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II.

Nach seiner letzten und unglücklichen Spekulation mit den Bauterrains, als Saccard seinen Palast am Park Monceau räumen und seinen Gläubigern überlassen mußte, um eine noch größere Katastrophe zu vermeiden, war sein erster Gedanke der, bei seinem Sohn Maxime Zuflucht zu suchen. Dieser bewohnte seit dem Tode seiner Frau, die in einem kleinen Kirchhofe der Lombardei ruhte, ganz allein ein Hôtel in der Avenue de l'Impératrice, wo er sein Leben mit klugem und erbarmungslosem Egoismus eingerichtet hatte; er verzehrte daselbst das Vermögen seiner verstorbenen Frau, ohne einen Fehler zu begehen, als ein Jüngling von schwächlicher Gesundheit, den das Laster vorzeitig gereift hat. Rundheraus verweigerte er seinem Vater das Verlangen, ihn bei sich aufzunehmen; er thäte so – fügte er lächelnd hinzu – um das gute Einvernehmen zwischen ihnen beiden aufrecht zu erhalten.

Da mußte denn Saccard an einen andern Zufluchtsort denken. Er war schon im Begriff, ein kleines Haus in Passy zu miethen, ein gutbürgerliches Heim für einen Kaufmann, der sich von den Geschäften zurückgezogen, als er sich erinnerte, daß im Hôtel Orviedo, Rue Saint-Lazare, das Erdgeschoß und das erste Stockwerk noch immer nicht vermiethet seien; Fenster und Thüren waren daselbst noch geschlossen. Die Fürstin Orviedo bewohnte seit dem Tode ihres Gatten drei Zimmer im zweiten Stockwerk und hatte keine Vermiethungs-Anzeige an das Thor heften lassen, vor welchem allmälig das Gras zwischen den Pflastersteinen hervorsproß. Eine Eingangsthür am andern Ende der Façade führte über eine Bedientenstiege nach dem zweiten Stockwerk. In geschäftlicher Verbindung mit der Fürstin stehend hatte er in seinen Besuchen, die er ihr machte, oft seine Verwunderung darüber ausgedrückt, daß sie es unterließ, ihr Haus entsprechend auszunützen. Doch sie schüttelte den Kopf; in Geldsachen hatte sie ihre eigenen Gedanken. Allein, als er selbst als Miethwerber auftrat, willigte sie sogleich ein und überließ ihm die fürstlich ausgestatteten Räume im Erdgeschoß und im ersten Stock für den lächerlich billigen Miethzins von zehntausend Francs. Das Doppelte wäre nicht zu viel gewesen.

Man erinnerte sich des Prunkes, welchen der Fürst Orviedo in dem Fieber seines unermeßlichen Finanz-Reichthums entwickelte. Mitten im Millionenregen aus Spanien nach Paris gekommen, hatte er dieses Hôtel angekauft und in Stand setzen lassen, bis sein eigenes, aus Marmor und Gold zu erbauendes Palais, mit welchem er die Welt in Erstaunen setzen wollte, fertig gestellt sein würde. Das Hôtel stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert; es war eines jener Vergnügungshäuser, wie sie von galanten großen Herren inmitten von weiten Gärten erbaut wurden. Später wurde das Haus zum Theile niedergerissen und in strengeren Proportionen neu erbaut; dabei blieb von dem ehemaligen Park nichts übrig, als ein breiter, mit Ställen und Remisen eingesäumter Hof, welchen die geplante Cardinal Fesch-Straße sicherlich verschwinden machen wird. Der Fürst erwarb das Immobil von der Verlassenschaft eines Fräuleins Saint-Germain, deren Besitz sich ehemals bis zur Rue des Trois-Frères, der einstigen Fortsetzung der Rue Taitbout erstreckte. Das Hôtel hatte übrigens noch einen Ausgang auf die Rue Saint-Lazare, neben einem großen Gebäude aus derselben Epoche, dem Hôtel Beauvilliers, welches die Familie Beauvilliers aus ihrem allmäligen Ruin gerettet hatte und noch bewohnte. Diese Familie hatte auch ein Stück wunderbaren Gartens behalten, herrliche Bäume, welche bei dem bevorstehenden Umsturz des Stadtviertels ebenfalls dem Tode geweiht waren.

In seinem Zusammenbruch hatte Saccard ein Gefolge von Dienstleuten behalten, die Reste seines allzu zahlreichen Personals; einen Kammerdiener, einen Küchenchef und dessen Frau, die mit der Obsorge für die Wäsche betraut war, noch eine andere Frau, welche geblieben war, man wußte nicht wozu; endlich einen Kutscher und zwei Stallknechte. Saccard füllte auch die Ställe und Remisen; er stellte zwei Pferde und drei Wagen ein und richtete im Erdgeschoß einen Speisesaal für sein Dienstgesinde ein. Er war der Mann, der nicht fünfhundert Francs sein Eigen nannte, aber auf einem Fuße von zwei- bis dreimalhunderttausend Francs jährlich lebte. Und er fand auch die Mittel, die weiten Räume des ersten Stockwerkes mit seiner Person zu füllen, die drei Salons, die fünf Schlafzimmer, den riesigen Speisesaal nicht gerechnet, wo man eine Tafel mit fünfzig Gedecken aufstellen konnte. Von da öffnete sich ehemals eine Thür auf eine innere Stiege, welche nach dem zweiten Stockwerk, in einen andern, kleineren Speisesaal führte. Und die Fürstin, welche diesen Theil des zweiten Stockwerkes vor Kurzem an einen Ingenieur Namens Hamelin, welcher als Junggeselle mit seiner Schwester lebte, vermiethet hatte, begnügte sich diese Thür vernageln zu lassen. Sie theilte denn die ehemalige Bedientenstiege mit diesem Miether, während Saccard die große Treppe für sich allein hatte. Er möblirte einige Zimmer mit den Trümmern seiner Einrichtung vom Park Monceau, ließ die anderen leer. Nichtsdestoweniger gelang es ihm, diese lange Reihe von trübseligen, nackten Mauern neu zu beleben, von welchen gleich nach dem Tode des Fürsten selbst das letzte Stückchen Tapete durch irgend eine grimmige Hand herabgerissen worden. Und er konnte seinen Traum von einem großen Reichthum neu beginnen.

Die Fürstin Orviedo war damals eine der interessanten Erscheinungen von Paris. Vor fünfzehn Jahren hatte sie sich entschlossen den Fürsten zu heirathen, den sie nicht liebte, um einem formellen Befehl ihrer Mutter, der Herzogin von Combeville, zu gehorchen. Zu jener Zeit hatte dieses zwanzigjährige Mädchen einen großen Ruf von Schönheit und Klugheit; sie war sehr fromm, ein wenig ernst, wenn auch mit Leidenschaft an dem Gesellschaftsleben hängend. Ihr waren die seltsamen Geschichten unbekannt, welche über den Fürsten, über sein auf 300 Millionen geschätztes königliches Vermögen in Umlauf waren, über dieses ganze Leben voll schauerlicher Diebstähle, die nicht am Waldessaume und mit bewaffneter Hand begangen wurden, wie einst von edelgebornen Abenteurern, sondern von einem korrekten, modernen Banditen, im hellen Sonnenlichte der Börse, aus der Tasche der armen, leichtgläubigen Menge, aus dem Zusammenbruch und dem Tode zahlloser Existenzen. In Spanien wie in Frankreich hatte der Fürst sich bei allen großen, berüchtigt gewordenen Schurkenstreichen seinen Löwenantheil geholt. Obgleich die Fürstin keine Ahnung hatte von all dem Unflath und all dem Blut, aus welchem er so viele Millionen aufgelesen, hatte sie doch von der ersten Begegnung angefangen einen Widerwillen gegen ihn gefühlt, welchen zu überwinden selbst ihre Frommgläubigkeit sie nicht vermochte; und bald hatte sich dieser Antipathie ein dumpfer, immer wachsender Groll zugesellt, ein Groll darüber, daß dieser Ehe, die sie aus Gehorsam eingegangen, kein Kind entsprossen. Die Mütterlichkeit würde ihr genügt haben; sie betete die Kinder an und haßte schließlich diesen Mann, welcher, nachdem er die Geliebte zur Verzweiflung getrieben, selbst die Mutter nicht befriedigen konnte. Zu jener Zeit hatte man die Fürstin sich in einen unerhörten Luxus stürzen sehen; sie blendete Paris mit dem Glanz ihrer Feste und entfaltete einen Pomp, um welchen – wie man sagte – der Hof sie beneidete. Dann, am Tage nach dem Tode des Fürsten, den ein Schlagfluß niedergestreckt, war das Hôtel in der Rue Saint-Lazare in absolute Stille, in vollkommene Nacht versunken. Kein Licht, kein Geräusch; Thüren und Fenster blieben geschlossen und es verbreitete sich das Gerücht, daß die Fürstin das Erdgeschoß und den ersten Stock plötzlich geräumt und sich in drei kleine Zimmer des zweiten Stockwerkes, wie in eine Klause zurückgezogen habe, in Gesellschaft einer ehemaligen Kammerfrau ihrer Mutter, der alten Sophie, die sie erzogen hatte. Als sie wieder zum Vorschein kam, trug sie ein einfaches Wollkleid, die Haare unter einem Spitzentuch verborgen. Sie war noch immer klein und dick, mit ihrer schmalen Stirn, mit ihrem hübschen, runden Gesicht, mit ihren Perlenzähnen zwischen den geschlossenen Lippen; aber schon war ihr Teint gelb, ihr Antlitz stumm, in den einzigen Willen einer seit langer Zeit eingeschlossenen Nonne versunken. Sie war erst dreißig Jahre alt und lebte seitdem nur für unendliche Mildtthätigkeitswerke.

Die Ueberraschung in Paris war groß und es waren ganz außerordentliche Geschichten in Umlauf. Die Fürstin hatte das ganze Vermögen geerbt, die berühmten dreihundert Millionen Francs, mit welchen selbst die Zeitungen in ihrer Chronik sich beschäftigten. Und es entstand eine ganz romantisch klingende Legende. Eines Abends, eben als die Fürstin sich zu Bett begeben wollte, wäre plötzlich ein schwarz gekleideter, unbekannter Mann in ihrem Gemach erschienen, ohne daß sie jemals begriffen hätte, durch welche geheime Thür er eingetreten sein mochte. Was dieser Mann ihr gesagt, hatte Niemand erfahren, aber er muß ihr den abscheulichen Ursprung der dreihundert Millionen enthüllt und ihr vielleicht den Eid abgenommen haben, so viel Unrecht gut zu machen, wenn sie fürchterliche Katastrophen vermeiden wolle. Dann war der Mann wieder verschwunden. Hatte sie seit den fünf Jahren ihrer Wittwenschaft wirklich einem aus dem Jenseits gekommenen Befehl gehorcht oder war es ganz einfach eine Empörung ihrer Rechtschaffenheit, als sie sich im Besitze eines solchen Vermögens sah? Thatsache war, daß sie nur mehr in einem glühenden Fieber der Entsagung und der Sühne lebte. In dieser Frau, die nicht Geliebte gewesen und nicht Mutter hatte werden können, entfaltete sich alle zurückgedrängte Liebe, besonders die fehlgeschlagene Liebe zum Kinde, zu einer wahren Leidenschaft für die Armen, Schwachen, Leidenden, Enterbten, für alle Jene, deren Millionen sie unrechtmäßiger Weise zu besitzen glaubte und welchen sie dieselben in einem wahren Regen von Almosen wiederzugeben sich geschworen hatte. Seither bemächtigte sich ihrer die fixe Idee, es drang ihr gleich einem Nagel der Bann ins Gehirn: sie betrachtete sich nur mehr als einen Bankier, bei welchem die Armen ihre 300 Millionen hinterlegt hatten, damit sie zu ihrem Besten verwendet werden. Sie war nur mehr ein Buchhalter, ein Geschäftsmann, der in einer Welt von Ziffern lebte, umgeben von Notaren, Arbeitern und Architekten. Sie hatte außerhalb des Hauses ein ganzes, großes Bureau mit etwa zwanzig Beamten eingerichtet. Zuhause, in ihren drei engen Zimmern, empfing sie nur drei oder vier Mittelspersonen, ihre Stellvertreter. Und da verbrachte sie ihre Tage an einem Schreibtische, wie ein Leiter großer Unternehmungen; eingeschlossen, fern von den Zudringlichen, unter einem riesigen Haufen von Papieren. Ihr Traum war: alles Elend zu stillen, angefangen bei dem Kinde, welches leidet, weil es geboren worden, bis zum Greise, der nicht sterben kann, ohne zu leiden. In fünf Jahren hatte sie mit dem Aufwande ungezählten Geldes die »Krippe der heil. Jungfrau Maria« in la Vilette gegründet, mit weißen Wiegen für die ganz kleinen, mit blauen Betten für die größeren Kinder, eine geräumige, helle Anstalt, wo dreihundert Kinder untergebracht waren; ferner ein Waisenhaus in Saint-Mandé, das Sankt Josefs-Waisenhaus, wo hundert Knaben und hundert Mädchen Unterricht genossen, so wie sie in den bürgerlichen Familien ertheilt werden; endlich ein Asyl für Greise in Châtillon, welches fünfzig Männer und fünfzig Frauen aufnehmen konnte, und ein Spital mit zweihundert Betten in einer Vorstadt, das Spital Saint-Marceau, das eben erst eröffnet worden. Ihr bevorzugtes Werk aber, dasjenige, welches in diesem Augenblicke ihr ganzes Herz in Anspruch nahm, war die Arbeits-Stiftung, ihre eigenste Schöpfung, eine Anstalt, welche das Zuchthaus ersetzen sollte und wo dreihundert Kinder, hundertfünfzig Knaben und hundertfünfzig Mädchen, vom Pariser Pflaster aufgelesen, dem Laster und Verbrechen entrissen, durch wohlwollende Fürsorge und durch Unterricht in irgend einem Gewerbe für die Gesellschaft gerettet wurden. Diese verschiedenen Gründungen, ansehnliche Schenkungen, eine grenzenlose Freigebigkeit im Wohlthun, hatten in fünf Jahren nahezu hundert Millionen aufgezehrt. Wenn sie noch einige Jahre in dieser Weise fortfuhr, mußte sie ruinirt sein, ohne auch nur die kleine Rente zu behalten, welche nöthig war, um ihr Brod und Milch zu sichern, womit sie sich jetzt ausschließlich nährte. Wenn ihre alte Magd Sophie, ihr gewöhnliches Schweigen brechend, sie mit harten Worten ausschalt und ihr profezeite, daß sie im Elend sterben würde, antwortete sie nur mit einem schwachen Lächeln, dem einzigen, welches fortan auf ihren farblosen Lippen erschien, mit einem göttlichen Lächeln der Hoffnung.

Bei Gelegenheit der Arbeits-Stiftung hatte Saccard die Bekanntschaft der Fürstin Orviedo gemacht. Er war einer der Eigentümer jener Grundfläche, welche sie für diese Anstalt erwarb. Es war dies ein ehemaliger Garten, mit schönen Bäumen bepflanzt, an den Park von Neuilly stoßend, längs des Boulevard Bineau sich hinziehend. Er hatte sie durch die lebhafte Art gewonnen, mit welcher er die Geschäfte behandelte; in Folge gewisser Schwierigkeiten, welche sie mit ihren Unternehmern hatte, wünschte sie ihn wiederzusehen. Er selbst hatte sich für die Arbeiten interessirt; seine Einbildungskraft war entzückt von dem großartigen Plan, welchen sie dem Architekten aufgab: zwei monumentale Flügel, einen für die Knaben, den andern für die Mädchen, durch ein Wohngebäude verbunden, welches die Kapelle, den Sitzungssaal, die Kanzleien, den häuslichen Dienst aufnehmen sollte; und jeder Flügel hatte seinen riesig großen Hof, seine Arbeits-Werkstätten, seine Nebengebäude. Was ihn bei seinem eigenen Geschmack für das Große und Prächtige am meisten anregte, das war der hier entfaltete Luxus, der riesige Bau, ausgeführt aus Materialien, welche den Jahrhunderten zu trotzen verhießen, der in verschwenderischer Fülle angewendete Marmor, eine mit Faience belegte Küche, wo man einen Ochsen hätte braten können, riesige Speiseräume mit reichem Getäfel von Eichenholz, große Schlafsäle von Licht durchfluthet, durch helle Malereien ein heiteres Aussehen gewinnend, eine Wäschekammer, ein Badesaal, eine Krankenabtheilung mit unerhörtem Raffinement eingerichtet; und überall große Nebenräume, Treppen, Korridore, die im Sommer gelüftet, im Winter geheizt werden konnten; und der ganze, große Bau badete im Sonnenlichte seine jugendliche Heiterkeit und das Wohlbefinden, welches ein riesiges Vermögen gewährt. Wenn der Architekt, diese Pracht unnöthig findend, besorgt auf die großen Kosten verwies, gebot die Fürstin ihm Schweigen. Sie hatte den Luxus genossen und wollte ihn jetzt den Armen geben, damit auch sie ihn genießen, sie, welche den Reichen den Luxus verschaffen. Ihre fixe Idee entstammte diesem Traum: die Armen und Glücklichen mit Wohlthaten zu überhäufen, sie in die Betten der Glücklichen dieser Erde zu legen, sie an ihre Tafeln zu setzen; nicht mehr eine Brodrinde und einen Strohsack sollten sie erhalten, sondern ein üppiges Leben in Palästen, wo sie daheim sein, wo sie sich schadlos halten, die Freuden der Sieger genießen werden. Allein, bei dieser Verschwendung, bei diesen riesigen Voranschlägen ward sie in einer ganz abscheulichen Weise betrogen und bestohlen; ein Heer von Unternehmern lebte von ihr, die Verluste ungerechnet, welche der schlechten Überwachung zuzuschreiben waren. Das Gut der Armen wurde zerstückelt. Saccard öffnete ihr die Augen, indem er sie bat, ihn die Rechnungen prüfen zu lassen. Er that dies ohne jedes Interesse, blos um des Vergnügens willen, diesen tollen Tanz der Millionen zu regeln, der ihn entzückte. Niemals hatte er sich so skrupulös rechtschaffen gezeigt. In dieser kolossalen und verwickelten Angelegenheit war er der thätigste, der rechtschaffenste der Mitarbeiter, welcher seine Zeit, sogar sein Geld opferte und seine einzige Belohnung in der Freude an den großen Summen fand, die ihm durch die Hände gingen. Man kannte nur ihn bei der Arbeits-Stiftung, wo die Fürstin selbst niemals erschien, gleichwie sie auch ihre anderen Stiftungen niemals besuchte. Sie blieb in ihren drei Zimmerchen wie eine unsichtbare gütige Göttin er aber ward angebetet, mit all' dem Danke überhäuft welchem sie aus dem Wege zu gehen schien.

Ohne Zweifel nährte Saccard seit jener Zeit einen unbestimmten Plan, welcher, als er im Hôtel Orviedo als Miether eingezogen war, mit einem Schlage die scharf umrissene Deutlichkeit eines Wunsches annahm. Warum sollte er sich nicht ganz und gar der Verwaltung der wohlthätigen Werke der Fürstin widmen? In der Stunde des Zweifels, in der er sich befand, von der Spekulation überwunden, nicht wissend, auf welchem Wege er ein neues Vermögen aufbauen solle, schien es ihm wie eine neue Inkarnation, wie eine plötzlich aufsteigende Apotheose: der Ausspender dieser königlichen Mildthätigkeit zu sein, diesen Goldfluß, der sich über Paris ergoß, zu kanalisiren. Es blieben noch zweihundert Millionen; welche Werke konnten damit noch geschaffen, welche Wunderstadt aus dem Boden hervorgezaubert werden! Davon ganz zu schweigen, daß er diese Millionen fruktifiziren, verdoppeln, verdreifachen, so gut zu verwenden wissen wird, daß eine neue Welt daraus hervorgehen soll. Bei der Leidenschaftlichkeit, mit welcher er die Dinge behandelte, wuchs nun Alles in riesigem Maße an; er lebte nur mehr in dem berauschenden Gedanken, diese Millionen in unendlichen Almosen auszustreuen, ganz Frankreich, das glückliche, damit zu überschwemmen; und er war völlig gerührt, er fühlte sich von einer vollkommenen Rechtschaffenheit, nicht ein Sou blieb an seinen Fingern hängen. In seinem Schädel eines Visionärs baute sich eine Riesen-Idylle auf, die Idylle eines Unbewußten, in welche sich nicht das geringste Verlangen mengte, seine ehemaligen finanziellen Räubereien gutzumachen; umsomehr, als am Ende dennoch der Traum seines Lebens, die Eroberung von Paris stand. Der König der Mildthätigkeit zu sein, der angebetete Gott der Menge der Armen, einzig und volksthümlich, die Welt mit sich zu beschäftigen: dies überstieg seinen Ehrgeiz. Welche Wunder konnte er nicht vollbringen, wenn er, um gut zu sein, seine geschäftsmännischen Fähigkeiten, seine Schlauheit, seine zähe Ausdauer, seinen vollständigen Mangel an Vorurteilen anwenden wollte? Und er wird die unwiderstehliche Macht besitzen, welche die Schlachten gewinnt: das Geld, ganze Schreine voll Geld, das Geld, welches oft so viel Schlimmes verübt und nun so viel Gutes wirken wird an dem Tage, an welchem man seinen Stolz und seine Freude daran setzen wird!

Dann gab Saccard seinen Plänen einen noch größeren Rahmen und er fragte sich schließlich, warum er die Fürstin Orviedo nicht heirathen sollte? Dies würde die beiderseitigen Stellungen klar kennzeichnen und allen üblen Deutungen die Spitze nehmen. Einen Monat hindurch manövrirte er sehr geschickt, entwickelte er herrliche Entwürfe, glaubte sich unentbehrlich zu machen; dann, eines Tages, brachte er mit ruhiger Stimme seinen Vorschlag vor, entwickelte er sein großes Projekt. Was er ihr anbot, war ein wahrhaftiges Bündniß; er gab sich als der Liquidator der Summen, welche der Fürst gestohlen; er machte sich anheischig, sie verzehnfacht den Armen wiederzugeben. Die Fürstin, in ihrem ewigen schwarzen Kleide und mit ihrem Spitzenschleier auf dem Haupte, hörte ihn aufmerksam an, ohne daß sich ihr gelbes Gesicht im Mindesten belebt hätte. Großen Eindruck machten auf sie die Vortheile, welche eine solche Verbindung im Gefolge haben mußte; alle anderen Erwägungen waren ihr gleichgiltig. Sie verschob ihre Antwort auf den nächsten Tag und lehnte schließlich ab; ohne Zweifel hatte sie überlegt, daß sie nicht mehr allein Herrin über ihre Almosen wäre und sie wollte darüber als absolute Gebieterin verfügen, – und wäre es gleich in thörichter Weise. Doch erklärte sie, daß sie sich glücklich schätzen würde ihn als Berather zu behalten; um zu zeigen, wie hoch sie seine Mitwirkung schätzte, bat sie ihn, sich auch weiter mit der Arbeits-Stiftung zu beschäftigen, deren eigentlicher Leiter er war.

Eine volle Woche hindurch empfand Saccard darob einen lebhaften Kummer, als wäre ihm eine theure Idee vereitelt worden; nicht als ob er sich wieder in den Abgrund des Räuberthums versinken fühlte; aber, gleichwie eine sentimentale Romanze den verworfensten Trunkenbolden eine Thräne in die Augen lockt, hatte diese kolossale, aus Millionen aufgebaute Idylle des Wohlthuns seine alte Brigantenseele gerührt. Wieder einmal stürzte er und zwar aus großer Höhe; es schien ihm, als wäre er entthront. Durch das Geld hatte er stets die Befriedigung seiner Begierden und zugleich die Großartigkeit eines fürstlichen Lebens angestrebt; und niemals hatte er dies in einem so hohen Grade erreicht. Wenn er in seinem Sturze eine Hoffnung vernichtet sah, gerieth er in Wuth. Als die ruhige und klare Weigerung der Fürstin seinen Plan zunichte machte, schleuderte ihn dies in eine wüthende Kampflust zurück. Kämpfen, der Stärkere sein in dem rauhen Kriege der Spekulation, die Anderen auffressen, um nicht von ihnen gefressen zu werden: dies war nebst seinem Durst nach Glanz und Genuß die große, die einzige Ursache seiner Leidenschaft für die Geschäfte. Wenn er kein Vermögen sammelte, so hatte er die andere Freude, den Kampf der großen Ziffern, das Gegeneinanderschleudern der Reichthümer gleich Armeekorps, den Anprall der feindlichen Millionen, mit seinen Mißerfolgen, mit seinen Siegen; dieser Kampf berauschte ihn. Und sogleich tauchte sein Haß gegen Gundermann wieder auf, sein zügelloses Rachebedürfniß; Gundermann niederschlagen: dies war seine chimärische Begierde jedesmal, wenn er besiegt am Boden lag. Wohl fühlte er, wie kindisch ein solcher Versuch wäre; aber konnte er nicht wenigstens ihm an den Leib rücken, sich ihm gegenüber einen Platz erobern, ihn zur Theilung zwingen, wie jene Monarchen benachbarter Länder und von gleicher Kraft, die sich gegenseitig Vettern nennen? Damals war es, daß die Börse ihn von Neuem anzog; er hatte den Kopf voll mit geschäftlichen Unternehmungen, mit einander kreuzenden Entwürfen; er befand sich in einem solchen Fieber, daß er nicht wußte, wozu er sich entschließen solle, bis zu dem Tage, da eine höchste, unermeßliche Idee sich von den anderen loslöste und sich seiner ganz und gar bemächtigte.

Seitdem Saccard im Hôtel Orviedo wohnte, bemerkte er zuweilen die Schwester des Ingenieurs Hamelin, welche die kleine Wohnung im zweiten Stockwerk inne hatte, eine Frau von wunderbarem Körperbau, Madame Caroline, wie man sie vertraulich nannte. Was bei der ersten Begegnung den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatte, das waren ihre herrlichen weißen Haare, eine königliche Krone von weißen Haaren, von einer ganz eigenartigen Wirkung auf dieser noch jugendlichen Stirne einer kaum sechsunddreißigjährigen Frau. Zu fünfundzwanzig Jahren war sie so weiß geworden; ihre Augenbrauen, schwarz und dicht geblieben, bewahrten ihrem, gleichsam mit Hermelin eingerahmten Antlitz einen seltsam lebhaften Ausdruck von Jugendlichkeit. Sie war niemals schön gewesen; Kinn und Nase waren etwas zu stark gerathen; der Mund war breit, die wülstigen Lippen drückten große Gutmüthigkeit aus. Aber dieses dichte, weiße Haar milderte den harten Ausdruck ihres Gesichtes, gab ihm einen heitern, großmütterlichen Reiz in der Frische und Kraft einer schönen, verliebten Frau. Sie war groß, stark, mit einer freimüthigen und sehr edlen Haltung.

Saccard, der kleiner war als sie, sah ihr jedesmal mit Interesse nach, wenn er ihr begegnete; und er neidete ihr im Stillen diesen hohen Wuchs, diese Kraft und Gesundheit. Durch die Umgebung erfuhr er allmälig die ganze Geschichte der Geschwister Hamelin. Caroline und Georges waren die Kinder eines Arztes in Montpellier, eines bedeutenden Gelehrten, sehr eifrigen Katholiken, der arm gestorben war. Als der Vater mit dem Tode abging, war die Tochter achtzehn, der Sohn neunzehn Jahre alt; und da dieser eben in die polytechnische Schule eingetreten war, folgte ihm Caroline nach Paris und nahm eine Stelle als Erzieherin an. Sie war es, die während seines zweijährigen Kursus ihn mit Taschengeld versah, indem sie ihm Hundertsous-Stücke in die Hand gleiten ließ. Später, als er mit einer schlechten Klassifizirung die Schule verlassen hatte und sich auf dem Pariser Pflaster herumtrieb, war sie es wieder, die ihn unterstützte, bis er eine Stellung finden würde. Die beiden Kinder beteten sich an und träumten davon, sich niemals zu verlassen. Allein, für Caroline bot sich eine unverhoffte Gelegenheit zu heirathen dar; ihre Gutmüthigkeit und ihre lebhafte Intelligenz gewannen einen steinreichen Bierbrauer in dem Hause, wo sie als Erzieherin thätig war. Georges drang in sie, daß sie das Anerbieten annehme. Später mußte er dies bitter bereuen; denn nach einigen Jahren der Ehe war Caroline genöthigt die Trennung zu verlangen, um nicht von ihrem Gatten umgebracht zu werden, der ein Säufer war und in seinen blöden Eifersuchts-Anfällen sie mit einem Messer in der Faust verfolgte. Sie war damals sechsundzwanzig Jahre alt und war wieder arm, weil sie jede Pension von dem Manne zurückwies, den sie soeben verlassen hatte. Doch ihr Bruder hatte nach vielen Versuchen endlich ein Geschäft gefunden, das ihm gefiel; er war im Begriff nach Egypten abzugehen mit jener Kommission, welche damit betraut war, die Vorstudien zum Bau des Suez-Kanals zu machen. Er nahm seine Schwester mit; sie ließ sich in Alexandrien nieder, begann von Neuem Lektionen zu geben, während er das Land durchstreifte. Sie blieben in Egypten bis Jahre 1859, waren Zeugen der ersten Spatenstiche am Strande von Port-Said; die Arbeiten wurden in Angriff genommen mit einer kleinen Schaar von kaum hundertfünfzig Mann, geleitet von wenigen Ingenieuren. Dann wurde Hamelin nach Syrien gesendet, um dort die Verpflegung der Arbeiter zu sichern; er blieb auch daselbst, nachdem er sich mit seinen Vorgesetzten überworfen. Er ließ Caroline nach Beyrut kommen, wo es nicht an Schülern fehlte. Er stürzte sich in ein großes, von einer französischen Gesellschaft patronisirtes Unternehmen: die Tracirung einer Fahrstraße von Beyrut nach Damaskus, der ersten und einzigen Straße durch die Pässe des Libanon. Und sie lebten noch weitere drei Jahre in Syrien, bis zur Beendigung der Straße; er machte Studien und Messungen im Gebirge, war einmal zwei Monate abwesend, um durch den Taurus eine Reise nach Konstantinopel zu machen. Sie folgte ihm, sobald sie loskommen konnte, voll Theilnahme für seine großen Entwürfe, diesen alten Erdtheil, der unter todten Zivilisationen schlief, neu zu erwecken. Er hatte eine dicke Mappe voll mit Plänen und Entwürfen gesammelt; er fühlte die gebieterische Notwendigkeit nach Frankreich zurückzukehren, wenn er diesen weit ausgreifenden Projekten Form und Gestalt geben, Gesellschaften bilden, Kapitalien suchen wollte. Nachdem die Geschwister neun Jahre im Orient zugebracht, trieb sie die Neugierde, über Egypten zurückzukehren, wo die Arbeiten am Suez-Kanal sie geradezu begeisterten. In vier Jahren war am sandigen Gestade von Port-Said eine Stadt erstanden; ein ganzes Volk trieb sich da herum, es gab ein wahres Ameisengewimmel von Menschen, welche die Oberfläche der Erde umgestalteten. In Paris hatte Hamelin das alte Pech. Seit fünfzehn Monaten kämpfte er für seine Projekte und er vermochte Niemandem seine Zuversicht zu diesen Entwürfen einzustoßen; er war zu bescheiden, wenig geschwätzig hauste nun in diesem zweiten Stockwerk des Hotel Orviedo, in einem kleinen Appartement von fünf Zimmern, das er für zwölfhundert Francs gemiethet hatte, vom Erfolge weiter entfernt, als in den Gebirgen und Steppen Asiens. Ihre Ersparnisse erschöpften sich rasch und die Geschwister lebten in arger Noth.

Das war es eben, was Saccard interessirte, diese zunehmende Traurigkeit der Madame Caroline, deren Heiterkeit sich verdüsterte angesichts der Entmuthigung, in welcher sie ihren Bruder versinken sah. In ihrem Haushalte war sie gewissermaßen der Mann. Georges, der ihr physisch sehr ähnlich war, nur ein wenig schwächlicher, besaß eine seltene Arbeitsfähigkeit; aber er vertiefte sich in seine Studien und man mußte ihn dabei lassen. Er hatte niemals heirathen wollen; er fühlte kein Bedürfnis darnach, betete seine Schwester an und dies genügte ihm. Es schien, daß er Eintags-Liebschaften hatte, welche unbekannt blieben. Und dieser ehemalige Forscher aus der technischen Hochschule, dieser Mann mit den großen Entwürfen, von einem solchen Feuereifer beseelt für Alles, was er unternahm, zeigte zuweilen eine solche Einfalt, daß man ihn für einen Tölpel hatte halten können. Im strengsten Katholizismus erzogen, hatte er seine kindliche Gläubigkeit bewahrt und war von einer überzeugten Frömmigkeit. Seine Schwester hingegen hatte sich davon freigemacht durch eine riesige Belesenheit, durch eine umfassende Bildung, welche sie in den langen Stunden erwarb, die er bei seinen technischen Arbeiten zubrachte. Sie beherrschte vier Sprachen; sie hatte die volkswirthschaftlichen und die philosophischen Schriftsteller gelesen, hatte sich einen Augenblick für die sozialistischen und evolutionistischen Theorieen leidenschaftlich interessirt; aber sie hatte sich wieder beruhigt und verdankte hauptsächlich ihren Reisen, ihrem langen Aufenthalt unter fernen Zivilisationen ihre große Duldsamkeit, ihr weises Gleichgewicht der Seele. War sie auch selbst ungläubig, so bewahrte sie doch den vollen Respekt für die Frömmigkeit ihres Bruders. Es hatte zwischen ihnen eine Erklärung stattgefunden und seither sprachen sie nie wieder von der Sache. In ihrer Schlichtheit und Gutmüthigkeit war sie eine Frau von hoher Klugheit, von einem ungewöhnlichen Lebensmuthe, von einer frohen Tapferkeit, welche den Härten des Schicksals trotzte. Sie pflegte zu sagen, daß ein einziger Kummer in ihr fortblute, der Kummer darüber, daß sie kein Kind besaß.

Saccard kam einmal in die Lage, Hamelin einen Dienst zu erweisen, ihm eine kleine Arbeit zu verschaffen. Es handelte sich um die Abgabe eines Gutachtens über die Leistungsfähigkeit einer neu erfundenen Maschine. So drang er in die Häuslichkeit der Geschwister ein; fortan erschien er häufiger, um eine Stunde bei ihnen zu verweilen, in ihrem Salon, ihrem einzigen größeren Zimmer, welches sie zu einem Arbeits-Kabinet umgestaltet hatten. Dieser Raum blieb absolut kahl; ein großer Zeichentisch, ein kleinerer, mit Papieren bedeckter Tisch und ein halbes Dutzend Stühle bildeten die ganze Einrichtung. Auf dem Kaminsims lagen ganze Stöße von Büchern. An den Wänden jedoch gab es einen improvisirten Schmuck, welcher diese Leere aufheiterte: eine Serie von Plänen, eine Reihe von hellen Aquarellen, jedes Blatt mit vier Nägeln befestigt. Hamelin hatte in dieser Weise seine Entwürfe ausgestellt, die in Syrien gesammelten Aufzeichnungen, sein ganzes künftiges Glück. Die Aquarelle waren von Madame Caroline; Ansichten aus jenem fernen Erdtheil, Bevölkerungs-Typen, Kostüme, welche sie auf ihren gemeinsamen Streifzügen auf das Papier geworfen, mit einem ganz eigenartigen Farbensinn, ohne jeden künstlerischen Ehrgeiz. Zwei breite Fenster, die auf den Garten des Hotel Beauvilliers gingen, beleuchteten mit einem hellen Lichte diese bunte Reihe von Zeichnungen, welche an ein anderes Leben erinnerten, diesen Traum von einer antiken, in Staub zerfallenden Welt, welche diese Musterrisse mit ihren festen, mathematischen Linien wieder aufrichten zu wollen schienen, gleichsam gestützt von dem soliden Gerüste der modernen Wissenschaft. Und Saccard, nachdem er sich nützlich gemacht, verweilte mit jener lebhaften Rührigkeit, welche ihm die Zuneigung der Menschen gewann, vor den Plänen und Aquarellen, verlockt von denselben und immer wieder neue Erklärungen heischend. In seinem Kopfe keimte bereits ein großes Unternehmen.

Eines Morgens traf er Madame Caroline allein, vor dem kleinen Tische sitzend, aus welchem sie ihr Schreibpult gemacht hatte. Sie war zu Tode betrübt, ihre Hände ruhten unthätig auf den Papieren.

– Was wollen Sie? die Sache nimmt entschieden eine schlimme Wendung. Und doch gebricht es mir nicht an Muth. Aber Alles zugleich droht uns fehlzuschlagen; und was mich am meisten bekümmert, ist das Unvermögen, in welches das Unglück meinen armen Bruder stürzt, denn er ist nicht tapfer, nur bei der Arbeit stark ... Ich habe schon daran gedacht, wieder eine Stelle als Erzieherin anzunehmen, um ihm einigermaßen beistehen zu können. Ich habe gesucht, aber noch nichts gefunden ... Ich kann mich doch nicht als Haushälterin verdingen.

Niemals hatte Saccard sie dermaßen fassungslos, niedergeschlagen gesehen.

– Was Teufel! Sind Sie denn so weit?

Sie schüttelte den Kopf und sprach völlig verbittert von dem Leben, welches sie sonst – selbst in bösen Tagen – so tapfer hingenommen hatte. Und als Hamelin eben heimkehrte und von einem neuen Mißerfolg berichtete, rannen die hellen Zähren über ihre Wangen und sie sprach gar nichts mehr, die Fäuste auf den Tisch gestützt und ins Leere vor sich hinstarrend.

– Wenn man bedenkt, rief Hamelin, daß Millionen dort zu holen sind, wenn Jemand mir helfen wollte, sie zu gewinnen!

Saccard war vor einem Abriß stehen geblieben, welcher den Bau eines Pavillons inmitten von weitläufigen Magazinen darstellte.

– Was ist das? fragte er.

– Oh, das habe ich so zum Spaß gemacht, erklärte der Ingenieur. Es ist der Entwurf eines Wohnhauses für den Direktor der Gesellschaft, die ich geplant hatte; Sie wissen ja: der allgemeinen Packetschifffahrts-Gesellschaft, mit dem Sitze in Beyrut.

Er ward allmälig lebhafter und führte neue Einzelheiten an. Während seines Aufenthalts im Orient habe er konstatirt, wie mangelhaft der Transport-Dienst sei. Die in Marseille ansässigen wenigen Gesellschaften tödteten sich gegenseitig mit der Konkurrenz und besaßen kein genügendes und bequemes Schifffahrts-Material. Eine seiner ersten Ideen, gleichsam die Grundlage des Ganzen seiner Unternehmungen, war, für diese Gesellschaften ein Syndikat ins Leben zu rufen, sie zu einer einzigen großen Unternehmung zu vereinigen, welche, mit einem Kapital von Millionen ausgerüstet, das ganze mittelländische Meer befahren, sich auf demselben die Herrschaft sichern würde, indem sie Linien nach allen Häfen Afrika's, Spaniens, Italiens, Griechenlands, Egyptens, Asiens, bis zum schwarzen Meer hinunter, einrichten würde. Es war der Plan eines Organisators mit feiner Witterung, und zugleich eines guten Bürgers; es hieß: den Orient erobern und ihn Frankreich schenken; davon ganz zu schweigen, daß er in solcher Weise Syrien näher brachte, wo sich das weite Gebiet seiner Operationen erschließen sollte.

– Den Syndikaten gehört die Zukunft, murmelte Saccard. Das ist eine gewaltige Form der Assoziation! Drei oder vier kleine Unternehmungen, die vereinzelt nur vegetiren, erlangen durch die Vereinigung eine unwiderstehliche Lebenskraft und Wohlfahrt. Jawohl, der kommende Tag gehört den großen Kapitalien, den vereinigten Anstrengungen der großen Massen. Die ganze Industrie, der ganze Handel wird schließlich nichts Anderes sein, als ein einziger, ungeheurer Bazar, wo man sich mit Allem versorgen wird.

Er war jetzt vor einem Aquarell stehen geblieben, welches eine wilde Gebirgs-Landschaft darstellte, eine kahle Schlucht, verlegt durch hoch aufgethürmte Felsmassen und unwirthliches Gestrüpp.

– Das ist das Ende der Welt, bemerkte er; da scheint es kein Gedränge von Touristen zu geben.

– Es ist eine Schlucht im Carmelgebirge, antwortete Hamelin. Meine Schwester hat sie aufgenommen, als ich in jener Gegend meine Studien machte.

Und er fügte ruhig hinzu:

– Sehen Sie: zwischen den kreidehaltigen Kalkbergen und dem Porphyrgestein, welches die Kalklager emporgeschoben hat, gibt es am ganzen Bergabhang eine bedeutende Ader von schwefelhältigem Silbererz; jawohl, eine Silbermine, deren Ausbeutung nach meiner Berechnung riesige Erträgnisse sichern müßte.

– Eine Silbermine? wiederholte Saccard lebhaft.

Madame Caroline, deren Augen noch immer traurig ins Leere starrten, hatte zugehört; und als wäre plötzlich eine Vision heraufbeschworen worden, murmelte sie:

– Das Carmelgebirge! Ach, welche Wüste, welche Tage der Einsamkeit! Alles voll Myrten und Ginster; es riecht so gut, die laue Luft ist ganz würzig davon. Und man sieht immerwährend Adler sehr hoch kreisen. Und das viele Silber, das dort neben so vielem Elend begraben ist! Man möchte dort glückliche Menschenmassen sehen, Werkplätze, neu gegründete Städte, ein ganzes, durch die Arbeit neugeschaffenes Volk!

– Es wäre unschwer, eine Straße vom Carmel nach Saint-Jean-d'Acre herzustellen, fuhr Hamelin fort. Und ich glaube, daß auch Eisen leichter zu finden wäre, denn es ist in jenen Gebirgen sehr reichlich vorhanden. Ich habe auch eine neue Methode der Erzförderung entdeckt, bei welcher sehr bedeutende Ersparnisse zu erzielen wären. Alles ist bereit; es handelt sich nur mehr darum, die Kapitalien zu finden.

– Die Gesellschaft der Carmel-Silberminen! murmelte Saccard.

Doch die Blicke des Ingenieurs schweiften jetzt von einem Plan zum andern. Er war jetzt wieder von diesem Werke seines ganzen Lebens ergriffen, fieberhaft begeistert von dem Gedanken an die glänzende Zukunft, die dort schlummerte, während hier Noth und Elend ihn lahmlegten.

– Und dies sind nur die kleinen Geschäfte des Anfangs, fuhr er fort. Betrachten Sie diese Reihe von Plänen; das ist der große Zug, ein ganzes Netz von Eisenbahnen, welche Kleinasien durchziehen. Der Mangel an bequemen und raschen Verkehrsmitteln ist die vornehmlichste Ursache der Zurückgebliebenheit jener reichen Länder. Sie finden dort keine fahrbare Straße; Maulesel und Kameele vermitteln die Reisen und den Transport. Denken Sie sich, welche Umwälzung Eisenbahnen hervorrufen müßten, die bis an den Saum der Wüste reichen. Das wäre eine Verzehnfachung von Handel und Industrie, ein Sieg der Zivilisation, ein Erschließen des Orients für Europa. Wenn die Sache Sie interessirt, werden wir eingehender darüber sprechen. Und Sie werden sehen, Sie werden sehen!

Und er konnte sich nicht versagen, sogleich in Erklärungen einzugehen. Hauptsächlich während seiner Reise nach Konstantinopel hatte er die Trace seines Eisenbahn-Netzes studirt. Die große, die einzige Schwierigkeit lag in der Ueberwindung des Taurusgebirges; aber er hatte die verschiedenen Bergjoche untersucht und er behauptete, es sei möglich, eine direkte und verhältnißmäßig nicht kostspielige Linie herzustellen. Er dachte übrigens nicht daran, das ganze Netz auf einmal zu bauen. Wird man erst vom Sultan die vollständige Konzession erhalten haben, so wird es sich vernünftigerweise empfehlen, zunächst die Hauptlinie, von Brussa nach Beyrut, über Angora und Aleppo zu bauen. Später kann man daran denken, die Zweiglinien von Smyrna nach Angora, von Trapezunt nach Angora und von Erzerum nach Sivas zu bauen.

– Und noch später ... fuhr er fort.

Doch er vollendete den Satz nicht; er begnügte sich zu lächeln und wagte nicht zu sagen, wie weit er in der Kühnheit seiner Projekte gegangen sei. Das war eben sein Traum.

– Ach, die Ebenen am Fuße des Taurus, hub jetzt Madame Caroline mit ihrer langsamen Stimme einer wachenden Träumerin wieder an; welch' ein herrliches Paradies! Es genügt die Erde zu kratzen, damit üppige Ernten hervorschießen. Die Obstbäume, die Pfirsich-, Kirschen-, Feigen-, Mandelbäume brechen unter der Last ihrer Früchte schier zusammen. Ganze Felder mit Oliven- und Maulbeerbäumen; man glaubt große Wälder zu sehen! Und welche natürliche, leichte Existenz in dieser leichten, stets blauen Luft.

Saccard lachte; es war jenes schrille, gierige Lachen, welches er hören ließ, wenn er irgendwo ein Vermögen witterte. Und als Hamelin noch von anderen Entwürfen sprach, namentlich von der Gründung einer Bank in Konstantinopel, wobei er ein Wort von den allmächtigen Verbindungen einfließen ließ, die er daselbst, vornehmlich in der Umgebung des Großveziers, zurückgelassen, unterbrach er ihn, indem er heiter ausrief:

– Aber das ist ja ein wahres Schlaraffenland! Da wird ja was zu holen sein!

Dann legte er vertraulich beide Hände auf die Schultern der noch immer sitzenden Madame Caroline und fügte hinzu:

– Verzweifeln Sie nicht, Madame! Ich liebe Sie sehr und Sie werden sehen, daß ich mit Ihrem Bruder zusammen etwas schaffen werde, was für uns alle sehr gut sein wird. Nur Geduld!

Während des Monats, der nun folgte, verschaffte Saccard dem Ingenieur abermals einige kleine Arbeiten; und wenn er von den großen Geschäften nicht mehr sprach, so mußte er umso mehr darüber nachdenken, unablässig, davon völlig eingenommen, zögernd angesichts der erdrückenden Größe dieser Unternehmungen. Doch was die noch neuen Bande ihrer Vertraulichkeit enger knüpfte, das war die schlichte und natürliche Art, in welcher Madame Caroline sich mit seinem Hauswesen eines allein stehenden Mannes beschäftigte, der von überflüssigen Kosten erdrückt und umso schlechter bedient wird, als er zu viel Diener hat. Außerhalb des Hauses so tüchtig, geradezu berüchtigt wegen seiner starken, in dem Durcheinander der großen Diebstähle so geschickten Hand, ließ er in seinem Hause Alles darunter und darüber gehen, unbekümmert um die erschreckende Mißwirthschaft, die seine Ausgaben verdreifachte; die Abwesenheit einer Frau machte sich sehr empfindlich fühlbar, bis in die kleinsten Dinge. Als Madame Caroline merkte, wie Saccard ausgeplündert wurde, gab sie ihm anfänglich Rathschläge und schließlich griff sie selbst ein, so daß sie ihm zu wiederholten Malen ansehnliche Ersparungen sicherte. Eines Tages machte er ihr lachend den Vorschlag, seine Hauswirthin zu werden. Warum auch nicht? Sie hatte einen Platz als Erzieherin gesucht; sie konnte wohl eine solche ehrbare Stelle annehmen, welche ihr gestatten würde, Besseres abzuwarten. Dieses im Scherz gemachte Anerbieten wurde schließlich ernst. Bot sich ihr doch die Möglichkeit, ihrem Bruder mit den dreihundert Francs beizustehen, welche ihr Saccard monatlich geben wollte. Sie nahm denn den Vorschlag an. In acht Tagen hatte sie das Haus umgestaltet; sie entließ den Küchenchef und dessen Weib und nahm nur eine Köchin, welche mit dem Kammerdiener und dem Kutscher für den Dienst des Hauses genügen mußte. Sie behielt nur ein Pferd und einen Wagen, dehnte ihre Wachsamkeit auf Alles aus, prüfte die Rechnungen mit einer solchen Sorgfalt, daß sie nach Verlauf von zwei Wochen die Kosten auf die Hälfte vermindern konnte. Er war entzückt und sagte scherzend, daß jetzt er sie betrüge und daß sie einen Perzentual-Antheil an allen Ersparungen, die sie erzielte, hätte verlangen sollen.

Und nun begann ein sehr enges Beisammenleben. Saccard war auf den Einfall gekommen, die Riegel zu entfernen, welche die Verbindungsthür zwischen den beiden Wohnungen verschlossen hielten, und nun konnte man mittelst der inneren Treppe ganz frei aus dem einen Speisesaal zu dem andern hinaufsteigen; so daß Madame Caroline, während ihr Bruder vom Morgen bis zum Abend damit beschäftigt war, seine aus dem Orient mitgebrachten Papiere zu ordnen, ihr eigenes Hauswesen der einzigen Magd überlassen konnte, welche sie bediente, und jede Stunde des Tages hinabging, um Befehle zu ertheilen, wie zuhause. Und das war die Freude Saccards geworden: das fortwährende Erscheinen dieser großen, schönen Frau, welche durch die Zimmer schritt, mit ihrem festen, stolzen Gang und mit der immer wieder neuen Heiterkeit ihrer weißen Haare, die ihr jugendliches Antlitz einrahmten. Sie war wieder sehr fröhlich; sie hatte ihren Lebensmuth wiedergefunden, seitdem sie fühlte, daß sie wieder zu etwas nutze sei, daß sie, stets auf den Beinen, ihre Zeit ausfülle. Ohne durch Einfachheit auffallen zu wollen, trug sie stets nur ein schwarzes Kleid, in dessen Tasche man ihren Schlüsselbund klirren hörte. Und es machte ihr Spaß, daß sie, die Gelehrte, die Philosophin, nur mehr eine gute Hauswirthin sei, die Führerin eines Verschwenders, den sie allmälig liebgewann, wie man ausgelassene Kinder liebgewinnt. Er war einen Augenblick stark verlockt und indem er berechnete, daß es Alles in Allem zwischen ihnen nur einen Unterschied von vierzehn Jahren gab, fragte er sich, was geschehen würde, wenn er sie eines Abends in seine Arme nähme? War es denkbar, daß sie seit zehn Jahren, seit der nothgedrungenen Flucht von ihrem Gatten, von dem sie ebenso viele Prügel wie Liebkosungen bekommen, als Amazone auf Reisen, ohne Mann gelebt habe? Vielleicht hatten die Reisen sie davor beschützt. Indeß war ihm bekannt, daß ein Freund ihres Bruders, ein Herr Beaudoin, Kaufmann in Beyrut, dessen Rückkehr nach Frankreich bevorstand, sie sehr geliebt hatte und nur auf den Tod ihres Gatten wartete, um sie zu heirathen. Ihr Gatte aber war wegen Säuferwahnsinns in ein Tollhaus gebracht worden. Diese Heirath würde nur eine sehr entschuldbare, fast legitime Situation geregelt haben. Da sie nun Einen gehabt, warum sollte sie nicht auch einen Zweiten haben? Doch Saccard blieb bei dieser Erwägung; er fand sie so gutmüthig und zutraulich, daß bei ihr oft das Weib verschwand. Wenn er sie mit ihrer wunderbaren Gestalt vorübergehen sah und sich fragte, was geschehen würde, wenn er sie in seine Arme nähme, da antwortete er sich, daß sehr gewöhnliche, vielleicht langweilige Dinge geschehen würden. Und er verschob den Versuch auf später und schüttelte ihr kräftig die Hände, glücklich ob ihrer Zutraulichkeit.

Dann verfiel Madame Caroline plötzlich wieder einem großen Kummer. Eines Morgens kam sie niedergeschlagen, sehr bleich und mit gerötheten Augen herunter. Er konnte nichts von ihr erfahren und mußte aufhören sie zu fragen, weil er keine andere Antwort erhielt, als daß ihr nichts fehle und daß sie nur so sei wie sonst alle Tage. Erst am folgenden Tage begriff er, als er oben eine Karte fand, welche die Heirath des Herrn Beaudoin mit der Tochter eines englischen Konsuls, einem sehr jungen, unermeßlich reichen Mädchen anzeigte. Der Schlag mußte umso härter gewesen sein, als die Nachricht durch diesen banalen Brief eingetroffen war, ohne jede Vorbereitung, selbst ohne ein Lebewohl. Es war dies ein Zusammenbruch in dem Leben der unglücklichen Frau, die Vernichtung einer fernen Hoffnung, an welche sie sich in den Stunden des Unglücks geklammert hatte. Und wie der Zufall manchmal furchtbar grausam ist, hatte sie eben vor zwei Tagen erfahren, daß ihr Mann mit dem Tode abgegangen war, so daß sie endlich, achtundvierzig Stunden hindurch, an die nahe Verwirklichung ihres Traumes glauben durfte. Ihr ganzes Leben sank in Trümmer; sie war im Innersten erschüttert. Und an demselben Abend harrte ihrer noch ein anderer, betäubender Schlag; als sie, bevor sie hinauf ging schlafen, ihrer Gewohnheit gemäß einen Augenblick bei Saccard eintrat, um die Aufträge des nächsten Tages zu besprechen, redete er mit ihr von ihrem Unglück, in so sanftem Tone, daß sie in Thränen ausbrach; dann, in dieser unbezwinglichen Rührung, in einer Art Lähmung ihres Willens sah sie sich plötzlich in seinen Armen und sie gehörte ihm an, ohne daß er oder sie eine Freude daran hatte. Als sie wieder zum Bewußtsein kam, fühlte sie keine Empörung, aber ihre Traurigkeit war unendlich größer geworden. Warum hatte sie diese Sache geschehen lassen? Sie liebte diesen Mann nicht und auch er liebte sie wohl nicht. Nicht als ob sie ihn wegen seines Alters, oder wegen seines Gesichtes der Liebe unwerth gefunden hätte; obgleich im Alter vorgeschritten und der Schönheit entbehrend interessirte er sie durch die Beweglichkeit seiner Züge, durch die Rührigkeit seiner ganzen kleinen, schwarzen Person; und obgleich sie es noch nicht wußte, war sie geneigt ihn für dienstwillig zu halten, mit einer höheren Intelligenz begabt und sehr wohl fähig die großen Unternehmungen ihres Bruders zu verwirklichen, mit der durchschnittlichen Rechtschaffenheit aller Welt. Allein, welch' ein alberner Sturz! Sie, so klug, durch harte Erfahrungen so gewitzigt, so sehr Herrin ihrer selbst, soll in solcher Weise unterlegen sein, ohne zu wissen wie und warum, in einem Thränenausbruch, wie eine sentimentale Grisette! Das Schlimmste war, daß sie merkte, auch er sei ob des Abenteuers erstaunt, fast verdrossen, wie sie selbst. Als er, um sie zu trösten, ihr von Herrn Beaudoin sprach, wie von einem ehemaligen Liebhaber, dessen niedriger Verrath nur des Vergessens werth war, und als sie in großer Aufregung ihm schwor, daß Jener nicht ihr Liebhaber gewesen und daß zwischen ihnen nichts geschehen sei, glaubte er anfänglich, daß sie in einer Regung von Frauenstolz die Unwahrheit rede; allein sie kam auf diesen Schwur mit so viel Nachdruck zurück und ihre Augen waren dabei so schön und so freimüthig, daß er schließlich von der Wahrheit dieser Geschichte überzeugt war; daß sie in ihrer Rechtschaffenheit und Würde sich für den Hochzeitstag aufsparte und daß der Mann zwei Jahre gewartet und dann des Wartens überdrüssig die verlockende Gelegenheit benützt und eine Andere, eine Junge und Reiche geheirathet habe. Und das Seltsame war, daß diese Entdeckung, diese Ueberzeugung, welche in Saccard eine Leidenschaft hätte erregen müssen, ihn im Gegentheil mit einer gewissen Verlegenheit erfüllte, so sehr begriff er das Thöricht-Fatale seines Liebesabenteuers. Uebrigens thaten sie es nicht wieder, da Keines von Beiden Verlangen darnach zu haben schien.

Zwei Wochen verharrte Madame Caroline in dieser furchtbaren Traurigkeit. Die Kraft zu leben, dieser Impuls, der aus dem Leben eine Nothwendigkeit und eine Freude macht, hatte sie verlassen. Sie versah ihre mannigfachen Beschäftigungen, aber gleichsam geistesabwesend, ohne sich durch Sinn und Interesse der Dinge einen Wahn vortäuschen zu lassen. Es war die menschliche Maschine, die da arbeitete in ihrer Verzweiflung ob der Nichtigkeit aller Dinge. Und inmitten dieses Schiffbruches ihrer Tapferkeit und ihres Frohsinns hatte sie nur eine Zerstreuung, welche darin bestand, daß sie alle ihre freien Stunden am Fenster des großen Arbeits-Kabinets zubrachte, die Augen starr auf den Garten des benachbarten Hôtel Beauvilliers gerichtet, wo – wie sie seit den ersten Tagen ihrer Niederlassung in diesem Hause vermuthete – eine Armuth, ein Elend hausen mußte, ergreifend in seinem Bestreben den Schein zu wahren. Auch dort gab es Wesen, welche litten; und ihr Kummer war gleichsam benetzt von jenen Thränen, sie war sterbenstraurig und glaubte sich schier unempfindlich und todt in dem Leid um jene Anderen.

Diese Beauvilliers, die ehemals nebst ihren riesigen Landgütern in der Touraine und im Anjou ein prachtvolles Hôtel in der Rue de Grenelle besaßen, hatten jetzt nichts mehr in Paris als dieses ehemalige Lusthaus, welches am Beginn des vorigen Jahrhunderts außerhalb der Stadt erbaut, heute zwischen den alten, schwarzen Häusern der Rue Saint-Lazare eingekeilt stand. Die wenigen schönen Bäume des Gartens blieben da wie in der Tiefe eines Brunnens, das Moos umwucherte die geborstenen und verwitterten Treppenstufen des Perrons. Es war gleichsam ein Stück Natur in Gefangenschaft gesetzt, ein mildes und zugleich düsteres Stück Natur von stummer Trostlosigkeit, wohin die Sonne nur als ein grünliches Licht eindrang, dessen Schauer Einem über die Schultern rieselte. Und die erste Person, welche Madame Caroline in dieser kellerfeuchten Stille erblickte, war die Gräfin von Beauvilliers, eine große, magere Frau von sechszig Jahren, ganz weiß, mit einem sehr vornehmen, ein wenig überalten Antlitz. Mit ihrer großen, geraden Nase, ihren dünnen Lippen, ihrem eigenartig langen Halse glich sie einem sehr alten Schwan von trostloser Sanftmuth. Hinter ihr war sogleich auch ihre Tochter sichtbar geworden, Alice von Beauvilliers, fünfundzwanzig Jahre alt, aber dermaßen verkümmert, daß man sie für ein Kind gehalten hätte, wären nicht der verdorbene Teint und die schon in die Länge gezogenen Gesichtszüge gewesen. Sie war das Ebenbild der Mutter, aber verkümmert, ohne die aristokratische Vornehmheit, nur mehr den erbarmungswürdigen Reiz eines zu Ende gehenden großen Geschlechts aufweisend. Die beiden Frauen lebten allein, seitdem der Sohn, Ferdinand von Beauvilliers, nach der von Lamoricière verlorenen Schlacht bei Castelfidardo, bei den päpstlichen Zuaven Dienste genommen hatte. Wenn es nicht regnete, erschienen sie täglich so, Eine hinter der Anderen, stiegen den Perron herab, machten einen Spaziergang rings um den schmalen Rasenplatz in der Mitte, ohne ein Wort zu wechseln. Es gab da keine andere Gartenzier, als den Saum von Epheu; Blumen würden nicht gediehen sein, oder zu viel Kosten verursacht haben. Und dieser langsame Spaziergang, ohne Zweifel aus Gründen der Gesundheit unternommen von diesen so bleichen zwei Frauen, unter den hundertjährigen Bäumen, welche so viele Feste gesehen hatten und jetzt von den benachbarten Bürgerhäusern gleichsam erdrückt wurden, – dieser langsame Spaziergang war von einer schmerzlichen Melancholie, als hätten die beiden Frauen die Trauer um viele todte Dinge von einst spazieren geführt.

Theilnahmsvoll, von einer zarten Sympathie erfüllt und ohne boshafte Neugierde beobachtete Madame Caroline fortan die beiden Nachbarinnen; und über den Garten hinweg drang sie allmälig in ihr Leben ein, welches die Damen in ihrer nach der Straße gelegenen Wohnung mit eifersüchtiger Sorgfalt zu verbergen trachteten. Noch stand ein Pferd im Stall und ein Wagen unter der Remise, in Stand gehalten von einem alten Diener, der Kammerdiener, Kutscher und Hausmeister zugleich war. Auch eine Köchin war da, die zugleich als Kammerfrau diente. Doch wenn dieser korrekt bespannte Wagen durch das Hauptthor vorfuhr, um die Damen zu ihren verschiedenen Besorgungen zu führen, wenn bei den Diners, die man jede zweite Woche einmal einigen Freunden gab, die Tafel noch einigen Luxus zeigte: welche lange Fasten, welche schmutzige Knauserei, jede Stunde geübt, waren nothwendig, um diesen Schein von Reichthum aufrecht zu erhalten! In einer kleinen, den Augen verborgenen Kammer gab es ein ewiges Waschen, um die Rechnung der Wäscherin herabzumindern; armseliges Linnen, immer wieder von Neuem ausgebessert, von der Seife völlig abgenützt, ward dort gereinigt. Zum Abendessen begnügte man sich mit einigem Gemüse; das Brod ließ man auf einem Brett hart werden, um weniger davon zu essen. Und noch andere Kniffe eines geizigen Haushaltes, kleinlich und rührend zugleich der alte Kutscher besserte die löcherigen Stiefelchen des Fräuleins aus; die Köchin schwärzte mit Tinte die abgenützten Fingerspitzen der Handschuhe der gnädigen Frau. Die Kleider der Mutter wurden durch spitzfindige Umgestaltungen für die Tochter zurecht gemacht. Die Hüte mußten Jahre lang dauern, man änderte nur die Federn und Bänder. Wenn keine Gäste erwartet wurden, waren die Empfangs-Salons im Erdgeschosse sorgfältig geschlossen, ebenso die großen Gemächer im ersten Stockwerk. Denn die Frauen bewohnten in diesem ganzen großen Hause nur ein enges Zimmer, welches ihnen als Speisezimmer und als Boudoir zugleich diente. Wenn das Fenster geöffnet ward, konnte man die Gräfin mit dem Ausbessern ihres Weißzeuges beschäftigt sehen, gleich einer kleinen, armen Bürgersfrau; während ihre Tochter, zwischen Piano und Malkasten sitzend, Strümpfe und Handschützer für die Mutter strickte. An einem Tage, da es ein Unwetter gab, sah man beide im Garten, bemüht den Kies zu sammeln, welchen der heftige Regen wegzuschwemmen drohte.

Madame Caroline kannte jetzt ihre Geschichte. Die Gräfin von Beauvilliers hatte viel gelitten durch ihren Gatten, der ein Wüstling war und über welchen sie sich niemals beklagt hatte. Eines Abends hatte man ihn ihr nach Vendôme gebracht, röchelnd, mit einem Schuß im Leibe. Man sprach von einem Jagdunfall; irgend ein eifersüchtiger Forstheger, dem er das Weib oder die Tochter verführt, hatte ihn meuchlings niedergeschossen. Das Schlimmste war, daß mit ihm auch das ehemals riesige Vermögen der Beauvilliers zunichte ward, das in ausgedehnten Ländereien, in wahrhaft königlichen Gütern bestanden, jenes Vermögen, welches die Revolution schon vermindert angetroffen und welches sein Vater und er vollends aufgezehrt hatten. Von diesen großen Gütern war eine einzige Farm übrig geblieben, les Aublets mit Namen, einige Meilen von Vendôme entfernt, welche eine Jahresrente von ungefähr fünfzehntausend Francs abwarf und die einzige Hilfsquelle der Wittwe und ihrer zwei Kinder war. Das Hôtel in der Rue de Grenelle war längst verkauft, dasjenige in der Rue Saint-Lazare so sehr mit Schulden belastet, daß es den größeren Theil der fünfzehntausend Francs aufzehrte und gleichfalls verkauft zu werden drohte, wenn man nicht die Interessen bezahlte. Und es blieben nur sechs- bis siebentausend Francs für den Unterhalt von vier Personen, für diesen Haushalt einer adeligen Familie, die nicht entsagen wollte. Acht Jahre waren verflossen, seitdem die Gräfin als Wittwe zurückgeblieben, mit einem Sohn von zwanzig Jahren und einer Tochter von siebzehn Jahren, inmitten des Zusammenbruchs ihres Hauses. Sie blieb ungebeugt in ihrem Adelsstolze und schwor, lieber von Brod und Wasser zu leben, als von ihrem Range herabzusinken. Fortan hatte sie nur den einen Gedanken, sich auf der Höhe ihres Ranges zu erhalten, ihre Tochter mit einem Manne von gleichem Adel zu verheirathen, aus ihrem Sohn einen Soldaten zu machen. Ferdinand hatte ihr anfänglich schwere Sorgen bereitet durch verschiedene Jugendstreiche und durch Schulden, welche bezahlt werden mußten. Doch als sie in einer feierlichen Unterredung ihn über ihre Lage aufklärte, begann er ein ernsteres Leben, da er im Grunde gut geartet war, nur müßig und zu nichts tauglich, in der modernen Gesellschaft keinerlei Beschäftigung findend. Jetzt, als päpstlicher Soldat, war er für sie noch immer die Ursache geheimer Sorge, denn er war von zarter Gesundheit trotz seiner stolzen äußeren Erscheinung, blutarm und schwach, was das römische Klima für ihn gefährlich machte. Was die Heirath ihrer Tochter Alice betraf, so verzögerte sich dieselbe dermaßen, daß die arme, betrübte Mutter viele Thränen vergoß, wenn sie das Mädchen betrachtete, das schon alterte und bei dem langen Warten hinwelkte. Trotz ihres unbedeutenden und melancholischen Aussehens war Alice ein kluges Mädchen, voll Sehnsucht nach dem Leben, nach einem liebenden Manne, nach dem Glück. Allein, da sie das Haus nicht noch trüber machen wollte, that sie, als hätte sie auf Alles verzichtet, scherzte über die Heirath und sagte, sie habe den Beruf eine alte Jungfer zu werden. Des Nachts aber schluchzte sie auf ihrem Kopfkissen und glaubte in ihrem Leid über ihr Alleinsein vergehen zu müssen. Durch ihre Wunderthaten an Geiz war es der Gräfin gelungen zwanzigtausend Francs – die ganze Mitgift Alicens – zurückzulegen; ebenso hatte sie aus dem Schiffbruche einige Juwelen gerettet, ein Armband, Ringe, Ohrgehänge, welche man allesammt auf etwa zehntausend Francs schätzen konnte; es war eine recht magere Mitgift und Ausstattung, kaum genug, um die unmittelbaren Ausgaben zu decken, wenn der erwartete Freier sich eines Tages einstellte. Und doch wollte sie nicht verzweifeln; sie kämpfte weiter, gab kein einziges Vorrecht ihrer Geburt auf, hielt sich immer auf gleicher Höhe, im äußeren Scheine des Reichthums, war unfähig zu Fuße auszugehen, oder an einem Empfangsabend ein Zwischengericht von der Speisenfolge zu streichen. Dagegen kargte sie im Geheimen, verurtheilte sich Wochen lang zu Kartoffeln ohne Butter, um der ewig ungenügenden Mitgift ihrer Tochter fünfzig Francs hinzuzufügen. Es war ein von Tag zu Tag geübter, schmerzlicher und kindischer Heroismus, während mit jedem Tage das Haus ein wenig mehr über ihrem Haupte einstürzte.

Doch hatte Madame Caroline bisher noch keine Gelegenheit mit der Gräfin und ihrer Tochter zu sprechen. Sie erfuhr schließlich die intimsten Einzelheiten ihres Lebens, diejenigen, welche sie vor der ganzen Welt zu verbergen glaubten und es hatte bisher zwischen ihnen nichts als einen Austausch von Blicken gegeben, von jenen Blicken, welche sich in einem plötzlichen Gefühl der Sympathie umwenden. Die Fürstin von Orviedo sollte sie einander näher bringen. Sie war auf den Gedanken gekommen, für die Arbeits-Stiftung eine Art Ueberwachungs-Kommission, aus zehn Damen bestehend, einzusetzen. Diese Damen versammelten sich zweimal des Monats und beaufsichtigten den gesammten Dienst in der Anstalt. Da sie es sich selbst vorbehalten hatte diese Damen auszuwählen, ernannte sie als eine der Ersten Frau von Beauvilliers, die ehemals ihre vertraute Freundin gewesen und jetzt, nachdem sie sich von der Gesellschaft zurückgezogen hatte, bloß ihre Nachbarin war. Und als eines Tages die Kommission ihren Sekretär verlor, empfahl Saccard, der die oberste Leitung der Anstalt hatte, Madame Caroline als einen mustergiltigen Sekretär, wie man einen besseren nirgends finden konnte. In Wirklichkeit war das Amt ein ziemlich schwieriges; es gab viel Schreibereien und auch materielle Besorgungen, welche den Damen ein wenig widerstrebten. Madame Caroline aber hatte sich sofort als eine bewunderungswürdige Hausverwalterin entpuppt, welche durch ihre unbefriedigte Mutterschaft, durch ihre verzweifelte Liebe zu den Kindern zu einer sehr rührigen Zärtlichkeit für alle armen Wesen entflammt wurde, die man aus der Pariser Gosse aufzulesen suchte. In der letzten Sitzung der Kommission war sie der Gräfin von Beauvilliers begegnet; allein diese hatte sie nur etwas kühl gegrüßt; denn sie verheimlichte ihre Armuth und hatte das Gefühl, in dieser Frau eine Zeugin ihres Elends vor sich zu haben. Seither grüßten sich die beiden Frauen jedesmal, wenn ihre Augen sich begegneten und es gar zu unhöflich gewesen wäre so zu thun, als kennten sie einander nicht.

Eines Tages, als Hamelin im großen Kabinet damit beschäftigt war, nach neuen Berechnungen einen Plan richtig zu stellen und Saccard neben ihm stehend dieser Arbeit folgte, schaute Madame Caroline, wie es ihre Gewohnheit war, zum Fenster hinaus und sah die Gräfin und ihre Tochter sich im Garten beschäftigen. Sie hatten an jenem Morgen solche Pantoffel an den Füßen, welche eine Lumpensammlerin auf der Straße verschmäht haben würde.

– Ach, die armen Frauen, murmelte sie, wie schrecklich muß ihnen diese Luxus-Komödie sein, welche sie spielen zu müssen glauben!

Und sie trat zurück und verbarg sich hinter dem Vorhang, aus Furcht, daß die Mutter sie erblicken und durch den Gedanken, daß sie bespäht werde, noch mehr leiden könnte. Seit den drei Wochen, daß sie sich jeden Morgen an diesem Fenster vergaß, war es auch in ihrem Innern ruhiger geworden, der große Kummer ob ihrer Verlassenheit schlummerte ein; es schien, als würde der Anblick des Unglücks Anderer ihr Muth verleihen das eigene zu tragen, diesen Zusammenbruch, bei welchem sie ihr ganzes Leben zertrümmert zu sehen glaubte. Zu ihrer großen Ueberraschung hörte sie sich wieder lachen.

Noch einmal folgte sie mit tief nachdenklicher Miene den beiden Frauen in ihrem von Moos und Unkraut überwucherten Garten. Dann wandte sie sich zu Saccard und fragte in lebhaftem Tone:

– Sagen Sie mir, warum kann ich nicht traurig sein? Nein, die Traurigkeit will bei mir nicht anhalten, was immer mir auch widerfährt ... Ist's Egoismus? Wahrhaftig, ich glaube es nicht. Es wäre zu häßlich; übrigens, wenn ich auch heiter bin, es zerreißt mir doch das Herz, wenn ich den geringsten Kummer sehe. Erklären Sie dies, wenn Sie können: ich bin heiter und würde wegen aller Unglücklichen weinen, die da vorübergehen, wenn ich mich nicht zurückhielte, weil ich begreife, daß ein Stückchen Brod ihnen mehr nützen würde, als meine überflüssigen Thränen.

Indem sie dies sagte, ließ sie ihr helles, tapferes Lachen vernehmen, als eine wackere Frau, welche eine gute Handlung dem geschwätzigen Mitleid vorzog.

– Und doch weiß Gott, fuhr sie fort, daß ich Ursache hatte, an Allem zu verzweifeln. Ach, ich war bisher vom Glücke nicht verhätschelt! In der Hölle, in die ich durch meine Heirath gerathen war und in der ich beschimpft und mißhandelt wurde, glaubte ich, es bliebe mir nichts Anderes übrig, als mich ins Wasser zu werfen. Ich habe mich nicht ins Wasser geworfen, bin vielmehr hoffnungsfreudig mit meinem Bruder nach dem Orient gegangen. Und als wir nach Paris zurückgekehrt waren und Alles fehlzuschlagen schien, hatte ich furchtbare Nächte, in welchen ich uns über unseren schönen Plänen Hungers sterben sah. Wir sind nicht gestorben, ich begann wieder von riesigen, glücklichen Dingen zu träumen, über welche ich lachte, wenn ich allein war ... Und neulich, als jener furchtbare Schlag mich heimsuchte, von welchem ich noch nicht zu reden wage, ward mein Herz gleichsam entwurzelt; jawohl, ich habe positiv gefühlt, daß es nicht mehr schlug; ich glaubte, es wäre todt und ich selbst wäre todt, vernichtet. Und dann – nichts von alldem; ich bin da und lebe wieder; heute lache ich, morgen werde ich hoffen und leben wollen, immer leben ... Ist es nicht merkwürdig, daß man nicht lange traurig sein kann?

Saccard, der nun ebenfalls lachte, zuckte mit den Schultern.

– Bah, Sie sind so wie alle Welt. Das ist das Leben.

– Glauben Sie? rief sie erstaunt. Mich dünkt, es gibt traurige Leute, die niemals heiter sind, die sich das Leben so schwarz ausmalen, daß sie es sich unmöglich machen ... Oh, nicht als ob ich mich Täuschungen über die Lieblichkeit und Schönheit desselben hingäbe! Es war für mich zu hart, ich habe es zu sehr in der Nähe gesehen, überall und ganz frei. Das Leben ist abscheulich, wenn es nicht unwürdig ist. Aber was wollen Sie? ich liebe es. Warum? Ich weiß es nicht. Es mag Alles um mich her versinken, in Trümmer gehen: mich findet man am nächsten Tage auf den Ruinen heiter und vertrauensvoll. Ich habe oft gedacht, daß mein Fall im Kleinen derjenige der Menschheit ist, die allerdings in einem furchtbaren Elend lebt, die aber durch die Jugend jeder Generation neu gekräftigt und neu aufgerichtet wird. Nach jeder Krise, die mich zu Boden wirft, kommt gleichsam eine neue Jugend, ein Frühling, dessen Glücksverheißungen mich erwärmen und mir das Herz erheben. Das ist so sehr wahr, daß ich, wenn ich nach einem schweren Kummer die sonnenhelle Straße betrete, sogleich wieder zu lieben, zu hoffen, glücklich zu sein beginne. Und das Alter hat keine Macht über mich; ich bin so naiv zu altern, ohne es zu merken ... Sehen Sie: für eine Frau habe ich zu viel gelesen; ich weiß nicht mehr, wohin ich gehe; übrigens weiß es ja auch diese große Welt nicht. Aber – und dies ist unwillkürlich – mich dünkt, daß ich gehe und daß wir alle gehen nach einem Ziel, das überaus lieblich und heiter ist.

So schloß sie, wenngleich tief ergriffen, in scherzhaftem Tone, weil sie ihre Rührung und ihre Hoffnungsfreudigkeit verbergen wollte; während ihr Bruder, welcher aufgeblickt hatte, sie mit dankbarer Anbetung betrachtete.

– Oh, Du bist für die Katastrophen geschaffen, Du bist die Liebe zum Leben! erklärte er.

In diesen täglichen Vormittagsplaudereien hatte allmälig ein gewisses Fieber sich entwickelt; und wenn Madame Caroline zu diesem natürlichen Frohsinn zurückkehrte, welcher gleichsam in ihrer Gesundheit lag, so kam dies von dem Muthe, welchen Saccard mit seiner eifrigen Geschäfts-Thätigkeit ihnen einflößte. Es war nunmehr so gut wie beschlossen: man wollte die in der berühmten Mappe verwahrten Pläne ausbeuten. Bei dem hellen Klang seiner schneidigen Stimme belebte sich Alles, nahm Alles übertriebene Maße an. Zunächst nahm man das mittelländische Meer in Beschlag; man eroberte dasselbe durch die allgemeine Packetschifffahrts-Gesellschaft; Saccard zählte die Häfen aller Uferländer auf, wo man Stationen errichten wollte und er mengte in seine Begeisterung eines Agioteurs halbverwischte klassische Erinnerungen; er feierte dieses Meer, das einzige, welches die alte Welt gekannt, dieses blaue Meer, an welchem ringsum die Zivilisation geblüht hat, dessen Fluthen die alten Städte bespült haben: Athen, Rom, Tyrus, Alexandrien, Carthago, Marseille, alle jene, welche Europa ausmachten. Dann, nachdem man sich dieser mächtigen Straße des Orients versichert hatte, machte man in Syrien den Anfang mit einem kleinen Geschäfts-Unternehmen: mit der Gesellschaft zur Ausbeutung der Carmel-Silberminen, bei welchem im Vorübergehen nur einige Millionen zu gewinnen waren, welches aber ein vorzüglicher Anfang war; denn die Idee einer Silbermine, wo man das Silber in der Erde findet und nur aufzuschaufeln braucht, wurde vom Publikum stets leidenschaftlich aufgegriffen, besonders wenn man sich als Aushängschildes eines so wunderbaren und klangvollen Namens bedienen konnte, wie das Carmelgebirge war. Es gab dort auch Kohlenlager; die Kohle lag fast zutage und sie war gleich Gold zu schätzen, wenn das Land sich erst mit Fabriken bedeckte; die anderen kleinen Unternehmungen ungerechnet, welche gleichsam als Zwischenakte dienen sollten: Bankgründungen, Syndikate für blühende Industrieen, eine Ausbeute der großen Forste des Libanon, deren Riesenbäume an Ort und Stelle verfaulen, weil es an Straßen mangelt. Endlich kam er auf das Hauptgeschäft zu sprechen, auf die Gesellschaft der Orient-Eisenbahnen; und darüber verlor er sich in den wahnwitzigsten Plänen, denn dieses Netz von Schienenwegen, welches ganz Kleinasien von einem Ende bis zum andern umfangen sollte, war für ihn die große Spekulation, das Leben im Bannkreise des Geldes; mit einem Schlage ergriff er Besitz von dieser alten Welt wie von einer neuen, noch unberührten Beute von unberechenbarem Reichthum, welcher bisher unter der Unwissenheit und dem Schmutz der Jahrhunderte begraben gelegen. Er witterte diesen Schatz und wieherte auf wie ein Pferd bei dem Pulverdampf der Schlacht.

Madame Caroline, sonst mit einem sehr besonnenen, gesunden Verstande begabt und den allzukühnen Wahnvorstellungen abhold, ließ sich diesesmal von Saccard's Begeisterung fortreißen und merkte nicht die Uebertreibungen desselben. In Wahrheit schmeichelte diese Sache ihrer Vorliebe für den Orient, ihrer Sehnsucht nach jenem Wunderlande, wo sie so glücklich gewesen; und ohne Berechnung, einer logischen Rückwirkung folgend war sie es, deren farbenreiche Schilderungen und überschwängliche Berichte das Unternehmungsfieber Saccard's noch aufstachelten. Wenn sie von Beyrut sprach, wo sie drei Jahre gewohnt hatte, ward sie der Lobpreisungen nicht müde: Beyrut, am Fuße des Libanon, auf einer Landzunge erbaut zwischen einem Strande mit rothem Sand und wild zerklüfteten Felsen, Beyrut mit seinen amphitheatralisch gebauten Häusern inmitten großer Gärten, ein köstliches Paradies mit Palmen, Orangen- und Zitronenbäumen bepflanzt. Dann kamen alle anderen Küstenstädte an die Reihe; im Norden Antiochia, in so tiefem Verfall nach seinem einstigen Glanze, im Süden Saida, das einstige Sidon, Saint-Jean-d'Acre, Jaffa und Tyrus, jetzt Sur, welches alle anderen aufwiegt, Tyrus, dessen Kaufherren Könige waren, dessen Seefahrer Afrika umschifft haben und welches heute, mit seinem versandeten Hafen, nur mehr ein Trümmerfeld ist, ein Schutthaufen von Palästen, wo sich einige ärmliche Fischerhütten erheben. Sie hatte ihren Bruder überallhin begleitet, sie kannte Aleppo, Angora, Brussa, Smyrna, selbst Trapezunt; sie hatte einen Monat in Jerusalem gelebt, das inmitten der Verehrung der heiligen Orte schlummert, dann zwei Monate in Damaskus, der Königin des Orients, im Mittelpunkte seiner ungeheuren Ebene, in der handeltreibenden und gewerbfleißigen Stadt, welche die Karavanen von Mekka und Bagdad zu einem volkreichen Mittelpunkte machen. Sie kannte auch die Thäler und die Berge, die Dörfer der Maroniten und der Drusen, auf den Hochebenen erbaut, oder in den Schluchten verloren, die kultivirten und die unfruchtbaren Felder. Und aus den unbedeutendsten Winkeln, aus den stillen Wüsten wie aus den großen Städten hatte sie die nämliche Bewunderung für die unerschöpfliche, üppige Natur, den nämlichen Zorn gegen die blöden und schlechten Menschen mitgebracht. Welche Naturschätze waren da mißachtet oder vergeudet! Sie führte die Lasten an, welche Handel und Gewerbe erdrücken, jenes unsinnige Gesetz, welches verbietet, daß die Kapitalien über eine gewisse Ziffer hinaus dem Ackerbau zugewendet werden, die träge Zurückgebliebenheit, welche in den Händen des Ackersmannes denselben Pflug beläßt, dessen man sich schon in der vorchristlichen Zeit bedient hatte; die Unwissenheit, in welcher heute noch jene Millionen Menschen stecken, gleich blöden, in der Entwicklung zurückgebliebenen Kindern. Ehemals war die Küste zu klein, die Städte berührten einander fast; jetzt hat das Leben sich nach Westen gezogen; es ist, als durchschritte man einen verlassenen Kirchhof. Keine Schulen, keine Straßen, die allerschlechteste Regierung, eine käufliche Justiz, eine elende Verwaltung, erdrückende Steuern, unsinnige Gesetze, Trägheit, Fanatismus, um von den fortwährenden Erschütterungen der inneren Kriege zu schweigen, von den Metzeleien, welche ganze Dörfer entvölkern. Dann ward sie böse und fragte, ob es gestattet sei, so das Werk der Natur zu verderben, einen gesegneten Boden von köstlichem Reiz, wo alle Klimate zu finden waren, die glühenden Ebenen, gemäßigtes Hügelland, mit ewigem Schnee bedeckte Höhen. Und ihre Liebe zum Leben, ihre Hoffnungsfreudigkeit ließen sie schließlich sich begeistern bei dem Gedanken an den mächtigen Zauberschlag, durch welchen die Wissenschaft und die Spekulation diese alte, schlafende Erde erwecken konnten.

Jetzt nahm Saccard wieder das Wort.

– Betrachten Sie den Gebirgspaß im Carmel, rief er, den Sie da gezeichnet haben, und wo es nichts gibt als Steine und Pistazienstauden. Sobald wir die Silberadern in Ausbeutung nehmen, wird da zuerst ein Dorf, dann eine ganze Stadt entstehen. Und alle die versandeten Häfen werden wir reinigen und durch starke Steindämme schützen. Hochbordige Schiffe werden dort ankern, wo heute kaum Barken anzulegen wagen. Und Sie werden in jenen entvölkerten Ebenen, in jenen verlassenen Thälern, welche unsere Eisenbahnen durchziehen werden, eine Auferstehung sehen! Jawohl, Sie werden sehen, wie die Felder aufgebrochen, Straßen und Kanäle gebaut werden, neue Städte aus dem Erdboden entstehen, mit einem Worte: das Leben zurückkehren wird, wie in einen kranken Körper, wenn man in die versiegten Adern frisches Blut einführt ...! Ja, ja, das Geld wird Wunder thun.

Und gleichsam von dieser durchdringenden Stimme heraufbeschworen sah Madame Caroline wirklich die vorhergesagte Zivilisation sich erheben. Diese trockenen Skizzen, diese linearen Entwürfe belebten sich, bevölkerten sich; es war der Traum, den sie zuweilen geträumt hatte: der Orient, vom Schmutz gereinigt, aus seiner Unwissenheit gerissen, sich erfreuend an seinem herrlichen Himmel, an dem fruchtbaren Boden, mit allen Verfeinerungen, welche die Wissenschaft zu bieten vermag. Sie hatte dieses Wunder schon in Port-Said gesehen, welches in wenigen Jahren auf einem kahlen Strande entstanden; zuerst waren es einige Hütten für die Arbeiter der ersten Zeit, dann eine Stadt für zweitausend Seelen, eine Stadt für zehntausend Seelen, Häuser, riesige Magazine, ein ungeheurer Steindamm, Leben und Wohlstand, durch dieses Menschengewimmel mit großer Ausdauer geschaffen. Alldies sah sie abermals erstehen, ein unwiderstehliches Fortschreiten, ein Vorwärtsdringen der Gesellschaft nach dem größtmöglichen Maße von Glück, ein Bedürfniß thätig zu sein, vorwärts zu gehen, ohne genau zu wissen, wohin man geht, aber doch fortzuschreiten, froher und freier, unter günstigeren Bedingungen; ein Durchwühlen des Erdballs durch den Ameisenhaufen, der seinen Bau neu aufführt; und die ununterbrochene Arbeit, immer neuerworbene Genüsse, die verzehnfachte Macht des Menschen, der mit jedem Tage mehr von der Erde Besitz ergreift. Das Geld, unterstützt von der Wissenschaft, schuf den Fortschritt.

Hamelin, der lächelnd zuhörte, machte jetzt eine vernünftige Bemerkung.

– Alldies ist die Poesie der Erfolge, sagte er, und wir sind noch nicht einmal bei der Prosa des Anfangs.

Doch Saccard erhitzte sich nur durch die Übertreibung seiner Konzeptionen und die Sache ward noch schlimmer an dem Tage, an welchem er über den Orient nachzulesen begann und eine Geschichte der Expedition nach Egypten aufschlug. Schon die Erinnerung an die Kreuzzüge hielt ihn in ihrem Banne, diese Rückkehr des Westens nach dem Osten, zu seiner Wiege, diese große Bewegung, welche das äußerste Ende Europas nach seinem Ursprungslande zurückführte, das noch in voller Blüthe stand und wo es noch so vieles zu lernen gab. Noch mehr aber fesselte ihn die hohe Gestalt Napoleons, der von einem erhabenen und geheimnißvollen Zweck geleitet, seine Kriegerschaaren nach jenen fernen Himmelsstrichen führte. Wenn Napoleon davon sprach, Egypten erobern, dort eine französische Niederlassung einrichten und so für Frankreich den levantinischen Handel sichern zu wollen, so sagte er gewiß nicht Alles. Saccard wollte in der unaufgeklärt und räthselhaft gebliebenen Seite des Feldzuges irgend einen Plan von riesigem Ehrgeiz erblicken, die Wiederaufrichtung eines ungeheuren Kaiserthums, die Krönung Napoleons in Konstantinopel zum Kaiser des Morgenlandes und beider Indien, welcher so den Traum Alexanders des Großen verwirklichte und größer ward als Caesar und als Karl der Große. Sagte Napoleon nicht zu Sankt-Helena, von Sidney sprechend, dem englischen General, der ihn vor Saint-Jean d'Acre aufgehalten: »Dieser Mann hat mich um mein Glück gebracht!« Und was die Kreuzzüge versucht hatten, was Napoleon nicht hatte vollbringen können, die riesige Idee der Eroberung des Orients, sie entstammte Saccard, aber eine vernünftige Eroberung, durch die zweifache Macht der Wissenschaft und des Geldes vollbracht. Nachdem die Zivilisation von Osten nach Westen gezogen, warum sollte sie nicht wieder nach Osten zurückkehren, zum ersten Garten der Menschheit, zu diesem Eden der hindostanischen Halbinsel, welches in der Erschlaffung der Jahrhunderte schlummerte? Es sollte eine neue Jugend erstehen. Er galvanisirte das irdische Paradies, machte es durch Dampf und Elektrizität von Neuem bewohnbar, machte Kleinasien wieder zum Mittelpunkte der alten Welt, zum Kreuzungspunkte der großen, natürlichen Straßenzüge, welche die Festländer verbinden. Nicht Millionen waren da zu gewinnen, sondern Milliarden und Milliarden.

Fortan hatten er und Hamelin jeden Morgen lange Besprechungen. War die Hoffnung groß, so waren auch die Schwierigkeiten riesig und sehr zahlreich. Der Ingenieur, der eben im Jahre 1862 in Beyrut gewesen, während des furchtbaren Blutbades, welches die Drusen unter den maronitischen Christen angerichtet und welches die Einmischung Frankreichs nöthig gemacht hatte, machte kein Hehl aus den Hindernissen, welchen man unter diesen einander fortwährend bekriegenden, der Willkür der Lokalbehörden ausgelieferten Völkerschaften begegnen würde. Allein er hatte in Konstantinopel mächtige Verbindungen, er hatte sich der Unterstützung des Großvezirs Fuad Pascha versichert, eines sehr verdienten Mannes und ausgesprochenen Anhängers der Reformen; und er schmeichelte sich, von ihm alle nothwendigen Konzessionen zu erlangen. Obgleich er den unvermeidlichen Bankerott des ottomanischen Reiches voraussagte, erblickte er anderseits einen günstigen Umstand in diesem schrankenlosen Bedürfnis; nach Geld, in diesen von Jahr zu Jahr sich wiederholenden Anleihen. Eine in Geldverlegenheiten sich befindliche Regierung, wenn sie auch keine persönliche Garantie bietet, ist bereit sich mit privaten Unternehmungen zu verständigen, wenn sie den mindesten Vortheil dabei findet. Und war dies nicht eine praktische Art, die ewige und lästige Orientfrage zu lösen, indem man das türkische Reich bei den großen zivilisatorischen Arbeiten interessirte, indem man es zum Fortschritt lenkte, damit es nicht länger ein ungeheurer Stein des Anstoßes zwischen Europa und Asien sei? Welche schöne, patriotische Rolle würden die französischen Unternehmer-Gesellschaften spielen!

Dann, eines Morgens, sprach Hamelin: in aller Ruhe von dem geheimen Programm, auf welches er zuweilen Anspielungen machte, indem er es die Krönung des Gebäudes nannte.

– Dann, wenn wir die Herren sind, werden wir das palästinensische Königreich wieder aufrichten und den Papst dahin setzen ... Anfänglich wird man sich mit Palästina und mit dem Seehafen Jaffa begnügen. Dann wird man Syrien für unabhängig erklären und dazu schlagen... Sie wissen, die Zeit ist nicht fern, wo das Papstthum nicht länger in Rom wird bleiben können, den empörenden Demüthigungen ausgesetzt, die man ihm dort bereiten will. Für jenen Tag müssen wir uns bereit halten.

Saccard hörte ihm verblüfft zu, wie er ganz einfach, als gläubiger Katholik diese Dinge vorbrachte. Er selbst war ein Mann, der vor Entwürfen von überschwänglicher Einbildungskraft nicht zurückwich, aber niemals wäre er so weit gegangen. Dieser anscheinend so kühle Gelehrte setzte ihn in Erstaunen.

– Das ist Wahnsinn! rief er. Die Pforte wird Jerusalem nicht ausliefern.

– Ach, warum nicht? antwortete Hamelin ganz ruhig. Sie ist so geldbedürftig! Jerusalem bereitet ihr nur Verlegenheiten; sie wirb froh sein, es los zu werden. Zwischen den verschiedenen Glaubensgenossenschaften, die sich ewig um die heiligen Orte streiten, weiß sie oft nicht, auf wessen Seite sie sich stellen soll. Der Papst wird in Syrien eine wirksame Stütze bei den Maroniten finden; Sie wissen ja, daß er in Rom ein Kollegium für ihre Priester errichtet hat ... Ich habe die Sache wohl erwogen, habe Alles vorausgesehen; es wird eine neue Aera sein, die Sieges-Aera des Katholizismus. Man wird vielleicht sagen, dies hieße zu weit gehen und der Papst wäre dort den europäischen Angelegenheiten entrückt. Aber in welchem Glanze, in welcher Autorität wird er erstrahlen, wenn er an den heiligen Orten thronen, im Namen Christi sprechen wird, von dem heiligen Boden, wo Christus selbst gesprochen hat! Dort ist sein Erbe, dort muß sein Königreich sein! Und seien Sie beruhigt: wir werden dieses Königreich mächtig und fest gestalten, indem wir sein Budget – mit der Garantie der Hilfsquellen des Landes – auf einer großen Bank begründen, um deren Aktien die Katholiken der ganzen Welt sich streiten werden.

Saccard, der bei der Ungeheuerlichkeit dieses Projektes lächelte, aber keineswegs überzeugt war, konnte sich nicht enthalten, dieser Bank einen Namen zu geben, wobei er einen Freudenruf ausstieß, als hätte er eine werthvolle Entdeckung gemacht.

Der Schatz vom heiligen Grabe! Ist das nicht herrlich? Der Name allein ist schon eine Bürgschaft des Geschäftes.

Doch er begegnete dem besonnenen Blick der Madame Caroline, die ebenfalls skeptisch lächelte, sogar ein wenig gekränkt schien. Er schämte sich seiner Begeisterung.

– Immerhin, mein lieber Hamelin, werden wir wohl thun, diese Krönung des Gebäudes, wie Sie es nennen, geheim zu halten. Man würde sich über uns lustig machen. Auch ist ja unser Programm ohnehin schon reichhaltig genug und es wird sich empfehlen, die letzten Konsequenzen, den ruhmvollen Schluß für die Eingeweihten allein vorzubehalten.

– Ohne Zweifel, dies war stets meine Absicht, erklärte der Ingenieur. Die Sache bleibt ein Geheimniß.

Und damit wurde noch an demselben Tage die Ausbeutung der Mappe, die Inangriffnahme der ganzen riesigen Serie von Projekten endgiltig beschlossen. Der Anfang sollte mit der Gründung eines bescheidenen Bankhauses gemacht werden, um die ersten Geschäfts-Unternehmungen in Gang zu setzen; dann würde man, auf die ersten Erfolge gestützt, allmälig Herr des Marktes werden, die Welt erobern.

Als Saccard am folgenden Tage zur Fürstin Orviedo hinaufging, um eine Weisung in Betreff der Arbeits-Stiftung entgegenzunehmen, erinnerte er sich des Traumes, den er einen Augenblick gehabt, der Prinz-Gemahl dieser Königin des Almosens zu werden, der Vertheiler und Verwalter des Vermögens der Armen. Und er lächelte, denn er fand dies jetzt ziemlich albern. Er war von dem Zeug, um zu leben und Leben zu schaffen, nicht aber um die Wunden zu verbinden, welche das Leben geschlagen. Endlich wird er sich wieder auf dem Werkplatze sehen, im Kampfgewühle der Interessen, in jenem Wettlauf nach dem Glücke, welcher ja nichts Anderes war, als der Weg der Menschheit selbst, von Jahrhundert zu Jahrhundert, nach mehr Freude und mehr Licht.

An dem nämlichen Tage fand er Madame Caroline allein in dem Kabinet der Planskizzen. Sie stand an einem der Fenster, festgehalten durch das Erscheinen der Gräfin Beauvilliers und ihrer Tochter im Nachbargarten, zu einer ungewohnten Stunde. Die beiden Frauen lasen mit tief bekümmerter Miene einen Brief, ohne Zweifel einen Brief des Sohnes Ferdinand, dessen Lage in Rom keine glänzende sein mochte.

– Schauen Sie, sagte Madame Caroline, als sie Saccard erkannte; diese Unglücklichen haben wieder einen Kummer. Die Bettlerinnen der Straße dauern mich weniger.

– Bah! rief er heiter, Sie werden sie bitten, daß sie zu mir kommen. Wir werden auch diese bereichern, wir alle Welt glücklich machen werden.

Und in einer plötzlichen Aufwallung suchte er ihre Lippen, um sie zu küssen. Allein, sie hatte mit einer raschen Bewegung den Kopf abgewendet, tief ernst und in einem unwillkürlichen Unbehagen erbleichend.

– Nein, ich bitte Sie!

Zum ersten Male wollte er sie wieder ergreifen, seitdem sie in einem Augenblicke völligen Selbstvergessens sich ihm hingegeben. Nachdem die ersten Geschäfte geregelt waren, dachte er an sein Liebesabenteuer und wollte auch nach dieser Seite hin die Situation ordnen. Diese lebhafte Bewegung des Zurückweichens setzte ihn in Erstaunen.

– Wirklich wahr? Es würde Ihnen leid thun?

– Sehr leid.

Doch sie beruhigte sich und fügte lächelnd hinzu: – Gestehen Sie übrigens, daß auch Sie keinen großen Werth darauf legen?

– Oh, ich bete Sie an!

– Nein, sagen Sie das nicht; Sie werden in Bälde zu viel beschäftigt sein. Und dann: ich versichere Ihnen, daß ich zu wahrer Freundschaft für Sie bereit bin, wenn Sie der thätige Mann sind, für den ich Sie halte und wenn Sie alle die großen Dinge auch vollführen, welche Sie Vollführen wollen ... Hören Sie mal: die Freundschaft taugt doch mehr.

Er hörte ihr lächelnd zu, aber zugleich verlegen und niedergeschlagen. Sie wies ihn zurück; es war lächerlich, sie nur einmal, durch Ueberrumpelung besessen zu haben. Doch nur seine Eitelkeit litt darunter.

– Also blos Freunde?

– Ja, ich werde Ihre Kameradin sein, ich werde Ihnen beistehen ... Freunde, gute Freunde!

Sie reichte ihm die Wangen und überwunden drückte er zwei kräftige Küsse ans dieselben. Er fand, daß sie Recht habe.


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