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Es ist ein großer Unterschied, ob man den Staat als eine Vereinigung von Menschen ansieht, wie es Jellinek tut, wenn er in seiner »Allgemeinen Staatslehre« sagt, der Staat sei eine »auf einem abgegrenzten Gebiete der Erdoberfläche seßhafte, mit einer herrschenden Gewalt versehene und durch sie zu einer Einheit zusammengefaßte Vielheit von Menschen«, oder ob man in ihm einen »anstaltsmäßigen Herrschaftsverband, der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren, mit Erfolg getrachtet hat«, sieht, wie es Max Weber tut (cit. bei Meinecke: »Staat und Persönlichkeit«, S. 161).
Hegel wieder meint, der Staat sei dazu da, um ein sittliches Prinzip zu verwirklichen.
Was ist der Staat?
Sein hervorragendstes Kennzeichen ist Macht. Ohne organisierte Macht gibt es keinen Staat. Wenn Macht innerhalb eines gewissen Gebietes monopolisiert zu werden vermag, und zwar so, daß ihre Ausübung auf eine kontinuierliche Herrschaft hinausläuft, haben wir es mit einem Staat zu tun.
Der Staat ist organisierte Macht, nicht einfach eine Vielheit von Menschen.
Zu welchem Zweck die organisierte Macht, d. h. die Staatsmaschine verwendet wird, ist eine andere Frage. Sie kann dazu verwendet werden, um ein sittliches Ideal zu verwirklichen, sie kann aber auch dazu verwendet werden, um höchst widersittliche Ideen zu verwirklichen. Das ändert nichts am Prinzip des Staates.
Daß jederzeit das »salus publica – suprema lex« als sittliche Rechtfertigung der verschiedenen Funktionen einer Staatsmaschine angesehen werden muß, gibt noch keine Auskunft darüber, was die Inhaber der Macht als »salus publica« deklarieren. Es wäre falsch zu glauben, daß nur ein »gerechter« Staat ein Staat sei.
Der Staat ist jedenfalls keine Vereinigung von Menschen an sich. Er besteht – wohlverstanden, unter der Schirmherrschaft der Macht – aus Institution, Territorium und Menschen.
Die Menschen innerhalb des Staates sind entweder Beherrschte schlechthin oder Mitherrschende. Wenn es schlechthin Beherrschte sind, spielen sie keine Rolle; ihre Beziehungen zur Machtmaschine werden durch die Methode der Unterdrückung geregelt.
Oder sie sind Mitherrscher: entweder partiell mitherrschend (eine Elite) oder total mitherrschend (unmittelbare Demokratie). In der weiten Skala zwischen der mittelbaren Mitherrschaft bis zur totalen unmittelbaren Herrschaft durch das Volk, liegen die verschiedenen Schattierungen der Demokratie. Der Wille der numerischen Mehrheit gibt selten den Ausschlag. Die Macht liegt im Raum der Vermittlung, das Maßgebende ist meist die Meinungsmajorität der Vermittler. Beispiel: die französische Nation. Hier sieht man schon die große Differenz zwischen Staat und Nation.
Der Staat ist vor allem Macht, ein Herrschaftsverband, eine Maschine.
Die Nation übt nicht die Herrschaft aus: Die Nation ist institutionell fast nicht entwickelt, weil sie bisher entweder von der Religion oder vom Staat verwaltet wurde. Eine Nation kommt weder durch Macht zustande, noch kann sie durch Macht total vernichtet werden.
Die Lebensdauer einer Nation ist ungeheuer größer als die des Staates.
Der Staat ist kurzlebig. Die Geschichte der Staatsformen ist nicht viel mehr als die Kostümgeschichte der Nationen.
Die Nation ist eine Wesensgemeinschaft – der Staat eine Willensgemeinschaft.
Der Staat erfaßt den Menschen in seiner Eigenschaft als »zoon politikon«, die Nation erfaßt ihn als »Wesen«.
Da die wichtigste Eigenschaft des Staates die Ausübung der Macht ist, so fällt ihm die Funktion des Rechtswahrers zu. Recht und Staat sind gleichzusetzen.
Wir haben lange in der Vorstellung gelebt, daß der Staat die höchste und wichtigste Organisationsform der Menschen sei. Selbst in Zeiten, in denen wir die Grenzen der Wirksamkeit des Staates – wie im Zeitalter des Liberalismus – auf das Kleinste und Engste beschränkten, ist immer mehr Vorstellungsgut in den Staat hineingepreßt worden.
Wir haben gesehen, daß die Begriffe Kultur, Religion, Sprache, Wirtschaft und Staat, Werte von einander völlig verschiedener Ordnung sind. Und es wurde im Zeitalter der »Staatsnation« immer wieder der Versuch unternommen, diese voneinander so völlig verschiedenen Begriffe gewaltsam unter ein gemeinsames Dach, den Staat, zu bringen.
Das Haus ist größer als das Klavier, das Klavier seinerseits größer als der Radioapparat, der wieder größer als die Schreibmaschine. Haus, Klavier, Radioapparat und Schreibmaschine sind untereinander natürlich ihrem Wesen nach völlig verschiedenartig. Die Differenz der räumlichen Größe hat nicht viel zu sagen. Wenn wir trotzdem immer wieder Kultur – Sprache – Nation – Staat nebeneinanderstellen, so geschieht das nur deshalb, weil sich im Denken unserer Zeit ein Fehler eingeschlichen hat, grundverschiedene Begriffe durcheinanderzuwerfen und eine Vielheit sozialer Bindungen und geistiger Phänomene gleichzuschalten. Wenn es uns – auch mit diesem paradoxen Mittel – gelingt, eine Bresche in das Dickicht dieser Unordnung zu schlagen, so ist damit etwas erreicht. Das, was wir anstreben, ist die Wiedergewinnung einer vernünftigen Rangordnung der Werte.
Der Staat ist, wenn er sich auf die ihm zustehenden Funktionen beschränkt, für die Nation ein Besitz, der ihr nützt: Ein nützliches Instrument. Aber er ist, wenn er in Gebiete hinübergreift, die über seine eigentliche Machtsphäre hinausreichen, ein Pfeil im lebendigen Fleisch der Nation.
Die Macht liegt beim Staat. Und durch Anwendung von Macht können bedeutende Vorzugswerte geschaffen werden. Der Staat ist ebensowenig wie die Macht an sich – böse. Es gibt gute und böse Mächte. Es gibt auch gute und böse Staaten.
Um den Machtausfluß des Staates auf positive Leistungen zu beschränken, hat man die Gebiete seiner Wirksamkeit zu begrenzen. Der totale Staat nimmt den ganzen Menschen: Nation ist Staat; es gibt nichts außerhalb des Staates.
Der nichttotale Staat läßt die Nation außerhalb seiner Wirksamkeit. Er läßt auch dem einzelnen auf Gebieten, die nicht seiner Wirksamkeit unterstehen, Freiheit. Der einzelne bewegt sich hier im Rahmen seiner Eigenschaft als Katholik auf der ganzen Welt im Rahmen der katholischen Kirche; er bewegt sich in seiner Eigenschaft als Angehöriger einer Nation, im Rahmen einer Kulturnation, und erst in seiner Eigenschaft als Staatsangehöriger bewegt er sich im Rahmen des Staates.
Das Verhältnis Nation und Staat steht hier dem Verhältnis Geist und Macht gegenüber.
Der Staat hätte so an die Nation alles abzugeben, was auf die Beteiligung des einzelnen an der Kultur Bezug hat. Die Rolle des einzelnen als Staatsbürger begrenzt sich so auf seine Eigenschaft als Mitinhaber der Staatsmacht oder als Beherrschten, als Teilhaber an einer Kultur aber ist er ein Zugehöriger einer Nation.
Wir haben versucht, das Verhältnis zwischen Nation und Staat klarzulegen, und wir haben darauf hingewiesen, daß das Verhältnis, das der einzelne dem Staat gegenüber bezieht, von dem verschieden ist, was ihn an die Nation bindet.
Staatsgrenzen und Grenzen einer Nation sind niemals dasselbe, schon deshalb, weil es sich um zwei verschiedene Phänomene handelt. Der Staat ist niemals Ausdrucksform einer Nation, ebensowenig wie er Ausdrucksform einer Religion sein könnte. Die augustinische »Civitas Dei« ist ein Überstaat – kein Staat. Sie ist ein Reich. Der Name Reich bedeutet im Deutschen nicht einfach den deutschen Staat und ist nicht einfach mit dem Begriff des jeweiligen deutschen Staates gleichzusetzen. Staat und Reich, Deutschland und Reich sind zwei verschiedene Begriffe. Das alte Österreich war ein Reich. Das British Empire ist ein Reich, Frankreich ist ein Reich und Rußland ist ein Reich. Die Türkei war ein Reich, aber Serbien, Bulgarien, Norwegen, -Dänemark, Ungarn sind nicht Reiche. Sie waren es auch niemals. Griechenland, die italienischen Stadtstaaten waren niemals Reiche. Aber Rom und China und Japan.
Das deutsche Wort »Reich« bedeutet einen Überstaat, ursprünglich die machtvolle Repräsentanz einer Idee, deren Wirkungskreis über den Staat hinausgeht, ja auch über eine Nation hinausgeht. Das erste Deutsche Reich führte den Namen »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation«.
Ein Reich ist ein staatliches Gebilde, dessen oberstes Prinzip nicht in der Ideologie des Nationalismus gefangen ist. Der Begriff »Reich« steht im Gegensatz zum Begriff des Nationalstaates.
In einer Welt des nationalen Einheitsstaates, in dem ethnische und sprachliche Grenzen auch die Rolle von staatlichen, wirtschaftlichen oder strategischen Grenzen spielen sollen, gäbe es für die kleinen Völker bestenfalls kurzlebige Kompromisse, nicht aber echte Lebensmöglichkeiten.
Eine Befriedung des europäischen Baumes muß von der Trennung des staatlichen Bereiches vom kulturell-nationalen ausgehen. Eine solche Trennung führt zur Begründung autonomer Kulturnationen, deren freie Entwicklung international garantiert werden muß.
Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates festzulegen und zu beschränken, kann nur von einem höheren, stärkeren Machtzentrum ausgehen. Die Schaffung eines solchen Machtzentrums sollte zu den Zielen des künftigen Friedens gehören.