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Hoch über den Ufern der Seine hat Lenôtre eine Terrasse gebaut, die, fast zwei Kilometer lang, einen wunderbaren Ausblick über Paris und das Tal der Seine gewährt. An hellen Tagen steigt aus den Nebeln der Grosstadt die Basilika von Sacré-Cœur, die den Montmartre krönt wie eine Gralsburg. Am Ende der Terrasse steht der letzte Rest des »neuen Schlosses« von Saint Germain, der Pavillon Heinrich IV., in dem Ludwig XIV. geboren wurde. Heute ein Hotel für Engländer und Pariser, die ein schönes und verschwiegenes Wochenende in der Nähe der Stadt verbringen wollen.
Im Jahre 1919 glich diese Erinnerungsstätte einem Gefangenenlager. Und das Hotel war es auch. Stacheldrahtverhaue und strenge Absperrungen verwehrten es einer grossen Gesellschaft deutsch sprechender Herren, einmal nach Paris hineinzufahren oder einen Erholungsgang durch den weitläufigen Forst zu unternehmen, der an Park und Terrasse anschliesst.
Diese Gesellschaft, von der hier die Rede ist, hatte unzählige Koffer und Kisten, angefüllt mit Akten und Schriften mitgebracht, diktierte und schrieb, diskutierte und beriet. In den abendlichen Stunden aber setzten sich einige von ihnen zusammen, stimmten ihre Instrumente und spielten ein wenig Haydn, Mozart, Schubert. Und träumten und warteten.
Man wartete auf die Einleitung der Friedensverhandlungen. Die Gesellschaft, von der ich hier erzähle, war die österreichische Delegation, die nach Paris gekommen war, um für den österreichischen Staat nach dem verlorenen Weltkrieg Frieden zu schliessen. Sie alle, die da beieinandersassen, hatten sich Friedensverhandlungen anders vorgestellt. Sie alle hatten, wenn sie das Wort aussprachen, die Betonung auf Verhandlungen gelegt. Sie hatten geglaubt, dass man jetzt reden, Argumente vorbringen, Sachverhalte klarstellen würde, deshalb die Kisten und Koffer, die Schriften, Akten, Dokumente. Aber das war jetzt alles unnotwendig. Der Friedensvertrag wurde den Herren fertig auf den Tisch gelegt. Es galt ihn lediglich zu studieren, das Buch zu studieren, denn es war ein Buch – und zu akzeptieren.
Von Verhandlungen war keine Rede. Man erinnert sich der Wortfügungen der damaligen Zeit. »Die Tore des Völkergefängnisses der österreichisch-ungarischen Monarchie« wurden geöffnet, »Nationen wurden befreit«, »das Mittelalter im Donauraum« ausgerottet. Das alles.
Und die Herren aus Wien waren auf einmal nicht das, was sie waren. Nicht Bibliothekare, Agrarier, Bankdirektoren, Geographen, Historiker, Politiker, die das Schicksal in einer bedeutsamen Stunde an die Spitze eines kleinen Staates gestellt hatte, sondern Erben. Verantwortliche, Schuldige, Angeklagte, Verurteilte. Keiner von ihnen, die Kleinbürger und Harmlose waren, hatte jemals davon geträumt, dass er einmal dazu verurteilt werden könnte, Rechenschaft über Jahrhunderte europäischer Geschichte abzulegen. Es war wie ein böser Traum.
Der Urteilsspruch von St. Germain lautete: Ihr seid die Schuldigen! Für den Krieg, für die Knechtschaft von zehn oder mehr Völkern. Diese Friedensverhandlungen von St. Germain waren ein tragikomisches Missverständnis, das von Shakespeare ersonnen worden sein könnte.
Die Oesterreicher, die im Geist der Wilson'schen Punkte eine neue Zeit anbrechen sahen, verklagten ihre Väter und Grossväter, um in den Augen ihrer hohen Richter schuldlos zu erscheinen. Sie hätten sich, die Kleinen, gerne die Füsse abgeschnitten, um noch kleiner, unscheinbarer, unschuldiger zu erscheinen. Aber vor den Augen des hohen Rates, da erschienen sie als gefesselte Riesen, die die Welt in Unordnung gebracht hatten, die man nun aber niedergerungen hatte und denen man jetzt Fesseln anlegen musste, damit sie die Welt nicht neuerlich in Unordnung brachten.
Die Mitglieder des hohen Rates hatten keine Ahnung von der grotesken Vermummung, in die sie ihre Angeklagten hineindachten. Sie hatten keine Ahnung, über was sie zu Gericht sassen. Sie waren keine Propheten und sie waren keine Weltweisen. Sie brauchten, um rechte Sieger zu sein, besiegte Giganten, sie zerstörten Oesterreich, so gut sie das vermochten, anstatt dass sie es gehegt, gepflegt, erhalten hätten.
Wenn, – sie sind sinnlos diese Wenn-Sätze, aber man denkt sie so gerne –, wenn ein einziger Mensch in St. Germain die Macht, den Geist, die Grösse besessen hätte, zu verstehen, was das heisst: Oesterreich – einfach die Ordnung Europas, vielleicht überhaupt: Europa – dann wäre im Jahr 1919, im Pavillon, in dem Ludwig XIV. geboren worden ist, der Welt viel erspart worden. Den Oesterreichern, den Nationen im Südosten von Europa, dem deutschen Volk und den Nationen, die über die österreichische Delegation zu Gericht sassen.
Aus einem Grossstaat mit 150 Millionen Einwohnern, die zehn verschiedenen Nationen angehörten, hatte man in St. Germain einen kleinen Staat gemacht, der etwa wieder dasjenige Gebiet umfasste, von dem aus das Haus Habsburg die grosszügige Ordnung des mitteleuropäischen Raumes begonnen hatte. Es kann im Jahre 1919 Niemanden gegeben haben, der daran gedacht hätte, dass dieses neue Oesterreich in seiner durch den Frieden von St. Germain entstandenen Gestalt etwas endgültiges sei.
Die österreichische Aussenpolitik musste demnach Verbindungen suchen, die aus den engen Grenzen des Nachkriegszustandes hinaus, in eine bessere und gesichertere Zukunft führten.
Es gab und gibt nur eine beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, die für den österreichischen Staat erwogen werden konnten. Der Anschluss an das Reich, die Schaffung einer Donaukonföderation, die Restauration der alten Monarchie, wenn auch in geänderter Form und die »Verschweizerung«.
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Donaukonföderation sind nie endgültig geschaffen worden. Die »Verschweizerung« wäre nur durch die kollektive Garantie der Unabhängigkeit des Landes möglich gewesen, eine Garantie die Deutschland vorbehaltlos hätte mitübernehmen müssen.
Das Ziel der österreichischen Aussenpolitik hat darin bestanden, die Selbständigkeit des Staates zu sichern, um die Kräfte, die es als Mittelpunkt der Ordnung im Donauraum besitzt, für konstruktive Lösungen freizumachen.
Kein Staat kann eine Aussenpolitik unter völligem Verzicht auf die innenpolitische Stimmung und auf seine Anrainer machen.
Damit erübrigt sich ein Vorwurf, der dem österreichischen Staat oft gemacht worden ist. Man hat darauf hingewiesen, dass es ein Fehler gewesen wäre, eine eindeutige Bindung mit Italien einzugehen. Oesterreich grenzt an die Schweiz, an Deutschland, an die Tschechoslovakei, an Ungarn, Jugoslavien und Italien. Die jugoslavische Haltung gegen Oesterreich war durch die Angst vor einer Restauration der Habsburger bestimmt. Die Tschechoslovakei erkannte erst im letzten Jahr die Gemeinsamkeit der Probleme, die sie mit Oesterreich verband. Mit Ungarn war das Verhältnis ein eng freundschaftliches. Die Beziehungen zu Deutschland und Italien sind bekannt. Die Politik, die Frankreich und England in Oesterreich machten, war eine mittelbare Politik.
Die beiden grossen Möglichkeiten, die immer wieder diskutiert wurden, waren der Anschluss und die Restauration.
Unter dem Sammelbegriff Anschluss an Deutschland verstand man in Oesterreich und Deutschland ganz verschiedenartiges.
Die Liberalen sagten Anschluss und meinten den Zusammenschluss der Liberalen gegen die Monarchie, auch gegen die konservativen Kräfte des Katholizismus. Die Sozialdemokraten sagten Anschluss und meinten den Anschluss an eine sozialistisch geführte parlamentarisch-demokratische Republik. Die Katholiken sagten Anschluss und dachten an ein katholisches Gegengewicht gegen den protestantischen Norden. Die Alldeutschen sagten Anschluss und meinten den Anschluss an ein nationales Grosspreussen. Die Nationalsozialisten sagten Anschluss und meinten die Gleichschaltung Oesterreichs und seine kompromisslose Unterordnung unter das nationalsozialistische Führerprinzip.
Der Katholik war gegen den Anschluss an ein liberal-nationales Grosspreussen, gegen den Anschluss an eine sozialistische Republik und gegen die Gleichschaltung.
Der Sozialdemokrat war gegen den Anschluss an ein konservativ und monarchistisch regiertes, gegen das Aufgehen in ein konfessionell betontes, gegen ein fascistisch orientiertes Deutschland.
Der Nationalliberale gegen einen Anschluss an eine sozialistische Republik, gegen ein katholisches Deutschland.
Der Nationalsozialist gegen jede Form von Anschluss, die nicht dem Nationalsozialismus zum Sieg verholfen hätte.
Nicht genug damit: Es gab Leute, die sich das grossdeutsche Reich nach dem Anschluss nur als Monarchie, andere die es sich nur als Republik vorstellen konnten. Es gab Leute, die nur einen nationalen Einheitsstaat, andere, die nur einen Bundesstaat gelten lassen wollten.
Es gab Oesterreicher und Reichsdeutsche in grosser Zahl, die dem Anschluss in jeder Form feindlich gegenüberstanden.
Man geht aus vielen Gründen fehl, wenn man das, was Hitler am 11. März 1938 getan hat, als Anschluss bezeichnet. Das, was Hitler durchführte, war die Eroberung Oesterreichs für den Nationalsozialismus mit Hilfe der deutschen Heeresmacht.
Fast alle Anhänger des Anschlussgedankens sahen das künftige grossdeutsche Reich als einen Bundesstaat, in dem die Kräfte der einzelnen Stämme und Landschaften sich miteinander messen könnten, einen Staat, der ein getreues Abbild der bunten Vielfalt des deutschen Lebens sein sollte.
In vielen Gesprächen mit führenden österreichischen Nationalsozialisten habe ich die Erfahrung gemacht, dass auch die Anhänger Hitlers in Oesterreich überzeugte Gegner eines formlosen Aufgehens Oesterreichs in den deutschen Staat waren. Ihr Traum war ein nationalsozialistisches, aber selbständiges Oesterreich.
Der Oesterreicher kennt und schätzt die Einrichtung der territorialen Selbstverwaltung, er weiss, dass das deutsche Denken, die deutsche Tradition zum föderalistischen Staat hinführen. Deshalb war – so verschiedenartig sich auch die einzelnen Gruppen den Anschluss vorstellten – allen der Wunsch gemeinsam, der Anschluss möge so durchgeführt werden, dass der Oesterreicher im neuen Reich Platz habe.
Im nationalsozialistischen Deutschland hat der Oesterreicher nicht Platz. Oesterreich wurde nicht angeschlossen, sondern einverleibt.
Zwei österreichische Politiker der Nachkriegszeit haben sich mit der Anschlussfrage tätig befasst: Dr. Seipel und Dr. Schober. Seipel, dessen unvergessliche Persönlichkeit noch nachwirken wird, wenn die grosse Frage der Gestaltung Mitteleuropas einmal zur Lösung kommt, hat das Verdienst, die Problematik des Anschlusses aus der deutschen und der europäischen Wirklichkeit heraus zum ersten Mal formuliert zu haben. Schober hat den mit unzureichenden Mitteln unternommenen Versuch gemacht, eine Zollunion zwischen dem deutschen Reich und Oesterreich zustande zu bringen.
Der legitimistische Gedanke fand in Oesterreich in den letzten Jahren immer mehr Freunde. Weite Kreise kamen zur Erkenntnis, dass der Staat einen obersten Richter, eine unveränderbare Spitze, eine objektive oberste Instanz, der sich alle zu beugen haben, braucht, ein lebendiges Symbol, das die grosse Tradition des Landes repräsentiert und dem Tagesstreit enthoben bleibt. Das Volk sah die Notwendigkeit einer völlig unabhängigen und stabilen Führung ein. Man wusste, dass die Republik den Anforderungen, die die Zeit stellte, nicht entsprach und sah andererseits in der reinen Diktatur nichts anderes als eine verpatzte Monarchie. Von dieser Erkenntnis schloss sich weder die Arbeiterschaft, noch die obere Schicht aus. Der monarchistische oder legitimistische Gedanke – beide Begriffe fallen in Oesterreich zusammen, – ist besonders in den sogenannten unteren Schichten, in der Arbeiterschaft, im kleinsten Kleinbürgertum verankert. Dazu kam, dass die Persönlichkeit des Chefs des Hauses Oesterreich allgemein Sympathie erweckte. Seine zahlreichen Besucher, die er in Stenockerzeel empfing, berichteten immer wieder von dem besonderen Ernst, mit dem er das Schicksal seines Vaterlandes verfolgte, von der ausserordentlichen Bildung, die er besitzt und der Lebendigkeit seines Urteils, seiner modernen und zugleich im besten Sinn konservativen Weltanschauung.
Die Politik der Legitimisten in Oesterreich stiess indes auf vielerlei Hindernisse aussenpolitischer und innenpolitischer Art. Die Regierung stellte sich auf den Standpunkt, die Frage der Regierungsform in Oesterreich sei eine rein innenpolitische Angelegenheit. Gleichwohl erklärten Deutschland und Jugoslavien, dass für sie die Rückkehr der Habsburger nach Oesterreich ein casus belli sei. Göring hat diese Feststellung mehrmals und in drastischer Form gemacht. Die gleiche Erklärung gab die jugoslavische Regierung ab. Die gemeinsame Gegnerschaft gegen Habsburg wurde ja auch in den letzten Jahren der Ausgangspunkt für die Anbahnung einer deutsch-jugoslavischen Freundschaft, um deren Vertiefung das Reich heute noch wirbt.
Die Tschechoslovakei sah in der Heimkehr des Chefs des Hauses Habsburg nach Oesterreich eine Gefahr. Von Prag aus optierte man, vor die Entscheidung Anschluss oder Restauration gestellt, für den Anschluss. Dieser Standpunkt hat sich erst in den letzten Jahren geändert.
In Paris sah man bis zum Jahre 1937 die Restauration als eine Gefahr für das französische Bündnissystem in Südosteuropa an. In Rom nahm man eine abwartende Haltung ein.
Schuschnigg, der selbst Legitimist ist, wollte die Restauration zu einem Zeitpunkt durchführen, in dem sie nicht mehr eine aussenpolitische Gefährdung des österreichischen Staates gewesen wäre.
Seine Politik lief darauf hinaus, vor der Rückkehr des legitimen Herrschers die Selbständigkeit des Staates zu sichern. Er war der Meinung, dass die Restauration in den Jahren 1934-1938 eine eminente Gefährdung des Staates und damit ein Abenteuer gewesen wäre.
Heute kann man annehmen, dass seine Rechnung nicht richtig war. Eine Heimkehr des Kaisers hätte zu nicht mehr als demselben Ultimatum geführt, das Schuschnigg in Berchtesgaden und am 11. März entgegenzunehmen gezwungen war. Nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden empfing Dr. Schuschnigg einen Brief aus Stenockerzeel, in dem der Kaiser die Gefahr, in der das Land war, klar zeichnete. Er forderte den Bundeskanzler auf, ihm die Kanzlerschaft zu übertragen. Dieses Schreiben des exilierten Monarchen, der sich erbötig macht, in einer ausserordentlich gefährdeten Situation in sein Land zu gehen, um dieses Land zu verteidigen und ihm zu dienen, hat Grösse und gibt einen Einblick in die Persönlichkeit des Chefs des Hauses Oesterreich, in seinen Opferwillen, in seine Tatkraft.
Im November 1918 gab es in Oesterreich folgende politische Gruppen: Die Christlichsoziale Partei, die Sozialdemokratische Partei, die Grossdeutsche Volkspartei und den Landbund. Die ausserparlamentarischen Kräfte des Heimatschutzes und der N.S.D.A.P. sind erst später entstanden.
Die Christlichsoziale Partei war eine Gründung Dr. Karl Luegers, des grossen Bürgermeisters von Wien, der in seiner Amtszeit von fünfzehn Jahren das Bild der Stadt grundlegend veränderte. Diese Partei füllte eine Lücke in der politischen Welt der letzten Jahrzehnte des XIX Jahrhunderts in Oesterreich aus. Lueger sah den Liberalismus in den Händen des grossbürgerlichen Kapitalismus, der aufsteigende Sozialismus aber war mit seinen Begriffen von dem in der religiösen Erlebniswelt verankerten kleinen Mann, dem Klein- und Kleinstbürger, nicht vereinbar. Lueger liess dem kleinen Mann seinen Glauben und machte ihn zum Bürger. Er war der Mann aus dem Volke, der Mann für das Volk. Er war genial, witzig, schön und geliebt. Er machte Wien zur modernen Grosstadt. Er war antisemitisch nach der von ihm geprägten Formel: »Wer a Jud is, bestimm i«. Hitler sagt von ihm in »Mein Kampf«, er sei der »gewaltigste deutsche Bürgermeister gewesen«. Lueger hätte sich über dieses Wort sicher gefreut. Weniger über den sonstigen Inhalt des Buches.
Die Christlichsoziale Partei nahm in sich die »Klerikalen«, die konservative Adelspartei auf, sie war die Partei der Gewerbetreibenden, der kleinen Beamten, der Bauern, der christlichen Arbeiter.
Für den Kenner der politischen Verhältnisse des Nachkriegsösterreich ist der Name dieser Partei, die durch mehr als zehn Jahre als die stärkste des Landes die Regierungschefs stellte, mit einigen Namen verbunden. Dem des Prälaten Dr. Ignaz Seipel, der das Land aus der Not der Inflation herausriss und wirtschaftlich sanierte, dem Namen des späteren Bürgermeisters von Wien Richard Schmitz, der in fast allen Kabinetten Seipels einen Ministerposten bekleidete und eine scharf profilierte politische Persönlichkeit ist, dem Namen Dollfuss' und schliesslich dem des letzten Bundeskanzlers Dr. Schuschniggs. Aus dieser Partei, die eine echte Volkspartei gewesen ist, sind aber neben diesen Persönlichkeiten auch andere Politiker hervorgegangen, wie etwa der berühmte Landeshauptmann von Salzburg Dr. Franz Rehrl, der geniale Erbauer der Grossglocknerstrasse, der Begründer und initiative Kopf der Salzburger Festspiele, ein ebenso aussergewöhnliches Verwaltungsgenie, wie ohne Zweifel der beste Fachmann für Fremdenverkehrswerbung, den wir gehabt haben. Aus der Christlichsozialen Partei kam Dr. Otto Ender, der Autor der Maiverfassung, eine ganze Reihe berühmter und angesehener Bauernführer, aber auch Dr. Anton Rintelen, der als Landeshauptmann von Steiermark in seinem Lande unter dem Namen »König Anton« bekannt war.
Die Grossdeutsche Volkspartei brachte es nie zu grösseren Wahlerfolgen. Sie war die Partei des liberalen Bürgertums, die jedoch in den Kreisen der Arbeiterschaft, der Bauernschaft niemals Wurzel schlagen konnte. Aus ihren Reihen ging auch im Nachkriegsösterreich keine einzige hervorragende Führergestalt hervor.
Die evangelischen und liberalen Bauern, im Verhältnis zu den katholisch orientierten Bauern eine kleine Minderheit, besassen im Landbund eine eigene Partei, die einige Jahre hindurch eine Rolle spielen konnte, weil die Christlichsoziale Partei zur Sicherung ihrer Mehrheitsposition die kleinen Parteigruppen zur Regierung mit heranzog.
Aus diesen beiden kleinen Parteien, Grossdeutsche Volkspartei und Landbund, machte der ehemalige Bundeskanzler Schober vor den Nationalratswahlen 1930 eine Wahlgemeinschaft, die unter dem Namen »Schoberblock« bekannt geworden ist. Dieser Schoberblock besass an die zwanzig Abgeordnete im Nationalrat und war der letzte Versuch, die liberalen Kräfte in Oesterreich zu einer starken Gruppe zu formieren. In dem Augenblick aber, in dem Schober die Regierung aus der Hand geben musste, zerfiel auch seine Kampfpartei. Nach ihm hat der seinerzeitige Vicekanzler Franz Winkler noch einmal den Versuch gemacht, alle liberalnationalen Kräfte, selbstverständlich mit Ausschluss der Nationalsozialisten, in der »Nationalständischen Front«, die als eine Konkurrenz der »Vaterländischen Front« (V.F.) gedacht war, zu formieren. Der Nationalständischen Front fehlte Idee und innerer Zusammenhalt. Sie ist in die Geschichte eingegangen, ohne selbst Geschichte gemacht zu haben.
Seit dem Weltkrieg war in Oesterreich der Besitz einer Trafik, so heissen die Verkaufsstellen des Tabakmonopols, ein Zeichen dafür, dass der Inhaber dem Staat einmal Dienste geleistet hatte, ohne eine ausreichende Pension zu bekommen. Tabaktrafikanten waren Invalide, Witwen nach Offizieren und Soldaten, Kriegswaisen, aber auch Offiziere und Beamte, die durch irgend ein Missgeschick ihre Pension verloren hatten.
Wer in eine Wiener Stadttrafik eintrat, der konnte damit rechnen, dass ihm eine Dame das Zigarettenpaket reichte, die vor zwei Jahrzehnten eine führende Rolle im gesellschaftlichen Leben einer Garnisonstadt der alten Monarchie gespielt hatte. Ein Herr konnte die Zigarrenkisten auf den Tisch räumen, der Ritter oder Komtur eines hohen Ordens war, ein junges Mädchen, das von einer Sternkreuzordensdame aus der Taufe gehoben worden war, wovon noch ein brillantbesetztes Goldkreuz, das sie am Hals trug, Zeugnis gab.
Als unter Dollfuss die alten Uniformen und Orden wieder erlaubt wurden, gab es Tabaktrafikanten, die sich am Sonntag vormittag zu einem Spaziergang über den Ring den grünbefederten Generalshut auf den grauen Kopf stülpten.
Auf dem Wiener Franz Josefs-Bahnhof gab es einen Tabaktrafikanten, der wohl nicht hoher Offizier und nicht Kriegsinvalide, aber einer der berühmtesten Männer der alten Monarchie gewesen war. Dieser Tabaktrafikant, der kärglich von den Prozenten lebte, die ihm sein Laden abwarf, hatte einmal einen k.u.k. Ministerpräsidenten, den Grafen Badeni, zum Duell gefordert, hatte die deutsche Jugend Oesterreichs zur Begeisterung hingerissen. Ihn feierten die Kleinbürger Böhmens, zu denen er sprach, als »Jungsiegfried«, er war eines der leuchtendsten Vorbilder für einen obdachlosen Maler, der hoffnungslos durch die Strassen Wiens ging, für Adolf Hitler.
Dieser Tabaktrafikant lebt noch. Er heisst Karl Hermann Wolf und war in seiner grossen Zeit der erste Mitarbeiter des Führers der alldeutschen Bewegung, Georg Karl Ritter von Schönerer.
Diese alldeutsche Bewegung Schönerers ist der politische Ausgangspunkt des Nationalsozialismus und das Vorbild Adolf Hitlers gewesen. Die Partei Schönerers predigte den Antisemitismus, den Kampf gegen die katholische Kirche unter der Parole »Los von Rom«; stiess die christliche Zeitrechnung um und erhob das Jahr der Schlacht im Teutoburger Wald zum Jahre 1 einer neuen germanischen Weltzeit. Sie setzte den lichten Baldur an die Stelle Christi und erfand aus wahren und erdichteten Büchern ein theatralisches Germanentum, das sich im eigenen Urväterkostüm verwickelte und verhedderte.
Die grössten Erfolge erzielten Schönerer und Wolf in den kleinen Provinzstädten Oesterreichs, insbesondere aber Böhmens. Hier lebte eine neue Menschenklasse ohne besondere Aufgaben. Eine Menschenklasse ohne eigenes Kulturmilieu, nicht mehr proletarisch und nicht bourgeois, nicht mehr bäuerlich und schon garnicht weltbürgerlich. Ein Bürgertum, das sich von den armen Leuten, den Arbeitern, Kleinhäuslern, Bauern, die fromm oder marxistisch waren, durch Bildung, Aufgeklärtheit abheben wollte, aber doch nur bis an die Tore des ersten Vorhofs der Bildung gelangt war. Das Jagdrevier der Dietwarte, deutschen Turnvereine, der Leser der Gartenlaube, Karl May's und der Adlersfeld-Ballerstrem. Dieses Kleinbürgertum, eine bürgerliche Pseudomorphose, suchte nach einer Aufgabe, einer Bestimmung. Diese Aufgabe, diese Bestimmung gab all diesen Leuten, die mehr sein wollten als sie waren, Georg Schönerer, sie hiess:
Kampf um eine germanische Welt, in den Negativformeln: Antisemitismus, »Los von Rom«, Verteidigung des Deutschtums in den Grenzgebieten.
In den Reihen dieser nationalen Bewegung war jetzt jeder wieder irgend etwas. Mehr als früher. Angehöriger einer Edelrasse, auch wenn die Herkunft und das Aussehen dagegensprach. Prophet einer neuen Zeit, Gegner der »finsteren Bildungsfeinde, die von den Kanzeln das Volk verdummten«, Gegner der »jüdischen Agenten des internationalen Proletariats«, Entschleierer der »düsteren Geheimnisse der Weisen von Zion«, der »Ligourimoral«. Schönerer und Wolf gaben dem kleinen Mann, der nicht Proletarier sein wollte und nichts besseres sein konnte, den Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt in die Hand. Da konnte nun endlich der Kaufmann, der Tierarzt, der Apotheker, der Handelsangestellte am Wirtshaustisch, so zwischen zwei Gläsern »Pilsener Bier«, die Welträtsel entschleiern. Er war ein »Wissender«, der eine »Mission« hatte, ein Edler, ein Besonderer.
Einer dieser Leute, die das mit Begeisterung aufnahmen, was man in der »Ostdeutschen Rundschau« niederschrieb, war Adolf Hitler. Von der Welt Schönerers aus hat er die Welt des Nationalsozialismus gestaltet.
Die alldeutsche Bewegung war ein Strohfeuer. Ihre Führer überlebten die Bewegung und sich selbst um viele Jahre.
Welches Gefühl aber muss den Tabaktrafikanten Karl Hermann Wolf beseelt haben, als er den neuen Siegfried – Adolf Hitler – die Ideale seiner Jugend zur Herrschaft über das ganze deutsche Volk erheben sah!
Aus den Resten der Schönerer-Bewegung entstand im Jahr 1903 in Böhmen eine » Deutsche Arbeiterpartei für Oesterreich«, die neben den bürgerlich nationalen Gruppen arbeitete und den Versuch unternahm, das Programm des Sozialismus mit der nationalen Welt Schönerers zu koppeln.
Diese erste »nationale Arbeiterpartei« predigte den Klassenkampf, trat für die Verstaatlichung der kapitalistischen Grossbetriebe, für die Brechung der Zinsknechtschaft ein.
In Wien wurde im Jahr 1913 ein »Reichsverein der deutschen Arbeiter Oesterreichs« begründet, der im Jahr 1918 seinen Namen in »Deutscher nationalsozialistischer Verein für Oesterreich« abänderte.
Diese Partei, die in enger Zusammenarbeit mit der böhmischen Gruppe, allerdings ohne viel Erfolg und nicht sehr beachtet, wirkte, prägte zum ersten Mal den Namen: Nationalsozialismus, lange bevor Hitler in die Münchener Partei, in der er die Mitgliedsnummer 7 erhielt, eintrat, ja lange bevor diese Münchener Gruppe entstand.
Die böhmische nationalsozialistische Partei stellte denn auch noch jahrelang einen Führungsanspruch über die reichsdeutsche und österreichische Gruppe – in ihrem Rahmen entstanden vor Gottfried Feder die nationalsozialistischen Programme – sie formulierte das Bekenntnis der Bewegung zum Klassenkampf, sie führte, ihre Chefs hiessen Jung und Krebs, den Vorsitz in den Tagungen, an denen die Deutschböhmen, die Oesterreicher, die Münchener zusammenkamen; 1920 in Salzburg, 1921 in Linz. An diesen Konferenzen nahm auch schon, als Delegierter der Münchener Partei, Adolf Hitler teil. Vorerst stand er im Hintergrund, später ging die Führung immer mehr auf ihn über.
In Wien leitete der Rechtsanwalt Dr. Walter Riehl die Partei. Das war ein selbständiger, eigenwilliger Kopf. Er wurde 1924 aus der Partei ausgeschlossen.
Am 29. August 1926 wurde die österreichische N.S.D.A.P. als Bestandteil der deutschen Partei (Gau 8) konstituiert. In der österreichischen Politik hatten die Nationalsozialisten indes nur geringe Erfolge. Im Jahr 1927 zählten sie in ganz Oesterreich in 130 Ortsgruppen etwa 7000 Mitglieder. Im Jahr 1930 nahmen die Parteistellen an, dass sie über 110.000 Mitglieder besässen. Bei den letzten Nationalratswahlen im November 1930 blieben sie ohne Mandat. So war der Stand, als Hitler mit dem Erfolge unzufrieden, einen Landesinspekteur ernannte. Er hiess Habicht und kam aus Wiesbaden.
In einzelne Bundesländer wurden weitere »Inspekteure« aus Deutschland entsendet, ein Herr von Kothen nach Kärnten, ein Graf Du Moulin-Eckart zur Wiener S. A., die er jedoch bald wegen homosexueller Affairen verlassen musste.
Das weitaus beste Propagandamittel, über das der Nationalsozialismus in Oesterreich verfügte, war und blieb der Antisemitismus.
Die Nationalsozialisten haben dieser Bewegung eine wissenschaftliche oder besser pseudowissenschaftliche Basis zu schaffen gesucht. Der Antisemitismus des Nationalsozialismus ist indess nichts anderes als ein vom Materiellen ins Biologische transponierter Klassenkampf. In der Praxis fehlte in Oesterreich freilich selbst die biologische Basis. Der Antisemitismus richtete sich fast ausschliesslich gegen vermögende Schichten und Träger grosser Einkommen, war also in seiner ersten Stufe partieller Kommunismus.
Die bedenkenlose Propaganda und der Rassismus bedienten sich folgender Ausgangspunkte:
Seit mehr als hundert Jahren begannen die Juden Russlands und Galiziens nach dem Westen zu wandern. Diese Wanderungsbewegung hatte zwei Ursachen: Erschwerung der Lebenshaltung in ihrem bisherigen Siedlungsgebiet durch wirtschaftliche Depression und politischen Druck. Zweitens die Nachricht, dass der technische Fortschritt in den westlichen Ländern phantastische Erwerbsmöglichkeit biete. Die Juden Galiziens und der Bukowina zogen nach Wien, dem alten Umschlagplatz für die Wanderung nach dem Westen. Schon im vergangenen Jahrhundert war die Zahl der Wiener Juden stark angestiegen, ohne in der neuen Umgebung auf wesentliche Widerstände zu stossen. Nach Wien strömten damals in der Zeit der ungeheuren Stadtvergrösserung Menschen aus allen Teilen der Monarchie. Im Laufe zweier Jahrzehnte entstand eine starke Gegenbewegung.
Der Hauptstoss der jüdischen Einwanderung traf, sehr zum Schaden der eingesessenen jüdischen Bevölkerung, während des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit ein. Die galizianischen Juden zog es, da sie das Kriegsgebiet verlassen mussten, in die Hauptstadt des Reiches, nach Wien, wo hilfsbereite Glaubensgenossen über die ersten Schwierigkeiten hinweghalfen und wo, was noch wichtiger war, auch Verdienst- und Erwerbsmöglichkeiten vorhanden waren. Die sozialdemokratische Stadtverwaltung der Nachkriegszeit verlieh diesen Neuankömmlingen bereitwillig die Wiener Heimatberechtigung. Sie tat dies umso lieber als es wahrscheinlich war, dass diese Menschen eine verlässliche Wählerschaft für die sozialdemokratische Partei abgeben würden.
Die Juden Wiens suchten, in verstärktem Mass den Handel verlassend, in dem sie bei ihrer Kundschaft beliebt, bei ihrer Konkurrenz gefürchtet waren, die geistigen Berufe auf. Der jüdische Anteil an allen akademischen Berufen, insbesondere in der Aerzteschaft, der Advokatur, der Journalistik u.v.a. war ein überaus grosser. Der Ehrgeiz vieler jüdischer Eltern ging dahin, den Sohn und sogar die Tochter auf die Universität zu schicken. Der fehlende Nachwuchs im väterlichen Geschäft aber wurde durch Neuankömmlinge ergänzt.
Die jungen Akademiker fanden die Posten, die sie anstrebten, besetzt, was auf die Wirtschaftskrise und die katastrophale Einengung des österreichischen Wirtschaftsraums zurückzuführen war. Die österreichischen Universitäten aber produzierten eine ungeheure Zahl von Akademikern. Die Universität Wien allein hatte durchschnittlich 10.000 Hörer. Dazu kamen die Universitäten von Graz und Innsbruck, die technischen Hochschulen in Wien und Graz, die Hochschule für Welthandel und die Hochschulen für Bodenkultur, Montanistik, Tierarzneikunde u. s. w. Die jungen Akademiker blieben in grosser Zahl arbeitslos, sie sahen die weit über den bevölkerungsmässigen Anteil hinausgehende jüdische Stellung in ihren Berufen, fühlten sich dadurch herausgefordert, wurden in dieser Haltung durch die nationalsozialistische Propaganda bestärkt und strömten zur S. A. und S.S.
Es ist im Verhandlungswege nie gelungen, dieses schwierige Problem zu lösen. Auf jüdischer Seite stiess man, sooft man auf die Gefahr, die sich hier deutlich zeigte, hinwies, auf geringes Verständnis und auf eine erstaunliche Empfindlichkeit, die in jedem, der wohlmeinend und besorgt auf die Situation aufmerksam machte, einen Antisemiten witterte.
Dieser akademische Sektor des Problems allein war aber nicht das Entscheidende, ebensowenig wie etwa die jüdische Stellung in Handel und Industrie.
Die wichtigste Grundlage des modernen österreichischen Antisemitismus war der Anteil jüdischer Intellektueller an der Führung der sozialdemokratischen Partei. Dadurch wurde der Auffassung Vorschub geleistet als sei der Sozialismus, der Kommunismus eine Angelegenheit des Judentums. Weite Kreise der Juden hatten mit dieser Entwicklung geringe Freude. Sie wussten, dass eine relativ kleine Gruppe die Gesamtheit in Gefahr brachte, Angriffen aussetzte.
Die breite Front des Bürgertums und der antisozialistischen Bewegung geriet denn auch in eine antisemitische Haltung, aus der der Nationalsozialismus leicht Kapital schlagen konnte.
Diese Erscheinungen führten zu einer ungerechtfertigten Beurteilung des österreichischen Judentums. Vergessen war nun die Tatsache, dass es in Wien ein bodenständiges Judentum gab, das seit vielen Generationen hier sass, vielfach länger als die kurz vorher erst eingewanderten Ultradeutschen, vergessen die Tatsache, dass der bodenständige Wiener Jude sich in einer ganz ausserordentlichen Art assimiliert hatte.
Ich bin davon überzeugt, dass die besten und beliebtesten der Wiener Lieder, die auch die neuen Herren aus dem Reich beim Wiener Wein mit falscher Betonung singen, von jüdischen Textautoren und jüdischen Komponisten stammen.
Der Wiener Jude hatte eine sehr grosse Liebe zur Stadt, in der er lebte und er entwickelte darüber hinaus einen echten Patriotismus, der sich besonders im Weltkrieg bewährte.
Vergessen war die Tatsache, dass die Juden in den Berufen, die sie ausübten, Spitzenleistungen vollbrachten, dass sie an die Aufgaben, die sie sich stellten, mit Begabung und Fleiss herantraten, dass der Neid der nichtjüdischen Konkurrenz sehr oft seine Wurzel in der Unfähigkeit und Bequemlichkeit derer hatte, die sich als antisemitische Apostel betätigten.
Habicht, der neue Landesinspekteur, hatte Hitler das Versprechen gegeben, er werde Oesterreich nationalsozialistisch machen.
Die Entwicklung, auch nach der Machtübernahme in Deutschland, zeigte, dass dieses Ziel mit normalen politischen Mitteln nicht zu erreichen war. Trotz aller Propagandakunststücke gelang es der Partei nicht, wesentliche Erfolge zu erzielen. Die Arbeiterschaft, die Bauern, die Angehörigen der katholischen Verbände waren nicht zu erobern. Habicht griff also zu anderen Mitteln. Er verliess das Gebiet der Politik und leitete Bandenkämpfe gegen die Regierung und die vaterländische Bevölkerung ein. Ein kleiner Auszug aus den amtlichen Verzeichnissen der nationalsozialistischen Gewalttaten gibt ein gutes Bild davon, wie sich der Nationalsozialismus in den Besitz der Macht in Oesterreich bringen wollte: durch Sprengstoffanschläge, Mord, Terror.
Am 30. Juni 1932 verübten Angehörige der S. A. einen Ueberfall auf das Klubhaus des Countryklubs in Lainz und verletzten mehrere Gäste, darunter einen Diplomaten, schwer. Im Dezember 1932 verübten mehrere Mitglieder der S.S. einen Anschlag mit Tränengas in einem grossen Wiener Kaufhaus, der zu einer Panik unter dem Weihnachtseinkäufe besorgenden Publikum führte. Im Jänner 1933 wurde in den Geschäftsräumen einer Wiener Firma, deren Prokurist ein führender Nationalsozialist war, ein Sprengstofflager entdeckt, in dem sich u. a. nicht weniger als 44 Kilogramm Ammonit befanden.
Am 12. Juni 1933 setzten Sprengstoffanschläge im ganzen Bundesgebiet ein. In Wien wurde ein harmloser Juwelier durch die Explosion einer Höllenmaschine in seinem Geschäft getötet. Ein Warenhaus wurde durch einen Sprengstoffanschlag zerstört.
Am 19. Juni 1933 schleuderten zwei Nationalsozialisten gegen eine Abteilung christlicher Turner mehrere Handgranaten aus dem Hinterhalt. Ein Turner wurde getötet, mehrere schwer verletzt. Dieser besonders heimtückische Ueberfall veranlasste die Regierung, die Nationalsozialistische Partei und ihre Gliederungen in Oesterreich zu verbieten.
Anfang Oktober 1933 begann die nunmehr illegale Partei mit Tränengasanschlägen gegen Kauf- und Kaffeehäuser, sowie gegen Kinos. Es verging nun kein Tag, an dem durch solche Sprengstoffverbrechen nicht Hunderttausende von Schillingen an Sachschaden angerichtet wurden, an dem nicht Menschen verletzt und getötet wurden.
Gegen Ende Jänner 1934 nahm die Anzahl der Böller und Sprengstoffanschläge tagtäglich zu, um in den ersten Februartagen einen Höhepunkt zu erreichen. In diesen Tagen erlebte man bis zu vierzig Explosionen täglich.
Um den österreichischen Fremdenverkehr, der eine günstige Entwicklung zeigte, zu vernichten, sollten die Fremden durch Terrorakte ferngehalten werden. In den ersten Tagen des Monats Mai 1934 explodierten in verschiedenen Bahnhöfen Höllenmaschinen, die dort hinterlegt worden waren. In der Nacht zum 19. Mai wurden in ganz Oesterreich zahlreiche Bahnanlagen gesprengt, wodurch der Verkehr behindert und ungeheurer Sachschaden angerichtet wurde. In der Folgezeit verging kein Tag, an dem nicht Sprengstoffanschläge gegen Bahnanlagen, Elektrizitäts- und Wasserkraftwerke, Telephonkabel, öffentliche Gebäude und Wohnungen vaterländisch gesinnter Personen erfolgt sind.
Ende des Monats Mai wurde zum Beispiel die Stadt Salzburg von einer Terrorwelle heimgesucht. Bomben explodierten vor dem fürsterzbischöflichen Palais, dem Festspielhaus, dem Schloss Leopoldskron, der Steueradministration und vielen anderen Gebäuden. Täglich wurden Leitungsmaste zersprengt, Schienen aufgerissen, Telegraphen- und Telephonleitungen zerstört. Gegen Ende Juni wurden die Druckrohrleitungen des berühmten Spullersee-Kraftwerkes in Tirol gesprengt. Die Elektrizitätswerke in Ruetz, Mühlau, Hall, Achenkirch, Leutschach und vielen anderen Orten waren das Ziel von Bombenanschlägen.
In Kufstein, wo ein Anschlag gegen die Wasserleitung erfolgte, fand man beim Obmann des »Bundes der Reichsdeutschen« 63 Kilogramm Ekrasit. Fast täglich wurden Organe der Executive, Mitglieder der Wehrverbände verletzt und getötet, Sprengstoffanschläge gegen die Gendarmerieposten, Pfarrhöfe und Heimatschutzlokale verübt.
Die Herkunft der Sprengmittel wurde in fast allen Fällen festgestellt. Es handelte sich um Material, das aus Deutschland nach Oesterreich eingeschmuggelt worden war. Der deutsche Rundfunk, die deutsche Presse standen im Dienst dieser Aktionen. Die österreichischen Flüchtlinge, die in Deutschland eine gastliche Aufnahme fanden, wurden in einer österreichischen Legion zusammengefasst, bewaffnet und militärisch ausgebildet. Jeder Attentäter konnte damit rechnen, dass er nach Deutschland geflüchtet, dort einen gesicherten Posten finden werde.
Wir hören seit der Eroberung Oesterreichs soviel von der Bedrückung der Nationalsozialisten durch die Regierungen Dollfuss und Schuschnigg. Es ist deshalb notwendig, zu zeigen, welche Taten die »Helden der Bewegung«, die »Märtyrer des Nationalsozialismus« vollbracht haben. Hitler verlangte in Berchtesgaden die Amnestierung der gleichen Leute, die Mord und Sprengstoffverbrechen begangen haben. Damit sind der Geist und die Methode des Nationalsozialismus deutlich genug beschrieben.
Von den Schlachtfeldern des Weltkrieges kehrt der junge Oesterreicher heim. Etwa zwanzig Geburtsjahrgänge haben das gleiche erschütternde Erlebnis des Krieges gehabt, das unbürgerlichste und ungeregeltste Erlebnis, das sich bis dahin denken liess, ein Erlebnis jedenfalls, das weder die Väter noch Grossväter dieser Menschen in annähernd ähnlicher Form erfahren hatten. Die Begriffe, die bisher einem jungen Menschen als Gebrauchsanweisung für das Leben mitgegeben worden waren, stimmten nicht mehr. Die Frontsoldaten hatten jedenfalls die furchtbare Erfahrung gemacht, dass das, was ihnen ihre Eltern als Bild des Lebens und Bild der Welt geschildert hatten, nicht richtig war. Daraus liess sich der Schluss ziehen, dass diese Eltern sie entweder belogen oder dass sie in dieser Welt nicht recht Bescheid gewusst hatten. Beides ist gleich schlimm. Die erschütternde Feststellung, von seinen Eltern oder Erziehern belogen worden zu sein oder die Feststellung, dass sie aus eigener Unwissenheit Falsches gelehrt haben, zerstört die Autorität, zerstört auch die gesunde Tradition, erzeugt den Drang zu Neugestaltungen jeder Art.
Von den Schlachtfeldern des Weltkrieges, aus der Ukraine, aus Wolhynien, aus Serbien und Albanien, aus Italien kehrt der Oesterreicher heim und findet ein anderes Land, ein kleines verunstaltetes, dem Hunger preisgegebenes.
Aus diesen Menschen, die der Krieg hoffnungslos und innerlich verändert ausspeit, in ein Land ohne Hoffnung, das seine eigene Geschichte verdammt, entsteht der Typ des Freischärlers, des Menschen, dem der Krieg Beruf und Bedürfnis geworden ist, der Landsknecht, der das Kriegshandwerk, in dem er es zu etwas gebracht hat, für einen normalen Beruf hält, schon deshalb weil er einen anderen Beruf nicht erlernt hat oder nur sehr schwer erlernen kann, weil man ihm nie die Möglichkeit geboten hat, einer friedlichen Beschäftigung nachzugehen. Der Freischärler, der es nicht verstehen und nicht verwinden kann, dass er diesen seinen Beruf, in dem er sich Chargen und Auszeichnungen erworben hat, nicht mehr ausüben darf, weil es seinem missgestalteten Vaterland verboten worden ist, ein Volksheer zu halten, weil das Berufsheer, das man neu aufbaut, jede Tradition, für die er sich doch eingesetzt hatte, ablehnt, weil man das Heer für sinnlos hält in einer Zeit, in der die Parole »Nie wieder Krieg« Trumpf ist.
Dieser Heimkehrer, der so jung in den Krieg gegangen ist, dass es ihm vorher nicht möglich war, einen richtigen Beruf zu erlernen, er hält den Krieg für nicht beendet, er ist der Ueberzeugung, dass es nichts anderes gibt als die alte Frontkameradschaft, den alten Frontgeist, den Kampfgeist, der neue Erscheinungen herbeizuführen vermag. Mit diesem Typ des Freischärlers ziehen die vielen anderen, die der Krieg unbefriedigt gelassen hat. Die Reserveoffiziere, die aus einer ganz anderen Gesellschaftsschicht stammen und die es nun auch nicht verwinden können, dass sie nicht mehr Herren, sondern Volksschullehrer, kleine Angestellte, Arbeitslose sein sollen. Die Berufsoffiziere, die mit Undank belohnt sind, berufslos, mit Hungerpensionen, der allgemeinen Verachtung preisgegeben.
Zu unseren Freischärlern stossen die Adeligen, die ihre Beamtenlaufbahn aufgegeben haben, weil sie einer Republik nicht dienen wollen. Die alten Herren, die in diplomatischen Diensten die weite Welt gesehen haben, die Herrenhausmitglieder und Exminister, die jungen Herren, für die es nun keinen rechten Beruf gibt, seit der öffentliche Dienst den Adeligen fast völlig versperrt ist, sie sitzen auf ihren Schlössern und sind verdrossen. Jede Bewegung, die eine Aenderung bringen könnte, ist ihnen sympathisch.
Eine soziologische Schicht, die das Regieren nicht versteht, kommt ans Ruder und rudert schlecht. Die Sozialdemokratie will die ganze Macht erobern und überlegt das oben in den Führerschichten theoretisch, – unten ist man immer primitiver. Was oben als Druck formuliert wird, ist unten ein Fusstritt, was oben als Werbung bezeichnet wird, ist unten das schöne primitive »und willst du nicht mein Bruder sein, so hau ich dir den Schädel ein«. – Was man oben als Sozialismus versteht, ist unten die Sehnsucht nach Aufhebung fremden Privateigentums zu jeweils eigenen Gunsten des kleinen Gefolgsmannes, dem man seine diesbezüglichen Hoffnungen aus Gründen der Propaganda belässt. Hoffnungen sind immer noch der billigste Kaufpreis für Wählerstimmen gewesen.
So marschiert der, der durch den Krieg verloren hat, mit unserem Freischärler oder unterstützt ihn wenigstens. Der Freischärler ist ein Held. Ein missachteter Held. Einer, der das, was da ist, für schlecht hält; weil es ihm keinen Lebensraum bietet. In seinem Feldlager sind die Reaktion und die Revolution friedlich nebeneinander. Aber was ist das für ein Feldlager? Das sind verrauchte ärmliche Studentenbuden, in denen in langen Nächten über Büchern und Gesprächen die Petroleumlampe brennt, das sind möblierte Zimmer bei Beamtenwitwen, die einst bessere Tage gesehen haben, mit Familienbildern und Wandschonern, das sind Kleinwohnungen, in die sich Offiziere, die ihre Lebenshaltung an die neue Pension anpassen müssen, verkrochen haben, mit den alten Möbeln, die zu gross sind und an denen irgendwo noch die alten Zettel kleben, die anzeigen, durch wieviel Garnisonen dieser Hausrat in der alten Monarchie gewandert ist, um in jeder Garnison heimatlich zu stehen. Die Heimat unserer Offiziere war die k.u.k. Armee. Mit dieser grossartigen, einzigartigen Armee ist auch die Heimat dieser Offiziere verschwunden, verschollen, untergegangen.
Dieses Feldlager ist in den Landschlössern, in denen die Adeligen sitzen, Grossbauern nun mit einer grossen Vergangenheit und mit einer Lebensart, die nur generationenlanges Herrenleben verleiht. Es ist in den Büros der Industriellen, die gegen die Macht der Arbeiterschaft eine Gegenmacht in den Freischärlern entstehen sehen möchten.
Mit den Freischärlern ist die Jugend. Die Jugend, die die entscheidenden Jahre der Reife ohne Väter verbracht hat, die ihre Lehrer innerhalb eines Jahres dreimal anderes lehren gehört hat, in der die Ideale des neuen Staates, wenn sie nicht von einer Partei erfasst sind, nie lebendig geworden sind. Die Jugend, die im Lager des Freischärlers die Romantik des Verbotenen wittert und findet, die Jugend, der immer noch das Heroische und das Radikale näher war als das Vernünftige und Gemässigte.
Der Krieg endet. Ich erinnere mich eines grossen Exerzierfeldes in der Nähe meiner Heimat, auf dem tausende von herrenlosen Pferden standen. Da kam, wer kam und da bekam, wer nahm. Ich erinnere mich einer Feldhaubitze, die als Feldscheuche aufgestellt war, der hungernden Heimkehrer aller Sprachen des alten Reichs, die stahlen, ihr Rüstungszeug verkauften und verhandelten, um zu leben, um weiter zu kommen. Ich erinnere mich der Aufrufe, die die Bildung einer freien Republik »Kärnten« proklamierten und der serbischen Kriegsgefangenen, die sich als Bestandteile der Heeresmacht des Königreichs SHS erklärten und für eigene Rechnung Teile des Landes besetzten. Niemand wusste, wer der Herr war und wo die Grenzen lagen. Und jeder versuchte der neuen Zeit etwas abzugewinnen. Jeder versuchte es mit dem Handel. Der Handel blühte. Mindestens zehn von hundert Leuten fühlten die Berufung in sich, Kaufleute zu werden. Import und Export stand auf den verschiedenen Visitenkarten, die an allen Türen hingen und es wurde kaum importiert und exportiert. Es wurden Waren gekauft, die nie existiert hatten und man verdiente an solchem Geschäft, weil sich immer noch jemand fand, der das, was da lediglich auf einem Geschäftspapier stand, zu viel höherem Preis wieder kaufte. Geld bedeutete nichts, Ware alles. Die Bauern liefen und zahlten ihre Hypothekarschulden. Sie gaben für das, was sie einst schwer belastet hatte, den Gegenwert einer Streichholzschachtel und waren schuldenfrei.
Die Wirtshäuser und die Kaffeehäuser waren Tag und Nacht überfüllt. Es wurde gefeiert. Man feierte das neue Leben, in dem man mühelos Geld verdiente, man feierte die neue Zeit, in der man nicht jeden Tag dem Tod ins Aug zu sehen brauchte. Nie wieder Krieg!
Und in den gleichen Strassen, in denen diese neue Zeit ihren Gespenstertanz aufführt, geht ein anderes Gespenst um, der Hunger. Der Staat ist zusammengebrochen, mit ihm seine Wirtschaft, seine Erwerbsmöglichkeiten. Aus dem ausgeglichenen Wirtschaftskörper eines 50 Millionenreiches ist ein Rumpf geworden, dessen Herz einen ganz anderen Blutkreislauf zu lenken gewohnt war und das nun nur noch leise schlägt. Der Arbeiter liegt auf der Strasse. Die Löhne passen sich nur mühsam den Lebenshaltungskosten an, und die Lebensmittelanlieferung ist unregelmässig. Die Geldscheine, die man hat, sind wertlos, und man bekommt nicht das dafür, was man braucht. Viele haben weder Geld noch Quartier. Auch aus dem Lager dieser Verzweifelten schreit man nach Umkehr.
Noch ist für Helden Verwendung. In Oberschlesien und im Baltikum, im Rheinland und in Kärnten. Jugend aus Oesterreich zieht unter den Fahnen der Freicorps gegen Polen, um gegen Korfanty zu kämpfen, gegen die Franzosen im Rheinland und gegen die Spartakisten, gegen die Jugoslaven in Kärnten und die Ungarn im Burgenland, gegen Spartakisten, Kommune und Arbeiterbattaillone. Hinter diesen Freicorpsfahnen marschiert der spätere Bundesführer der Heimwehr Fürst Starhemberg, der spätere Minister Dr. Ludwig Draxler und mit ihnen viele, die bis zur letzten Stunde auf der Seite Oesterreichs gestanden sind.
In Kärnten bilden sich in den Dörfern Heimwehren, die die eindringenden Jugoslaven abwehren, ohne Unterstützung der Wiener Regierung, ja gegen sie, im Kampf um die engste Heimat stehen. In Tirol, in Steiermark sammeln sich die Männer, die die Ordnung und ihr Eigentum bedroht sehen, zu Einwohnerwehren. An der Grenze von Bayern, wo eine abenteuerliche Räterrepublik gebildet worden ist, schafft man Verbindungen zu den Organisationen, die den Kampf gegen diese staatliche Missbildung führen, zur »Orgesch«, wie sich die antimarxistische Organisation des Forstrates Escherich nennt. An der Spitze dieser Organisationen stehen Männer, die bereits irgendwo in der Politik eine Rolle gespielt haben. In Tirol, der Innsbrucker Rechtsanwalt Dr. Steidle, ein ausgezeichneter Volksredner, in Kärnten der Oberst Kliman, der später als Abgeordneter der Grossdeutschen Volkspartei Mitglied des Nationalrates wurde, in Steiermark Dr. Rintelen und Dr. Pfriemer. Hinter diesen Führern aber stehen die Freischärler als Stabschefs, Stabsleiter, Adjutanten und Unterführer. In Tirol der reichsdeutsche Major Waldemar Pabst, in Kärnten der Führer der Abwehrkämpfer Leutnant Fritz, Oberleutnant Schuster und wie sie alle hiessen, in Steiermark der Student der Technik Hans Rauter, in Oberösterreich Major Mayer.
Der Freischärler, der politische Soldat, bildet zunächst eine reine Defensivfront gegen die Terrorwelle, die von der Seite der Linksradikalen ausgeht. Er fasst seine Mitkämpfer durch ein reines Negativprogramm zusammen: »Kampf gegen den Bolschewismus«. Dieser Kampf gegen den Bolschewismus aber beschäftigt die Freischärler zu wenig. Nun gibt es bereits Grenzen und die innerpolitischen Verhältnisse im Land haben eine gewisse Gestalt angenommen. Nun sitzt man in der Studentenbude, in den Sekretariaten, in den Wirtsstuben und in den Kaffeehäusern, in den Büros der Wirtschaftsführer und in den Schlössern der Adeligen, in den Wohnungen der Universitätsprofessoren und berät und bedenkt.
Es ist eine Kraft im Land vorhanden, die nach einer geregelten Bahn sucht, ein Strom, der Bett und Richtung braucht.
Ich erinnere mich der Zeit, in der wir alle irgendwo beisammensassen und Programme und Verfassungen niederschrieben. Die Idee, die schliesslich von allen, wenn auch nicht bis ins Detail, angenommen wurde, stammte von einem Professor der Wiener Universität, Dr. Othmar Spann. Spann schrieb ein Buch mit dem Titel »Der wahre Staat«. Diesen wahren Staat, den neuen Staat, wollten wir erobern, bauen, gestalten. Ich erinnere mich der unbändigen und rührenden Sehnsucht, die wir alle nach diesem neuen Staat in uns trugen. Ich träumte ihn mit meinen Kameraden schon in den Tagen, in denen der Kampf gegen die Jugoslaven für die Kärntner eine heilige Aufgabe war. In den Tagen, in denen der tolle Trubel der Inflation und des Schiebertums die Lokale unserer kleinen Städte erfüllte, und Nacht für Nacht die kleine Schar Getreuer unter Lebensgefahr die Linien hinein ins besetzte Land schlich, um unseren Freunden Hilfsmittel für den Kampf zu bringen, in den Tagen, in denen wir im Heimatschutzverband, der inzwischen eine machtvolle Organisation geworden war, arbeiteten. Ich träumte diesen neuen Staat mit meinen Kameraden in den Tagen, in denen die Heimwehren mächtig geworden waren und an die Tore der staatlichen Macht klopften, ich sah den neuen Staat vor mir, als Dollfuss in seiner Bauernart den neuen Plan umriss, nach dem er bauen wollte, – den neuen Staat, an dessen Aufbau ich später in wechselnden Positionen mitarbeiten sollte.
Wir träumten uns diesen Staat als einen Staat der Gerechtigkeit, einen Staat der Menschlichkeit, einen Staat der Ordnung, der Arbeit, der Freiheit, als einen Staat, in dem die soziale Frage in Gerechtigkeit gelöst wird.
Wir haben ihn geträumt und wir haben ihn geliebt.
Wir wussten es 1936, 1937, dass das, was in Oesterreich vorhanden war, ein Anfang, keineswegs eine Vollendung, sei. Nun haben wir ihn verloren, aber wir werden ihn suchen, bis wir ihn wieder finden werden.
Die Vaterländische Front war ursprünglich von Dollfuss als eine Dachorganisation für die Verbände gedacht, die sich auf seine Seite stellten. Erst später erhielt sie die Gestalt einer Einheitsorganisation, die als einziger politischer Verband dazu berufen sein sollte, die politische Willensbildung im Staate zu gestalten. Es liegt im Wesen des Oesterreichers, dass auch seine politische Einheitsorganisation, die von gesetzeswegen Totalitätsansprüche stellen konnte, nicht ein starres Programm verkündete. Die V.F. vertrat kein Programm, denn sie war keine Partei.
Sie vertrat ein Prinzip. Dieses Prinzip umschrieb die Grundlinien, auf denen der neue Staat aufgebaut werden sollte.
Das Prinzip hiess: Wir wollen das freie, unabhängige, christliche, deutsche, ständisch gegliederte und autoritär geführte Oesterreich. Dieses Frontprinzip unterscheidet sich auf den ersten Blick dadurch von den Programmen anderer Art, dass es sich darauf konzentriert, ein ausschliesslich positives Bild vom neuen Staat zu zeichnen. Das Kämpferische steht bei diesem Grundsatz erst in der zweiten Linie. Die Ablehnung verschiedener Zustände und verschiedener Bestrebungen anderer Art lässt sich aus diesen positiven Grundsätzen wohl folgern – aber wie gesagt, erst in zweiter Linie.
Der Begriff der Freiheit wollte sagen, dass das neue Oesterreich trotz der autoritären Führung und trotz der Konzentration aller Staatsbürger auf das Gemeinwohl, auf die Freiheit des Einzelnen, nicht vergisst. Dieser Begriff der Freiheit bedeutete, dass es im neuen Staate dem Einzelmenschen erlaubt und möglich sein sollte, sein persönliches Ideal zu haben, sein Leben nach seinem eigenen Geschmack einzurichten, wenn er das, was des Staates ist, diesem Staat gegeben hatte.
Die Unabhängigkeit des Staates als zweiter Grundsatz wollte ausdrücken, dass dieses neue Oesterreich ein selbständiger Staat sein wollte, der nicht die Absicht hatte, in einem anderen Staat aufzugehen oder zu einem anderen Staat im Verhältnis eines Vasallen zu stehen.
Der dritte Punkt hiess: wir wollen ein christliches Oesterreich. Wohl kein Punkt der Grundsätze Dollfuss' ist mehr interpretiert worden als dieser. Aus einem sehr einfachen Grunde. Ein Teil der führenden Männer des dritten Oesterreich kam aus den Reihen der ehemaligen christlichsozialen Partei. Man sagte also »christlich«, das sei nichts anderes als »christlichsozial«, das sei einfach »klerikal«, das sei die Herrschaft der Kirche und die Herrschaft eines Parteiklüngels. Dollfuss hatte aber unter »christlich« ganz etwas anderes verstanden. Er meinte, dass die Grundsätze, nach denen in diesem Staat regiert und verwaltet werden muss, christlich sein sollten. Er dachte dabei durchaus nicht etwa an einen Einfluss der Kirche, an eine Ausnahmestellung für die christlichsozialen Parteipolitiker, – im Gegenteil, er suchte nach Mitarbeitern aus allen Lagern, die mit ihm wirken wollten –; unter seiner Regierung sprach die Bischofskonferenz ein Verbot aus, das den katholischen Geistlichen untersagte, aktiv an der politischen Führung mitzuwirken. Tatsächlich hatten die neuen Vertretungskörper – Staatsrat und Bundeswirtschaftsrat – kein geistliches Mitglied. Im Bundeskulturrat war die Katholische Kirche als Religionsgemeinschaft ebenso wie die Protestanten und die Juden entsprechend vertreten.
In Oesterreich liegt hinter dem Wort christlich im täglichen Gebrauch eine ganz bestimmte Sprachbedeutung. Christlich heisst im Volksmund soviel wie anständig, gerecht, man versteht ebenso, um es noch klarer auszudrücken, unter »unchristlich«, unanständig, aber auch gottlos. Der Begriff » christlich« sollte sagen, dass im neuen Staat, bei klarer Scheidung der Grenzen zwischen Kirche und Staat, das staatliche Leben im Geiste christlicher Traditionen und christlicher Grundsätze geführt werden sollte. Freilich lag in diesem »christlich« auch noch eine andere Bedeutung. Christlich, das bedeutete eine Ablehnung der Propaganda für das Freidenkertum, die in den vergangenen Jahren betrieben worden war.
Die Betonung des deutschen Charakters des Staates war vorweg eine Absage an die wurzellosen Internationalismen und an das Weltbürgertum, die von verschiedenen Parteien propagiert worden waren, ein Bekenntnis zum deutschen Kulturkreis, dem das Land angehörte und die Bereitschaftserklärung, auch weiterhin so, wie in der Geschichte, mitzuwirken am Weiterbau der deutschen Kultur, an der Bewahrung des Volkstums und an der Festigung des Bekenntnisses zu Grund und Boden. Es mag sein, dass diejenige laute Propaganda, die das alleinige Rechte für sich in Anspruch nahm, zu entscheiden was deutsch ist und was nicht, und die den Oesterreichern das Deutschtum absprach, auch dazu beitrug, dass von Oesterreichischer Seite der deutsche Charakter des Staates immer wieder betont wurde. Notwendig wäre das nicht gewesen, denn in Oesterreich leben Deutsche und es wäre keinem Oesterreicher jemals eingefallen, zu erklären, dass er einer anderen als der deutschen Nation angehöre – freilich als Oesterreicher. Die Oesterreicher sind eben Deutsche von einer besonderen Art, die das jahrhundertelange Nebeneinander und Ineinander, auch Zueinanderleben mit anderen Völkerschaften geschaffen hat.
Das wesentlich neue an dem Grundprinzip, das Dollfuss für seinen Staat verkündete, war die ständische Gliederung, die er in der Verfassung vom 1. Mai 1934 verankerte.
Die ständische Verfassung Oesterreichs war ein Mittelding zwischen parlamentarischer Demokratie und Fascismus. Sie gab dem werktätigen Volk die Möglichkeit der Mitbestimmung und sicherte doch der autoritären Regierung, die im letzten Punkt des Dollfussprinzipes verlangt wird, die Möglichkeit rascher und klarer Entscheidungen.
Die Vaterländische Front sollte, wie gesagt, ursprünglich alle Gruppen und Verbände umfassen, die sich auf den Boden des Staatsprinzips stellten. Die politischen Parteien wurden aufgelöst. Die V.F. sollte der grosse Verband sein, dem jeder Oesterreicher, der sich nicht gegen den Staat stellte, angehören konnte. In den Berufsverbänden der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollten die Mitglieder der V.F. die führende Rolle spielen, so dass der Geist dieser Berufsverbände im gleichen Staatsprinzip wurzelte. Es bildete sich neben der Territorialorganisation eine Anzahl von Hilfs- und Nebenorganisationen, die den Mitgliedern die Möglichkeit gaben, ihre Sonderwünsche und Sonderinteressen im Rahmen der Gesamtorganisation zu vertreten.
Die Organisation der V.F. baute sich territorial auf. In jeder Ortsgemeinde bestand wenigstens eine Ortsgruppe. Die Ortsgruppen eines Gerichtsbezirks waren zu einem Bezirk der V.F. zusammengefasst, an dessen Spitze, so wie an der Spitze der Ortsgruppe ein Ortsgruppenführer, ein Bezirksführer stand. Die Bezirke eines Bundeslandes unterstanden einem Landesführer, deren es in Oesterreich neun gab. Der Chef der gesamten V.F. war der Bundeskanzler, der zugleich den Titel Frontführer führte. Die Zentrale war das »Generalsekretariat«, das später den Namen »Amt des Frontführers« erhielt und das der Leitung eines Generalsekretärs unterstand.
Dem Frontführer stand ein Stellvertreter zur Seite, dessen Wirkungskreis jedoch seit der Uebernahme der Frontführerschaft durch Dr. Schuschnigg nie genau umschrieben worden ist. Seit dem August 1934 war der spätere Chef des Bundespressedienstes und Bundeskommissär für Heimatdienst Oberst Walter Adam, Generalsekretär der V.F. Im Mai 1936 übertrug mir der Bundeskanzler nach meinem Eintritt in die Regierung diese Stelle, die ich bis zum 11. März 1938 innehatte. Seit der letzten Kabinettsumbildung war ich ausserdem zum Stellvertreter des Frontführers ernannt worden.
Neben der Territorialorganisation, die das Rückgrat der V.F. war und blieb, bestanden Nebenorganisationen für die Beamtenschaft des öffentlichen Dienstes (D.O. Dienststellenorganisationen), für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer privater Betriebe (B.O. Betriebsstellenorganisationen), für die Angehörigen des Berufsstandes Land- und Forstwirtschaft (Bauernbund) und für die Angehörigen des Berufsstandes Gewerbe (Gewerbebund). Der Ausbau dieser Hilfsorganisationen war im März 1938 bei weitem noch nicht vollendet. Erst nach Fertigstellung des berufsständischen Aufbaues sollten noch weitere Gliederungen, insbesondere für die Arbeiterschaft, ins Leben gerufen werden.
Vorerst bestand seit dem Jahr 1934 in der V.F. eine »Soziale Arbeitsgemeinschaft« (S.A.G.), die die Aufgabe hatte, die Arbeiterschaft an die V.F. heranzuführen und die Interessen der Arbeiterschaft im Rahmen der V.F. zu vertreten. Diese S.A.G. entwickelte sich langsam, aber solid. In tausenden von Sprechabenden wurde der Arbeiterschaft Gelegenheit geboten, ihre Gedanken und ihre Wünsche im politischen Leben zum Ausdruck zu bringen und zugleich den Geist des neuen Staates kennen zu lernen. Es war uns bewusst, dass von Seite der Revolutionär-Sozialisten und der Kommunistischen Partei immer wieder Versuche unternommen wurden, die S.A.G. zu einem Instrument für ihre illegale Arbeit zu machen. Es ist auch festzustellen, dass dies dort und da gelungen ist. In Summa muss jedoch gesagt werden, dass der Erfolg, den wir anstrebten – die Arbeitermassen an die politischen Organisationen heranzuführen – auch gelungen ist. Die wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterschaft wurde vom »Gewerkschaftsbund der Arbeiter und Angestellten« wahrgenommen, der eine freie Organisation war, nicht wie man im Auslande oft glaubte, eine Zwangsorganisation. Diesem Gewerkschaftsbund war es gelungen, die erdrückende Mehrheit der Arbeiterschaft in seinen Reihen zu sammeln. Seine Mitgliederstände waren weitaus höher als die der früheren »freien Gewerkschaften«. Auf politischem Gebiet versuchten wir durch die S.A.G. die Arbeiter und Angestelltenschaft immer mehr zur tätigen Mitarbeit in der V.F. zu bringen und sie davon zu überzeugen, dass der Geist des neuen Staates ein durchaus sozialer Geist war und die politische Einheitsorganisation des Landes den Arbeitern Raum und Möglichkeit zur Mitarbeit und Mitführung bot. Seit dem Herbst des Jahres 1937 war es denn auch gelungen, eine grosse Anzahl von Arbeitern in Führerstellen der V.F. einzubauen. Diese Methode des allmählichen Einbaus der Arbeiterschaft in die politische Einheitsorganisation begegnete mannigfacher Kritik. Die Verehrer des alten parlamentarischdemokratischen Ideals hielten die Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung, die die Arbeiterschaft im neuen System erhalten sollte, für zu gering, die Verfechter der extrem fascistischen Ordnung witterten überall einen Rückfall in das frühere System und eine Hintertür, durch die die Demokraten und Bolschewiken in das neue System einbrechen könnten.
Beide Meinungen sind falsch. Die Instanzen der politischen Willensbildung in der Zeit der demokratischen Republik waren Partei, Parteivorstand und Nationalrat. Dem einzelnen Wähler wurde die Kandidatenliste für die »freie Wahl« durch den Parteivorstand vorgelegt. Er hatte nicht die Möglichkeit den Mann oder die Männer seines Vertrauens auszuwählen, er hatte nur die Möglichkeit, zu akzeptieren oder abzulehnen. Die Ausübung des passiven und aktiven Wahlrechts wäre nach der Vollendung der berufsständischen Verfassung weder erschwert, noch eingeengt worden. Auch für die Durchführung von besonderen Wünschen blieben in den Kammern genugsam Instanzen übrig. Die Wahl der Vertrauensmänner in den Betrieben und in den Gewerkschaften, schliesslich in den Bundeswirtschaftsrat, in die Gemeindetage und Landtage, die Möglichkeit der Aeusserung und Durchsetzung rein politischer Wünsche durch die »Wunschappelle« der V.F. und im Wege der Amtswalterschaft, schliesslich die Vertretung in kulturellen Angelegenheiten, für die die Wahlordnung in dem Bundeskulturrat geschaffen werden sollte, boten Möglichkeiten der Willensäusserung und der Wahl auf allen Gebieten. Es hat der Verfassung von 1934 an Möglichkeiten der Mitbestimmung des Einzelnen, an demokratischen Einrichtungen, nicht gefehlt. Gefehlt haben lediglich die Ruhe und die Zeit.
Die autoritäre Führung war durch die Verfassungsbestimmungen gewährleistet. Die Stellung und der Machtbereich des Bundeskanzlers boten alle Möglichkeiten, die Gefahr eines Rückfalles in die Parteienzeit auszuschliessen und der Staatsführung, die in diesen Zeiten notwendige Stabilität und die Möglichkeit zur Fassung rascher Entschlüsse zu geben.
Die Vertrauensleute der S.A.G. entstammten zum kleineren Teil den ehemals christlichen Gewerkschaften und um die Jahreswende 1937/38 bereits zum grösseren Teil der ehemals sozialdemokratisch organisierten Arbeiter- und Angestelltenschaft. Das Jahr 1938 hätte – eine ruhige Entwicklung vorausgesetzt – sicherlich eine Konsolidierung der Regierungspolitik auf der Seite der Arbeiterschaft gebracht. In vielen Gemeindetagen war die Arbeiterschaft noch zu gering vertreten, in den kulturellen Organisationen wäre der Arbeiterschaft noch Vieles zur Selbstverwaltung übergeben worden. Die Pläne hiezu waren fertig. Es fehlte nur an Ruhe und Zeit.
Im Jahr 1937 entstand die Idee, innerhalb der V.F. eine Hilfsorganisation zu schaffen, deren Aufgabe es gewesen wäre, die abseits stehenden nationalen Gruppen, die zur Mitarbeit bereit waren, zu erfassen.
Der Bundeskanzler wollte im Rahmen der Territorialorganisationen Referate einrichten, deren Aufgabe es sein sollte, diese nationalen Kreise an die V.F. heranzuführen. Für die Referate wurde der nicht ganz zutreffende Name »Volkspolitische Referate« erfunden. Diese Referate nahmen ihre Tätigkeit erst gegen Ende des Jahres 1937 richtig auf, sie waren nicht mehr im Stande ihre Aufgabe zu erfüllen.
Die Hilfsorganisationen, (Dienststellenorganisationen, Betriebsstellenorganisationen, S.A.G. und Volkspolitische Referate) waren den Territorialorganisationen eingeordnet und unterstanden den entsprechenden Gebietsführern (Ortsgruppenleiter, Bezirksführer, Landesführer). Im Amt des Frontführers nahmen jedoch eigene Bundesleiter die Interessen der Hilfsorganisationen für das ganze Bundesgebiet wahr. Für die S.A.G. fungierte bis in die letzte Zeit der ehemalige Staatssekretär für Arbeiterschutz Hans Grossauer als Bundesleiter. Er wurde im Feber 1938 durch den Bundesminister Hans Rott abgelöst. Beide Funktionäre waren aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangen und genossen das Vertrauen der Arbeiterschaft. Das Volkspolitische Referat wurde zuerst von Dr. Walter Pembaur aus Innsbruck geleitet, in den letzten Wochen stand ihm Dr. Seyss-Inquart vor, dem als Stellvertreter Dr. Jury beigegeben war.
Es ist selbstverständlich, dass die politische Aufgabe der V.F. als einer Monopolorganisation anders geartet sein musste als etwa der politische Aufgabenbereich einer politischen Partei in einem parlamentarisch-demokratischen System. Die politische Partei ist darauf angewiesen, ihren Wählern Versprechungen zu machen und diese zu erfüllen. Eine Monopolorganisation sieht nicht die Notwendigkeit vor, sich durch Demagogie Wähler zu gewinnen und zu erhalten.
Die Partei hat die Aufgabe, ihren besonderen Wählerkreis nach einem bestimmten Geschmack zu vertreten. Die politische Monopolorganisation hat die Gesamtheit der Staatsbürger zu vertreten und kann die Vertretung der wirtschaftlichen Einzelinteressen den mit grossen Machtvollkommenheiten ausgestatteten berufsständischen Organisationen überlassen.
Die politische Partei lebt zum grossen Teil von Polemik und Propaganda. Die politische Aufgabe der Monopolorganisation kann zum grössten Teil Dienst am Volk, Dienst an der Gemeinschaft sein. Dieser Gedankengang hat zur Gründung einer Reihe von Werken der V.F. geführt, die unter dem Sammelnamen »V.F. Werke« bekanntgeworden sind.
Noch Dollfuss selbst hat zwei dieser Werke gegründet, das »Mutterschutzwerk« und das »Kinderferienwerk«.
Das Mutterschutzwerk hatte die Aufgabe übernommen, den Gedanken der Familie zu pflegen, der Mutterschaft wieder die geachtete und bevorzugte Stellung in der Volksgemeinschaft zu vermitteln, die in den Jahren nach dem Umsturz verloren gegangen war. Die Geburtenziffern in Oesterreich, wobei die Stadt Wien einen entscheidenden Ausschlag gab, war erschreckend klein geworden. Die »Angst vor dem Kind« war in der wirtschaftlich schweren Zeit eine begreifliche Erscheinung. Allerdings entstammte diese Angst vor dem Kind auch noch anderen als wirtschaftlichen Bedenken. Die Geburtenziffer war in bäuerlichen und in Arbeiterkreisen, in der minderbemittelten Bevölkerung also, nicht in dem Mass gesunken wie gerade in den Reihen des begüterten Mittelstandes, der bürgerlichen und grossbürgerlichen Schichten. Hier war der Grund für die Kinderlosigkeit und das Ein- und Zweikindersystem einfach die Bequemlichkeit der Eltern. Das Mutterschutzwerk stand vor grossen Aufgaben. Es hatte die Mütter aus den armen Bevölkerungsschichten zu unterstützen und zu pflegen, ihnen die Sorge, die die Schwangerschaft und die Entbindung mit sich bringen, zu erleichtern und ausserdem durch Aufklärung und Propaganda die Stellung der Mutter in den Augen der Bevölkerung wieder zu hohem Rang zu erheben. Dieser Aufgabe kam unser Werk in vorbildlicher Weise nach. In tausenden von Kursen über Säuglingspflege wurden jungen werdenden Müttern die notwendigen praktischen Aufklärungen für die Pflege ihres Kindes gegeben, hunderttausende von Paketen, in denen Wäsche und Pflegegerät, aber auch Lebensmittel enthalten waren, kamen zur Verteilung. In den Sommerwochen wurden kinderreiche Mütter auf Erholung geschickt, während freiwillige Helferinnen in dieser Zeit ihren Haushalt führten. In schöner Umgebung, liebevoll gehegt, fanden diese Mütter wieder neue Kraft und neuen Mut für ihre grosse aber schwere Aufgabe.
Besondere Pflege fanden aber auch arme, unverheiratete Mütter in den grossen und modern eingerichteten Entbindungsheimen des Mutterschutzwerkes. Hier wurden die Mädchen zwei Monate vor der Geburt aufgenommen und blieben über die Entbindung hinaus zwei Monate mit ihrem Kind im Heim. Sie wurden in dieser Zeit mit neuzeitlicher Kinderpflege vertraut gemacht und zugleich in allen Zweigen des Haushaltes und im Kochen unterwiesen. Bevor die Mutter mit ihrem Kind das Heim verliess, wurde Vorsorge getroffen, dass beide ordentlich untergebracht wurden. Wieviele verzweifelte, trostlose Mütter haben diese Häuser betreten und mit viel Kraft und Zuversicht haben sie sie verlassen.
Der arbeitenden Mutter die Sorge für ihr Kind während des Tages abzunehmen, war eine weitere Aufgabe. In allen grösseren Orten, besonders in den Industriegebieten, unterhielt unser Werk Anstalten, die die Kinder aus solchen Familien morgens aufnahmen, verpflegten, beschäftigten und an die Mutter am Abend wieder abgaben.
Der Muttertag wurde im ganzen Land als Festtag gefeiert. Die Mütter wurden zu Feiern eingeladen, bei denen sie geehrt und beschenkt wurden.
An der Spitze des Mutterschutzwerkes stand Frau Minna Wolfring, eine ausserordentliche Frau, eine von ihrer Aufgabe besessene Arbeiterin, der die Frauen, Mütter und Kinder Oesterreichs unendlich viel zu verdanken haben.
Das zweite Werk, das noch Dollfuss selbst gegründet hatte, war das Kinderferienwerk der V.F. Dieser Institution standen alljährlich drei Millionen Schilling zur Verfügung, die dazu verwendet wurden, Kindern aus armen, kinderreichen Familien gesunde Ferien zu vermitteln. Alljährlich brachte dieses Werk an die 50.000 armer Kinder auf sechs bis acht Wochen in die Alpenländer, wo sie unter guter Aufsicht glückliche und gesunde Ferien verlebten. Auch Kinder von Oesterreichern, die im Ausland leben, luden wir durch das Ferienwerk für den Sommer ein. Es mag unter den mehr als zweihundertfünfzigtausend Kindern, die Gäste unseres Ferienwerkes gewesen sind, wohl keines geben, das sich nicht mit Freude an die Zeit erinnert, die es in unseren Heimen und Lagern verbracht hat – auch keines, das dem Leiter des Werkes, Dr. Auer, nicht eine freundliche Erinnerung bewahrt hat.
Die Aufnahme in diese beiden Werke, Mutterschutzwerk und Kinderferienwerk, war nicht etwa von der Mitgliederschaft der Eltern bei der vaterländischen Front abhängig. Allein massgebend war vom Anfang bis zum Ende die Bedürftigkeit.
Das dritte und vierte Werk der V.F. wurden unter meiner Amtszeit ins Leben gerufen: Das V.F. Werk »Oesterreichisches Jungvolk« und das V.F. Werk »Neues Leben«.
Das erste war die Jugendorganisation der vaterländischen Front, das zweite ein Verband zur Pflege des kulturellen Lebens und der Freizeitgestaltung.
Das »Oesterreichische Jungvolk« ging aus den beiden Jugendverbänden des Heimatschutzes und der Sturmscharen hervor. Die Mitgliedschaft beruhte auf Freiwilligkeit. Mit den Verbänden der katholischen Aktion bestand nach langen und mühsamen Verhandlungen eine enge und freundliche Aktionsgemeinschaft. Die Führung war eine gemeinsame.
Das »Oesterreichische Jungvolk« hatte im März 1938 einen Mitgliederstand von etwa 130.000 Buben und Mädchen. Die Verbände der katholischen Aktion dürften in Summa etwa über 300.000 Mitglieder verfügt haben.
Auch die Organisation »Oesterreichisches Jungvolk« befand sich erst im Aufbau. Vorerst wurden alle Kräfte auf die Führerausbildung verwendet, für die in Wien zwei eigene Schulen eingerichtet waren. Bei der Jugend selbst fand der frische Geist, der in seiner kritischen Haltung auch vor den Einrichtungen des Staates und insbesondere der V.F. nicht halt machte und von mir immer nachdrücklichst darin unterstützt wurde, viel Anklang. Wir vermieden es, der Jugend allzuviele Anweisungen oder Richtlinien zu geben. Sie sollte sich ihr Weltbild und ihr Welterlebnis aus dem Boden des Dollfussprinzips selbst entwickeln und selbst aufbauen. Es zeigte sich auch bald, dass ganz frische und im gesunden Sinn revolutionäre Züge in der Jugend auftauchten, deren Weiterbildung durchaus in unserem Sinn lag, weil wir von dieser Jugend nicht die Uebernahme sondern die Neueroberung der Ideen des Staates erwarteten. Die Stunden, die ich mit den Führern und Mitgliedern unseres Jugendverbandes verbracht habe, waren immer Stunden innerer Erhebung und in der schweren Zeit Stunden des Trostes und der Zuversicht.
Hier wuchs eine neue Generation heran, der das Bekenntnis zu Oesterreich in Fleisch und Blut überging und die mit Idealismus und Begeisterung der österreichischen Idee einen weiteren Raum und ein neues nationales Gesicht zu geben versprach.
An der Spitze des Jungvolks stand der Bundesjugendführer Georg Graf Thurn-Valsassina, der in seiner Amtsführung von seinem Generalsekretär Heinrich Reimitz unterstützt wurde.
Das letzte V.F. Werk war die Freizeitorganisation »Neues Leben«. In diesem Werk, das im Februar 1938 an die 500.000 Mitglieder besass, unternahmen wir es, dem Volk für seine freie Zeit verbesserte und verbilligte Möglichkeiten zur Erholung, Unterhaltung und Bildung zu geben. Auf allen möglichen Gebieten setzten wir mit unserer Arbeit ein. Für das Theater bestand die »Oesterreichische Kunststelle« des »Neuen Lebens«, die die Aufgabe hatte, den verbilligten Theaterbesuch zu organisieren. Im Theaterwinter 1937/38 kaufte die Kunststelle von den Wiener Theatern allein für mehr als eine Million Schilling Eintrittskarten, die sie verbilligt an ihre Mitglieder weitergab. Das Budget der meisten Wiener Theater war auf die Verträge mit unserer Kunststelle aufgebaut. Diese Verträge garantierten den Direktoren die tägliche Abnahme einer bestimmten Kartenanzahl. Ausserdem wurden die meisten Theater dazu verpflichtet, für Arbeitslose Freivorstellungen zu veranstalten.
Wir wollten aber nicht nur unseren Mitgliedern in Wien und in den grossen Städten gutes Theater bieten. Deshalb begründeten wir eine Wanderbühne, die in etwa 120 kleineren Ortschaften des ganzen Bundesgebietes ihre Vorstellungen veranstaltete. Wir engagierten junge begabte Schauspieler, die sich der neuen Aufgabe, an der die ganze Romantik der alten Wanderbühnenzeit haftete, mit Begeisterung unterzogen. Und es war mühsame Arbeit, die hier geleistet werden musste. Täglich fanden drei Vorstellungen statt: ein Märchenstück für die Kinder am Nachmittag, eine Klassikeraufführung am frühen Abend und ein Gesellschaftsstück am späten Abend. Dreimal täglich mussten die Schauspieler vor ein jeweils verschieden geartetes Publikum und nach Schluss der letzten Vorstellung gewöhnlich noch die Reise in den nächsten Spielort antreten.
Die Länderbühne hat in den zwei Jahren ihres Bestandes vor mehreren hunderttausend Zuschauern in Oesterreich gespielt: Goethe, Shakespeare, Calderon, Schiller, Grillparzer, Nestroy, Goldoni und viele moderne Autoren. Die grösste Leistung der Länderbühne aber bestand wohl darin, dass sie die Konkurrenz mit dem Kino siegreich bestand. Wo unsere Länderbühne spielte, waren die Kinos leer. Die kleinen unbekannten Wanderschauspieler siegten über Greta Garbo und Clark Gable.
Eine grosse Reiseorganisation besorgte billige Gesellschaftsreisen und billigen Erholungsurlaub. Grosse Konzerte boten gute Musik.
Dichter hielten Vorlesungen, zur Weihnachtszeit fanden Bücherausstellungen statt, Bilderausstellungen wurden auf die Reise geschickt, um das Verständnis für die bildende Kunst zu stärken. Das Handwerk wurde angeregt, gute und schöne Möbel und Gebrauchsgegenstände anzufertigen, die alte, bodenständige Traditionen wiederaufnahmen und billig waren. Sie wurden in Ausstellungen gezeigt und mit Preisen ausgezeichnet.
Alter Volksbrauch, Volksmusik, Volkstanz und Laienspiel wurden der Vergessenheit entrissen und von Neuem lebendig gemacht. Kurse, Vorträge jeder Art wurden veranstaltet und boten Anregung und Bildung.
Das Werk »Neues Leben« wurde von keiner Stelle finanziell unterstützt. Was es leistete, leistete es aus eigener Kraft. Das verdient besonders erwähnt zu werden, weil ähnliche Organisationen in anderen Ländern ihre Leistungen wesentlich auf ungeheure Subventionen stützen.
Es ist oft gesagt worden, das »Neue Leben« sei nichts anderes als eine Kopie des deutschen »Kraft durch Freude« oder des italienischen »Dopolavoro« gewesen. Das war durchaus nicht so. Beide Organisationen, in Deutschland wie in Italien, sind Bestandteile der offiziellen Arbeitnehmerorganisationen und lediglich für Arbeitnehmer bestimmt. Das »Neue Leben« war eine freie Organisation, in die jeder eintreten konnte. Bildungsniveau und Einkommen etwa der Kleinbauern, Gewerbetreibenden und Arbeiter sind nicht wesentlich voneinander verschieden. Wir wollten in unserer Organisation Angehörige aller Berufsschichten vereinigen und den Dienst des »Neuen Lebens« als Dienst für das ganze Volk leisten.
Dem V.F. Werk »Neues Leben« stand in der ersten Zeit Dr. Rudolf Henz erfolgreich vor. Bis zum Ende leitete ich dann selbst dieses Werk, das meine Lieblingsschöpfung war.
Man fragte mich oft, was diese V.F. Werke, die seitab der Politik ihre Aufgaben zu erfüllen hatten, mit der V.F. zu tun hätten, deren Aufgabe es doch war, eine politische Organisation zu sein. Man verwechselte die V.F. immer wieder mit einer politischen Partei. Eine politische Partei muss werben und um die Erhaltung und Vergrösserung ihrer Macht bemüht sein. Politik ist für sie Kampf um die Macht.
In Oesterreich gab es keine politischen Parteien. So hatte denn unsere Politik Dienst am Volk zu sein. Diesen Dienst am Volk erfüllten auf verschiedenen Gebieten die Werke der V.F.
Wer sich auf den Boden des Staates stellte und mitarbeiten wollte, war uns willkommen, wer gegen die Front und gegen den Staat war, hatte die Möglichkeit, neutral zu bleiben oder gegen den Staat illegal zu kämpfen. Wer neutral blieb, konnte es sein, ohne von irgend einer Seite belästigt zu werden. Wer sich aber illegal betätigte, mit dem hatte sich nicht die V.F., sondern die Polizei zu befassen.
Die Werbung für das neue System und für den neuen Staat unterstand einer eigenen Institution, die den Namen »Bundeskommissariat für Heimatdienst« führte. In der ersten Zeit nach der Gründung, die noch von Dollfuss selbst vollzogen wurde, leitete Dr. Richard Steidle, der Tiroler Heimwehrführer, dieses Amt; später und bis zum Ende, Oberst Walter Adam.
Die V.F. erhielt von der Regierung für ihre Organisation keinerlei Unterstützung. Sie erhielt sich und ihre Werke mit Ausnahme des Kinderferienwerks aus den eigenen Einnahmen.
Die V.F. hatte etwa drei Millionen Mitglieder. Vor dem Herbst 1937 waren es etwa 2,500.000 gewesen. Die für den ersten November 1937 angeordnete Mitgliedsperre brachte es mit sich, dass sich die Bestände um eine halbe Million erhöhten. Der durchschnittliche Mitgliedsbeitrag betrug pro Monat 20 Groschen. Die Mitgliedsgebühr war nach den Einkommensverhältnissen gestaffelt. Mit zwei Hilfsorganisationen, dem Bauernbund und dem Gewerbebund hatten wir Pauschalverträge, was eine weitere Ermässigung mit sich brachte. Für Arbeitslose und Familienangehörige von Mitgliedern, die Familienerhalter waren, kamen ganz geringe Beiträge zur Einhebung. Das Inkasso blieb, trotz recht guter Organisation, bei etwa 15 % der Mitglieder aus verschiedenen Gründen undurchführbar und kostete annähernd 10 % an Spesen.
Die V.F. war weder von der Entrichtung der Postgebühr noch von sonstigen öffentlichen Abgaben befreit. Sie hatte für alle Lokale, die sie benutzte, auch in öffentlichen Gebäuden, ebenso wie für das Haus der Zentrale in Wien, beträchtliche Mieten zu entrichten. Grosse Veranstaltungen, die regelmässig stattfanden, brachten grosse Ausgaben mit sich. Die einzelnen V.F. Werke wurden von der Zentrale allmonatlich unterstützt. Wir beschäftigten etwa dreihundert Angestellte.
Daraus ergibt sich, dass die V.F. nicht in der Lage war, grosse Reserven anzusammeln. Im März 1938 besass die Zentrale in Wien einschliesslich der Sonderkonti, ein Vermögen von etwa zwei Millionen Schilling, das in österreichischen Banken lag. Dazu kam das Ergebnis des Frontarbeitsopfers, das dazu bestimmt war, den Neubau des Fronthauses am Ballhausplatz in Wien zu finanzieren, der Dollfuss-Denkmal Fond, aus dem das Dollfussdenkmal auf dem Ballhausplatz und die Dollfuss-Führerschule im Schönbrunner Schlosspark erbaut werden sollten. Schliesslich waren noch bedeutende Summen als Sammelergebnis für die Volksbefragung in den letzten Tagen eingegangen.
Nach meiner Abreise aus Oesterreich haben nationalsozialistische Stellen das Gerücht verbreitet, von diesen Geldern der vaterländischen Front seien beträchtliche Beträge ins Ausland gebracht worden. Die massgebenden Stellen der nationalsozialistischen Führung wissen so gut wie ich, dass diese Nachrichten nur den Zweck hatten, mich vor der Welt zu verleumden. Ein nationalsozialistischer Minister hat die verfügbaren Mittel der V.F. in barem Geld übernommen und quittiert.
Abschliessend sei gesagt, dass die Geldgebarung der V.F. stets eine geordnete und sparsame gewesen ist. Wir hatten eine Organisation ohne Schulden und verzichteten darauf, uns auf Kosten der Presse und der Wirtschaft weitere Einnahmequellen zu sichern.
Wer damals in Oesterreich die Beiträge und Spenden kritisiert hat, zu denen die V.F. aufrief, der ist indessen wohl zur Erkenntnis gekommen, wie bescheiden unsere Organisation im Vergleich zu anderen gewesen ist.
Rückblickend muss ich heute sagen, dass selbst die Ansammlung der relativ geringen Reserven, die wir betrieben haben und die uns besondere Sparsamkeit in der täglichen Arbeit auferlegte, falsch war. Mich schmerzt heute jeder Groschen, den wir nicht zum Ausbau und Aufbau der Kernorganisation ausgegeben haben.
Bis zum Jahre 1937 gehörte die freiwillige Miliz unter dem Namen »Frontmiliz« der V.F. an. Durch Gesetz wurde sie später zu einem Bestandteil der bewaffneten Macht gemacht und in die Kompetenz des Landesverteidigungsministeriums übergeleitet.
Aus dieser Ueberleitung ergab sich für uns die Notwendigkeit, an den Aufbau einer neuen Organisation zu schreiten, deren Mitglieder bereit sein sollten, auch in militanter Form für die V.F. zu wirken. Wir brauchten eine Organisation, in der die aktivsten Mitglieder der Front jüngeren Alters nach ihrer Art wirken konnten. Die junge Generation braucht den soldatischen Geist, das Rückgrat der Disziplin, die Stärke der Kameradschaft.
Wir schufen das »Sturmcorps der V.F.«, das im März 1938 erst im Aufbau begriffen war. Schon die ersten Hundertschaften, die wir aufstellten, zeigten, wie leicht es uns gefallen wäre, im Laufe eines Jahres eine Eliteorganisation von 30 bis 50.000 Leuten im Alter von 19 bis 30 Jahren aufzustellen, die einen festen Rückhalt für die zivile Organisation und das Regime geboten hätten. Die Schaffung des Sturmcorps entsprach dem lebhaften Wunsch unserer jungen Mitglieder. Leider haben Schwierigkeiten in der Führung der V.F. den Aufbau wesentlich erschwert und verzögert.
In den ersten Monaten des Jahres 1938 sollte überdies aus den Mitgliedern eine Sondergruppe der Verlässlichsten geschaffen und im »Frontring« zusammengefasst werden.
Es lag bei einer Massenorganisation wie es die V.F. war auf der Hand, dass nicht alle Mitglieder sich durch besondere Einsatzbereitschaft und Ueberzeugungstreue auszeichneten. In unserem Lager standen Opportunisten und Gleichgültige wie in jeder grossen Organisation. Vielfach hatten sich auch politische Gegner eine Mitgliedskarte gesichert, um die Vorteile, die mit der Mitgliedschaft verbunden waren, zu erlangen.
Unsere Amtswalter leisteten ihre Arbeit ehrenamtlich. Ohne dieses grosse Heer freiwilliger Helfer, die nur aus Ueberzeugung sich zur Verfügung stellten, wäre es nie möglich gewesen, die grosse Organisation der Front im ganzen Bundesgebiet aufrecht zu erhalten. Das, was die Nationalsozialisten ein »Häuflein bezahlter Subjekte« nannten, war in Wahrheit eine grosse Armee von österreichischen Idealisten.
Zum Teil stammten unsere Funktionäre aus einer Zeit, in der die politischen Parteien und die Wehrverbände noch bestanden. Wir hatten einen grossen Block von Menschen in Führerstellen, die vorher noch in keiner politischen Bewegung gearbeitet hatten. Selbstverständlich gab es unter diesen Umständen auch Fehlbesetzungen. Dass es aber trotz dieser Schwierigkeiten möglich war, die gestellten Anforderungen zu erfüllen, spricht für die Amtswalterschaft.
Die V.F. hatte sicherlich viele Fehler. Die Nationalsozialisten haben ihr vorgeworfen, dass die Qualität ihrer Amtswalter oder ihrer Mitglieder schlecht gewesen sei. An anderer Stelle spreche ich von der qualitätsmässigen Zusammensetzung der illegalen österreichischen Nationalsozialistischen Partei. Ich wünsche, dass meine Darstellung den Charakter vollkommener Gerechtigkeit trägt. Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang betonen, dass in jeder menschlichen Gemeinschaft eine gewisse Anzahl von Schweinehunden ihr Wesen treibt. Die Aufgabe der Führung einer Gemeinschaft besteht darin, diese Schweinehunde zurückzudrängen und nicht zur Geltung kommen zu lassen. Die Geschichte wird darüber entscheiden, in welchem Masse das der V.F. und in welchem Masse das den Nationalsozialisten in Oesterreich gelungen ist.
So lange die berufsständische Verfassung noch nicht vollendet war, befand sich die V.F. ihrerseits in einem Uebergangsstadium. Die Vorbereitungen für die Schaffung eines endgültigen Zustandes waren getroffen. Es mag mit ein Grund für die Eile, die der deutsche Nationalsozialismus an den Tag legte, in Oesterreich einzumarschieren, darin gelegen gewesen sein, dass man zur Erkenntnis kam, dass die V.F. nach der Fertigstellung der Verfassung in neuer Gestalt mit dem Volke unlösbar verbunden gewesen wäre.