein die Kraft, welche Berge abtragen, Meeresarme ausfüllen, die Erde endlich für die Menschen bewohnbar machen konnte, auf der sie fortan der Arbeit entledigt, bloße Maschinenführer sein sollten? Alles Gute kam vom Gelde und auch alles Schlechte.

Madame Caroline wußte nicht mehr was sie anfangen sollte; sie war im Innersten ihres Wesens erschüttert und schon entschlossen nicht abzureisen, da der Erfolg im Orient vollständig schien und der Kampf in Paris auszukämpfen war. Allein, sie war noch unfähig sich zu beruhigen, ihr Herz blutete noch immer.

Sie erhob sich, lehnte die Stirne an die Glasscheibe eines der Fenster, welche auf den Garten des Hôtels Beauvielliers gingen. Die Nacht war gekommen; sie unterschied nur einen schwachen Lichtschein in dem kleinen, abseits gelegenen Zimmer, wo die Gräfin und ihre Tochter lebten, um die Möbel zu schonen und Holz zu sparen. Hinter den dünnen Mousseline-Vorhängen erkannte sie undeutlich das Profil der Gräfin, welche irgend ein Wäschestück ausbesserte, während Alice Aquarellbilder malte, die sie dutzendweise im Geheimen an einen Bilderhändler verkaufte. Ein Unglück war ihnen widerfahren: ihr Pferd war erkrankt; dies nöthigte sie seit zwei Wochen zuhause zu bleiben, weil sie nicht zu Fuße gehend gesehen werden wollten und die Kosten für einen Miethwagen scheuten. In dieser so heldenmüthig verheimlichten Armuth hielt fortan eine Hoffnung sie aufrecht und erhöhte noch ihren Muth: die fortdauernde Hausse der Aktien der Universalbank, dieser schon jetzt beträchtliche Gewinn, welchen sie als glänzenden Goldregen niedergehen sahen an dem Tage, wo sie zum höchsten Kurse zu verkaufen gedachten. Die Gräfin versprach sich ein wirklich neues Kleid und träumte davon, im Winter monatlich vier Diners zu geben, ohne sich deshalb zwei Wochen hindurch auf Brod und Wasser zu setzen. Alice lachte nicht mehr mit ihrem geheuchelten Gleichmuth, wenn ihre Mutter von ihrer Verheirathung sprach; sie hörte sie mit einem leichten Zittern der Hände davon sprechen und begann zu glauben, daß dies vielleicht möglich sei, daß auch sie einen Gatten und Kinder haben werde. Und während Madame Caroline die kleine Lampe betrachtete, welche die beiden Frauen beleuchtete, fühlte sie, wie eine tiefe Ruhe, eine Rührung zu ihr emporstieg. Und sie war betroffen von der Wahrnehmung, daß das Geld, ja die bloße Hoffnung auf das Geld genügte, um jene armen Geschöpfe glücklich zu machen. Wenn Saccard sie bereicherte, werden sie ihn nicht segnen? Wird er nicht für sie gut und mildthätig sein? Die Güte war also überall anzutreffen, selbst bei den Schlechtesten, die stets für Jemanden gut sind, die inmitten des Abscheues der Menge stets einige demüthige Stimmen finden, welche ihnen danken und sie anbeten. Während ihre Blicke in die Finsterniß des Gartens tauchten, kehrten ihre Gedanken zur Arbeitsstiftung zurück. Sie hatte gestern daselbst im Namen Saccards zur Feier irgend einer Jahreswende Spielzeug und Zuckerwerk vertheilt und sie lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung an die geräuschvolle Freude der Kinder. Seit einem Monat war man mit Victor mehr zufrieden; sie hatte über ihn befriedigende Noten bei der Fürstin Orviedo gelesen, mit welcher sie wöchentlich zweimal lange Besprechungen über die Anstalt hatte. Bei diesem plötzlich auftauchenden Bilde Victors war sie erstaunt, daß sie in ihrer Verzweiflungskrise, als sie abreisen wollte, seiner vergessen hatte. Hätte sie ihn so verlassen, das gute Werk preisgeben können, welches sie mit so vieler Mühe eingeleitet hatte? Und aus dem Dunkel der alten Bäume stieg eine Milde auf, die sie immer mehr durchdrang, ein Zug unaussprechlicher Entsagung, göttlicher Duldsamkeit, die ihr Herz erweiterte, während das ärmliche Lämpchen der Frauen dort drüben fortfuhr zu blinken wie ein Sternlein.

Als Madame Caroline zu ihrem Tische zurückkehrte, schauerte sie zusammen. Was denn? Fror sie etwa? Und dieser Gedanke erheiterte sie, die sich immer rühmte, im ganzen Winter nie einzuheizen. Ihr war, als käme sie aus einem eisig kalten Bade, verjüngt und stark, mit sehr ruhigem Pulse. In den Tagen ihrer schönsten Gesundheit erhob sie sich so von ihrem Lager. Da kam ihr der Gedanke, ein frisches Scheit Holz in den Kamin nachzulegen und als sie sah, daß das Feuer erloschen sei, machte es ihr Spaß dasselbe anzuzünden, ohne erst einen Diener dazu zu rufen. Das gab eine ordentliche Arbeit, denn sie hatte kein kleines Holz, aber es gelang ihr, die Scheiter in Brand zu stecken, indem sie eine alte Zeitung nach der anderen anzündete. Auf den Knieen vor dem Kamin lachte sie in sich hinein. Einen Augenblick blieb sie so, ganz glücklich und überrascht. War denn nun wieder eine ihrer großen Krisen vorüber und durfte sie von Neuem hoffen? Wußte sie noch immer nichts von dem ewig Unbekannten, welches am Ende des Lebens, am Ende der Menschheit stand? Leben: das mußte genügen, damit das Leben ihr unaufhörlich die Heilung der Wunden bringe, welche das Leben selbst ihr geschlagen. Wieder einmal erinnerte sie sich der Katastrophe ihres Daseins, ihrer unglücklichen Ehe, ihres Elends in Paris, ihres Verlassenseins durch den einzigen Mann, welchen sie jemals geliebt; und nach jedem Zusammenbruch hatte sie von Neuem ihre lebhafte Energie, die unsterbliche Freude wiedergewonnen, welche sie inmitten der Ruinen wieder aufrichtete. War nicht wieder Alles zusammengebrochen? Sie empfand keine Achtung für den Liebhaber angesichts seiner furchtbaren Vergangenheit, gleich den frommen Frauen, welche am Morgen und am Abend abscheuliche Wunden verbinden, ohne darauf zu zählen, sie jemals vernarben zu sehen. Sie wird nun fortfahren ihm anzugehören, obwohl sie wußte, daß er auch Anderen gehöre und sie wird nicht einmal trachten ihn ihnen streitig zu machen. Sie wird fortan wie in einem Gluthofen leben, in der keuchenden Schmiede der Speculation, unter der unaufhörlichen Drohung einer Endkatastrophe, in welcher ihr Bruder seine Ehre und sein Blut lassen könnte. Und sie war dennoch aufrecht, fast sorglos, wie am Morgen eines schönen Tages, an welchem man frisch und kampfesfreudig einer Gefahr entgegensieht. Warum? Augenscheinlich um nichts, blos um des Vergnügens willen da zu sein! Ihr Bruder sagte es ihr ja oft: sie war die unbezwingliche Hoffnung.

Als Saccard heimkehrte, sah er Madame Caroline in ihrer Arbeit vertieft, mit ihrer kräftigen Schrift eine Seite des Memorandums über die Orientbahnen beendigend. Sie erhob den Kopf und lächelte ihm mit ruhiger Miene zu, während er mit seinen Lippen ihr herrliches, schimmerndes, weißes Haar streifte.

– Sind Sie viel herumgelaufen, mein Freund?

– Ach, ich kann meine Geschäfte kaum mehr bewältigen. Ich habe den Minister der öffentlichen Arbeiten gesprochen, hatte dann eine Begegnung mit Huret und mußte ins Ministerium zurückkehren, wo ich nur mehr einen Sekretär antraf. Aber endlich habe ich die verlangte Zusage für unsere Unternehmung im Orient.

Sie übergab ihm den Brief Hamelins und er war entzückt davon. Sie betrachtete ihn, wie er über den nahen Triumph sich begeisterte, und sie sagte sich im Stillen, daß sie fortan ihn genauer überwachen werde, um ihn an Thorheiten zu hindern, die sicher kommen würden.

– Ihr Sohn war da, um Sie im Namen der Frau von Jeumont einzuladen.

– Ach ja, sie hat mir geschrieben! rief er. Ich hatte ganz vergessen Ihnen zu sagen, daß ich heute Abend dorthin gehe ... Bei meiner Ermüdung macht es mir wahrhaftig wenig Vergnügen!

Und er ging, nachdem er abermals ihr Haar geküßt hatte. Mit ihrem freundschaftlichen, nachsichtigen Lächeln machte sie sich wieder an ihre Arbeit. War sie nicht bloß eine Freundin, die sich hingab? Sie schämte sich ihrer Eifersucht, als hätte diese ihr Verhältniß noch mehr bemakelt. Sie wollte den Kummer wegen der Theilung nicht an sich hinanreichen lassen, des fleischlichen Egoismus der Liebe ledig sein. Ihm angehören und wissen, daß er auch Anderen gehöre: das hatte nichts zu bedeuten. Und sie liebte ihn dennoch, mit ihrem ganzen muthigen und mitleidsvollen Herzen. Es war die triumphirende Liebe, daß dieser Saccard, dieser Bandit vom Finanz-Trottoir, so absolut geliebt ward von dieser anbetungswürdigen Frau, weil sie ihn so muthvoll und thatkräftig eine Welt, neues Leben schaffen sah.


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