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Ein Wort ist wie ein Geldstück.
Mit einer bestimmten Münze kaufen verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten Waren des gleichen oder eines sehr ähnlichen Wertes.
Mit einem Wort bezeichnen verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten die gleiche oder eine sehr ähnliche Sache. Jedes Geldstück ist im Verlauf seiner Geschichte verschiedenen Wertveränderungen unterworfen: Man erhält plötzlich für dieselbe Münze mehr oder weniger an Gegenwert.
Genauso verändert sich der Wert eines Wortes: Es kann einmal mehr, einmal weniger bezeichnen: einen umfassenderen oder einen eingeschränkteren Begriff.
Und wie für das Geldstück, so kommt auch für das Wort der Tag, an dem es »eingezogen« wird. Wie eine Münze wertlos werden kann, so kann ein Wort sinnlos werden, nichtssagend.
Wir wissen, daß die Wertveränderungen einer Münze die Folge von Ereignissen und Umstellungen sind, die sich im Wirtschaftsleben der Menschen, die damit zahlen, abspielen.
Und wir wissen, daß die Einführung einer neuen Währung die Folge sehr großer allgemeiner Umwälzungen und Veränderungen im Leben derer, die damit zahlen, ist.
Auch die Wertveränderung eines Wortes ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß sich im Leben und in den Auffassungen der Menschen, die dieses Wort gebrauchen, manches verändert hat. Wird ein Wort vollends nichtssagend, so ist das die Folge von Umwälzungen außergewöhnlicher Dimension, die sich im Leben der Menschen, zu deren Umgangssprache es zählte, vollzogen haben.
Das politische Kleingeld des XIX. und XX. Jahrhunderts steht heute vor einer Generalumwertung.
Zur Zeit weiß niemand, was die Münze »Nation« wert ist. Es gibt Erdteile, auf denen man mit ihr Imperien aufrichten, und es gibt Länder, in denen man mit ihr sein nacktes Leben nicht fristen kann.
Seit wann gibt es Nationen? Was war – was ist eine Nation? Es ist notwendig, einen Blick auf die Geschichte des Wortes zu tun, bevor man die Spannweite seines gegenwärtigen Sinnes bestimmen kann.
Das lateinische Wort »natio« hat den gleichen Stamm wie das Wort »natura«. Beide haben ihren Ursprung im Worte »nascior«, ich werde geboren, dessen Perfektform natus sum heißt, ich bin geboren worden. Eine »natio« war demnach bei den Römern etwas »Geborenes«. Bei Cicero finden wir deshalb auch die »natio« als die Göttin der Geburt personifiziert »Natio quoquae dea putanda est, quia pactus matronarum tucatur a nascentibus, Natio nominata est.« (De Natura Deorum, III, 18, 47.).
Im allgemeinen Sprachgebrauch verstand man unter einer »natio« eine Gruppe von Menschen, die durch ähnliche Umstände ihrer Geburt irgendwie zusammengehörten. Diese Ähnlichkeit der Umstände sah man meist darin, daß die Angehörigen einer »natio« in der gleichen Stadt oder auf demselben Landstrich geboren worden waren. Die Zahl dieser Gruppe war beschränkt. Sie war größer als eine Familie (eine Familie wurde niemals als »natio« bezeichnet), jedoch kleiner als ein Stamm (stirps) und kleiner als ein Volk (gens). Die Römer bezeichneten sich selbst niemals als eine »natio«. Es gab ein »populus romanus«, die Symbole zeigten die Lettern SPQR – senatus populusque Romanus –, aber es gab niemals eine »natio Romanorum«.
Die Natio war eine Geburtsgemeinschaft Fremder. Cicero spricht einmal (De Or. 2, 4, 18) von den Juden und den Syrern als »nationes natae servituti«, also von Leuten, die zu Untergebenen geboren seien. Aus dem vorher Gesagten und dieser Anwendung ergibt sich ganz deutlich, daß dem ursprünglichen Wortsinn etwas leicht Abschätziges innewohnte. Eine Natio war eine Zahl fremder Menschen, die durch ähnliche Herkunft miteinander verbunden war. Aber es war keine vornehme Herkunft. Es waren Leute, die irgendwie außerhalb, wenn nicht sogar unterhalb des römischen Gesellschaftsniveaus standen. Fremde.
In den Großstädten des römischen Imperiums, in seinen geschäftigen Hafenplätzen und Kolonialniederlassungen gab es, genauso wie in unseren modernen Großstädten, Viertel, in denen sich Leute fremder Herkunft zusammenfanden, um ihre eigene Sprache reden und althergebrachte Gewohnheiten pflegen zu können. Die Fremden, die in solchen Vierteln wohnten, nannte man nationes.
Die Gewohnheit, im Angehörigen einer Nation einen Fremden zu sehen, spiegelt sich sehr deutlich in dem abschätzigen und leicht spöttischen Sinn, den das Wort annahm.
In allen Ländern – und wahrscheinlich zu allen Zeiten – übt der Fremde nicht so sehr einen exotischen Reiz aus als einen komischen. Der Fremde, der die Sprache des Landes nicht versteht oder linkisch gebraucht, sich ein wenig anders kleidet, als es die Sitte ist, andere Dinge ißt und trinkt als die Einheimischen und vielleicht auch sonst ein Gebaren an den Tag legt, das von der allgemeinen Sitte absticht, ist komisch. Die Repräsentanten der Fremdenkolonien, der noch nicht Akklimatisierten und noch nicht Assimilierten, bilden einen bewährten Stock unter Lustspielfiguren aller Länder und aller Zeiten. Wenn der radebrechende Fremde auf die Bühne tritt, schüttelt sich jedes Publikum der Welt vor Lachen. Der Fremde ist ein sicherer Lacherfolg.
Der Angehörige einer »natio« war immer ein wenig komisch. Im alten Rom nannte man Gemeinschaften von Menschen, die man ein wenig verspotten wollte, »nationes«. Man sprach von einer »candidatorum natio«, von einer »natio Epicuraerum«, und Cicero bezeichnet sogar die Partei der Optimaten einmal als »natio«, womit er ihr sicher keine Ehre antun wollte.
Im Italienischen tauchte dieser Sinn übrigens später wieder auf: Machiavelli spricht in seiner »Storia fiorentina« (Lib. II) einmal von der ghibellinischen Partei als einer »Nation«: »Perchè era di nazione ghibellina«. Bei Dante (Par. XIX. 138) finden wir das Wort (nazione) als Bezeichnung für Menschen, die aus derselben Provinz oder Stadt stammen (Dr. G. A. Scartazzini »Enciclopedia Dantesca«, Milano, 1898).
Neben dieser Hauptbedeutung des Wortes gibt es manche andere. Man hat in den verschiedenen Sprachen die verschiedensten Dinge als »Nation« bezeichnet. Bei Edmund Spenser sind Tiergattungen eine Nation In »The Fairy Queen« spricht er einmal von einer »nation of birth«.. Auch auf ganze Berufsstände, mit denen man ein Hühnchen zu rupfen hat, findet das Wort Nation ab und zu Anwendung. Montesquieu nannte die Mönche z. B. eine »nation paresseuse«, und Boileau, der Dichter: »Connais-tu la nation dévote?« Darin treffen sich die beiden Franzosen mit Ben Johnson, der die Ärzte einmal eine Nation sein läßt (Sejanus, i, 2), wenn er sagt: »You are a subtle nation, you physicians!« Samuel Butler hat es mit den Advokaten, wenn er ausruft (Hudribas III, iii, 483): »But lawyers are too wise a nation to expose their trade to disputation.« Goethe schließlich überträgt den kleinen Nebensinn des Wortes auf das weibliche Geschlecht: »Wir Mädchen sind doch eine wunderliche Nation Zitate aus der englischen Literatur nach Carlton H. Hayes: »Essays on Nationalism«, New York 1926..«
Von den Fremdenkolonien der römischen Welt fand das Wort »natio« zu den mittelalterlichen Universitätsstädten. Man weiß, daß sich in den relativ kleinen Städten, die im frühen Mittelalter höhere Bildungsstätten beherbergten, Studenten aus vielen Ländern versammelten, um die seltene Nahrung höheren Wissens in sich aufzunehmen. Auf dem fremden Boden der Universitätsstädte waren die Studenten ebenso Fremde wie einst die Zuwanderer in den alten römischen Bevölkerungszentren. Sie hatten genauso wie ihre antiken Vorläufer das Bedürfnis nach Zusammenschluß, Aussprache im heimatlichen Dialekt, Genuß heimatlicher Gerichte und nach Aufrechterhaltung der heimatlichen Gewohnheiten.
Um diesen sehr verständlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, bildeten sie eigene Verbände, Landsmannschaften, und bezeichneten sie mit demjenigen Namen, der von altersher für derartige Gemeinschaften üblich war. Sie nannten sie »nationes«.
Die »nationes« der mittelalterlichen Studenten hatten naturgemäß auch den Charakter von ständischen Interessenvertretungen. Wer Mitglied einer »Nation« war, konnte damit rechnen, daß ihn die erfahrene Mitbrüderschaft in Berufsfragen beriet, und er konnte sicher sein, daß die »Nation«, der er angehörte, seine Interessen der Universität gegenüber vertrat. In dieser Hinsicht waren die Universitätsnationen nebenher auch Zünfte, eine Vorform unserer heutigen wirtschaftlichen Stände und Berufsverbände.
Seit dem 12. Jahrhundert erlangten Universitätsnationen (zuerst in Bologna und dann auch anderswo) eine Bedeutung, die weit über den landsmannschaftlichen Charakter dieser Verbindungen hinausreichte. Innerhalb der Studentenverbände bildeten sich als Folge der Diskussion, die man pflegte, auch gewisse gemeinsame Meinungen heraus, die sich oft aus den Anschauungen ableiteten, die in der gemeinsamen Heimat gang und gäbe waren, oder aus dem Vergleich solcher Anschauungen mit der Lehre beliebter oder verhaßter Professoren. Die Mitglieder der einzelnen Nationen standen für die Meinungen ihrer Körperschaft auch ein. Damit war die Nation über die Bedeutung einer Gemeinschaft der Herkunft hinausgewachsen. Das Wort bezeichnete nunmehr mehr: Es bezeichnete eine Herkunftsgemeinschaft, einen Zweckverband und eine Gemeinschaft von Meinungen. Die erste äußere Wertveränderung der »Münze« Nation war vollzogen.
Es ist ganz falsch, wenn Gelehrte, die dem modernen Begriff Nation eine möglichst lange Geschichte geben wollen, schon in den Universitätsnationen den Keim für den modernen Nationalismus des XIX. und XX. Jahrhunderts sehen wollen: Man muß wissen, daß die mittelalterliche Universität eine Einrichtung der Kirche war. Sie war der Ausdruck einer geistigen Einheit in einer Dimension, wie sie unser Kulturkreis seither nie mehr erlebt hat: der Ausdruck des römischen Universalismus.
Die »Christenheit«, der »Corpus Christianorum«, war nicht aus Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften zusammengesetzt oder aus Untertanen verschiedener Kaiserreiche und Königtümer. Sie bestand ausschließlich aus Christen, d. h. aus Menschen, die als Individuen demselben Glauben anhingen und dieselbe Verantwortlichkeit für ihre Seele dem Allmächtigen gegenüber trugen. Die gemeinsame Sprache, in der die Gesamtheit des Kulturgutes aufbewahrt war und durch die dieses gemeinsame Kulturgut vermittelt wurde, die Einheitssprache aller Kulturträger war die lateinische Sprache. Und es gab nur ein Kulturgut: das Christliche. Selbst die Kulturwerte der Antike, die Philosophie des Aristoteles z. B. und die klassischen Lehren des alten Rom wurden (zum Teil schon vor dem Auftreten des hl. Thomas von Aquin, nach ihm aber ausschließlich) in einer unlösbaren Einheit mit der christlichen Offenbarung vermittelt. Im Sinne der Lehren des hl. Augustinus vom »Gottesstaat auf Erden« lebte das Papsttum der Aufgabe, durch den »römischen Frieden«, die »pax romana«, die Einheit und den Zusammenhalt der Christenheit zu gewährleisten. Das Christentum jener Zeit konnte daher den Begriff der Nation im modernen Sinn oder den Begriff des Nationalismus überhaupt nicht kennen.
Die vier Nationen der Pariser Universität: »l'honorable nation de France«, »la fidèle nation de Picardie«, »la vénérable nation de Normandie« und »la constante nation de Germanie«, wie ihre offiziellen Titel lauteten, waren gar nicht, wie ihre Namen sagen könnten, aus Franzosen, Picarden, Normannen und Deutschen zusammengesetzt. Die »nation de France« umfaßte alle Studenten romanischer Zunge, einschließlich der Italiener und Spanier. Sie war eine innerkatholische »Union Latine«. Die picardische Nation war für die Niederländer bestimmt, die normannische für Leute aus dem Nordosten, die germanische für Studenten aus England und Deutschland. Eine geistige Einheit innerhalb dieser Länder, die neben oder außerhalb des Christentums hätte bestehen können, gab es damals nicht. Es konnte keine geben, weil es keine wesentlichen Nationalkulturen gab. Fragen der ethnischen Herkunft oder andere Probleme, die mit dem Phänomen des modernen Nationalismus hätten verwandt sein können, existierten nicht. Die deutsche Sprachgemeinschaft war z. B. zerteilt in Bayern, Österreicher, Sachsen, Schwaben usw.
Zu alldem ist es wichtig, festzustellen, daß die »Nation« immer nur in der Fremde existierte. Es wäre keinem Studenten eingefallen, nach seiner Rückkehr aus der Universitätsstadt auch noch daheim Nation spielen zu wollen. Das wäre völlig sinnlos gewesen.
Die große Einheit des römischen Universalismus, in der ein »Nationalismus« im modernen Sinn überhaupt nicht verstanden worden wäre, kam insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß alle Differenzen und Streitfälle, die zwischen den »Nationen« ausgetragen wurden, rein religiöser und scholastischer Natur waren. Auch jener berühmte Streitfall an der Prager Universität, der zur Abwanderung der nichtböhmischen Nationen und der Begründung der Universität in Leipzig führte (1409). Es handelte sich nicht, wie man es viele Jahrhunderte später aus »nationalen« Gründen gerne gesehen hätte, um eine deutsch-tschechische Auseinandersetzung, sondern um einen innerkirchlichen Streit. Der Fall Huß war keine tschechisch-nationale Sache. Genauso wenig wie der Fall Luther eine deutsch-nationale Sache war oder der Fall Calvin eine französisch-nationale oder der Fall Zwingli eine national-schweizerische. Es gab damals noch keine national-tschechischen, national-deutschen, national-französischen Angelegenheiten, um die man hätte streiten können: sprachlich nicht – denn die Bildungssprache war lateinisch – und nicht ethnische, denn die Leute waren Christen und nichts anderes.
Die einheitliche christliche Atmosphäre war natürlich nicht frei von gewaltigen Störungen. Eine Reihe von Ereignissen, wie das große Schisma, die verschiedentlichen Reformationsbewegungen und Religionskriege, verdüsterten und beengten durch Jahrhunderte die Weite des universalistischen Horizonts.
Nach dem Tode Gregor XI., der wie drei seiner Vorgänger, Clemens VI., Innocenz VI. und Urban V., zu Avignon residiert hatte, lehnten sich die Kardinäle französischer Landeszugehörigkeit gegen die erfolgte Wahl eines Italieners (Urban VI.) auf und wählten einen Franzosen zum Gegenpapst, der als Clemens VII. im folgenden Jahr seine Residenz zu Avignon aufschlug. Von dieser Zeit an hatte die Kirche zwei Häupter: ein falsches in Gestalt des Franzosen in Avignon und ein echtes, das zu Rom den ehrwürdigen Thron St. Peter einnahm.
Man kann heute die Tiefe der Verwirrung, die damit in die Seelen des gläubigen Volkes getragen wurde, kaum mehr ermessen. Das Seelenheil des einzelnen war damals alles. Dieses Seelenheil gefährdet zu sehen, bedeutete eine allgemeine und furchtbare Not. Der Papst belegte den Gegenpapst und alle seine Anhänger mit dem Kirchenbann. Der Gegenpapst warf seinerseits auf den Statthalter Christi in Rom und seine Getreuen den Bannstrahl. Damit standen alle Gläubigen unter dem Bann und empfingen die Sakramente von Geistlichen, die ebenfalls von einem der beiden Päpste exkommuniziert waren.
Wie sollte das einfache Volk entscheiden, welcher der beiden Päpste der richtige war? Es fürchtete, sündenbeladene Sakramente zu empfangen, die es der ewigen Verdammnis preisgaben.
In dieser Zeit des Streites und der Verwirrung innerhalb der Kirche, die man das »große Schisma« nennt, tauchten naturgemäß neben der Hauptfrage – der Rechtmäßigkeit des Papstes – tausend Nebenfragen auf, und die verschiedensten weltlichen und geistlichen Machthaber suchten sich an der Machtverminderung der Kirche zu bereichern. Um die Verwirrung zu beenden, berief man nach manchen anderen Versuchen für das Jahr 1414 in das Städtchen Constanz am Bodensee ein Konzil ein, zu dem aus allen Ländern des christlichen Erdkreises die Bischöfe, Prälaten und Doctores zusammenströmten, um zu beraten, wie man die große Verwirrung beenden könnte. Tatsächlich zwang das Constanzer Konzil sowohl den Papst in Rom wie auch den zu Avignon zum Rücktritt und stellte dadurch die Einheit der Kirche wieder her.
Damit waren aber nicht alle Fragen gelöst, die innerhalb der Kirche aufgerollt worden waren. Die kirchlichen Parteien blieben, wenn auch das äußere Bild wieder hergestellt war, vorhanden. Die Einheit der Christenheit hatte einen mächtigen Stoß erhalten. 1417 wurde der Gegenpapst von Avignon beseitigt, aber genau 100 Jahre später, 1517, schlug ein deutscher »Gegenpapst«, Martin Luther, seine Thesen an das Tor der Kirche von Wittenberg.
Schon bei früheren Konzilen hatte sich im Kreise der Kirchenfürsten die Tendenz gezeigt, die Alleingewalt des Papstes zu beschneiden und einzuschränken. Diese Bewegung, die darauf hinauslief, dem Papst für seine Entscheidungen in der Gestalt von Konzilen ein Parlament beizugeben, dem er lediglich als repräsentatives Haupt vorstehen sollte, offenbarte eine umstürzende Idee: Die Kirche sollte eine republikanische Regierungsform erhalten. Der Statthalter Christi auf Erden und Nachfolger Petri sollte nicht mehr das absolute Haupt der Kirche, er sollte der »Präsident« einer »Kirchenrepublik« werden. Die Parteien dieser »Kirchenrepublik«, die nicht nur die Sprecher verschiedener innerkirchlicher Meinungsgruppen, sondern auch Interessenvertreter verschiedener weltlicher Fürsten und Machthaber waren, sammelten sich in Gruppen, die den Namen nationes führten.
Die Anwendung des Namens »Nation« für diese Gruppen ist leicht verständlich. Es waren ja die Universitäten, die die gelehrtesten und sachkundigsten Vertreter zur Klärung der Fragen entsandten, zu deren Lösung die Konzilien einberufen waren. Das Leben in den Konzilsstädten hatte eine große Ähnlichkeit mit dem Betrieb in den Universitätsstädten der damaligen Zeit. Wie die Studenten waren die Konzilsdelegierten in den meist kleinen Städten, die zu Schauplätzen der Beratungen auserkoren wurden, Fremde. Während der großen Kirchenversammlungen entstand dasselbe Bedürfnis nach einem Zusammenschluß derjenigen, die sich durch gleiche Umgangssprache, gleiche Lebensgewohnheiten (dieses Moment beweist klar, daß die Universitätsnation das Recht der Mutterschaft über die Konzilsnation besitzt), gleiche Meinungen verbunden fühlten.
Das erste Mal finden wir die »nationes« dieser Art schon auf dem Konzil von Lyon (1274). Auf dem bedeutungsvollen Konzil von Konstanz (1414-1418) sehen wir sie auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung.
Es ist sicher, daß die Konzilsnationen mit unseren heutigen Auffassungen von Nation und Nationalismus ebensowenig zu tun hatten wie die »Universitäts-Nationen«. Die Delegaten, die ein und derselben Konzilsnation angehörten, waren alles eher als »volksnational« oder »staatsnational« in unserem Sinn. Viele Bischöfe, Prälaten und Doctores vertraten andere Lehrmeinungen als ihre Landesherren. Die »deutsche Nation« in Constanz umfaßte nicht nur den deutschen Klerus, sondern auch die ungarischen, polnischen, böhmischen und skandinavischen Cleri. Die Engländer und Franzosen waren auf dem Konzil von Konstanz lange in einer gemeinsamen »Nation« vereinigt. Erst im Jahre 1417 hören wir von einem Protest der Engländer gegen gewisse Ambitionen innerhalb des französischen Klerus, die darauf abzielten, eine eigene französische »Nation« zu begründen. Nicht eine »national-französische«, im Sprach- oder Volkssinne, sondern eine eigene Gruppe des Klerus, der aus dem Herrschaftsbereiche des Königs von Frankreich stammte.
Es gab noch immer keine »Nationen« als Völker, Staaten oder Massen. Die Konzilsnationen waren Einrichtungen der »vornationalen« Zeit. Sie standen nicht im Morgenrot des heraufdämmernden Tages der modernen Nation. Sie standen im Abendschein des römischen Universalismus, dessen Geist langsam aus der lateinischen Sprachwelt wie aus einer überströmenden Brunnenschale in die frischen Gefäße der neuen Sprachen überzuströmen begann. Das geistige Leben innerhalb der Volkssprachen wuchs nicht aus geheimnisvollen Tiefen des Volkstums. Die eigensprachlichen Kulturen sind nicht Neuschöpfungen der einzelnen Völker. Sie sind nichts anderes als Setzlinge vom alten Baum der gemeinsamen Kultur, die aus neuem Boden zu sprießen begannen.
Solange der römische Universalismus mächtig und lebendig war, gab es innerhalb der einzelnen Sprachgebiete Europas nur geringes oder praktisch bedeutungsloses eigenes geistiges Kulturgut. Der schöpferische Geist lebte in der lateinischen Sprache ebenso wie die Kunst in der Kirche.
Die Kirche ist eine Lehrmeisterin. Sie war bis zu der Zeit, in der die Sprachkreise geistiges Gut selbst zu erfassen und zu behalten lernten, die Treuhänderin des gesamten geistigen Lebens. Es konnte aber nicht ihre Aufgabe sein, diese Stellung als Schatzmeisterin des gesamten geistigen Lebens immer beizubehalten. Daher gab sie die Güter, die nicht zum eigentlichen Glaubensschatz gehörten, in dem Augenblick ab, in dem es einen Kreis von Menschen gab, der sie aufnehmen und weiterentwickeln konnte, die Poesie, die Kunst und zuletzt die Wissenschaft.
Diese Abgabe der geistigen Güter durch die Kirche und deren Aufnahme durch einen neuen weltlichen Kreis sind ein für beide Teile schwieriger, bisweilen stürmischer und auch oft schmerzlicher Prozeß. Es handelt sich um eine richtige Revolution, die viel umfassender und tiefgreifender ist als andere Bewegungen, die auch diesen Namen tragen, aber nur den Ersatz des einen Herrschaftssystems durch ein anderes bezwecken.
Da tritt vor allem auf beiden Seiten eine Unklarheit über den Umfang des Gutes, das von der Kirche abgegeben werden soll und kann, zutage. Die neue weltliche Kulturschicht ist meist noch nicht richtig organisiert. Sie gerät in den Besitz- und Machttaumel der Neureichen: unterschätzt das Erhaltene und überschätzt es zugleich. Weltliche Machthaber halten die Abgabe der überbordenden geistigen Güter, die Verselbständigung der mündig gewordenen geistigen Kinder der Kirche für einen Auflösungsprozeß oder einen Erschöpfungszustand der Religion selbst. Sie machen den Versuch, der Kirche viel mehr als das, was sie von selbst abgibt, zu nehmen. Sie greifen nach ihrem ureigensten religiösen Wirkungskreis und wollen die Kirche selbst usurpieren.
In solchen Zeiten entstehen Staatsreligionen. In der Verweltlichung geistiger Güter sehen die weltlichen Machthaber stets eine Chance für sich. Sie versuchen das herrenlos scheinende Gut u nd die wie von einem Akt der Entbindung ermattete Kirche unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Jeder weltliche Machthaber weiß, daß in der Religion Kräfte schlummern, die für ihn zum Zweck der Erhaltung und Erweiterung der weltlichen Macht unentbehrlich sind. Deshalb ist die Geschichte erfüllt von Versuchen der Eroberung der Kirche durch den Staat.
Mit der Emanzipierung des weltlichen Kulturgutes von der Kirche entsteht eine neue Gemeinschaft: der Verband derjenigen, die sich des eigensprachlichen Kulturgutes annehmen, es pflegen und weiterentwickeln. Diesem völlig neuen Verband gehören naturgemäß nicht die breiten Massen, nicht alle Zugehörigen eines Sprachkreises an. Die neuen Kulturträger der jungen Sprache sind ein kleiner Kreis von Missionären einer neuen (weil aus der Religion geborenen) religionsähnlichen geistigen Bewegung. Sie sind, wie wir schon sagten, nicht Teile der noch unerschlossenen Masse Volk. Diese Masse Volk ist ein finsteres Land von Bildungsheiden, in das die Missionäre der weltlichen Bildung ihr Licht tragen. Die Gemeinschaft dieser Missionäre nannte und nennt man noch heute Nation, Kulturnation. Diese Kulturnation (als Summe der Kulturträger eines Sprachkreises) steht genauso in einem Gegensatz zur Masse des Volkes wie die »Nation«, die sich aus den Konzilsparteien entwickelte.
Die Sprachkreise, innerhalb derer sich die eigensprachlichen Kulturen entwickelten, hatten niemals und nirgends in der Welt die gleichen Grenzen wie die Staaten, die auf den Siedlungsgebieten der Zugehörigen zu einer Sprache ihre Herrschaft ausüben. Deshalb waren – und sind – die Angehörigen der Elite, an die die Bewahrung und Weiterleitung einer Sprachkultur gebunden ist, Untertanen verschiedener Herrscher und Staaten. Seit es eigensprachliche Kulturen gibt, gibt es auch den Dualismus zwischen Kultur und Staat. Die Kulturnation ist immer etwas von der Staatsnation sehr Verschiedenes. Die hellenische Kultur war eine Einheit – aber die Griechen haben in allen Blütezeiten ihrer Kultur die Vielstaatlichkeit nie beseitigt. Die lateinische Kultur war eine Einheit, und doch hat zur Zeit des römischen Imperiums die Staatsmacht die kulturellen Eigenbestrebungen der einzelnen Sprachgemeinschaften, die innerhalb des Reiches lebten, niemals zu unterdrücken versucht. Die Kultur der italienischen Renaissance blühte in einem ungepflegten Garten, dessen Wildnis von Stadt- und Zwergstaaten überwuchert war. Die Zeit der deutschen Klassik, die Zeit von Weimar, war zugleich die Zeit zahlloser Duodezfürsten, die in ihren Miniaturresidenzen Hof hielten.
Die Kulturproduktion des klassischen Frankreichs stand in einem ideologischen Gegensatz zur Staatsführung und der inneren Politik, die sie verfolgte.
Der Prozeß der Emanzipation der eigensprachlichen Kulturgüter ist zugleich die Geburtsstunde von Kulturkörpern, deren Entwicklung unabhängig ist von der Entwicklung der Staaten, über deren Gebiet sie sich erstrecken. Sie sind, wie Heinrich Riehl sehr schön sagt: »Der Urgrund, der das wandelbare Staatsleben der Völker weit überdauert.«
Durch seine Anwendung auf die Konzilsparteien erfuhr das Wort »Nation« eine wichtige Sinnveränderung. Die Konzilsdelegaten waren nicht nur »Fremde«, die sich fern ihrer Heimat für eine gewisse Zeit zusammenfanden. Sie trugen vor allem einen viel wichtigeren Charakter: Sie waren Abgeordnete. Die Delegaten waren nicht mehr durch den Zufall zusammengeratene, einem bestimmten wirtschaftlichen Interesse folgende Zuwanderer wie die Angehörigen der altrömischen Fremdenkolonien. Und sie waren auch nicht mehr einem anderen, freien Entschluß, dem, höhere Bildung zu erwerben, folgende Studenten, die sich für die Dauer ihres Studiums in einer Universitätsstadt versammelten. Die Delegaten waren Vertreter, Abgeordnete, Repräsentanten. Sie vertraten weltliche und geistliche Fürsten, sie vertraten Universitäten. Durch diesen Charakter der Angehörigen der Konzilsnationen erhielt das Wort Nation selbst eine Sinnerweiterung. Seit den Konzilien verstand man unter einer Nation eine Repräsentanz, einen Vertretungskörper, der sein charakteristisches Merkmal darin hatte, daß man annahm, daß ein gewisses loses Band territorialer Herkunft unter den einzelnen Angehörigen dieser Repräsentanz bestand. Eine Repräsentanz ist nun aber eine (gleichgültig wie zustandegekommene) Auslese von Menschen, eine Elite.
Von dieser Art von Elite spricht Montesquieu in »Esprit des lois« (XXVIII, 9), wenn er den oft zitierten und meist falsch ausgelegten Satz prägt: »La nation, c'est à dire, les seigneurs et les évêques.« Im Zusammenhang gelesen sagt dieser Satz: »Sous les deux premières races on assembla souvent la nation, c'est à dire les seigneurs et les évêques; il n'était point des communes.« (Unter den beiden Dynastien [Frankreichs, Anm. d. Verf.] versammelte man oft die Nation, das heißt die Adeligen und die Bischöfe. Die Gemeinen wurden nicht in Betracht gezogen.)
Das heißt nichts anderes, als daß zu Zeiten Montesquieus das in den französischen Sprachgebrauch übergegangene Wort Nation im Sinne einer Repräsentanz, einer Vertretung durch Vornehme, verstanden wurde.
Seit dem Beginn des XIII. Jahrhunderts beriefen die Könige von Frankreich öfter Vornehme des Landes zu Versammlungen ein. Im Jahre 1302, als der König mit dem Papst wegen der Frage des Rechtes, die Geistlichkeit mit Steuern zu belegen, im Streit lag; im Jahre 1308, als es darum ging, den Orden der Tempelritter zu verbieten und ihre Domänen und Schätze einzuziehen (was gleichzeitig mit einer Enteignung und Landesverweisung der Juden geschah). Später fanden solche Versammlungen, die man Ständeversammlungen nannte, immer häufiger statt. Diese Ständeversammlungen hatten nicht so sehr den Zweck, den König zu beraten, als ihm Geld zu bewilligen. Sie waren Steuerbewilligungsmaschinen.
Drei Gruppen von Vornehmen (Stände) wurden einberufen: die Bischöfe und Prälaten als Führer der Geistlichkeit, die Seigneurs als Vertreter des Adels, und der dritte Stand, das vornehme Bürgertum, das je zwei Räte aus den verschiedenen Städten zu entsenden hatte.
Die Könige liebten es nicht, den »Ständen« aus dem ganzen Reich gegenüberzustehen. Deshalb zogen sie es vor, die Vornehmen der verschiedenen Domänen einzeln zu versammeln. Dem Beispiel des Königs folgten die unabhängigen Fürsten, die die Stände ihres eigenen Herrschaftsgebietes für sich einberiefen. So entstanden Land- oder Provinzialstände, die man auch mit dem Namen Nation bezeichnete.
Die Stände ganz Frankreichs nahmen für ihre Gesamtheit die Bezeichnung »états généraux« an; sie traten zum erstenmal 1484 zusammen, um über die Fragen zu beraten, die die Tatsache der Minderjährigkeit des Königs aufgeworfen hatte.
Die »états généraux« berieten nach sechs Nationen getrennt. Noch im XVIII. Jahrhundert sprach man, wenn von der Gesamtbevölkerung Frankreichs die Rede war, von einem »peuple des nationes françaises«. Das Wort Nation in der Bedeutung einer Ständeversammlung oder im Sinne der Summe aller Vornehmen war nicht nur in Frankreich gebräuchlich. Aus einem abgelegenen Teil Europas, aus Transsylvanien, berichtet die Geschichte eine bezeichnende Episode, die beweist, daß auch dort der Begriff der Nation an Adel und geistige Elite, die hauptsächlich durch den Klerus repräsentiert wurde, gebunden war.
Im Jahre 1731 erschien im siebenbürgischen Landtag ein neuer Abgeordneter geistlichen Standes. Seiner Jugend nach zu urteilen, hätte man ihn für einen eben dem Seminar entwachsenen Kaplan halten können. Aber er trug die Zeichen der Bischofswürde. Als er zum erstenmal sprach, tönte ihm aus allen Bänken schallendes Gelächter entgegen. Sein Latein war elend. Er sprach die Worte falsch aus, und seine Redewendungen schienen Übersetzungen ungefüger bäuerlicher Redensarten zu sein. Der knabenhafte Bischof ließ sich nicht stören. Er überschrie das Gelächter der transsylvanischen Standesherren und hatte den Erfolg, daß die Versammlung bald nicht mehr auf sein schlechtes Latein, sondern auf den Sinn seiner Rede hörte. Johannes Innocenz Micu, das war sein Name, sprach von den Rechten und den Forderungen der »walachischen Nation«. Das, was er sagte, muß den durchlauchten, erlauchten und gnädigen Landesständen sehr wider den Strich gegangen sein. Bald gingen seine Worte neuerlich in einem wilden Tumult unter. »Es gibt keine walachische Nation«, rief man ihm zu: »Es gibt nur eine walachische plebs!«
Mit dieser Feststellung wollte gewiß niemand die Existenz des walachischen (rumänischen) Volkes bestreiten. Bestritten wurde lediglich die Existenz einer walachischen Oberschicht, einer Elite; bestritten wurde die Repräsentationsfähigkeit der rumänisch sprechenden Bevölkerung. Die Rumänen der damaligen Zeit waren ein armes, unstetes und ungebildetes Volk, ohne eigenen Adel und ohne eigene breitere geistige Führerschicht. Bischof Micu war einer der ersten Rumänen, der im Kreise der Standesherren von Siebenbürgen erscheinen konnte.
Das Wort Nation steht hier ganz klar für eine Oberschicht im Gegensatz zum Volk, zur plebs. Zur Nation jener Zeit zählten nur die Vornehmen.
Noch Jean de Maistre (1753-1821) gab auf die Frage: »Qu'est-ce qu'une nation?« die Antwort: »C'est le souverain et l'aristocratie.« Und Aulard meint in seiner »Histoire politique de la révolution française« (Paris 1901, pa. 25): »La nation c'est la France lettré ou riche.«
Die auf dem Höhepunkt der Wirksamkeit der Konzilsnation entstandene Auffassung, eine Nation sei eine Gemeinschaft von Vornehmen, blieb viel länger in Geltung, als man es im »Zeitalter des Nationalismus« gern wahrhaben will. Das zeigt u. a. ein Ausspruch Schopenhauers, der deutlich zwischen Nation (als Elite) und Volk (als plebs) unterschied. Er sagte: »Wer kein Latein versteht, gehört zum Volke, auch wenn er ein großer Virtuose auf der Elektrisiermaschine wäre und das Radikal der Flußspatsäure im Tiegel hätte.« (Schopenhauer, Werke, W. W. Ausg. Grisebach, p. 603).
Im XVIII. Jahrhundert ist »Nation« ein Modewort geworden. Modewörter werden immer – wie eine vielgebrauchte Münze – stark abgegriffen und flach. Sie verlieren die Schärfe ihrer Prägung, d. h. sie werden so vieldeutig, daß es schwer fällt, sie in einer ernsten Diskussion, in der es auf die Bezeichnung ganz bestimmter Begriffe ankommt, zu gebrauchen. In unserer Zeit ist alles demokratisch oder totalitär. In der bürgerlichen Welt des XIX. Jahrhunderts war alles »fortschrittlich«. Im XVIII. Jahrhundert war alles »national«. Wie kam es zu dieser Mode?
»L'on observe que jamais l'on avait répété les noms de nation et d'état comme aujord'hui«, schrieb d'Argenson im Jahre 1758. »Ces deux noms se prononçaient jamais sous Louis XIV. et on n'en avait seulement pas l'idée.« (Es ist bemerkenswert, daß man die Worte Nation und Staat niemals so wiederholt gebraucht hat als heute. Diese beiden Worte wurden unter Ludwig XIV. niemals ausgesprochen, und man hatte nicht einmal eine Idee von ihnen.)
Das ist ganz verständlich. Unter Ludwig XIV. waren Staat und König eins gewesen. Wer »Staat« meinte, sagte »König«, und wer »König« sagte, meinte auch den Staat. Die »Nation«, die Gesamtheit der Vornehmen, spielte keine Rolle. Sie war auch nicht der Staat. Deshalb hatte man unter Louis XIV. keinen Grund, die Worte Nation und Staat häufig auszusprechen. Als der Sonnenkönig starb, änderte sich die Lage. Mit ihm starb nämlich auch sein Staatsbegriff: »L'état c'est moi.« Sein Nachfolger personifizierte nicht mehr den Staat. Er war nur der Bevorzugte innerhalb der Schar der Bevorzugten, »die miteinander den Staat ausmachten«. Der Zug der Zeit ging dahin, die Nation nach unten hin zu erweitern, die Schar der Bevorzugten zu vergrößern, deshalb sprach man zu d'Argensons Zeit so viel von Nation und Staat.
Breitere Schichten des Bürgertums, die zu Geld und Ansehen gekommen waren, machten den Versuch, wischen sich und den unteren Schichten eine deutliche Grenze zu ziehen. Man setzte alles daran, Mittel zu finden, die einen als Bürger vom Volk, der plebs, dem »peuple« unterscheiden konnten. Das peuple war die Masse der Menschen, die von ihrer Hände Arbeit lebte; die Summe aller jener, die weder politisch noch sonst irgendwie bevorrechtet oder überhaupt mit Rechten ausgestattet waren.
Schon von altersher hatte man, wie der spätlateinische Sprachgebrauch zeigt, dem Worte »populus«, aus dem das französische »peuple« entstanden ist, einen abschätzigen, destruktiven Nebensinn gegeben. Das lateinische Wort »populatio« heißt ebenso »Plünderung« und »Verwüstung« wie »Bevölkerung«. »Populator« heißt der »Verwüster«, »populatus« die »Verwüstung«. Das Verbum populo und populor heißt verwüsten, verheeren, plündern, verderben, zerstören. So schätzte der romanische Sprachsinn das Volk als Masse ein: ein wildes Tier, das deshalb, weil es ein Verwüster, ein Plünderer und Zerstörer ist, gezähmt und beherrscht werden muß. Dem Bürgertum lag es begreiflicherweise sehr daran, nicht zu dieser plebs, zum peuple gezählt zu werden. Aus einem anonymen Pamphlet aus dem Jahre 1758 spricht diese Sehnsucht in beredter Weise: »Les gens de lois se sont tirés de la classe du peuple on s'enoblissant sans le secours de l'épée. Les gens des lettres à l'exemple de Horace ont regardé le peuple comme profane. Il ne serait pas honnête d'appeler peuple ceux, qui cultivent les beaux arts. Gardons nous aussi de mêler les négociants avec le peuple depuis qu'on peut acquérir la noblesse par le commerce. Les financiers ont pris un vol si élevé qu'ils se trouvent côte à côte des grands du royaume. Il serait absurde de les confondre avec le peuple.«
Wie sehr der Zug der Zeit, zu Beginn der französischen Revolution, nach der Aufrichtung einer klaren Grenze zwischen peuple und nation ging, zeigten die Überlegungen, die man im Juni 1789 darüber anstellte, ob man die neue Volksvertretung »Assemblée nationale« oder »Représentants du peuple français« nennen sollte. Mirabeau empfahl die Übernahme des zweiten Namens, der anspruchsloser und für die breiten Massen volkstümlicher war. Aber der Sinn der Versammlung ging nach Höherem – und offenbarte damit den wirklichen Zweck dieser Revolution. Die Absicht dieser beginnenden Bewegung ging nicht dahin, das peuple, die plebs, von unten heraufzuholen und zu politischer Gleichberechtigung zu führen. Man darf nicht glauben, daß der Wille zur Durchsetzung der Menschenrechte das entscheidende Motiv der Französischen Revolution gewesen ist. Man kann den Einfluß der Menschenrechte auf die Französische Revolution im Gegenteil nicht genug unterschätzen. Die Menschenrechte waren der aus England importierte moralische Paravent, hinter dem der dritte Stand schamhaft seine Trennung von der plebs zu vollziehen versuchte. Das Ziel der Französischen Revolution bestand nicht darin, die Masse der plebs von unten heraufzuholen und zur Gleichberechtigung zu führen. Das Ziel war bescheidener: Man wollte eine gewisse Oberschicht der plebs vornehmer machen. Diese Schicht der »gens de lois«, der »gens de lettres«, derjenigen »qui cultivent les beaux arts«, »les négociants, les financiers«, kurz die Schicht, die man später »bourgeoisie« nannte, wollte für sich die Liberté, Egalité zwischen sich und den alten Vornehmen der Nation empfinden dürfen. Das französische Revolutionsparlament nannte sich »assemblée nationale«, und das Bürgertum saß nun auf der Bank der Ausgezeichneten und Vornehmen. Es spielte die gleiche Rolle, die bisher »le souverain et l'aristocratie«, »les seigneurs et les évêques« gespielt hatten – es gehörte ganz gewiß nicht mehr zum peuple. Das Bürgertum war Nation geworden. In dem Augenblick, in dem nun die Scharen der Neu-Bevorrechteten, der Neu-Vornehmen und der Neu-Reichen stolz und glücklich von sich sagen konnten: Die Nation, das sind die Vornehmen und die Auch-Vornehmen zusammen – verlor das Wort seine exklusive Bedeutung.
In den modernen Städten verläßt bekanntlich die »gute Gesellschaft« immer dann ihre exklusiven Wohnviertel, wenn zu viele Leute zuziehen, die ihr nicht angenehm sind. Die »guten Adressen«, die diese Wohnviertel abgaben, sind dann auf einmal keine »guten Adressen« mehr.
Die alte Vorstellung von der Nation als Repräsentanz der Allervornehmsten war die »gute Adresse«, die die Bürger haben wollten, um nicht mit dem peuple verwechselt zu werden. Als sie alle in das »Quartier« Nation übersiedelten, verlor die Adresse ihre alte Qualität. Das Wort Nation erfuhr einen entscheidenden Bedeutungswandel.
Man begann unter einer Nation große Massen von Menschen zu verstehen: Alle Bürger eines Staates – auch diejenigen, die bisher plebs waren – oder alle Angehörigen einer Sprachgemeinschaft – auch diejenigen, die »kein Latein verstanden«. Mit dieser Massenvorstellung beginnt der neue Sinn des Wortes »Nation«.
Wann der neue Sinn, der leider viel unklarer geworden ist als alle vorhergehenden Bedeutungen, Allgemeingut geworden ist, ist schwer zu sagen. »Der Dreißigjährige Krieg«, sagt Georg Schmidt-Rohr (»Die Sprache als Bildnerin der Völker«, Jena 1932), »kennt noch keine Nationen als Gruppen, die ihrer besonderen Wesenheit wegen einen eigenen politischen Willen haben. Er kennt nur kämpfende Fürsten. Der ›Westfälische Friede‹ kümmert sich nicht um Sprachgrenzen, als er eine Neuordnung des Landesbesitzes der Fürsten trifft ... selbst auf dem ›Wiener Kongreß‹ sitzen noch Fürsten um den Verhandlungstisch – nicht Völker.« Fügen wir hinzu: Noch 1871 nahm Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone nicht aus den Händen der deutschen Nation entgegen, sondern aus den Händen der deutschen Fürsten.
Die moderne Nation ist im XIX. Jahrhundert entstanden.