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Es gilt eine Geschichtslüge auszurotten. Die Geschichte des Februar 1934 ist nicht die Geschichte eines Existenzkampfes der Arbeiterschaft um ihre primitivsten Rechte, sondern die tragische Geschichte der fundamentalen Verständnislosigkeit der Führung der österreichischen Sozialdemokratie für die historische Entwicklung in ihrem eigenen Lande und in Europa.
Die Geschichte des Februar 1934 ist das Endkapitel einer tragischen Entwicklung, an der durchaus nicht etwa Dollfuss und seine Mitarbeiter die Schuld allein trugen, sondern im grössten Masse die Führung der sozialdemokratischen Partei in Oesterreich.
Für diese Behauptung ist der historische Beweis zu erbringen. Die Sozialdemokratische Partei Oesterreichs, die seit ihrem Hainburger Parteitag im Jahre 1889 von Erfolg zu Erfolg geschritten war, stand im Jahre 1918 vor zwei Ereignissen, auf die sie nicht vorbereitet war. Vor der Begründung einer katastrophal kleinen selbständigen demokratisch-parlamentarischen Republik Oesterreich und vor der Bahre ihres eigentlichen Führers und Kopfes Viktor Adler, einer der charaktervollsten und bedeutendsten Erscheinungen in der Politik der letzten Jahrzehnte.
In der konstituierenden Nationalversammlung war die Sozialdemokratie die einzige revolutionäre und republikanische Partei. So konnte sie den Sturz des alten Systems als ihren Erfolg, die junge Republik als ihren Staat ansehen. Die bürgerlichen Parteien waren in den Hintergrund gedrängt, es fehlte ihnen an Ideen, an Mut, an Persönlichkeiten. Der österreichische Patriotismus wurde ausgerottet. Wer sich zu Oesterreich und seiner Tradition bekannte, wurde als Reaktionär beargwöhnt, als Staatsfeind verdächtigt.
Die Sozialdemokratie war aber trotzdem in einer sehr schwierigen Lage. Sie sah ihre Machtstellung von zwei Seiten bedroht: Von den kommunistischen Staatsgründungen in Ungarn und Bayern und von einer bürgerlichen Mehrheit im Innern, die, allerdings noch nicht geformt, in der kleinen, neuen Republik herumtastete und -tappte, wie ein Blinder in einem fremden Haus.
Der Gefahr einer Ueberflutung durch linksradikale Elemente setzte die Partei ein eigenes radikales Programm entgegen. Gegen die bürgerlichen Parteien führte sie einen energischen, von revolutionärem Schwung getragenen Kampf. Diese Radikalisierung der eigenen Reihen und die Scharfkantigkeit, mit der man gegen das bürgerliche Lager vorging, waren die Ursachen der Widerstandsbewegung, die sich einige Jahre später mit steigendem Erfolg in den bürgerlichen Kreisen bemerkbar machte.
Der neue Staat, die herbeigesehnte Republik, war da. Nun galt es, diesen neuen Staat auch mit neuem Geist zu erfüllen. Auch ein Gegner der Sozialdemokratie muss zugestehen, dass die Grundlinien der haltbaren Sozialgesetzgebung so viel ausmachten, dass der österreichische Sozialminister Professor Dr. Resch, der in den meisten Kabinetten der Nachkriegszeit das Sozialministerium geleitet hat, im Herbst des Jahres 1937 feststellen konnte, dass die österreichische Sozialgesetzgebung eine der besten und modernsten der Welt war. Die Reformen des ersten französischen Volksfrontkabinetts etwa waren für Oesterreich längst eingelebte und bewährte Einrichtungen. Die Forderungen der französischen Arbeiterschaft von heute, waren im Oesterreich von gestern zum Grossteil erfüllt.
Freilich brachte die Partei neben Modernem und Richtigem viel Undurchführbares, Demagogisches aus den Schreibtischladen ihrer Theoretiker in das Gesetzblatt der Republik. Dass sie nicht Mass halten konnte und den Staat von 1918 als ein Uebergangsgebilde zur Diktatur des Proletariats ansah, war einer ihrer Fehler. Der zweite bestand in der für uns heute völlig unverständlichen Verdammung der Geschichte des eigenen Vaterlandes.
Dem verstorbenen Parteiführer Dr. Viktor Adler folgte ein Theoretiker der Politik, der jüngst verstorbene Dr. Otto Bauer. Otto Bauer gab der österreichischen Sozialdemokratie ihre Ideologie, die die Demokratie als ein Uebergangsstadium für die Erreichung des letzten Zieles, die Errichtung der Diktatur des Proletariats ansah. Es besteht eine gewisse Aehnlichkeit zwischen dem legalen Weg zur Macht, wie ihn Hitler gegangen ist und den Vorstellungen, die Otto Bauer hatte. Beide wollten die volle Macht im Staate, um mit Hilfe dieser Macht die Grundlagen der Legalität, durch die sie an die Macht gekommen waren – oder wären – zu beseitigen oder wenigstens abzuändern.
Eine gewisse Sympathie hatte ja auch Otto Bauer für Hitler und seinen Staat. Er optierte, vor die Wahl Dollfuss oder Hitler gestellt, für Hitler. Das kam, noch im Juli 1934, in Artikeln der »Arbeiterzeitung« zum Ausdruck.
Den bürgerlichen Parteien war diese Zielsetzung überaus unbehaglich. Sie sahen, dass dieser neue parlamentarisch-demokratische Staat, den sie nie gewollt hatten, von denjenigen, die seine stärksten ideologischen Machtträger sein sollten, als ein Uebergangsstadium angesehen wurde.
So entstand dem von Otto Bauer konstruierten Austromarxismus im Laufe der Jahre ein Gegner, dem Bauer, der in allem, was nicht hinter seinen Fahnen marschierte, einfach die Reaktion sah, den Namen » Austrofascismus« gab.
Das politische Soldatentum in Oesterreich geht seltsamerweise auf die Sozialdemokratie zurück. Sie bildete, schulte, bewaffnete die Arbeiterbataillone, die später in eine militante Organisation, den Republikanischen Schutzbund, zusammengefasst wurden. Auch das ist ein wichtiges Symptom. Es hat nicht an ausländischen Mahnern gefehlt. Belgische, französische, englische, schwedische Sozialisten, die Oesterreich Besuche abstatteten, warnten die Partei vor dem Ausbau dieser militanten Organisation. Ein führender nordischer Sozialist sagte: solche Organisationen richten sich letzten Endes gegen die Arbeiterschaft selbst.
Aber die Führung blieb doktrinär und radikal. Sie hielt nichts von der Demokratie.
»Republik, das ist nicht viel,
Sozialismus ist das Ziel.«
So hiess der Vers, den man überall hörte. Otto Bauer wollte für seinen Teil die Demokratie nur gelten lassen, so lange sie ihm nützte. Aber er donnerte gegen jede Kritik, die von anderer Seite gegen die Demokratie vorgebracht wurde.
Es gab in der österreichischen Sozialdemokratie einen vernünftigen Flügel, der die Fehler und Schwächen der Führung Bauers einsah, der sich aber nie gegen ihn durchzusetzen vermochte. Die österreichische Arbeiterschaft, deren Mut, Aufbauwille und politisches Verständnis über jeden Verdacht erhaben sind, marschierte so in eine Richtung, die ihr früher oder später gefährlich werden musste.
Im Jahre 1933 stand sie vor Entscheidungen, die richtig getroffen, noch alles Unheil abwenden konnten. Aber ihre Führer begriffen noch immer nicht, um was es ging. Auch nach der Machtergreifung in Deutschland begriffen sie es nicht.
Dr. Dollfuss hat es nicht an Versuchen, die Sozialdemokratie für die Mitarbeit in seinem Kampf zu gewinnen, fehlen lassen. Schon vor ihm hatte Dr. Seipel im Jahre 1931 den Versuch unternommen, eine Konzentrationsregierung mit den Sozialdemokraten zu bilden. Er wendete sich an Otto Bauer mit den Worten: »Wer soll denn dieses Oesterreich regieren, wenn nicht zwei kluge Leute, wie Sie und ich?«
Otto Bauer lehnte ab. Er wollte keinen Anteil an der Macht, er wollte die ganze Macht.
Dollfuss wollte einen modus vivendi für die Regierung und die Sozialdemokratie finden, aber Bauer war nicht bereit, einen solchen modus zu konstruieren.
Indes wuchs die Wucht des nationalsozialistischen Angriffs auf den Staat von Tag zu Tag.
Am 7. März 1933 traten wegen einer Lappalie die drei Präsidenten des österreichischen Nationalrats von ihren Posten zurück. Dadurch hatte sich das Parlament selbst ausgeschaltet. Dollfuss übernahm die Macht. Es ist heute müssig, zu untersuchen, ob der Rechtsstandpunkt dieser Machtübernahme durch Dollfuss nach der Selbstausschaltung des Parlaments haltbar ist oder nicht. Der Kanzler handelte in einem Augenblick höchster Gefahr für den Staat. Die sozialdemokratische Vorstellung, man könnte sich der nationalsozialistischen Angriffsmethoden, die nicht innerpolitischer und nicht demokratischer Art waren, mit sanftem Zureden und friedlicher Amtspraxis erwehren, sprach von einer geradezu ungeheuerlichen Weltfremdheit. Im Juli 1933 schrieb Bauer:
»Hüten wir uns davor, aus Feindschaft gegen die Nazi als Bundesgenossen oder Stützen des Regierungssystems einer bürgerlichen Diktatur zu erscheinen.«
Im Juni 1933 stand im »Kampf«, dem Organ Otto Bauers, zu lesen: »Darum muss die Partei Schluss machen mit der Vorstellung, dass man sich eines Tages mit den gegenwärtigen Machthabern wieder zu einer schiedlich-friedlichen Verhandlung über eine neue Verfassung zusammensetzen werde.«
Nach der Auflösung des Parlaments wurden vom Regierungslager immer wieder Versuche unternommen, mit den vernünftigen Führern der Sozialdemokraten in Kontakt zu kommen. Vergeblich. Man bot den freien Gewerkschaften eine bedeutende Beteiligung bei der Bestellung der Verwaltungskommission der Arbeiterkammer an. Die Gewerkschaften wollten das Angebot akzeptieren, – die Partei verbot es. Sie wollte nicht mittun.
Am 18. Jänner 1934 hielt Dr. Dollfuss eine Rede, die an die Adresse der »ehrlichen Arbeiterführer« gerichtet war. Er sagte: »Die Arbeiterschaft muss ernstlich erwägen, ob nicht auch für sie die Pflicht besteht, mit voller innerer Bereitschaft für diese Zusammenarbeit und ihre neue Form einzustehen. Wenn die Erkenntnis dieser Notwendigkeit in die breitesten Kreise hinausdringt, dann hoffe ich, dass schon die allernächste Zeit ganz neue Möglichkeiten der Einbeziehung auch der bisher abseitsstehenden Kreise in die grosse Front der Verteidiger der österreichischen Unabhängigkeit und des Aufbaus eines neuen Oesterreich bringen wird«.
Die Partei lehnte ab. Das Verbot der »Arbeiterzeitung«, das wegen wüster Angriffe auf die Regierung ergangen war, wurde als Vorwand für die Ablehnung benützt.
Indessen suchte die Regierung nach Waffen und hob Lager des aufgelösten »Republikanischen Schutzbundes« aus. Die Arbeiterschaft war wegen dieser Aktion erregt, weil sie auf dem Standpunkt verharrte, dass alle bewaffneten Verbände, also auch die Heimwehr u. s. w. zu entwaffnen seien. Sie vergass dabei, dass sich diese Verbände in den Dienst der Regierung gestellt hatten, während die Führung der Sozialdemokraten allen Versöhnungs- und Ausgleichsversuchen ablehnend gegenüberstand und den unversöhnlichen Kampf predigte.
Am Morgen des 12. Februar hob die Polizei in Linz ein Waffenlager aus. Der Kommandant des Republikanischen Schutzbunds befahl den bewaffneten Widerstand. Die Revolte war ausgebrochen.
Vielleicht hat es Mittel gegeben, durch die man das furchtbare Ereignis hätte verhindern können. Vielleicht. Aber ihre Anwendung hätte eine ruhigere Situation erfordert. Es ist tragisch, dass man erst nach dem 11. März 1938 auch im Westen, auch in sozialistischen Kreisen, zu verstehen beginnt, dass die Schuld an den Februarunruhen nicht etwa ungeteilt auf den Schultern Dollfuss' und seiner Regierung lag.
Unvergessen bleibe der Idealismus und der Heldenmut, mit dem die Arbeiter auf die Barrikaden stiegen. Die Differenzen, die zwischen den beiden Kampfparteien des Februar lagen, waren aber kleiner als die Gegensätze, die sie beide von jenen trennten, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes mit Befriedigung zusahen, wie sich ihre Gegner zerfleischten.
Das XIX. Jahrhundert wird künftigen Geschichtsschreibern als eine der gewaltigsten Epochen der Menschheitsgeschichte erscheinen. Im Lauf der Zeiten sind wohl kaum jemals Jahrzehnte aufeinandergefolgt, in denen es den Menschen gelungen wäre, eine solche Unzahl neuer Einrichtungen zu schaffen, die das ganze Leben von Grund aus verändern sollten, wie im XIX. und im beginnenden XX. Jahrhundert.
Mit der Erfindung der Dampfmaschine entsteht eine neue Kulturwelt, um die sich in rasender Eile weitere Entwicklungskreise ziehen. Die Epoche des Benzinmotors, der Dynamomaschine und des Rundfunks ist angebrochen. Die Zahl der Erfindungen, die in diesen Jahren gemacht werden, ist Legion, die Veränderung, die sie im Leben jedes einzelnen Menschen hervorrufen, ist umstürzend.
Man wird mit Recht einmal die Frage stellen, was es denn eigentlich war, welcher Antrieb, welche Kraft, welcher Dämon, der die Menschen in diesen hundert Jahren zu so grossartigen Erfindungen, zu so gigantischen Leistungen aufriss. Eine Antwort lautet: Es war das Bedürfnis der Menschheit, besser und sicherer zu leben. Eine andere: Die Jahre des Friedens, die den Kriegen und Revolutionen am Anfang des vorigen Jahrhunderts folgten, gaben den Menschen die Möglichkeit, ihre Kräfte Werken des Friedens und des Fortschritts zu weihen; die Entwicklung des XIX. Jahrhunderts sei nichts anderes als die natürliche Folge friedlicher Jahrzehnte. Eine dritte Antwort mag sein, die Staats- und Wirtschaftssysteme dieser Epoche, die alle in grösserem oder geringerem Mass aus dem Welt- und Wirtschaftsbild des Liberalismus stammten, hätten zum ersten Mal in der Geschichte grossen und reifen Völkern dauernd die Tore zu einer Welt des Fortschritts und des Wohlstandes eröffnet.
In allen diesen Antworten liegt sicherlich ein wahrer Kern, aber keine von ihnen, auch nicht alle zusammengenommen, geben eine erschöpfende Auskunft. Ist es wirklich nur das Bedürfnis nach besserem Leben, wirklich nur die Konzentration aller Kräfte auf Werke des Friedens, wirklich bloss das System des Liberalismus, die die Welt im Zeitraum zweier Menschenleben so verändert haben, dass ein neuer Mönch von Heisterbach schon nach fünfzig Jahren das Gefühl haben müsste, auf einem anderen Stern erwacht zu sein?
Wir haben eine andere Antwort, die uns befriedigendere Auskunft gibt. Am Ausgang des sogenannten Mittelalters lebt der Mensch noch in geordneten Gemeinschaften. Nun aber zerbröckelt die alte Welt, sie ist überreif und sterbensmüde, – eine neue Zeit kündet sich in mächtigen Bewegungen an: Renaissance, Reformation, Revolution. Das Programm dieser neuen Zeit wird um 1789 formuliert, die Proklamation der Rechte des Einzelmenschen der Gemeinschaft gegenüber. Um die Wende des XVIII. Jahrhunderts wird, mit anderen Worten gesagt, der Mensch neu entdeckt. Er ist nicht mehr Glied einer gottgewollten Gemeinschaft, in der sich sein Schicksal von der Geburt bis zum Tod tragisch oder untragisch, auf jeden Fall aber unproblematisch abspielt, sondern Einzelexistenz, allein, aber mit Rechten begabt. Die Aufklärung hebt den Schleier des Geheimnisses von den Altären der alten Zeit und zeigt der Menge den Staub und die Spinnweben, die sich um die Throne des Ewigen gelegt haben. Gott ist ausgewandert. Ihn findet keiner mit den Rechnungen der Vernunft, keiner mit den Spielregeln der neuen Zeit. Das Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, verschwindet aus dem Bewusstsein des abendländischen Menschen, der nun sein Leben selbst verwalten will und weiss, dass es mit dem Tod zu Ende ist – unweigerlich, unwiderbringlich zu Ende ist.
Aus dieser Situation entsteht das neue Lebensgefühl, hebt der Dämon des XIX. Jahrhunderts sein Haupt. Der Mensch ist neu entdeckt und er will nun seinerseits die Welt neu entdecken. Die Rückkehr zur Natur des Jean Jaques Rousseau ist keine Marotte der Zeit, sie ist ein Zeugnis für diese Sehnsucht des neuen Menschen, die Welt, die neue Welt, die ihm gehört, zu finden, zu sehen, zu erobern. Um diese Zeit beginnt man zum ersten Mal die Berge der Alpen zu ersteigen. Man sucht oben auf den menschenfernen Höhen Schönheit und Geheimnis der Natur zu erleben, zu enträtseln. Die Welträtsel werden erfunden. In der heiligen Schrift und den heiligen Büchern der Religion sind sie gelöst, dort stand für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte die Antwort auf alle bangen Fragen, die sich nun dem übervollen Herzen des neuen Menschen aufdrängen. Aber die heilige Schrift, diese heiligen Bücher, diese Religionen, sie halten dem forschenden Geist der Vernunft nicht stand, sie fordern Glauben und geben keine Erklärung durch die blosse Vernunft. Deshalb stürzt sich die Wissenschaft auf die Welträtsel, um sie zu lösen, um die Urkräfte und Geheimnisse der Natur dem neuen Menschen, dem befreiten, zu seinen Rechten gekommenen Menschen dienstbar zu machen. Ein revolutionäres Geschehen, wie es in dieser Dimension bisher kaum bekannt war, macht die Welt erzittern, bringt die Menschen in Bewegung, reisst sie zur Tat auf. Aber da liegt noch ein letzter Antrieb dahinter, ein letzter Grund, der diesen gigantischen Leistungswillen des liberalen Menschen erklärt: Die Angst vor dem Tode.
Der Tod war früher ein guter Bekannter. Auf den Totentanzbildern des späten Mittelalters sieht man ihn tagtäglich, auf den Kirchenwänden und in den Büchern. Er ist der Veränderer, der Hinüberführer in eine bestimmte andere Welt, von der man ein gewisses Bild hat. Man kennt auch die Gesetze, die hier im irdischen Leben treulich einzuhalten sind, damit man dieses zweiten, des wesentlichen, ewigen Lebens teilhaftig werde.
Der Tod des neuen, des liberalen Menschen aber ist ein anderer, kein Veränderer, sondern ein Vollender, ein grausamer Beschliesser. Sein Erscheinen bedeutet das endgültige Ende. Der Totenkopf in den Studierstuben der neuen Gelehrten ist von ganz anderer Bedeutung als der Totentanz-Tod der früheren Zeit. Er ist ein memento für das Irdische. Er mahnt nicht: Bereite dich aufs Künftige vor – er erinnert an das Gegenwärtige. Er ist die stete Erinnerung: Du bist nur etwas, solange du lebst. Du wirst einmal sterben. Nütze deine Zeit. Und die Zeit ist ungewiss.
Der neue Mensch empfängt ein neues Zeitbewusstsein. Er weiss, dass er nur ein bestimmtes Mass von Zeit zu durchleben hat, ohne dieses Mass zu kennen. Er weiss, dass es nicht grösser ist als acht Jahrzehnte, – aber er weiss nicht, wie klein es ist. Es kann in jeder Stunde enden. Der neue Mensch hat nichts als diese Zeit, kein Darüberhinaus. Deshalb möchte er in diese seine Zeit möglichst viel hineintun. Er möchte in dieser kurzen Zeit, ausser der es nichts gibt, möglichst gut leben und möglichst viel erleben.
Die Erkenntnis des Todes als eines Schlusspunktes, hinter dem nichts mehr steht, schafft zwei Phänomene: Noch nie dagewesenen Lebenshunger, noch nie dagewesene Todesangst. Aus diesen beiden Zügen ist das XIX. Jahrhundert, sein Fortschritt, seine Erfindungen, seine Technik, seine Wissenschaft, seine Wirtschaft – sein brutaler Egoismus, der zur Klassenbildung führt, zu verstehen. Die Technik bietet die Möglichkeit, besser zu leben, Bedürfnisse zu befriedigen, von denen die breiten Massen vorher keine Ahnung hatten, (und die ihnen daher zum vollkommenen Glück auch garnicht abgegangen sein können), die Technik schafft den »modernen Verkehr«, der dem Menschen, der sich seiner Mittel bedienen kann, die Möglichkeit gibt, in viel kürzerer Zeit viel mehr zu erleben, als es bisher jemals geträumt worden war. Die Wissenschaft schafft die Voraussetzungen für den Fortschritt der materiellen Erlebniswelt, ein Heer von Medizinern macht sich auf, um die Lebenszeit zu verlängern, die Wirtschaft bietet die Möglichkeit der Ansammlung von Mitteln für den Lebensgenuss, die Möglichkeit der brutalen Durchsetzung des Einzelegoismus, indem sie das Gesetz vom »freien Spiel der Kräfte« proklamiert.
Nach einem grossartigen Jahrhundert ist es aber dann mit einem Mal zu Ende. Die Welt des Liberalismus, die Welt des Fortschritts, der Humanität, die Welt, in der Lebenshunger und Todesangst die grössten Leistungen der Menschheitsgeschichte hervorgebracht haben, ist zu Ende. Ihre Kraft ist erschöpft, ihr Ordnungsprinzip machtlos, ihre Ideale entgöttert. Wie ist das gekommen?
In vier Jahren blutigen Krieges hatten zwei Generationen von Menschen die Angst vor dem Tod verloren. Sie gewöhnten sich an seine unheimliche Nähe, sie verlernten es, ihn zu fürchten. Sie sahen sich in ein Geschehen gestellt, in dem der Tod, der gewollte Tod, gegen den man jahrzehntelang die hervorragendsten Armeen der Heilkunde ins Feld geschickt hatte, die Hauptrolle spielte. Und der Tod rächte sich. Er, der dadurch, dass ihn die Menschen ein Jahrhundert lang gefürchtet hatten, wie nie zuvor, die Grösse des XIX. Jahrhunderts begründet hatte, kam nun von ebendiesen Menschen gerufen aus den Maschinen, die die Epoche des Lebenshungers gezeugt und wurde der sichere Kamerad der Soldaten. Er kam, der Gefürchtete, als Tröster, als Erlöser, als Beender des Schmerzes und der Not, trat auf die Bühne des XX. Jahrhunderts und verwandelte die Welt.
Die Welt ist nach dem Krieg 1914/18 in Unordnung geraten. Der Mensch, gelöst aus allen Gemeinschaftsformen, fühlt sich, nachdem ihm die Kameradschaft des Soldatentums, in der er den Krieg erlebt hat, zerschlagen worden ist, doppelt einsam, doppelt verlassen. Die Technik hat die Territorialgemeinschaft der Nachbarschaft zerschlagen, indem sie nach zufälligem Arbeitsbedarf, nach der zufälligen Lage einer Fabrik, Menschenmassen anhäuft, um sie in einer ungünstigen Konjunkturlage immer wieder erwerbs- und heimatlos zu machen, die Wirtschaft wird atomisiert, indem an die Stelle der verantwortlich Schaffenden die anonyme Aktie tritt, die Wissenschaft wird sektioniert und spezialisiert, die alte »Universitas Litterarum« weicht einer Ansammlung von höheren Fachschulen, die Fächer werden ineinander aufgespalten, der medicinae universalis doctor weicht dem Internisten, Haut-, Nasen-, Fusspezialisten. Der Mensch ist spezialisiert und als Spezialist einsam. Der Proletarisierung der Massen vermag man lediglich mit dem Rezept einer Proletarisierung der Gesamtheit zu begegnen. In all dem Zauber der modernen Welt überwuchern die zwei Nöte des XX. Jahrhunderts die Todesangst und den Lebenshunger des XIX. Jahrhunderts: Die Armut und die Einsamkeit.
Das Programm, das auf den Ruinen des XIX. Jahrhunderts erfunden wird, ist ein Programm zur Bekämpfung der Einsamkeit und der Armut. Man untersuche die revolutionären Bewegungen der neuen Zeit auf ihren Sinn und ihre Wurzel. Man wird finden, dass der Kommunismus, der Fascismus, der Nationalsozialismus, um nur die zu politischem Erfolg gekommenen Richtungen zu nennen, nichts anderes versuchen, als die Bekämpfung der Nöte unseres Jahrhunderts.
Der Kommunismus ist einer der Versuche zur Bekämpfung der Armut und Einsamkeit, ebenso wie der Nationalsozialismus und der Fascismus, freilich jeder auf einer anderen Ebene.
Der Nationalsozialismus schafft eine grosse Anzahl neuer Gemeinschaften, in die sich der Mensch aus seiner Einsamkeit flüchten kann: die militärischen Verbände, die die Tradition der Kriegskameradschaft fortsetzen, die Partei, die Rassengenossenschaft und als höchstes das Volk, freilich in einem ganz anderen Sinn als dieses Wort bisher verstanden worden war. Selbst im Antisemitismus sind die Tendenzen der Programmatik der Revolution des XX. Jahrhunderts enthalten. Er ist zugleich der Versuch, im Kampf gegen eine sichtbare und unzerstörbare Rassengemeinschaft, eine eigene Rassengemeinschaft zu begründen und trägt zugleich der Auffassung Rechnung, dass die Armut der Massen durch die Beseitigung oder Aneignung der jüdischen Vermögen gemildert oder beseitigt werden kann.
Wir haben früher gesagt, die Menschen seien durch die Technik heimatlos geworden und haben das moderne Nomadentum innerhalb des deutschen Volkskörpers das »dritte Volk« genannt. Dieses dritte Volk trägt eine tiefe Sehnsucht nach neuerlicher Verankerung in Grund und Boden in sich. Die Entfernung von der Erde hat noch nicht zwei Generationen gedauert, und schon fühlt der Mensch des XX. Jahrhunderts, dass er den Boden, seinen Boden braucht, dass dieses Losgelöstsein von der Erde einen Grossteil seiner Armut ausmacht. Man sehe einmal an einem Sonntag in einer Schrebergartensiedlung nach, um zu begreifen, wieviel kindliche Liebe, wieviel Begeisterung und Leidenschaft ein kleiner trockener Grundfleck an der Peripherie in einem »entwurzelten Grossstadtproletarier« zu wecken vermag.
Ein Arbeiter, Kommunistenführer in einer steirischen Fabrik, sollte, weil die Betriebsführung mit ihm nicht auskam, entlassen werden. Als der Betriebsleiter die Entlassung aussprach, sprang ihn der Arbeiter an wie ein Wilder, beschimpfte ihn, spuckte ihm ins Gesicht und ging. Aber da war noch ein kleines Gartenbeet am Arbeiterwohnhaus, das ihm gehörte und in dem er Salat und Kohl, aber auch Wicken und Zinnien gezogen hatte. Als er das verlassen sollte, war er wie gewandelt. Er weinte wie ein Kind.
Fassen wir das Gesagte ein wenig zusammen. Die Sehnsucht der Zeit geht nach Begründung einer neuen Gemeinschaft, in der der Mensch seiner Einsamkeit enthoben, der brüderlichen Hilfe der Kameraden sicher ist, sie geht nach Beseitigung der Armut, die zu einem Teil in der Sehnsucht nach neuerlicher Verbindung mit Grund und Boden besteht.
Als man in Oesterreich daranging, eine neue Verfassung zu schaffen, wollte man diesen Bedürfnissen der neuen Zeit Rechnung tragen, die Not der Zeit beheben, die Fragen der Revolution beantworten. Freilich, das alles auf einem winzigen Territorium, mit unzureichenden Mitteln und in räumlicher Nähe einer siegreichen revolutionären Bewegung, die einen Totalitätsanspruch für ihr Rezept im Bereich des ganzen Volkes stellte, des Nationalsozialismus.
Die Ständeverfassung des österreichischen Staates, die Dollfuss am 1. Mai 1934 verkündet hat, ist einer der interessantesten Versuche zur Neuordnung der Gesellschaft in unserem Jahrhundert. Die Schwächen und Krankheitssymptome der früheren Systeme waren von Politikern und Gelehrten schon vor Jahren erkannt worden. Im Jahre 1891 erklärte Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika »Rerum novarum« die Entstehung und die Folgen der sozialen Frage. Er polemisiert gegen den Marxismus und stellt den »falschen Mitteln zur Lösung der Arbeiterfrage« die »rechten Mittel« gegenüber und rief die Kirche, den Staat, die Arbeitgeber, wie auch die Arbeitnehmer zur Mitwirkung an dieser grössten Aufgabe der Zeit auf.
Vierzig Jahre nach dem Erscheinen dieser Enzyklika über die Arbeiterfrage wendet sich Papst Pius XI. am 15. Mai 1931 an die »ehrwürdigen Brüder, Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die anderen Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem apostolischen Stuhle leben und an alle christgläubigen Katholiken des Erdkreises« mit seiner Enzyklika »Quadragesimo anno« über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und Vollendung. Das Rundschreiben des Papstes beschreibt zuerst die segensreiche Wirkung von »Rerum novarum« und beruft sich dann auf das höchste Richteramt des heiligen Stuhles in den Fragen des Sittengesetzes. Das Rundschreiben behandelt die wesentlichsten Punkte der gesellschaftlichen Problematik, Eigentum, Kapital und Arbeit, Entproletarisierung des Proletariats, Lohngerechtigkeit und zeichnet die Grundlinien einer neuen Gesellschaftsordnung.
Die Enzyklika quadragesimo anno wurde zu einer der geistigen Hauptgrundlagen der neuen österreichischen Verfassung, die Dollfuss am 1. Mai 1934 verkündet hat.
Schon vor dem Erscheinen des päpstlichen Rundschreibens hatten verschiedene Kreise in Oesterreich, mit dem Gedanken einer Gesellschaftsreform beschäftigt, den berufsständischen Aufbau als ein Heilmittel erkannt, das den Forderungen der Zeit Rechnung tragen und zugleich die Güter der Tradition bewahren konnte. Seit den letzten Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts war die Diskussion des Ständesystems in den Zirkeln der Politiker und Gelehrten in Oesterreich nicht verstummt. Nach dem Weltkrieg gab der Professor der Wiener Universität Othmar Spann den Anhängern des ständischen Gedankens einen mächtigen Auftrieb, indem er der Heimwehrbewegung seine Ideologie als Programm anvertraute. Nach dem Erscheinen der »Quadragesimo anno« propagierte auch Dr. Ignaz Seipel die berufsständische Neuordnung, für die schon vor Jahrzehnten katholische Gelehrte in Oesterreich geworben hatten. In Dollfuss treffen sich beide Linien, durch ihn springt der schöpferische Funke – er verwirklicht, was bisher Theorie und Idee gewesen war.
Was war die Maiverfassung, was ist berufsständische Ordnung?
Am 4. März 1933 legten die drei Präsidenten des alten Nationalrats einer völlig nebensächlichen Frage wegen ihre Aemter zurück. Damit war das Repräsentantenhaus zwecklos geworden. Dr. Dollfuss benützte die unklare Lage, löste das Haus auf und kündigte eine neue Verfassung an. Am 1. Mai 1934 waren die Vorbereitungsarbeiten vollendet, die unter Leitung des früheren Bundeskanzlers Dr. Otto Ender durchgeführt wurden.
Der Bundesstaat Oesterreich besteht territorial gesehen aus der Stadt Wien und den acht Bundesländern Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg.
Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts galten auf Grund einer Verfassungsbestimmung als immanente Bestandteile des Bundesrechtes. Die gesamtstaatliche Verwaltung durfte nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.
Die obersten Organe der Verwaltung waren: 1.) der Bundespräsident, der nach einem Dreiervorschlag der Bundesversammlung von allen Bürgermeistern des Bundesgebietes für die Dauer von sieben Jahren gewählt werden sollte. 2.) Die Bundesregierung, die der Bundespräsident zu ernennen hatte und die aus dem Bundeskanzler, dem Vicekanzler und den Bundesministern bestand. 3.) Dem Präsidenten des Rechnungshofes. 4.) den Landesregierungen mit je einem Landeshauptmann, einem Landesstatthalter und den Landesräten. (Der Landeshauptmann wurde auf Grund eines Dreiervorschlags, den der Landtag zu erstatten hatte, vom Bundespräsidenten, der Landesstatthalter und die fünf Landesräte vom Landeshauptmann ernannt). 5.) der Bürgermeister von Wien, der auf Grund eines Dreiervorschlages der »Wiener Bürgerschaft« vom Bundespräsidenten ernannt wurde.
Die Organe des Bundes, der Länder, der Ortsgemeinden und der sonstigen Selbstverwaltungskörperschaften hafteten für den Schaden, den sie jemand vorsätzlich oder grobfahrlässig durch rechtswidriges Verhalten zufügten. (Syndikatshaftung).
Im zweiten Hauptstück der Verfassung fand sich eine Reihe von Bestimmungen, die sich auf Gesetze der liberalen Epoche der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stützten. In den betreffenden Artikeln werden die allgemeinen Rechte der Staatsbürger gesichert. Alle Bundesbürger waren vor dem Gesetz gleich. Es gab keine Vorrechte der Geburt, des Standes oder der Klasse. Den Frauen waren die gleichen Rechte zugesprochen, wie den Männern. Die öffentlichen Aemter waren allen Bundesbürgern, sofern sie den Staat nicht verneinten und den vorgeschriebenen Erfordernissen entsprachen, gleich zugänglich. Den öffentlichen Angestellten war die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte gewährleistet. Beschränkungen waren lediglich für die Angehörigen der bewaffneten Macht und des Sicherheitsdienstes vorgesehen. Die Freizügigkeit der Person und des Vermögens war allen Bundesbürgern im ganzen Bundesgebiet gewährleistet. Die Auswanderung von Bundesbürgern konnte nur durch ein Bundesgesetz beschränkt werden. Die Freiheit der Person war gewährleistet. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit war nur auf Grund von Gesetzen zulässig; Verhaftungen durften nur auf Grund eines richterlichen Befehles ausgesprochen werden. Kein Bundesbürger durfte einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung überliefert werden. Niemand durfte wegen eines Verhaltens bestraft werden, das gegen keine rechtsgültige Strafandrohung verstiess.
Die Wohnung des Bundesbürgers war seine Freistatt. Das Brief-, Post-, Telegraphengeheimnis waren unverletzlich. Jeder Bundesbürger hatte das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an die Behörden zu wenden. Das Recht der Meinungsäusserung war innerhalb der Gesetze frei. Beschränkungen wurden im Interesse der Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der Sittlichkeit, des Schutzes der Jugend gemacht.
Alle Bundesbürger genossen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit, sowie die Freiheit der häuslichen und öffentlichen Religionsübung. Der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte, sowie die Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Aemtern, Würden, war vom Religionsbekenntnis unabhängig.
Die katholische Kirche und die anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften hatten eine öffentlich-rechtliche Stellung, verwalteten ihre inneren Angelegenheiten selbständig und waren berechtigt, Abgaben einzuheben.
Die Wissenschaft und ihre Lehre waren frei. Jeder Bundesbürger konnte seinen Beruf frei wählen, das Eigentum war unverletzlich, jeder Bundesbürger konnte Liegenschaften jeder Art erwerben und darüber frei verfügen.
Von mancher Seite wurde früher der Verdacht ausgesprochen, die österreichische Verfassung trage einen antiliberalen Charakter in dem Sinne, dass sie die Freiheit des Einzelnen auch dort, wo es das notwendige Interesse der Gemeinschaft nicht erfordert, eingeschränkt hätte. Die angeführten Bestimmungen zeigen, dass dieser Vorwurf falsch war. Auch in rein demokratisch verwalteten Ländern gibt es keine Freiheit des Einzelnen, die etwa weit über das hinausgeht, was in Oesterreich erlaubt war. Selbstverständlich wurde darauf gesehen, dass sich die Freiheit des Einzelnen nicht gegen den Staat richtete. Aber wo in der Welt ist eine Verfassung ein Freibrief für staatsfeindliche Betätigung seiner Bürger?
Einer alten Tradition folgend, trug auch die Maiverfassung 1934 ausgeprägt föderalistischen Charakter. Die Heimatliebe und der Lokalpatriotismus waren und sind eine der stärksten Stützen des Staatsbewusstseins auf dem Boden Oesterreichs. Die Landesgemeinschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner der einzelnen Bundesländer war und ist meistens stärker als die Gegensätze, die sich innerhalb der Länder geltend machen. Darüber hinaus handelt es sich, mit Ausnahme des Burgenlandes, das erst durch den Frieden von St. Germain zu Oesterreich kam, um uralte Zusammenhänge, um historische, stammesmässige, kulturelle und schicksalsmässige Gemeinschaften, die sich im Verlaufe vielhundertjähriger Geschichte bewährt hatten. Einzelne österreichische Länder, wie etwa Kärnten, Tirol und vor allem Niederösterreich und Salzburg, sind als Verwaltungseinheiten um viele hundert Jahre älter als etwa das spätere Preussen.
So gab denn auch die neue österreichische Verfassung den Ländern einen wichtigen Teil der Aufgaben in eigene Verwaltung.
Der Bund behielt sich vor: Die Verfassungsrechte, die auswärtigen Angelegenheiten, das Ein- und Auswanderungswesen, die Bundesfinanzen, das Monopolwesen, die Angelegenheiten Geld, Kredit, Börse, Bank und Sparkasse, das Mass-, Gewichts- und Punzierungswesen, das Justizwesen, die Polizei und Gendarmerie, die Gewerbe- und Industrieangelegenheiten, das Verkehrswesen, Bergwesen, Arbeitsrecht, Gesundheitswesen, die allgemeinen Angelegenheiten der Wissenschaft, Kunst und Kultus, einen Teil des Schul- und Volksbildungswesens und die Landesverteidigung.
Alle anderen Angelegenheiten waren der Gesetzgebung und Vollziehung der Länder überlassen.
Jedes Bundesland war in Verwaltungsbezirke eingeteilt, die wieder setzten sich aus den Gebieten der Ortsgemeinden zusammen. An der Spitze der Ortsgemeinde stand ein Bürgermeister, der vom Gemeindetag gewählt und vom Bezirkshauptmann bestätigt wurde. Der Gemeindetag bestand aus Vertretern der Stände, die nach einer besonderen Wahlordnung gewählt wurden.
Dem Verwaltungsbezirk stand ein Bezirkshauptmann vor, der vom Landeshauptmann bestellt wurde.
Die Landtage setzten sich analog wie die Gemeindetage aus den Vertretern der Stände, die nach besonderer Wahlordnung gewählt werden sollten, zusammen. Sie hatten das Recht, im Gebiet der selbständigen Landesverwaltung Landesgesetze zu beschliessen.
Die Bundesgesetzgebung ging in der Weise vor sich, dass die Bundesregierung ihre Gesetzesentwürfe den vorberatenden Organen der Bundesgesetzgebung zur Beratung überliess und nach Bearbeitung der Abänderungsvorschläge dieser Körperschaften dem Bundestag zur Beschlussfassung vorlegte.
Die vorberatenden Körperschaften bestanden aus vier Kammern: dem Staatsrat, dessen Mitglieder vom Bundespräsidenten für die Dauer von zehn Jahren ernannt wurden und der so eine Art Oberhaus darstellte; dem Bundeswirtschaftsrat, in den die Berufsstände ihre Vertreter wählten, dem Bundeskulturrat, der von den kulturellen Gemeinschaften (Kirche, Kunst, Wissenschaft, Schulwesen, Volksbildung) gestellt wurde und dem Länderrat, dem alle Landeshauptleute, der Bürgermeister von Wien und je ein Mitglied der Landesregierungen angehörten.
Der Bundestag bestand aus zwanzig Abgeordneten des Staatsrates, zehn Abgeordneten des Bundeskulturrates, zwanzig Mitgliedern des Bundeswirtschaftsrates und neun Vertretern des Länderrates, die von ihren Körperschaften für den Bundestag frei gewählt wurden.
Eine letzte Körperschaft führte den Namen Bundesversammlung. Sie entstand durch die Vereinigung aller Mitglieder des Staats-, Kultur-, Wirtschafts- und Länderrates und hatte den Dreiervorschlag für die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bürgermeister zu erstatten, den Eid des gewählten Bundespräsidenten entgegenzunehmen und über eine Kriegserklärung zu entscheiden.
Die Finanzgebahrung des Bundes, der Länder, der Ortsgemeinden wurde vom Rechnungshof überprüft. Dieser Rechnungshof, dessen Arbeitsweise durch völlige Objektivität und Strenge bekannt war, war völlig unabhängig.
Zur Sicherung der Verfassungsmässigkeit der Gesetzgebung und Gesetzmässigkeit der Verwaltung bestand ein Bundesgerichtshof.
Dieser Ueberblick zeigt, dass die österreichische Maiverfassung einen klugen Mittelweg zwischen den Erfordernissen eines modernen, nach den Notwendigkeiten der Zeit autoritär geführten Staates und den gesunden demokratischen Ueberlieferungen gewählt hat. Die Rechte des Einzelnen bleiben soweit gewahrt, als sie den Interessen der Gemeinschaft nicht hemmend oder schädigend gegenüberstehen konnten. Die alte Territorialgemeinschaft der Landsmannschaft blieb gewahrt und wurde neu verankert. Der Gedanke der Gemeinde als der echten Keimzelle des Staates, durch gemeinsame Abstammung und gemeinsame Heimatliebe gefestigt, wird neu gestärkt. Ueber diesen kleinen, mit eigenen Wirkungskreisen ausgestatteten Körpern steht autoritär geführt, aber durch gewählte Gesetzgebungs- und Beratungskörper kontrolliert und beraten der Staat, mit dem sich der Einzelne organisch durch die kleineren Gemeinschaften und direkt durch die Schicksalsgemeinschaft, die Geschichte, die wirtschaftlichen Interessen, endlich durch die kulturelle Sendung, verbunden fühlt.
Die Art der Wahl, wie sie im neuen österreichischen Staat durchgeführt werden sollte, unterscheidet sich freilich von den Wahlsystemen der parlamentarisch-demokratischen Verfassung von 1919 wesentlich.
Die politischen Parteien der früheren Zeit stellten dem Wähler eine fertige Liste von Kandidaten vor, die er zu wählen hatte. Der Wähler hatte nicht die Möglichkeit, den einen oder anderen Kandidaten auszuschalten oder einen ihm besonders genehmen Mann etwa an die erste Stelle zu rücken. Er kannte die Kandidaten, die er als seine Vertreter in den Nationalrat entsandte, in 95 von hundert Fällen überhaupt nicht oder bloss von einer Versammlungsrede, einem Zeitungsartikel her. Das ständische System kehrt zum gesunden Prinzip der Urwahl zurück, in dem der Einzelne in seinem kleinen Kreis den Mann seines Vertrauens auszuwählen vermag, den Mann der ihm persönlich bekannt ist, von dem er glaubt, dass er auf Grund seiner Fähigkeiten, seiner Charaktereigenschaften im Stande ist, seine Interessen zu vertreten.
Die Wahl erfolgt so, dass über jedes Fachgebiet berufene Fachleute mitzuraten haben. Nicht mehr ein Gewerbetreibender über Hochschulfragen und ein Beamter über Agrarprobleme, sondern der Bauer über Landwirtschaftsfragen, der Gewerbetreibende über Gewerbefragen u. s. w.
Im kleinen Kreis des Betriebes und der Gemeinde erfolgt die erste Auslese und setzt sich nach dem gleichen Grundsatz der Auswahl des Befähigtsten bis zur Spitze fort. In den Berufsständen waren Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichberechtigt vertreten. Die gemeinsamen Interessen sollten in den Vordergrund gerückt, Gegensätze, die naturgemäss immer vorhanden sind, friedlich ausgetragen werden. War eine solche friedliche Austragung innerhalb der Stände nicht möglich, so trat eine paritätische Arbeitsgerichtsbarkeit in Funktion, die einen inappellablen Schiedsspruch zu fällen hatte.
Die Verfassung 1934 nannte folgende Berufsstände:
Die Unternehmer sowohl wie die Arbeiter erhielten innerhalb dieser Berufsstände (Bünde) eine eigene, nach dem gleichen System aufgebaute Interessenvertretung, die eine Zusammenarbeit der Arbeitnehmer, wie der Arbeitgebergruppen, möglich machte.
Die Arbeiterschaft besass im »Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten« eine besondere Organisation, die auf freiwillige Mitgliedschaft aufgebaut war. Der Gewerkschaftsbund setzte sich aus Berufsverbänden zusammen, die ihrerseits in Gewerkschaften (Fachverbände) untergeteilt waren. Die einheitliche Vertretung der gemeinsamen Angelegenheiten aller Arbeiter und Angestellten blieb dabei bestehen. Es handelte sich also durchaus nicht um eine Zerreissung der Klassenfront der Arbeiterschaft in einzelne Ständegruppen zwecks leichterer Beherrschung der Arbeiterschaft durch die Unternehmer, sondern um ein organisches Aneinanderfügen aller Menschen, die eine gleiche Beschäftigung haben, um dadurch die Möglichkeit zu schaffen, dass sich diese Menschen über das, was sie gemeinsam interessiert, direkt aussprechen. Die gemeinsame Organisation der Arbeiter aller Bünde sollte natürlich bestehen bleiben und die Möglichkeit bieten, alle gemeinsamen Fragen gemeinsam zu vertreten.
Der berufsständische Aufbau war im März 1938 bei weitem noch nicht vollendet.
Mit den organisatorischen und gesetzgeberischen Massnahmen allein war es nicht getan. Es handelte sich ja um eine völlige Neugestaltung, in die alle Beteiligten erst hineinwachsen mussten. Die Arbeiterschaft erkannte die Vorteile der ständischen Ordnung bald. Die Schwierigkeiten, die sich im Zuge der Entwicklung zeigten, waren Kinderkrankheiten, vielfach das Bestreben einzelner Gruppen – gerade auf der Unternehmerseite – alte Organisationsformen, die mit dem Geist der neuen Zeit nichts zu tun hatten, zu erhalten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der berufsständische Aufbau in Oesterreich, wenn sich die Verhältnisse günstiger gestaltet hätten, gelungen wäre, dass mit seiner Durchführung das Rezept gefunden war, nach dem die Wunden der Zeit und die Wunden der Gesellschaft zu heilen waren.
Die Verfassung des Kanzlers Dollfuss war eine echte revolutionäre Verfassung, die ein völlig neues System mit den Traditionen des Landes vereinigte, – sie war der Versuch, in einer Zeit der Extreme den Weg der Mitte zu gehen. Sie versuchte es für den Raum des kleinen Staates, die Nöte der Zeit zu bannen, indem sie den Menschen wieder einordnete in die natürliche Gemeinschaft des Berufes, der nachbarschaftlichen Gemeinde, der Heimat, des Staates als Vaterland und indem sie zugleich dem vollberechtigten Arbeiter in seinem schweren Existenzkampf Hilfe bot.
Das ständische Prinzip ist ein richtiges Ordnungsprinzip. Dort, wo die alte Ordnung des parlamentarisch-demokratischen Systems brüchig wird, gibt es auch heute keine andere Frage als diejenige, vor die sich Dollfuss gestellt sah: Entweder Proletarisierung der Gesamtheit durch den Kommunismus oder Ordnung des Volkes in einer Form, die die soziale Frage organisch zu lösen im Stande ist.
Freilich gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Einteilung des Volkes in Regimenter, in »Gefolgschaften«, denen je ein Führer vorgesetzt ist. Dieses System ist für den Kriegsfall ohne Zweifel richtig. Es ist durchaus nicht notwendig, dass es als System selbst zum Krieg führt. Ob es sich aber in Zeiten des Friedens bewähren wird, das ist eine Frage, über die ich nicht entscheiden möchte.
Indem ich mich der Ereignisse des Sommers 1934 erinnere, fasst mich von Neuem tiefes Entsetzen über die Grausamkeit, nicht minder aber über die Verspieltheit und den hoffnungslosen Dilletantismus, mit denen die beteiligten Nationalsozialisten damals zu Werke gegangen sind.
Um diesen Juliputsch der S.S. Standarte 89 hat sich ein Legendenkranz gebildet. Indes ist zu den amtlichen Verlautbarungen, die den Hergang dargestellt haben, nicht viel hinzuzufügen. Es mag sein, dass die eine oder andere Verbindung zwischen dem Regierungslager von damals und den Nationalsozialisten enger war als man später annahm, es mag durchaus sein, dass dieser Putsch ein Extempore von Einzelnen gewesen ist, mag sein, dass die Ereignisse vom 30. Juni in Deutschland die radikalsten Gruppen ermutigt haben, auch dass die Führung der österreichischen Nationalsozialisten, die sich im Reich befand, einen schweren Rückschlag befürchtete und mit einer eigenen Aktion die Scharte auswetzen wollte. Das ändert freilich nichts an den tatsächlichen Begebenheiten, die wir noch einmal kurz darstellen wollen.
Habicht hatte die Parole ausgegeben: »Oesterreich darf nicht zur Ruhe kommen!« Um diesen Zweck zu erreichen, war jedes Mittel gut genug. In Oesterreich wurde eine Unzahl von Bombenanschlägen verübt, zahlreiche Personen vaterländischer Gesinnung wurden ermordet. Das Reich unterstützte die österreichischen Nationalsozialisten durch eine hemmungslose Rundfunkpropaganda, die Ausreisesperre nach Oesterreich und die Lieferung von Geld, Waffen und Sprengmaterial.
Wer den Plan zum Putsch vom 25. Juli ausgeheckt hat, ist mir nicht bekannt. Es hat Zeiten gegeben, in denen alle führenden Nationalsozialisten jede Verantwortung für diese Aktion abgelehnt haben; heute scheint die Zeit gekommen zu sein, in der sich wiederum Viele damit brüsten, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. Die Zeiten ändern sich eben.
Vor den Sommerferien wollte Dollfuss noch einen Ministerrat abhalten. In den folgenden Tagen sollte er eine Zusammenkunft mit Mussolini haben. Seine Frau und seine beiden Kinder waren bereits nach Riccione vorausgereist, wo sie Gäste des Duce waren.
Ursprünglich war dieser Ministerrat für den 24. Juli angesetzt. Der Plan der Nationalsozialisten ging dahin, die gesamte Regierung gefangen zu setzen und zum Rücktritt zu zwingen. Für den Fall der Betrauung Dr. Rintelens, die man in diesem Fall vom Bundespräsidenten leicht zu erreichen hoffte, war ihnen eine entsprechende Regierungsbeteiligung zugesichert.
Aus irgend einem Grunde wurde der Ministerrat vom 24. auf den 25. verschoben. Diese Verschiebung wurde von einer hochgestellten Persönlichkeit den Führern des Putsches gemeldet. Die Dispositionen wurden abgeändert, der Anschlag auf den 25. verschoben.
Der Plan zur Wiener Aktion war ein Plan von Vielen. Im Lager der Nazis haben Dutzende von Putschplänen existiert. Jeder bessere Unterführer suchte seine Fähigkeit dadurch zu erweisen, dass er einen »Aktionsplan« ausarbeitete. Es gab S.A. Pläne und S.S. Pläne, es gab Wiener, Steirische, Kärntner und Oberösterreichische Pläne, es gab Münchener und Berliner Pläne.
Das, was sich am 25. Juli in Wien und in den folgenden Tagen in einzelnen Bundesländern begeben hat, war das Ergebnis verschiedener Pläne, die durchaus nicht auf einander abgestellt waren.
Die S.S. Militärstandarte 89 hatte den Befehl erhalten, durch einen Handstreich den Ministerrat anlässlich einer Sitzung festzunehmen und Dollfuss zum Rücktritt zu zwingen. Führer dieser Aktion war ein Rechtsanwalt Dr. Wächter, der heute in Wien in hoher Stellung ist. Der Plan hatte die Genehmigung hoher Parteistellen im Reiche.
Man hatte sich durch Mittelsmänner die Gewissheit verschafft, dass der österreichische Gesandte in Rom und frühere Landeshauptmann von Steiermark, Dr. Anton Rintelen, für den Fall, dass er auf den Posten eines Bundeskanzlers berufen werden sollte, die Nationalsozialisten in sein Kabinett aufnehmen und auch der Ausschreibung einer Wahl keine Hindernisse in den Weg stellen würde. Weiter nahm man an, dass sich einige einflussreiche Mitglieder der Regierung Dollfuss in einem solchen Fall auf die Seite des neuen Kabinetts schlagen würden.
In der Wiener Polizei besassen die Nationalsozialisten eine Zelle, der einflussreiche Polizeioffiziere, wie Steinhäusl, Gotzmann, Hönigl und eine Anzahl von Wache- und Kriminalbeamten angehörten. In der Gendarmerie und im Bundesheer gab es ausserdem Nationalsozialisten, von denen man annahm, dass sie der Regierung im gegebenen Augenblick den Gehorsam versagen würden.
Man glaubte, dass entweder Wahlen oder ein chaotischer Zustand den Nationalsozialisten in ganz kurzer Zeit zur totalen Macht im Lande verhelfen würden.
Rintelen rechnete seinerseits damit, dass er sich gegen die Nationalsozialisten behaupten könnte. Er war sicherlich nicht dazu bereit, die Macht, wenn er sie einmal in Händen hatte, abzutreten.
Aber verfolgen wir die Ereignisse: Ein gewisser Paul Hudl, der der S.S. Standarte 89 angehörte und der im Weltkrieg Oberleutnant der Reserve war, sollte nach dem Plan bei der bevorstehenden Aktion eine führende Rolle spielen. Er hatte aber kein gutes Gefühl dabei. Zuerst vom Plan begeistert, dachte er, als die Zeit näherkam, daran, durch eine indirekte Anzeige die Ausführung unmöglich zu machen. Er eröffnete sich einem Mann, von dem er annahm, dass er Beziehungen zu den führenden Kreisen besitze. Dieser Mann verständigte von den Nachrichten, die er erhalten hatte, die Polizei.
Der Beamte, dem die Mitteilung gemacht worden war, ging in die Polizeidirektion und machte hier – ein Satyrspiel als Intermezzo – einen Aktenvermerk. Man muss sich das richtig vergegenwärtigen: der Polizei wird ein Plan bekannt, nach dem die Regierung des Staates gefangen gesetzt, ein Putsch- ein Umsturzversuch unternommen werden soll. Und der Beamte, in heiliger Ueberzeugung, dass seine Pflicht erfüllt sei, wenn erst der »Akt« da ist – macht einen Aktenvermerk und geht, froh über die erfüllte Pflicht, ins Kaffeehaus, um die tägliche Schachpartie zu spielen. Quod non est in actis, non est in mundo. Dieser Spruch war das Evangelium des österreichischen Beamten. Leider war es oft und diesmal anders: Quod est in actis – non est in mundo.
Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Aber es kam noch eine Anzeige.
Am 23. Juli erschien ein Kriminalbeamter namens Josef Steiner bei einem Polizeibeamten Johann Dobler, in dem er einen verlässlichen Parteigenossen sah und eröffnete ihm den Plan. Steiner gab an, dass das Bundesheer, grosse Teile der Sicherheitswache, hohe Offiziere, hohe Polizeibeamte, auch Beamte der Staats- und der Kriminalpolizei auf Seite der Aufständischen stehen. Er teilte auch mit, dass Rintelen zum Bundeskanzler ausersehen sei und Hofrat Steinhäusl Polizeipräsident von Wien werden sollte. (Er wurde es im März 1938.) Weiters warnte er ihn vor Verrat und erinnerte ihn an den Tod eines gewissen Kornelius Zimmer, der am 14. Juli einem nationalsozialistischen Fememord zum Opfer gefallen war. Dobler erklärte sich bereit, mitzutun. Am 25. Juli morgens wurde ihm die Mitteilung gemacht, dass er eine genaue Disposition noch im Verlauf des Vormittags erhalten werde. Dobler begab sich nun in ein Kaffeehaus und rief die V.F. an. Er sagte am Telephon, er habe dem Bundesleiter Stepan eine wichtige Mitteilung zu machen, könnte aber seinen Namen nicht nennen. Er erwarte ihn im Café. Dort hatte sich inzwischen zufällig ein Heimwehrführer eingefunden, dem Dobler sein Geheimnis lüftete. Dieser rief den Minister Fey an. Der Adjutant des Ministers, Major Wrabel, nahm nun direkt mit Dobler Fühlung und sah, es war etwa 11.45 Uhr, den Befehl, den der Kriminalbeamte Steiner an Dobler gesendet hatte. Er hatte folgenden Wortlaut:
»89 – ¼1 Uhr, Siebensternstrasse No 11 Bundesturnhalle – nicht über die Breitegasse in die Siebensterngasse gehen. Steiner.«
Die Meldung über diese Vorfälle erreichte den Bundeskanzler knapp vor 12 Uhr. Er unterbrach den Ministerrat, der eben tagte und gab den Ministern und Staatssekretären den Auftrag, sich in ihre Amtsgebäude zu begeben. Staatssekretär General Zehner erhielt den Auftrag, das Bundesheer bereitzustellen. Minister Fey und Staatssekretär Karwinsky blieben im Amtszimmer des Bundeskanzlers zurück. Natürlich war inzwischen auch die Polizei verständigt worden, die jedoch mit den Sicherheitsvorkehrungen viel zu spät einsetzte.
Inzwischen erschienen in der Turnhalle der Siebensterngasse zahlreiche uniformierte Soldaten und Wachebeamte. Lastautos fuhren vor. Die Polizei hatte die Meldung erhalten, dass auf dem Michaelerplatz ein Anschlag auf Dr. Dollfuss geplant werde. Man stellte den Sicherheitsapparat auf den Michaelerplatz ein.
Ein weiterer Zug der Sicherheitswache fuhr immerhin zur Siebensterngasse, um die dort Versammelten festzunehmen. Als er sich der Halle näherte, fuhren von dort acht Lastautos gegen die Stadt ab. Der Kommandant der Polizei hatte den Eindruck, dass es sich um Kräfte der Exekutive handle, weil die Insassen der Wagen Soldaten und Offiziere waren. Auf den ersten Wagen befanden sich auch Beamte der Sicherheitspolizei in Uniform.
Um 12.53 Uhr fuhren diese acht Lastautos mit insgesamt 144 Nationalsozialisten in Uniformen des Bundesheeres und der Sicherheitswache unbehindert durch das Tor des Bundeskanzleramtes.
Der Ueberfall gelang durch die Maskierung. Die Torposten mussten der Ueberzeugung sein, dass es sich um reguläres Militär handle, das zu irgend einem Zweck in das Gebäude beordert worden sei. Die militärische Wache, die sich im Hause befand, war eine Ehrenwache und hatte ungeladene Gewehre. Die Sicherheitswache war auf einzelne Posten in den verschiedenen Stockwerken des weitläufigen Gebäudes verteilt. Den Nationalsozialisten gelang es so sehr rasch, diese Kräfte zu überwältigen. Die Aufständischen handelten nach genauen Plänen. Sie teilten sich in verschiedene Gruppen, die nun in die Büros eindrangen und die Beamten in den Hof trieben. Die weiblichen Angestellten des Hauses wurden in ein Kellerlokal eingeschlossen. Die Aufständischen gaben vor, im Auftrag des Bundespräsidenten Miklas zu handeln. Ein Trupp begab sich in das Arbeitszimmer des Bundeskanzlers.
Im Säulensaal, der an den Arbeitsraum Dr. Dollfuss' angrenzt, befanden sich ausser dem Bundeskanzler und mehreren höheren Beamten noch Minister Fey und Staatssekretär Karwinsky. Als der Lärm der Herausstürmenden zu vernehmen war, wollte Karwinsky den Kanzler in Sicherheit bringen. Dr. Dollfuss ging aber nach der anderen Richtung durch sein Arbeitszimmer gegen den Kongresssaal zu. Hier trafen die Eindringenden auf ihn.
Der treue Türhüter Hedvicek wollte Dollfuss durch den Kongresssaal in Sicherheit bringen. Die Tür war verschlossen. Dr. Dollfuss wendete sich den Rebellen zu. In diesem Augenblick schoss einer von ihnen zweimal auf den Kanzler. Dr. Dollfuss stürzte zu Boden und rief mit leiser Stimme
»Hilfe, Hilfe!«
Einer der Mörder schrie:
»Steh auf!«
Aber Dollfuss vermochte sich nicht zu bewegen.
Die Schüsse wurden nach dem Urteil der Aerzte, die den Leichnam später untersuchten, aus einer Entfernung von etwa 10 bis 15 Zentimeter abgegeben. Beide Schüsse trafen den Kanzler am Hals links rückwärts. Einer davon hatte das Halsrückenmark durchbohrt und war in der Gegend der rechten Achselhöhle wieder ausgetreten.
Der Kanzler lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, ohnmächtig.
Es muss ausdrücklich gesagt werden, dass Dollfuss, ebenso wie Fey, Karwinsky und die anderen Funktionäre, hätten gefangen genommen werden können.
Der Mord an Dr. Dollfuss wurde wenige Minuten nach 13 Uhr verübt. Um etwa 13.30 wurde der Polizeioberwachmann Greifeneder und der Rayonsinspektor Jellinek in das Eckzimmer geführt, wo sie Dollfuss neben dem ersten Fenster, das an den Kongresssaal stösst, ohnmächtig auf dem Boden liegend fanden. Im Raum waren zehn bis fünfzehn Putschisten. Einer davon sass am Schreibtisch und rauchte eine Zigarette.
Die beiden Wachleute verlangten, dass man einen Arzt rufe. Man wies sie an Hudl, der als Major verkleidet war. Die Polizisten gingen zu ihm und baten ihn, einen Arzt rufen zu lassen. Hudl lehnte das ab. Oberwachmann Greifeneder ging nun in Begleitung des Oberwachmanns Messinger, eskortiert von Putschisten, in das Zimmer des Sterbenden zurück. Sie fanden ihn in derselben Lage. Einer der Nationalsozialisten hatte Verbandzeug gebracht und stellte es den beiden Polizisten hin. Sie versuchten nun, dem Kanzler einen Notverband anzulegen. Dann schoben sie ein Sofa herbei, betteten den Verwundeten darauf und versuchten ihm zu helfen. Sie wuschen ihm das Blut aus dem Gesicht. Nun kam Dollfuss wieder zu Bewusstsein. Er fragte:
»Wie geht es meinen Ministern?«
Man beruhigte ihn. Der Kanzler sprach mühsam und mit verlöschender Stimme:
»Es kamen ein Major, ein Hauptmann und mehrere Soldaten zu mir herein und schossen auf mich.«
Dann verlangte er einen seiner Minister zu sprechen. Er wollte Dr. Schuschnigg sehen. Die Wachleute gaben den Wunsch an die Putschisten weiter.
Nach kurzer Zeit erschien Hudl:
»Was wünschen Sie?«
Dollfuss wiederholte seinen Wunsch, Dr. Schuschnigg zu sehen.
Hudl antwortete: »Schuschnigg ist nicht hier«, und verlangte: »Geben Sie den Auftrag, dass mit der Regierungsumbildung Dr. Rintelen zu beauftragen ist und die Executive alle Feindseligkeiten gegen das Bundeskanzleramt einstellt«.
Dollfuss antwortete nicht.
Später bat der Sterbende um einen Arzt und um einen Priester. Die Polizisten gaben diese Bitte an die Putschisten weiter. Sie wurde abgelehnt.
Dollfuss erkannte, dass er zu Tode getroffen sei. Er bat die Wachleute, seine Arme und Beine zu bewegen, er sagte:
»Ich spüre nichts, ich bin also gelähmt!«
Indes brachten mehrere Putschisten mit vorgehaltenem Revolver den Minister Fey ins Zimmer. Dollfuss begrüsste ihn und fragte nach dem Befinden der anderen Regierungsmitglieder. Dann bat er ihn: »Schuschnigg soll die Regierungsbildung übernehmen. Sollte er nicht mehr da sein, dann Skubl«.
Zwei Rebellen, einer mit einer Pistole, einer mit einer Uhr in der Hand, drängten sich nun heran. »Herr Kanzler, kommen Sie zur Sache. Das interessiert uns nicht. Geben Sie Fey den Auftrag, dass die Executive jede Aktion unterlässt und Rintelen mit der Regierungsbildung betraut wird.«
Dollfuss antwortete: »Man soll Blutvergiessen vermeiden«, und zu Fey gewendet: »Sorgt für meine Frau und meine Kinder!«
Fey tröstete den Verwundeten und versprach ihm alle Wünsche zu erfüllen.
Einer der Putschisten neigte sich über den Kanzler und rief: »Sagen Sie, was Sie noch zu sagen haben.«
Nun wurde Fey weggedrängt und auf den Balkon geführt.
Dollfuss klagte über ein Erstickungsgefühl. Aus seinem Mund rann ein dünner Blutfaden. Noch einmal sprach er: »Kinder, ihr seid so lieb zu mir, warum sind es die andern nicht? Ich habe ja nur den Frieden gewollt. Wir haben nie angegriffen, wir mussten uns immer wehren. Der Herrgott soll ihnen vergeben.«
Dann noch: »Ich lasse meine Frau und die Kinder schön grüssen.«
Er röchelte stärker, das Auge wurde starr – es war zu Ende.
Dr. Dollfuss starb um etwa 15 Uhr 45. Er hat zwei und dreiviertel Stunden gelitten. In dieser Zeit wurden an ihm politische Erpressungsversuche verübt.
Arzt und Priester wurden ihm verweigert. Er starb einsam, verzweifelt und mag in seinen letzten Minuten das Gefühl gehabt haben, dass er vergeblich gekämpft habe – umsonst gefallen sei.
Inzwischen sind vor dem Bundeskanzleramt Abteilungen der Polizei, des Bundesheeres und des Heimatschutzes eingetroffen.
Um etwa halb vier Uhr erscheint Minister Fey von den Anführern eskortiert auf dem Balkon. Er ruft nach dem Befehlshaber. Ein Polizeioffizier meldet sich. Fey fordert ihn auf, zum rückwärtigen Tor in der Metastasiogasse zu kommen. Dort wird der Polizist von dem als Hauptmann verkleideten Holzweber empfangen und zu Fey geführt.
Der Minister berichtet, dass Dollfuss verwundet sei. Rintelen werde die Regierung übernehmen. Bis zu dessen Eintreffen, mit dem bald zu rechnen sei, möge nichts unternommen werden. Er selbst, Fey, sei Vicekanzler der neuen Regierung.
Um 16 Uhr erscheint Hudl im Hof vor den dort gefangen gehaltenen Beamten des Hauses und gibt bekannt, dass Dollfuss zurückgetreten sei. Der neue Bundeskanzler Dr. Rintelen werde in einer halben Stunde im Haus eintreffen. Fey sei Mitglied der Regierung.
Einige Beamte heben den Arm und rufen »Heil Hitler!« Die Antwort der anderen ist Schweigen.
Dr. Rintelen, auf den die Putschisten warten, kommt nicht. Auch Dr. Wächter ist nicht erschienen, der die eigentliche Führung der Aktion hätte haben sollen. Er war zu spät gekommen und fand das Tor des Bundeskanzleramtes bereits verschlossen. Das gleiche Missgeschick hatte ein gewisser Fridolin Glass, der die militärische Oberleitung zu führen gehabt hätte.
Fey gibt nun, über die tatsächliche Lage im Unklaren, telephonische Weisungen an die Polizeidirektion und die Rundfunkgesellschaft. Der Sinn aller Weisungen ist: Rintelen ist Bundeskanzler, die Executive hat jeden Angriff auf das Bundeskanzleramt zu unterlassen.
Inzwischen hatten sich ausserhalb des Gebäudes Ereignisse abgespielt, die das Abenteuer am Ballhausplatz zum Scheitern verurteilten.
Um 13 Uhr drang ein Trupp von fünfzehn Angehörigen der S.S. Standarte 89 in das Sendegebäude der »Ravag« in der Johannesgasse ein. Der Polizeiinspektor Flick, der sich ihnen entgegenstellte, wurde niedergeschossen. Im Vorraum knallten sie den Heimwehrmann Kauf und den Chauffeur Czermak nieder. Sie trieben die Angestellten in einem Raum zusammen und zwangen den diensthabenden Ansager folgende Nachricht durchzusagen: »Die Regierung Dollfuss ist zurückgetreten. Dr. Rintelen hat die Regierungsgeschäfte übernommen.«
Die Polizei eroberte das Gebäude in einem anderthalbstündigen Kampf. Die Nationalsozialisten feuerten wie die Besessenen. Um 14 Uhr war das blutige Abenteuer im Rundfunk liquidiert.
Die Minister und Staatssekretäre waren inzwischen zu einem Rumpfministerrat im Landesverteidigungsministerium zusammengetreten. Minister Dr. Schuschnigg rief den in Velden auf Urlaub weilenden Bundespräsidenten telephonisch an und erhielt von ihm den Auftrag, die Regierung vorläufig zu führen. Bedingungen, die von eingeschlossenen Regierungsmitgliedern oder gar von Aufständischen gestellt würden, wolle er unter keinen Umständen anerkennen.
Dr. Rintelen, der bereits einige Tage in Wien weilte, hielt sich im Hotel »Imperial« auf. Der Chefredakteur der »Reichspost«, Dr. Funder, veranlasste ihn, mit ihm ins Landesverteidigungsministerium zu gehen. Dort wurde er in Haft gesetzt.
Um diese Zeit, nach vier Uhr nachmittag, erkennen die Aufrührer, dass ihr Spiel verloren ist. Ihr Putsch ist isoliert geblieben, ihr Beispiel hat nicht das Land entzündet wie eine Brandfackel einen Heuschober.
Was jetzt?
Holzweber geht zu Fey und sagt ihm: »Es stimmt etwas nicht. Was soll ich anfangen?«
Man rennt hin und her. Man ruft in einem Kaffeehaus an, weil man annimmt, dass dort ein höherer Führer, nämlich Glass, sitzt, der Bescheid geben kann. Man drängt Fey, er möge etwas unternehmen. Er sei doch Mitglied der neuen Regierung. Fey hat inzwischen von der Rumpfregierung im Landesverteidigungsministerium, der er die Wünsche der Aufrührer telephonisch bekanntgibt, erfahren, dass der Bundespräsident Schuschnigg mit der vorläufigen Führung der Regierungsgeschäfte betraut hat, und dass Rintelen in Haft ist.
Er zuckt mit den Achseln. Was soll er tun? Die Regierung hat inzwischen ein Ultimatum ausgearbeitet, das folgenden Wortlaut hat: Ueber Befehl des Herrn Bundespräsidenten werden die Aufrührer aufgefordert, innerhalb einer Viertelstunde das Ballhausgebäude zu räumen. Wenn kein Menschenleben auf Seite der widerrechtlich ihrer Freiheit beraubten Mitglieder der Regierung zu beklagen ist, erklärt die Regierung, den Aufrührern freien Abzug und Ueberstellung über die Grenze zuzusichern. Wenn die gestellte Frist fruchtlos verläuft, werden die Machtmittel des Staates eingesetzt werden.«
Mit diesem Ultimatum erscheint Bundesminister Neustädter-Stürmer um 17 Uhr 30 beim Bundeskanzleramt.
Fey wird auf den Balkon geführt und verhandelt mit ihm. Er fragt nach Rintelen und Neustädter antwortet: »Rintelen kommt nicht.«
»Die neue Regierung hat beschlossen den Rebellen freies Geleit zu geben. Erfolgt die Uebergabe nicht in 20 Minuten, so lasse ich stürmen.«
Fey ruft erregt zurück, dass er den Sturm verbiete.
Neustädter antwortet: »Du hast nichts zu verbieten, du bist ein Gefangener.«
Er zieht die Uhr und sagt: »Es ist jetzt 5 Uhr 35. Um 5 Uhr 55 wird gestürmt.«
Nun wird Fey wieder abgeführt. Nach den Anweisungen des Staatssekretärs Zehner werden alle Vorbereitungen für den Sturm getroffen.
Kurz darauf bittet Fey um eine Aussprache mit Staatssekretär Zehner. Man verhandelt über die Details des Abtransportes der Aufrührer. Noch wissen die führenden Persönlichkeiten nichts vom Tod des Kanzlers.
Holzweber hat mit der deutschen Gesandtschaft Fühlung genommen. Die Art, wie er telephoniert, lässt den sicheren Schluss zu, dass man dort über alles informiert ist. Er stellt sich am Telephon als »Oberrebellenführer Hauptmann Friedrich« vor und sagt: »Der Putsch ist misslungen. Der Herr Gesandte wird gebeten, im Bundeskanzleramt zu erscheinen, um Zeuge der Abmachungen über den Abtransport zu sein.«
Tatsächlich erscheint bald darauf der Gesandte Rieth auf dem Ballhausplatz und wendet sich an Minister Neustädter-Stürmer. Er sei durch einen Hauptmann Friedrich, den er nicht kenne, angerufen und um Intervention gebeten worden.
Neustädter sagt ihm: »Was hier zu geschehen hat, ist unsere Sache, Ihre Intervention ist nicht notwendig. Im übrigen halte ich es nicht für empfehlenswert, dass Sie sich durch Verhandlungen mit Rebellen anpatzen.«
»Unter diesen Umständen,« sagt Rieth, »habe ich hier nichts mehr zu suchen.« Er geht nun in die Metastasiogasse und führt ein Gespräch mit Holzweber, der, wie schon vorher am Telephon, die Bereitstellung von Autos und Begleitpersonen vom deutschen Gesandten verlangt.
Auf der Strasse trifft er Staatssekretär Karwinsky, dem es gelungen ist, aus dem Gebäude zu entkommen. »Tolle Sache, das«, meint Rieth.
Karwinsky antwortete: »Excellenz, ich finde es äusserst merkwürdig, dass Sie für dieses furchtbare Ereignis keine anderen Worte finden. Die Blutschuld für das, was geschehen ist, lastet jenseits unserer Grenzen.«
Um 19 Uhr 30 wurde das vordere Tor geöffnet. Polizei dringt ein und nimmt die Aufrührer fest. Der Vorhang fällt vor der blutigen Szene.
Im Bundeskanzleramt wurden 154 SS. Leute verhaftet. Unter den aktiv beteiligten waren neun Wachleute und sechs Kriminalbeamte der Wiener Polizei. Unter den Aufrührern befanden sich Leute, die wegen versuchten Mordes, wegen Einbruchdiebstahls – nach der Invasion fehlten mehrere goldene Uhren und Geldbeträge – schwerer Körperverletzung, vorbestraft waren. Dem toten Bundeskanzler wurde seine Brieftasche mit 500 Schilling Inhalt aus dem Rock gestohlen.
Die Rebellen wurden zuerst in die Polizeikaserne in der Marokkanergasse gebracht und dann dem Militärgericht übergeben.
Ueber die Frage des freien Geleites ist viel gestritten worden. Ich glaube, dass das ein müssiger Streit ist. Als Minister Neustädter seine Zusage abgab, wusste er noch nicht, dass Dollfuss tot sei. Auch wenn er es gewusst hätte, hätte die Situation, in der verhandelt wurde, Erklärung für alles geboten.
Dreizehn der Putschisten wurden zum Tod verurteilt und hingerichtet. Holzweber äusserte in der Verhandlung: »Man hat mir gesagt, dass es kein Blutvergiessen geben kann. Die Regierung sei bereits gebildet und Rintelen halte sich auf dem Ballhausplatz auf. Wir vermissten die Führer des Aufstandes im Bundeskanzleramt. Ich habe dem Major Fey gesagt: »Ich weiss nicht, was ich tun soll«.
Die Hingerichteten werden nun für einige Zeit als Märtyrer glorifiziert werden. Schon gibt es in Oesterreich »Holzweber-« und »Planettastrassen«. Wenn etwas für sie spricht, so ist es die Tatsache, dass sie von dilettantischen und verantwortungslosen Führern in ein Abenteuer geschickt worden sind, dass sie preisgegeben und verraten wurden. Durch ihre direkten Führer, durch die illegale Landesleitung der Nationalsozialisten und durch den obersten Führer ihrer Partei, mit dessen Namen auf den Lippen sie gestorben sind – verraten von Adolf Hitler, der damals öffentlich erklärte, dass er den Anschlag schärfstens verurteile.
Vier Jahre später, März 1938. Major Fey wurde in seiner Wohnung in Wien mit seiner Frau und seinem Sohn erschossen aufgefunden.
Minister Neustädter-Stürmer wird auf der Strasse in Wien von Nationalsozialisten ermordet.
General der Infanterie Zehner wurde in seiner Wohnung in Wien von Nationalsozialisten erschossen.
Staatssekretär Karwinsky ist in einem Konzentrationslager. Dr. Schuschnigg ist gefangen. Die Dollfussdenkmäler werden gestürzt und die Führer des deutschen Volkes und Reiches legen Kränze an den Gräbern von Holzweber und Planetta nieder.
Das ist die Geschichte des 25. Juli.
Der Wiener Aufruhr löste in einzelnen Bundesländern Umsturzversuche aus. Es dauerte vier Tage bis die Ruhe wieder hergestellt war.
Ich habe den Umsturz in Kärnten erlebt. Ich sah einen Soldaten des Bundesheeres, der seinem Hauptmann meldete, dass er auf einer Patrouille seinen Bruder unter den Aufrührern erkannt habe. Ich sah eine Frau, deren Bruder mit den Nationalsozialisten kämpfte und deren Mann in den Reihen des Heimatschutzes stand. Ich kannte einen nationalsozialistisch orientierten Offizier des Bundesheeres, der in Erfüllung seiner Pflicht gegen die Aufrührer vorrückte und fiel. Ich habe Nationalsozialisten gesehen, die ihre neuen deutschen Maschinenpistolen wegwarfen, als sie ausgeschossen waren, weil sie solche Waffen vorher noch nie in der Hand gehabt hatten und sie nicht laden konnten. Ich sah Angehörige des Heimatschutzes und der Sturmscharen, denen ihr Offizier in der Feuerlinie die Magazine in die Gewehre schieben musste, weil sie die Waffe nicht bedienen konnten. Ich sah Idealisten und ehrlich Ueberzeugte. Ich sah aber auch die Intellektuellen, die Aerzte, Advokaten, Apotheker und Kaufleute in den Kaffeehäusern sitzen und hörte sie, die grössten Lobredner des Nationalsozialismus, sagen, dass sie schon immer dieses böse Ende vorausgesehen hätten. Ich kenne viele, viele von ihnen, die plötzlich das dringende Bedürfnis hatten, einen Badeaufenthalt in Jugoslavien zu nehmen, während ihre arme uninformierte Gefolgschaft, junge Burschen, Handwerksgesellen, Jäger, Bauernknechte hoffnungslos in den Wäldern umherirrte.
Der Juliputsch hat in Oesterreich etwa 500 Todesopfer gekostet.
Die Nachricht vom Tode des Kanzlers wurde seiner Witwe von Mussolini persönlich überbracht. Der Duce war tief erschüttert. Er mobilisierte mehrere Divisionen und schickte sie an die Grenze. An die gleiche Grenze, an der sich deutsche und italienische Truppen im März 1938 freundschaftlich begrüssten.
Die Verantwortung für den 25. Juli trifft in erster Linie Adolf Hitler, der den Landesinspekteur Habicht eingesetzt hatte und an ihm und seiner Politik festhielt.
Sie trifft in zweiter Linie diesen Theo Habicht, der derzeit Abgeordneter des deutschen Reichstags ist und den General Göring, als er nach dem missglückten Putsch bei ihm erschien, einen Saukerl nannte und ihm den Rat gab, sich eine Kugel in den Hintern zu schiessen.
Das erzählte Göring selbst. Sie trifft die Führer der SS., die ihre Formationen zum Putsch kommandierten. Es ist wahrscheinlich, dass die Führer des Nationalsozialismus über diesen 25. Juli anders urteilen als wir, die wir unsere deutsche Welt und Lebensanschauung im Nationalsozialismus nicht vertreten finden. Es gibt verschiedene Massstäbe zur Beurteilung der Geschichte.
Die Nationalsozialisten haben die ihren. Wir behalten – die unseren.