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Die gemeinsame Abstammung

Die Behauptung, daß irgendeine Nation der Gegenwart durch eine Gemeinsamkeit der Abstammung zusammengehalten werde, gehört eigentlich nicht in das Gebiet realer Überlegungen. Sie gehört in das Gebiet der Mythologie.

Man darf die Nationen der Gegenwart nicht mit den kleinen Völkerschaften vergangener Zeiten verwechseln, die sich aus Einzelfamilien zusammensetzten wie eine Honigwabe aus Zellen. Diese alte Form, in der sich um eine Familie als Urzelle als nächster Kreis die Sippe schloß und um diesen wieder der Kreis der Stämme, die miteinander die Maximaleinheit schufen: das Volk, gibt es in größeren Nationen nicht mehr.

Die ungeheure Vermehrung der Menschheit in den letzten Jahrhunderten, die unstabile Lebensweise, die stets wechselnde Bewohnerschaft der Großstädte und Industriebezirke, die modernen Verkehrsmittel, die unseren in steter Wanderschaft begriffenen Nationen ihren Umzug erleichtern, und schließlich die politische Herrschaftsform der Massendemokratie, die den fluktuierenden Teilen der Bevölkerung, die in allen modernen Staaten eine Majorität bilden, gleiches Recht verleiht wie den Seßhaften, hat die Stellung der Familie als Keimzelle der Nation schwer erschüttert. Familie und Blutsverwandtschaft brauchen, um in der Gemeinschaft als Macht wirksam zu sein, Beständigkeit, Seßhaftigkeit und neben sich eine möglichst stabile Nachbarschaft. Die Menschheit unserer Zeit schafft sich auf ihren Wanderwegen überall kleine Verwandtschaften. Wir sind in unserem »Vie de grande vitesse« nach vielen Seiten hin verwandt geworden. Aber mit allen nur ein wenig. Die Bande des »Blutes«, die Macht der Familie sind durch die Bande der Gesinnung und des Interesses in den Hintergrund gerückt worden. Es gibt innerhalb der Nationen ohne Zweifel noch immer relative Abstammungsgemeinschaften. Überall dort, wo es noch mittleren und kleinen Grundbesitz gibt, liegt die Verwandtschaft im Umkreis einer Tagesreise zu Pferd. Diese bodenständigen Kreise sind aber innerhalb der modernen Nationen kaum mehr als Inseln, die von den Fluten der inneren Migration umspült sind. Die durch gemeinsame Abstammung verbundenen Schichten einer Nation sind Teile, Partien, Gruppen, aber nicht mehr. Niemals die Nation selbst.

Die sogenannte Familienforschung, die neuerdings sehr in Mode gekommen ist, ist nicht viel mehr als eine pietätvolle Spielerei. Wenn sie nicht der lahme Versuch ist, dem snobistischen Traditionshunger traditionsloser Schichten Rechnung zu tragen.

Es gibt neuerdings ungezählte europäische Familien durchaus bürgerlichen Namens, die ihre Ahnenreihe mit Stolz auf Mitglieder des Herrschergeschlechtes der Hohenstaufen zurückführen. Der Mensch von heute hat seit der Zeit der Kreuzzüge, die etwa vierundzwanzig Generationen zurückliegen, rund 16 800 000 Vorfahren. Viel mehr Vorfahren, als es damals Menschen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, Frankreichs oder Italiens gegeben hat. Unter diesen 16 800 000 Menschen befinden sich sicherlich auch Mitglieder der Familie Hohenstaufen. Warum auch nicht? Von den anderen Familien, die in der Hauptsache als Blätter und Zweige auf dem so mächtig ausgedehnten Stammbaum wachsen, ist nicht weiter die Rede. Warum soll man, wenn man in Mitteleuropa lebt, nicht von den Hohenstaufen abstammen? Wer errechnet, was 1/16 800 000 »königliches Bluts« in den Adern eines bürgerlichen Kaufmanns in Erfurt, eines Regierungsassessors in Chemnitz ausmacht? Es wäre viel lehrreicher, in den Stammbäumen der »moyen allemands« nach slawischen Namen zu suchen, als nach hohenstaufischen.

Eine Ausnahme aus der ungeheuren Ahnenvielfalt machen die Mitglieder des Uradels, die durch stete Eheschließung innerhalb weniger Familien auf weite Zeitentfernungen nicht Millionen verschiedener Ahnen besitzen. Sie sind das Zuchtergebnis aus wenigen, aber völlig internationalen Linien. Kein Mitglied der Familie Habsburg hat z. B. in der fünften Generation zweiunddreißig verschiedene Ahnen. Für die großen Massen unserer Zeit gilt das, was Max Hildebert Böhm, der Leiter des »Deutschtum-Seminars« an der deutschen Hochschule für Politik in Berlin über die verbindende Kraft gemeinsamer Abstammung innerhalb einer Nation sagt: »Bei größeren Völkern ist an Stelle wirklicher abstammungsmäßiger Blutsverwandtschaft eine bloße Idee, der Glaube an die Abstammungsgemeinschaft und Artgleichheit und gleichsam die Bereitschaft zur allseitigen Verschwägerung, zu einer gegen andere Völker sich abschließenden Konnubialgemeinschaft getreten« (Max Hildebert Böhm: »Das eigenständige Volk«, Göttingen 1932). Böhm hat völlig recht. Die Abstammungsgemeinschaft der modernen Nationen ist keine Realität. Sie ist bestenfalls ein Glaube – ein Wunsch: die Flucht der Massen ohne nachweisbare Herkunft in eine gute Adresse. Nicht mehr.

Der Durchschnittsdeutsche ist davon überzeugt, daß er von großen, blonden, blauäugigen Germanen abstammt – obwohl er als Durchschnittsdeutscher nicht groß, blond und blauäugig ist (dieser Menschenschlag ist in Deutschland eine Minorität), und obwohl mehr als die Hälfte seiner Ahnen Slawen waren.

Die Italiener glauben, daß die Herren des Senats von Rom ihre Vorväter seien, obwohl die Mehrzahl von ihnen von jenen wilden Rotten abstammt, die die Macht der altrömischen Eliten zerbrochen haben.

Charles Seignobos polemisierte einmal mit Recht dagegen, daß der in der Hauptsache mittelgroßen und dunkelhaarigen französischen Jugend in den Schulbüchern die Meinung beigebracht wird, auch ihre Vorfahren seien groß, blond und blauäugig gewesen.

Die Ungarn glauben, alle ihre Ahnen seien mit den wilden Reiterscharen Arpads ins Alföld eingeritten, und haben in Wirklichkeit doch das Blut so vieler anderer Völker in ihren Adern. Die Rumänen glauben, daß ihre Urväter Römer gewesen seien, die unter Kaiser Trajan an den Ufern des Schwarzen Meeres angesiedelt wurden. Aber jene römischen Kolonisten waren wahrscheinlich nur die Herren jenes armen Hirtenvolks, in dem der Keim zu einer späteren rumänischen Nation lag.

Die Nationen halten gerne diejenigen für ihre Vorfahren, von denen sie im Laufe ihrer Geschichte geknechtet worden sind. Man stammt offenbar lieber von Unterdrückern ab als von Unterdrückten, lieber von bekannten Soldaten als von den zahllosen Millionen unbekannter Soldaten der Geschichte: den stummen Massen nämlich, die da waren, bevor die Eroberer kamen, und dablieben, als die Eroberer wieder gingen.

Und Legenden hinterließen. Diese Legenden überdecken die Wahrheit der Geschichte. Sie verbergen nicht nur das alteingesessene Volk, sie verbergen auch jene Scharen, die auf der Suche nach besserem Boden wie Herdenvieh in die Länder strömten oder in unbewachten Augenblicken über die Zäune der Landesgrenze sprangen.

Ein Volk hat viele und verschiedene Vorfahren.

Woher stammt ein Volk?

Dürfen wir die Gegenfrage stellen: Woher stammt das Wasser eines mächtigen Stromes, der sich seiner Mündung nähert? Und woher kommt das Wasser, das sich im Bette des Mississippi durch Louisiana wälzt? Kommt es aus den Seen im Norden von Minnesota, oder sind es die Wasser des Des Moines? Sind es die Fluten des Missouri, die des Ohio oder des Arkansas-Stroms, die da alle mitfließen? Der Strom heißt Mississippi, und in seinem Bett hat sich das Wasser all dieser Flüsse, die selbst aus tausenden von Nebenflüssen zusammengekommen sind, vermischt und gesammelt.

Von wem stammen die heutigen Franzosen? Waren ihre Vorfahren jene Völkerschaften, die die Römer als Gallier bezeichneten und die sich der keltischen Sprache bedienten?

Waren es die vorgeschichtlichen Stämme, die in der Bronzezeit auf dem Boden des heutigen Frankreich lebten, oder gar die Menschen aus der neolithischen Epoche, über deren Namen und Sprache wir keine Nachricht haben? Oder waren es vielleicht die Römer, die die gallischen Häuptlinge besiegten, jahrhundertelang das Land beherrschten und den Franzosen die Sprache brachten, in der viele schöne, so viele kluge und vielleicht spöttische Dinge gesagt worden sind?

Oder waren es vielleicht die Franken, die das Land nahmen, als Rom fiel, und dem Land und dem Volk einen neuen Namen brachten?

Wir haben Grund zur Annahme, daß die heutige französische Nation eine Mischung aus Angehörigen all dieser Völker, auch der prähistorischen, ist, zu denen sich im XIX. und XX. Jahrhundert beträchtliche Mengen von Italienern, Spaniern und Slawen gemischt haben.

Die Italiener sind unter anderem aus Etruskern, Kelten, Venetern, Goten, Germanen, Protoslawen und afrikanischen Völkerschaften entstanden. Die Engländer aus Kelten, Angelsachsen, Dänen und Normannen. Die Spanier aus Iberern, Kelten, Germanen, Mauren. Nicht zu reden von den Urbevölkerungen der Siedlungsgebiete all dieser Völker, die keine Zeugnisse ihrer Kultur hinterlassen haben und über deren Existenz wir lediglich aus Knochen, Scherben und Hypothesen etwas wissen. Nicht zu reden von den gewaltigen Mischungsprozessen, die die neueste Zeit geschaffen hat und in deren Verlauf das amerikanische Volk entstanden ist und das heute deutschsprechende Volk völlig umgebildet wurde.

Der Quell, der irgendwo in den Bergen aufspringt und dessen Wasser nach unserer Meinung der Ursprung eines späteren, mächtigen Stromes sind, ist nicht besser und nicht bedeutsamer als der Quell eines »Nebenflusses«. Jede Mündung eines Nebenflusses verändert den Hauptstrom, der Prozeß der »Mündung« neuer »Nebenflüsse« erfolgt nach einem gleichbleibenden Gesetz: Jede Menschenmasse, die erobernd in ein neues Gebiet einrückt, sucht zuerst die verbliebene Urbevölkerung zu niedrigen Sklavenarbeiten zu verhalten.

Der Eroberer will Herr sein.

Herr ist man nur, wenn man Sklaven hat. Die Eroberer bilden in den neu errungenen Ländern zuerst eine Oberschicht. Im Verlauf der Zeit fallen aber dann die vorerst scharfen Trennungslinien. Man beginnt sich zu vermischen. So wie ein Nebenfluß von brauner Erdfarbe ein blaues Gewässer erst ganz verfärbt, um sich später zu zerteilen, aufzulösen und die Farbe abzusetzen, so haben sich wahrscheinlich in Frankreich die keltischen Gallier mit Stämmen vermischt, die schon vorher im Lande, das später Frankreich hieß, ansässig waren. Dieses neue Volk vermischte sich mit den Römern, die später kamen. Im Verlauf der Mischungsprozesse gab das Volk seine keltische Sprache auf, um die lateinische zu übernehmen. Die Franken, die nach den Römern kamen, gaben ihr germanisches Idiom auf, um das gebildete Romanisch der Ansässigen zu lernen. Man ist eben im Strom einer Nation, welche Sprache man auch sprechen, welchem Land man auch zugehören mag, wessen Fahne man auch schwingen mag – ob gern oder ungern, bleibt dahingestellt – »un peu parent de tous«, ein vielgemischter Tropfen in einem vielgemischten Strom.

Das, was an realen Fakten gemeinsamer Abstammung übrig bleibt, sind romantische Legenden und eine fragwürdige Hypothese.

Diese Hypothese meint: »Wenn sich in einem großen Strom auch Wasser verschiedentlicher Herkunft vermischt haben, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß es immer Stoff gleicher Art war, der sich im Strom zusammengefunden hat ...«

Auf unseren Gegenstand angewendet: »Wenn es auch Völkerschaften verschiedener Namen und verschiedener Herkunft gewesen sind, die zum Aufbau einer Nation beigetragen haben, so war es doch gleicher Stoff, d. h. Menschen gleicher Rasse.«

Die vielgehörte Meinung, daß, wenn schon nicht gemeinsame Abstammung im engeren Sinn, so doch gemeinsame Rasse im biologischen Sinn eine mächtige Gemeinschaftsbasis innerhalb der Nationen darstelle, ist aber auch nicht haltbar.

F. K. Günther, der wissenschaftliche Exponent der nationalsozialistischen Rassentheorie, sagt selbst einmal: »Ob leiblich oder geistig: Alle Menschen der Gegenwart sind irgendwie zu Mischlingen geworden.«

Daß dieser Mischcharakter nicht bloß eine Verfallserscheinung unserer Zeit ist, sondern eine alte Tatsache, die auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurückblickt, bringt N. Colajanni (»Latins anglosaxons«, Paris 1905) in Erinnerung, wenn er sagt: »Il n'y a pas à l'heure actuelle une nation, qui soit le produit d'une seule race. Les nations sont les résultat sinon de la fusion véritable, au moins de l'union de la superposition et du mélange de races diverses qui avaient déjà perdu leur pureté avant même, qui n'ait commencé la période historique de leurs existence.«

Wenn es nun aber, wie aus solchen Feststellungen hervorgeht, weder in der Geschichte reine Rassen gegeben hat und auch die Gegenwart keinen Anhaltspunkt für die Existenz reinrassiger Menschengruppen bietet – was will man mit der Legende?

Rasse ist nach Kant der »Klassenunterschied der Tiere ein und desselben Stammes, sofern er unausweichlich erblich ist« (Immanuel Kant, Werke, Akademieausgabe, p. 100).

Wenn man diesen Grundsatz analog auf das Menschengeschlecht anwendet, so wäre innerhalb der Menschheit die Rasse ebenso in einem »Klassenunterschied, der unausweichlich erblich ist«, zu suchen.

Wie steht es aber damit?

Mit der Aufgabe, die physischen Merkmale des Menschen, die für Erbmerkmale gehalten werden können, festzustellen, zu prüfen und zu vergleichen, beschäftigt sich die Anthropologie.

Auf Grund gewisser Merkmale der Gestalt, des Körperbaues, der Form und der Ausmaße des Schädels, der Farbe der Haut, der Farbe der Augen und der Haare u. a. reiht sie die Menschen in Klassen ein und nennt diese Klassen »Rassen«.

Nach manchem Schwanken haben sich die Fachleute darauf geeinigt, daß innerhalb der gesamten Menschheit drei Hauptrassen existieren: die europäide oder weiße, die mongoloide oder gelbe und die negroide oder schwarze Rasse Eugen Fischer und Schwalbe: »Anthropologie«. Eickenstadt: »Entwicklung und Geschichte der Menschheit« (Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft, Wien, Band 55, 1925).. (Man sieht, die Bibel ist wieder in ihr Recht gesetzt worden: Ham, Cham und Japhet sind in den Studierstuben und unter den Meßinstituten der Anthropologen wieder auferstanden.)

Jede dieser drei Hauptrassen besitzt nun (außer den »Nebenrassen« und »Sonderformen«) eine größere und kleinere Zahl von Unterabteilungen. Die rassenbiologischen Untersuchungen der weißen Menschheit, die uns hier vorzüglich interessieren, haben zur Annahme der Existenz mehrerer solcher Gruppen geführt. Diese Untergruppen, Sektionen, der Europäiden hat man (offenbar, um ein wenig Verwirrung zu stiften) ebenfalls mit dem Namen »Rassen« belegt.

Im Süden Europas finden sich Menschen, deren körperliche Erscheinung so zu charakterisieren ist: kleine Körpergestalt, lange Schädelform, sehr dunkle Hautfarbe, schwarze Augen und schwarze Haare. Den Menschentyp, auf den diese Beschreibung paßt, nennt man » Mittelmeerrasse«.

In der Mitte des Kontinents fiel eine größere Häufung von Menschen auf, die einen breiten runden Schädel haben, braune Haare, braune Augen und eine relativ dunkle Hautfarbe. Die Menschen dieses Typus nennt man » alpine Rasse«.

Im Norden Europas trifft man auf Menschen von hoher Gestalt und kräftiger Bauart, länglichem Schädel, sehr lichter Hautfarbe, blauen Augen und blondem Haar. Diese Merkmale kennzeichnen die » nordische Rasse«.

Eine weitere Gruppe, deren Hauptmasse in der Nähe des Alpenbogens und auf der Balkanhalbinsel beheimatet ist, ist unter dem Namen » dinarische Rasse« bekannt. (Große Körpergestalt, hohe, kurze Köpfe, wie abgehacktes Hinterhaupt; große, gebogene Nase, dunkelbraunes, wie schwarzes Haar. Die Gruppe scheint mit den vorderasiatischen Rassen nahe verwandt zu sein.)

Die » Dal-Rasse«, die ihren Namen mit nicht viel Berechtigung nach der schwedischen Landschaft Dalarna führt, die keineswegs die Heimat der Hauptmasse der »Dal-Rasse« ist und auch bei weitem nicht von einer Majorität von Menschen des »Dal-Typus« bewohnt wird, zeichnet sich durch hohen Wuchs, langen Schädel, niedere Augenhöhlen und viereckiges, breit-langes Gesicht aus.

Die » ostbaltische Rasse« sucht man mit Recht im Nordosten des Kontinents. Ihre Zugehörigen haben einen kurzen, runden Schädel, breites, niedriges Gesicht, derbe Nase, blondes Haar und helle Augen.

Die alten Nachbarn der Europäer im Vorderen Orient und an den östlichen Ufern des Mittelmeeres stellen die » orientalische Rasse« (kleinwüchsig, schmaler, langer Schädel, gleichmäßig gebogene Nase, dicke Lippen, schwarze Haare und Augen) und die » vorderasiatische Rasse« (hoher, kurzer Schädel, senkrechtes Hinterhaupt, große, gebogene Nase, großes Gesicht).

Innerhalb aller europäischen Nationen leben Menschen vieler dieser »Rassen«, wenn man nicht überhaupt behaupten kann, daß in jeder Nation Exemplare aller dieser Rassen vorhanden sind. Die Rassetypen innerhalb der weißen Menschheit sind demnach keinesfalls ein nationales Phänomen. Es handelt sich um naturwissenschaftliche Kategorien.

Die Behauptung, daß gemeinsame »Rasse« etwas mit »Nation« zu tun habe, wird, je näher man hinsieht, immer unsinniger.

Es wäre falsch, zu glauben, daß die Individuen, die man auf Grund äußerlicher Merkmale einer dieser Rassen zuzurechnen hat, »reinrassig« im biologischen Sinn seien, d. h. ihre körperlichen Merkmale unausweichlich vererben. Das ist nicht der Fall. An ein und demselben Individuum tritt uns in der Regel eine Mischung von Zügen entgegen, die offensichtlich aus einer Kreuzung zwischen Voreltern verschiedener Rassen herrührt. Die klassischen Rassentypen, wie sie die anthropologische Wissenschaft stipuliert hat, die ihre Eigenheiten physischer Art unausweichlich weitervererben würden, existieren fast überhaupt nicht. Die anthropologischen Gruppen, die man Rassen nennt, sind in der Hauptsache Idealtypen. Grenzfälle zwischen denen die Vielfalt der Mischformen in bunter Mannigfaltigkeit lebt. »Il n'est pas l'individu, qui ne soit un peu parent de tous«, sagt Vacher de Lapouche auch im Hinblick darauf mit gutem Recht (»L'Aryen«, Paris).

Hier könnte vielleicht die Vermutung auftauchen, daß die Mannigfaltigkeit der Mischungen innerhalb der weißen Menschheit jüngeren historischen Datums etwa die Folge der großen Menschenansammlungen sei, die wir seit einigen Jahrhunderten in Europa beobachten können.

Solche Vermutungen sind falsch.

Die prähistorische Anthropologie, die ihre Messungen und Untersuchungen an Skeletten alter Gräberstätten der vorgeschichtlichen Zeit vornimmt, steht vor dem gleichen Phänomen wie die Anthropologie unserer Zeit, die ihre Untersuchungen am lebenden Individuum macht: Wie weit man auch in die Vergangenheit zurückgreift und wie alt die geprüften Gräberfunde auch sein mögen: Immer wieder findet man in den Begräbnisstätten Skelette verschiedener Typen und Mischtypen.

Es hat in Europa wahrscheinlich niemals reinrassige Völker gegeben, auch nicht in der Steinzeit.

Der Mischcharakter der weißen Menschheit war, wieviel wir auch forschen mögen, in allen Zeiträumen, aus denen wir Zeugnisse irgendwelcher Art haben, bereits vorhanden. Die Menschheit hat sich anthropologisch gesehen, seit Jahrzehntausenden nicht verändert. »Von Ahnen der Menschheit wissen wir nichts, trotz allen Suchens und anatomischen Vergleichens«, sagte Oswald Spengler einmal. »Seitdem Menschenskelette auftauchen, ist der Mensch so, wie er heute ist. Den ›Neandertaler‹ sieht man in jeder Volksversammlung« (Oswald Spengler: »Der Mensch und die Technik«, München 1932).

Nun fragt man sich:

Wenn es reinrassige Menschengruppen in großer Zahl gäbe oder vor relativ kurzer Zeit noch gegeben hätte – was könnte für die nationale Gemeinschaft damit gewonnen sein?

Wäre damit etwas ausgesagt, was zur besseren Erkenntnis des Phänomens der modernen Nation führen würde?

Da es sich bei allen naturwissenschaftlichen Untersuchungen der menschlichen Individuen um Untersuchungen handelt, die nur einen Teil des Menschen betreffen, den seiner körperlichen Erscheinung nämlich, die ihm die physische Existenz auf diesem Stern, Erde, ermöglicht – wäre nicht viel gewonnen. Auch Tiere haben ihre besondere körperliche Erscheinung und ihre vererblichen Merkmale. Der Mensch unterscheidet sich aber von den Tieren durch ein ungeheures und unüberbrückbares Anders-Sein und Mehr-Sein. Die anthropologische Klassifizierung der Merkmale und Gemeinsamkeiten erfaßt immer nur den unbedeutenderen und unwichtigeren Teil des Menschen. Niemals den wesentlichen Teil, den des Anders-Seins, Mehr-Seins im Vergleich zu allen anderen Lebewesen der Erde.

Anthropologische Forschung erfaßt niemals das, worauf es ankommt: die Charakterisierung des »Mensch-Seins« in seiner Gesamtheit. All das, was das Leben des Menschengeschlechtes innerhalb der kurzen Zeiträume, die wir Geschichte nennen, so ungeheuerlich von allen anderem Leben der Erde abhebt, basiert nicht auf seinen körperlichen Merkmalen. Die Aktionen der Völker und ihrer Eliten, die Leistungen der einzelnen innerhalb der großen Kulturkreise, das innere Wesen der Nation, von dem wir zu reden haben – das alles ist nur zu begreifen, wenn wir uns über die Grenzen der Naturwissenschaften hinausbegeben und diejenigen Phänomene betrachten, die unter allen Lebewesen der Erde nur der Mensch besitzt.

Die Phänomene sind Folgen des wunderbaren Mehr-Seins, das sich allen Schädelmessungen und naturwissenschaftlichen Vergleichen entzieht. Die körperlichen Eigenarten und Gemeinsamkeiten sind kein Thema, das mit dem Begriff der Nation in irgendeinen Zusammenhang zu bringen ist. Denn die Nation ist eine Gemeinschaft von Voll-Menschen. Nicht von naturwissenschaftlichen Kategorien. Die Rasse hat mit der Nation nichts zu tun.

Die Rasse verhält sich zur Nation wie die Körpergröße Kants zur »Kritik der reinen Vernunft«, wie die Haarfarbe Beethovens zur »Missa solemnis«.

Die Rasse ist ganz bestimmt ein naturwissenschaftlicher Begriff.

Die Nation ist ganz gewiß kein naturwissenschaftlicher Begriff.

Ist es für uns wichtig, zu wissen, ob ein Mensch namens Aristoteles diese oder jene körperliche Erscheinung besessen hat? Blondes oder schwarzes Haar – lange oder kurze Nase?

Es ist wichtig für uns, daß und wie er seine »Metaphysik« ausgedacht und geschrieben hat.

Nicht ob ein Mensch namens Dante Alighieri, ein Mensch namens William Shakespeare, Immanuel Kant oder Johann Wolfgang v. Goethe diese oder jene körperlichen Eigenschaften besessen hat, ist von irgendeiner Bedeutung für die Welt. Wichtig ist das, was diese Menschen gedacht, getan, geschaffen haben.

Hier taucht die Vermutung auf, daß Aristoteles, im angenommenen Fall, daß er eine längere oder kürzere Nase besessen hätte, anders oder gar nicht geistig geschaffen hätte, daß Dante, Shakespeare, Kant, Goethe, wenn sie andere Schädelausmaße besessen, besser oder schlechter gedacht, gelebt, geschaffen hätten. Kurz: daß die körperliche Gestalt in einem sehr engen Zusammenhang mit den inneren Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen stehe, daß das »Anders-Sein«, das »Mehr-Sein«, das »Mensch-Sein« nichts anderes als die Folge bestimmter physischer Eigenschaften sei, die sich in ganz bestimmten Leistungen und Charakterhaltungen dokumentieren.

Die Rassen als naturwissenschaftliche Begriffe wären, wenn eine solche Annahme zu Recht bestünde, nicht nur an die körperliche Erscheinung gebunden, sie wären zugleich auch Kategorien, in die sich die Individuen nach ihren inneren Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten einordnen lassen. Diese Annahme geht noch weiter und sagt: Ebenso wie sich die körperlichen Merkmale einer Rasse vererben – genauso die seelischen Eigenschaften, die mit der körperlichen Eigenart eines Menschen unlösbar verbunden sind.

F. K. Günther, der geeichte Rassenideologe des Nationalsozialismus, drückt das so aus: »Die Rasse stellt sich dar in einer Menschengruppe, die sich durch ihre eigene (eigentümliche oder besondere, Anm. d. Verf.) Vereinigung körperlicher Merkmale und seelischer Eigenschaften von jeder anderen Menschengruppe unterscheidet und immer wieder nur ihresgleichen zeugt« (F. K. Günther: »Rassenkunde des deutschen Volkes«).

Dieser ganze Kreis von Hypothesen hat zur Voraussetzung, daß die seelischen Eigenschaften des Menschen nicht durch Milieu, Tradition, Einwirkung der Umgebung (menschlicher wie landschaftlicher Umgebung) und Erziehung entstehen, sondern wenigstens in ihren Grundlinien auf dem Wege der »Erbmasse« erworben werden. Ist das richtig?

Bisher konnten gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Körperbau und Charakter, die eine konditionelle Gebundenheit der wesentlichen seelischen und geistigen Funktionen und Haltungen an gewisse körperliche Erscheinungsformen beweisen würden, für Menschentypen nicht ernsthaft festgestellt werden. Selbst die modernen Rassisten nationalsozialistischer Färbung müssen bekennen, daß sie haltbare Beweise für einen Rassengeist, eine Rassenseele, einen Rassencharakter nicht erbringen können.

Die Leistungen geistiger Art, deren ein Mensch fähig ist, sind vom einzelnen Individuum in seiner Gesamterscheinung als einmaliges und unwiederholbares Geschöpf abhängig. Nicht von Kollektivgesetzen naturwissenschaftlicher Art.

Wenn man in alldem, was auf dem Gebiet des seelischen und geistigen Lebens durch den Menschen geschaffen und erlebt wird, nichts anderes sehen will als physiologische Nervenprozesse, und wenn man die mechanischen Verrichtungen des Körpers, die diesen Erlebnis- und Schöpfungsprozessen dienen, mit den Ergebnissen, zu denen sie führen, gleichsetzt, die Maschine dem Werk, so begeht man einen unverzeihlichen Fehler.

Der wunderbarste Aeroplan fliegt nicht, sondern ein Mensch kann mit Hilfe dieses Aeroplans fliegen. Die beste Schreibmaschine der Welt schreibt nicht, sondern ein Mensch schreibt mit einer Schreibmaschine. Nicht das Gehirn denkt, sondern jene wunderbare Individualität des »Mehr-Seins« und »Anders-Seins«, die den lebendigen Körper erst zum Menschen macht, denkt mit dem Gehirn.

Das Gehirn ist gewiß das Schaltbrett für die Funktionen des Denkens, des seelischen Empfindens, Wollens und aller anderen geistigen Phänomene. Aber es ist für sich allein noch nichts. Der unsichtbare Geist, der dieses Schaltbrett erst sinnvoll macht und so zauberhaft wirksam, ist das Wesentliche.

Das, was Goethe einmal über Lavaters »Physionomik« gesagt hat, gilt ein wenig für alle Untersuchungen und Hypothesen, durch die die innere, höhere Welt des Menschen mit materiellen oder besser gesagt mit somatischen Erscheinungsformen gleichgesetzt werden soll: »Lavater war ein herzlich guter Mann, allein er war gewaltigen Täuschungen unterworfen, und die ganz strenge Wahrheit war nicht seine Sache; er belog sich und andere« (zu Eckermann, 17. Februar 1829).

Damit soll nichts gegen angeborene individuelle Prädestination gesagt sein. Nichts gegen die Tatsache, daß jeder Mensch aus der Reihe seiner Voreltern gewisse Reflexe in sein Leben mitnimmt, die ihm nicht bewußt sind. Das ist aber nicht, worauf es ankommt. Uns kommt es darauf an, festzustellen, ob Geist und Haltung eines Menschen naturwissenschaftlichen (somatisch-anthropologischen, physischen, biologischen) Ursprungs sind oder Funktionen einer höheren Welt, die wir hier nicht zu definieren haben.

Die Seele des Menschen und das, was aus ihr fließt, ist kein naturwissenschaftliches Phänomen.

Was bleibt nun aber von der gemeinsamen Abstammung und der Abstammungsbindung des Rassismus, wenn wir feststellen müssen, daß:

a) die Nationen als Gesamtheit keine Abstammungsgemeinschaften in blutmäßigem Sinn darstellen,

b) es in der Gegenwart keine reinen Rassen gibt,

c) es auch in der von uns erforschbaren Vergangenheit keine solchen gegeben hat,

d) es, da Vergangenheit und Gegenwart die reine Existenz der Rassen im Rahmen einer Gemeinschaftsgruppe von Menschen nicht ausweisen, auch in Zukunft keine reinen Rassen geben wird,

e) die Annahme, daß Rassen und seelische oder geistige Haltungen oder Potenzen in einem unlösbaren Zusammenhang stehen, nicht beweisbar ist,

f) demnach zwischen Rasse und Nation kein natürlicher Zusammenhang besteht.

Was bleibt?

Das, was bleibt, ist der Mythus.

Die Äußerung M. H. Böhms, daß die Abstammungsgemeinschaft eine bloße »Idee«, ein »Glaube« sei, zeigt uns die Kategorie, in der die Antwort zu suchen ist.

Der moderne Rassismus ist nichts als die in die materialistische Welt des XIX. und beginnenden XX. Jahrhunderts transponierte und für den Massengebrauch zurechtgemachte alte Form der Abstammungslegenden. In ihm dokumentieren sich der ins Kleinbürgerliche herabgekommene Geist der Aufklärung und der an sich selbst verzweifelnde Materialismus in einer gespenstischen Mischung aus falscher Wissenschaft und falschen Glaubensartikeln, als Hoffnung, Traum, Ersatzreligion.

Der Rassismus mit allem, was dazugehört, ist ein Massentraum. Der Traum von einer bestimmten Art von Vergangenheit, die nie existiert hat. Keine Nation ist – in irgendeinem Sinne – eine Rasse oder auch nur eine Abstammungsgemeinschaft.

Der Rassismus ist der Traum von einer Gegenwart, die nicht wirklich ist. Er führt die Träumer in eine wirkliche Welt und läßt sie dort so agieren, als ob sich die Dinge so verhielten, wie sie ihnen im Traum vorgespiegelt werden.

Der Rassismus ist schließlich der Traum von einer Zukunft, die nie entstehen wird und nie entstehen kann, weil die Voraussetzungen, aus denen sie sich entwickeln soll, nicht wirklich existieren und auch nie existieren werden.

Rassismus als Glaube, Überzeugung, Annahme ist ein surrealistischer Traum.

Der Surrealismus als Kunstgattung entspricht, wie paradox das auch klingen mag, völlig dem Rassenidealismus im zeitgenössischen Europa, wie sehr sich auch die an Wahnsinnsprodukte gemahnenden Erzeugnisse der Künstler des Surrealismus von der Welt der blonden Riesen und Recken unterscheiden mögen, die nach dem Glauben der nazifizierten Massen Deutschlands das Heil in die Welt gebracht haben oder neuerlich bringen sollen.

Wie sehr der Rassismus und der Glaube an die Abstammungsgemeinschaft einer Nation in der Welt der Märchen und Volkssagen steckt, geht ganz klar aus dem Bestreben der geistigen Führer dieser Bewegungen hervor, die den Massen ein Weltbild zu vermitteln trachten, das der Märchenwelt entlehnt ist. Die Arbeiten des »deutschen Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda« zeigen solche Tendenzen ganz klar: Dem deutschen Volk wird alles im Märchenton erzählt. Nach diesen Darstellungen ist die Welt voll von Kobolden, Dämonen, finsteren Mächten, die daran sind, die strahlenden Helden zu bekämpfen, die hehren Jungfrauen zu schänden und den biederen braven Mann aus dem Volk ins Unglück zu bringen. Die Abstammungsgemeinschaft steht auf der Seite der Helden, der Jungfrauen und der Biederen.

Man betrachte die Propaganda im Dienste des Antisemitismus. Ist nicht der Jude der böse Zwerg der Sage, der habgierig die Schätze der Welt raubt, um sie in finsteren Felsenverstecken aufzustapeln? Und ist nicht er es, der die edle, schöne Jungfrau durch List und Tücke in die böse Gewalt seines mißgestalteten Leibes zwingt?

Man beachte die Propaganda zur Eroberung der Welt: Ist nicht der »Führer« jener Märchenprinz, der die durch finstere Mächte und durch verwerfliche Bündnisse wie Dornröschen in Todesschlaf verfallene Welt wieder aufweckt und zu seiner Braut macht?

Der einfache Mann aus dem Volke, der als Soldat zur Eroberung der Welt, d. h. zu ihrer Befreiung von den Mächten der Finsternis auszieht, ist er nicht einfach jener mutige Bursche des Märchens, der eine ganze stürmische Nacht lang mit Totenköpfen und Menschenknochen kegelt, um sein Glück zu machen?

Man täusche sich nicht über die Aufgeklärtheit unseres Jahrhunderts. Große Teile der Bevölkerung der Alten Welt haben die Erkenntnisse der aufgeklärten Wissenschaft mit der Überzeugung vertauscht, daß die sogenannte Realität unwahr, die Märchenwelt mit all ihrer Irrealität die wahre sei.

Es ist kein Zweifel, daß die legendenhaften und ersatzreligiösen Vorstellungen dieser Art sich auch aus der romantischen Betrachtungsweise der Nation herleiten, wonach die Nation ein einheitlicher Organismus, ein Lebewesen höherer Art ist. Treitschke sagte einmal: »Die Völker sind Gott unmittelbar.«

Ein schönes Bild: Gott, der über den Wolken der Berge und über den Nebeln der Meere thront, von den höheren Lebewesen, Nation genannt, wie von Erzengeln umgeben!

Diese gottunmittelbaren Lebewesen haben – wenn wir den ersatzreligiösen Auffassungen folgen wollen – andere Moralgesetze als die Menschen. Ihnen ist erlaubt, was dem Einzelindividuum verboten ist, und verwehrt ist ihnen nur, wozu sie nicht mächtig genug sind.

In der Geisteswelt der rassischen Ersatzreligion wäre es unvorstellbar, Mord und Raub etwa als ein Verbrechen anzusehen, wenn die Nation die Mörderin, die Räuberin war. Was das Lebewesen Volk tut, liegt außerhalb der moralischen Schranken, die dem einzelnen gesetzt sind.

Als Glieder des Volkes freilich dürfen die einzelnen an Handlungen teilhaben, für die sie gehenkt würden, wenn sie sie auf eigene Rechnung begingen.

Die Vorstellung, daß eine Nation ein durch gemeinsame Abstammung zusammengehaltener Organismus sei, der andere Moralgesetze habe als der einzelne, führt zur Aufhebung der Moral überhaupt.

Alfred Rosenberg hat den Nationalsozialismus einmal die konservativste Revolution der Weltgeschichte genannt.

Damit hatte er irgendwie recht.

Der konservative Zug, von dem er spricht, reicht weit hinter den Beginn der Geschichte des »deutschen Volkes« zurück. Er reicht zurück in die Zeiten der Wildnis und proklamiert für das Lebewesen »Deutsche Nation« die Gesetze der Sümpfe und des Urwalds, nach denen die reißenden Tiere nach ihrer Beute pirschen, in denen das Recht des Stärkeren, und nur dieses Recht, das Schicksal des Schwächeren besiegelt: Das Tier auf Nahrungssuche, das Tier im Selbsterhaltungskampf. Das große unheimliche Tier bricht im Kostüm der Märchen- und Sagenwelt in die Gehege unseres Jahrhunderts ein. Die Schaffung der Ersatzgötter hat die Welt entgöttlicht.

So wie sich der Wolf dem Rotkäppchen genähert hat mit dem Hinweis auf die gemeinsame Abstammung: »Ich bin deine Großmutter!«, so kommt heute das Tier Nation aus der Sagenwelt. Und die Fragen: »Großmutter, was hast du für eine rauhe Stimme?«, »Großmutter, was hast du für ein scharfes Gebiß?«, das sind die bangen Fragen der irregeleiteten Menschen, der Rotkäppchen unserer Zeit, die im Getöse der politischen Propaganda, die die Nationen als Abstammungsgemeinschaften und Lebewesen hinstellen, untergehen.

Das ist der tiefere Sinn der konservativsten Revolution der Weltgeschichte, der Revolution des Nationalsozialismus.

Aus dem Versuch einer Prüfung des Begriffes der Abstammungsgemeinschaft als Gemeinschaftswert innerhalb der Nationen ergibt sich die Feststellung, daß es sich hier nicht um eine Wesensgemeinschaft, wie man vermuten möchte, sondern um eine Glaubensgemeinschaft, in einzelnen Fällen sogar nur um eine Ersatzreligion handelt.

In einer praktischen Analyse des Begriffs der Nation wird man sich daher weniger mit Stammbäumen und Schädelmessungen zu beschäftigen haben als mit diesem sonderbaren Glauben, dieser Sehnsucht nach einer guten Adresse seiner Vorfahren.


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