Paul Zech
Der schwarze Baal
Paul Zech

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Der Anarchist

(1912)

I

Mitte März trat der neue Ingenieur Erwin Vallotti sein Amt an. Er hatte die drei Dynamo-Maschinen zu beaufsichtigen, die in Bordael dröhnten und ratterten, die Pumpanlagen und Paternosterwerke betrieben.

Der Direktor der Grubengesellschaft stellte ihm die drei Gehilfen vor. Zuerst den Techniker Vildrac, dann den Jean Paquet und zuletzt Henri Semella.

Der Techniker Vildrac war der einzige auf diesem Werk, der keiner Organisation angehörte. Er mied den Schnaps, ging jeden Sonntag zweimal in die Kirche und besaß fünf Kinder. Außerdem hatte er rote Haare, Sommersprossen in einem wulstigen Gesicht und ein unregelmäßiges Gebiß.

Von den beiden anderen Kerlen war Jean Paquet der intelligentere. Obwohl etwas Raubtierhaftes von ihm ausging (wenn man z. B. seine unverhältnismäßig langen Arme und den wüst bebuschten Schädel betrachtete) war sein Gesicht schmal und offen, und der Blick stand fast immer frei.

Henri Semella endlich fiel nur durch sein Sprechen auf, das mehr wie ein gewürgtes Knurren ging und gut zu dem Bulldoggenmaul paßte. Daß er in der Kneipe häufig zu finden war, mag auch erwähnt werden.

Der Ingenieur Erwin Vallotti machte, nachdem er sich von dem Vorhandensein der drei Mitarbeiter zur Genüge überzeugt hatte, nunmehr die Bekanntschaft der Maschinen in der weißen Riesenhalle, die aus zwölf ungeheuren Bogenfenstern Weltmeere von Licht empfing.

Die drei Dynamos mit ihren Kesseln waren von verschiedenen Dimensionen. Jene zwei an den beiden Außenflügeln des Raumes hielten sich in älteren Konstruktionsmaßen und verursachten nur 80 mäßige Geräusche. Aber es schien, als äußerten diese Geräusche feinste Wissenschaft, welche die Menschen kannte, in denen Tore sind, ihnen zueilte, in ihnen bebte wie ein gewordenes Spiegelbild des Daseins und Nächte zerstach.

Wenn die breiten Lederriemen über die Stahltrommeln fuhren, die Bürsten schrill pfiffen und die Luft sich zwischen den Polen wie eine Gewitterboe erbrach, spürte man deutlich, wie in den Menschen dünne Schichten einer Halluzination gegeneinanderdrängten, nebelzart und schmerzgefranzt, sich ineinanderschoben und ein Gesicht formten, das nicht von dieser Welt war.

Mimische Ausdrucksposen dieses also Geformten stellte das jeweilige Blut-Tempo des Halluzinierten.

Aber all diese traumträchtigen Geräusche der zwei äußeren Maschinen verstummten, sobald das Ungetüm in der Mitte die Flügel erhob. Hart wie ein Gebirge stand sein Schnauben im Raum und ballte die Luft zu Lawinen, die vom Schwungrad durcheinandergewürfelt eisige Nacht säeten. Wer wohl fände Worte, die die Kräfte jener frostigen Niederbrüche mündig machen, um sie gegeneinander sprechen zu lassen? Könnten es Laute aus unseren Sprachen sein? Ach, solche Laute fügen sich nie zu Wörtern und Sätzen, die antworten. Sie können auch nicht beschreiben. Ununterscheidbar schwarz in schwarzem dünnem Tuche wären alle Schlünde und Abhänge, von denen unsere Sprache gesprochen hat.

Unersättlich mahlte das Maschinenungeheuer. Thronte in dem schwärzlich düsteren Rot der Höhle wie ein Drachen und lenkte mit seiner gigantischen Schwere das Pendel Mensch in die nächste herzukommende Zeit hinein, die eine völlige Wahrheit strahlen wird.

War es nicht eine infernalische Groteske, daß der Techniker Vildrac aus der Plattform stand und den Gang dieser Maschinen lenkte? Mit den Füßen eines gebrechlichen Glaubens sein Dasein 81 in das Hirn dieses Gott-Embryos rammte, ohne zerzwirbelt zu werden wie ein lästiges Insekt?

Der Ingenieur Erwin Vallotti kannte, fremd in dieser Halle, natürlich noch nicht das wahre Gesicht des Molochs. Als ihm aber Jean Paquet wie auf eine heimliche Verabredung hin die Opfer nannte (zwölf vom Hundert), da war kein Zweifel mehr in ihm. Er segnete diese Stunde. Und alle Furchen in seinem hageren Antlitz schienen wie eingemeißelt in die harte Haut. Jeder Zug um Nase und Mundwinkel stand starrend steif.

II

Drei Wochen waren verrollt. Da zogen die Grubenleute in hellen Scharen in die Versammlung. Ein Obmann von der Zentralleitung der roten Organisation war gekommen und sprach für den Achtstunden-Tag. Man jubelte ihm zu, wenn er mit einem Worthieb starre Gesetze splitterte, oder alles Bestehende, das faul war, mit einem Fußtritt in den »Orkus« stieß. Man heulte auf, als er mit einem Scheinwerferstrich von Allwissenheit in das sumpfige Qual-Labyrinth der Gewerkschaft von Bordael stach und Zustände lichtete, die schon nicht mehr sträflich waren. Und das Geheul der Wissenden klang wie das Feldgeschrei irgendeines wilden Volksstammes und schien von dumpfen, schmetternden Trommelwirbeln begleitet. Denn in den Mienen des Redners stand gläubig geschrieben: Ich bin schon nah; gleich wird das Vollbringen mich umhüllen.

Sieghaft verlas er die Resolution, welche forderte: sogleich in den Streik zu treten, der als ein Unerwartetes schon halberfüllte Forderung war.

Da setzte breit und dumm die Diskussion ein. Zog den Willen zurück von dem letzten Sprung und ließ ihn wie eine offengestöpselte Essenz verflüchten, die zum Himmel stank. Und die Stimmung zerriß. Blut kochte. Exzesse wurden. 82

Da trat der Ingenieur Erwin Vallotti, der von einem Pfeiler verdeckt der Strömung gefolgt war, vor und versuchte sich einen Weg zu der Tribüne zu bahnen, wo der fremde Redner saß. Halsgeschwollen und mit zurückgebeugten Armen. Hatte Hämmern im Kopf, während Adern sich verknoteten, wühlten und zerrten: Fäuste zu ballen über diese Haltlosen. Zu brüllen: Ihr Vieh!

Rings um ihn her hatte sich aus Getreuen und Standhaften ein tonnenförmiger Kreis geschlossen, dessen Dauben alle Mühe hatten, den Druck von außen auszuhalten. Die armen Leute quetschten sich so schmal wie möglich. Krümmten die Schultern und spreizten die Beine, um dem entsetzlichen Muskel standzuhalten, der sich um das lebende Faß wand und preßte.

Der Ingenieur Erwin Vallotti kam nicht einmal bis zur Mitte des Saales. Als er umherblickte mit verwundert fragenden Augen, sah er, daß er der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden war. Man stierte ihn verdutzt an. Ließ die Unterkiefer hängen und erreizte sich Gedanken, wer er sei, was er hier zu tun habe und mit welchen Absichten.

Da schrie einer: 'Raus mit dem Spion!

Aber noch ehe es aus dem zwiespältigen Gemurmel zum Orkan schwoll, ging die Glocke auf der Tribüne.

Da drängte es sich in ihm auf wie ein Gefühl von Scham: Wer sind denn eigentlich diese Geschöpfe. Diese schlappen Gesichter mit ihrer gedunsenen Un-Ironie? Ihrem matten Unwillen? Daß gerade diese des Elementaren verlustig gegangen waren: der Kraft, zu zürnen. Gewaltsam ans Licht zu drängen!

Er empfand diesen Augenblick etwas wie Verachtung gegen sich selbst und suchte den Ausweg zur Tür. Ging über die Straße zum Kanal hinunter, wo ein Sturm erbost war. Schob sich mit wagerechtem Oberkörper durch den treibenden, puffenden Widerstand.

Da segelten dichte, monderhellte Wolken um einen Strahlenkern. 83 Unter ihnen klatschte und flatterte es wie unter einer Reihe riesig gebauschter Segel, und unter dem Holzpfahlwerk des Kais wetzten zerbrochene Scherben ein Spiel, das keinen Klang mehr hatte. Schiffsmaste beschrieben weite Pendelbewegungen. Schornsteine von drüben schnellten wie Gerten und zerrissen die Wasserhaut in lange weißschäumende Wunden.

Es lag nahe, die Raserei von einem flammenden Zorn mißhandelter Elemente, in denen es ohne Unterlaß riß und peitschte, knirschte und schrie, winselte, zischte und schluchzte, unvernünftig sinnlos zu nennen. Aber gehorchten nicht die Elemente des Menschenhirns denselben Gesetzen wie Himmel und Flut?

Und doch: die Elemente da hinten im Versammlungshaus interessierten ihn mehr, als das Unwetter hier draußen, das ja wohl ihr entfernter Verwandter war. Sie sprachen eine gleich unartikuliert klingende Sprache, wenn auch von Furcht noch gehalten.

Aber diese Naturkraft muß noch im Keim konzentriert, gezähmt werden, um sie als Kraft auf gewaltige Entfernungen zu übertragen. Und ohne ihre Macht zu dämpfen, muß man sie hindern können, ihre eigene Maschine zu zerschmettern.

Ach, begreifen sie wirklich schon: wie, lebten sie so, wie sie leben? Und wie vermöchten sie es. Wie vermögen sie's? Hören sie denn nicht den Schrei: Es wartet einer draußen schon?

Sind sie denn krank?

Krank, da sie sich noch bemühen können, ehe der Schrei des Todes herausgenommen ist aus ihrer Welt oder – ganz in sie hineingekommen? Aber wie können nur ganze Haufen sich als die Einzelnen fühlen, da jener Schrei doch an alle und als das Erste herangeht. Müßten die Menschen innerlich so verschieden sein, wie sie heute ihr Äußeres einander verweist?

Man ginge lieber zu den Kaffern und wüßte schon, bevor man mit ihnen spräche, über sie: In diesen bist du wie in jedem Lebenden 84 zu Hause. Und diese Sicherheit stärkte und man könnte leben ohne das Schmerzen der einsamen Wachheit.

Der Ingenieur Erwin Vallotti hatte die Straße wieder erreicht. Der Sturm blies nun von rückwärts, hob ihn empor, stieß ihn fast vor sich her und spreizte ihm die Rockschöße aus wie Flügel. Er sah nach dem Versammlungshaus hinüber. Alle Lichter waren erloschen dort. Der Regen hatte das Volk wie Spreu zerstreut. War der hundertfältige Willen der Vielen endlich geknotet zu einem einzigen Tau, jenen Riesen zu fesseln, gegen dessen Bestialität man anzurennen versuchte?

Vor einer miserablen Wirtschaft stand noch eine kleine Gruppe Abschiednehmender. Das Harmonikagezwitscher von drinnen drang kaum durch die Scheiben ins Freie, und das Klirren der Gläser nahm sich aus wie ein schwaches tickendes Knipsen.

In der Nähe einer Laterne stieß der Ingenieur Erwin Vallotti mit einem älteren Mann zusammen, der ihn trotz seiner klar gehörten Entschuldigung mit den Augen verfolgte.

Der Ingenieur Erwin Vallotti guckte neugierig über die Achsel zurück und wäre vor Erstaunen fast gestolpert. Diesen buschigen Kopf hatte er schon gesehen, ebenso, wie diesen starren Blick unter den Hängebrauen.

Er rief darum, nicht mehr zweifelnd: »Jean Paquet!«

Da drehte sich der Schwarze um und kam rasch aus der brausenden Finsternis.

Nun sah er deutlich: der Mann, dessen Gesicht sauber geseift war, hatte Fanatisches. Und war sein Mitarbeiter.

Dann sagte er: »Nun, mein lieber Paquet, wie lief die Sache? Wird gestreikt oder nicht?«

Jean Paquet beugte sich vor. Wie jung er doch aussah!

Fast sieghaft kam es heraus: »Ja, Sie, morgen schon! Und Sie können es auch gleich wissen: ich mach mit. Dafür können 85 Sie meine Maschine lenken. Oder der Vildrac. Oder ihr alle zusammen!«

»Wer?«

»Na, der Vildrac, der Kriecher! Wer denn sonst? Sein Gott wird ihm wohl noch einen Arm dazu wachsen lassen, damit er nicht mehr zehn, ach, gleich zwanzig Stunden schuften kann.«

»Sagen Sie mal, Paquet, weshalb beschimpfen Sie gleich Ihren Genossen? Wissen Sie denn schon, daß er nicht mittut, wenn alle streiken?«

Jean Paquet verzog den Mund und spuckte aus: »Der und streiken? Tausend Knüppel jagen ihn nicht aus dem Maschinenhaus!«

»Sie sollten ihm mal ins Gewissen reden! Oder mit Geld herumkriegen. Vielleicht hat er Angst zu hungern.«

Jean Paquet richtete sich auf. Trotzig. Hob die Schultern. Und schrie gemein: »Sie wollen mich wohl aushorchen, Herr Ingenieur??«

Da faßte ihn der Ingenieur Erwin Vallotti bei der Schulter, um ihn in das gegenüberliegende Lokal zu zerren.

Paquet aber witterte Verrat. Bekam einen Wutanfall und riß sich los. Brüllte über die Straße hin: »Nun pack' dich aber, du Spion! Pack' dich! Sonst gibt's noch eine Leiche heute Nacht!«

»Feigling!« knurrte der Ingenieur Erwin Vallotti und ging mit starren Blicken in das fahle Frühlicht.

III

Am nächsten Morgen waren nur zehn Knappen von der ganzen Belegschaft gekommen, die sich zur Einfahrt meldeten. Man wies sie zurück und hing doppelte Schlösser vor die Tore. Die Heizer aber, junge Kerle aus dem Osten, standen vollzählig vor den Kesseln, und in der Maschinenhalle fehlte nur Jean Paquet. 86

Da ersuchte der Direktor, dem der Streik wirklich nicht naheging, den Ingenieur Erwin Vallotti, die verwaiste Maschine für die paar Tage, wo dieser Karneval tobte, selbst zu halten. Denn das Wasser müßte unter allen Umständen aus dem Schacht.

Der Ingenieur Erwin Vallotti schwoll rot an. Zuckte aber nicht. Stellte sich vor das Schwungrad und lenkte den Hebel. Der Schweiß glänzte dick in den schwarzen Haarsträhnen, die ihm unter dem Hut hervorhingen. Und seine Augen lagen tief wie zwei ausgebrannte Kohlen.

Er dachte: warum sind nur die Heizer da? Dieser Streik wäre dann der erste, der zu gewinnen ist. Lumpenpack!

In der Mittagspause, als der Vildrac im Ölkeller war, hatte der Ingenieur Erwin Vallotti eine Unterredung mit Henri Semella, die so gestellt war, daß dieser am nächsten Morgen nicht wieder kam. Da setzte der Ingenieur Erwin Vallotti mit den kleinen Maschinen aus.

Nun ging die große Riesenmühle allein, und Vildrac war stolz auf das durchdringende Getöse, das sie verursachte. Er sog das Sausen der Zylinder wie Musik ein und ahmte mit heftigen Lungenstößen das Auszischen des Dampfes nach. Er putzte und reinigte die Metallteile, bis sie die Sonne an Glanz übertrafen. Sang und putzte und sah strahlend erhoben auf den Ingenieur herab, dessen schlangenhafter Schatten in dem Lichtpfad auf zitternden Steinen zwischen den ruhenden Dynamos unter den Riemen hin- und herhuschte.

Das ging Tag für Tag so. Und drei Wochen hindurch. Und um keinen Schritt waren die Streikenden mit ihren Forderungen näher gekommen.

Der Herr Direktor ging wie ein Pfau umher und rauchte teure Zigarren auf dem Grubenhof. Sein Blick fuhr streichelnd über die festverrammten Tore und über jedes Gebäude. Minutenlang horchte er auf das Brausen aus dem Maschinenhaus und klopfte sich 87 befriedigt auf den Bauch. Denn auf den Höfen lagen noch ungeheure Kohlenvorräte aufgestapelt. Und solange die Pumpen das Wasser in breiten Strömen aus den Schächten hoben und der König und Soldaten waren – – –

Eines Abends belauschte der Ingenieur Erwin Vallotti einen Trupp Ausständiger im Wäldchen, wo sie faul und mutlos im Moos lagen. Man resignierte da: »Solange die Maschinen gehen, gibt der Hund von Direktor nicht nach. Warum haben wir die Heizer nicht auf unserer Seite? Der Streik ist doch auch ihre Sache. Man sollte das Maschinenhaus stürmen und die Lumpenkerle totschlagen. Diese Lumpenkerle,« – sie spuckten alle geräuschvoll aus, – »die ihren Brüdern in der Verdammnis noch ein Bein stellen, gerade das: ein Bein stellen, denn es ist doch so, wie wenn zwei raufen und ein dritter kommt und stößt den Schwächeren mit dem Fuß unter die Kniekehlen und nimmt dann für die Mühe noch fünf Groschen. Es ist akkurat dasselbe, wie wenn das Schwalbenjunge dem Kuckucksjungen hülfe, die Schwalben aus dem Nest zu schmeißen. Aber man kann die Hunde nicht mehr fassen. Tag und Nacht liegen sie auf dem Werk. Dynamit sollte man legen.«

Der Ingenieur Erwin Vallotti zuckte auf: »Verwirre ich mich denn immer mehr? Geht nicht einer hinter mir, der mit den Knöcheln seiner Finger auf meinen Rücken klopft, so daß ich meine Gedanken aus den Knochen klingen höre? Als Echo einer gewordenen Tat klingen höre: »Dynamit sollte man legen . . .!«

Bin ich denn Gott?

Freilich, der Gott, den unsere Völker zu fühlen glauben, hat ja auch nicht gelernt, der Gott zu sein.

Trotzdem will ich mein Werk vollenden. Sei's auch um den Preis der Brüder.«

Als der Ingenieur Erwin Vallotti wieder in das Maschinenhaus 88 kam, schickte er den Heizer, der ihn vertreten hatte, wieder weg und nahm sich den Vildrac vor.

»Sie sind schon fünfzehn Jahre auf dem Werk, hörte ich!«

»Ja, Herr Ingenieur!«

»Was sagen Sie denn zu dem Streik, he?«

»Ich . . . ich . . . meine, die Kerle haben keinen Grund. Sie haben doch ihr Auskommen und acht Stunden den Tag – das geht doch nicht. Da lungern sie bloß in der Kneipe herum und vertrinken noch mehr. Es ist eine Schande, Herr, wie die Kerle saufen!«

»Sie lesen viel in der Zeitung, Vildrac?«

»Ach, mehr in der heiligen Schrift. Die Zeitungen lügen ja so. Nur im Kreisblatt steht manchmal Wahres. Da steht auch, daß der Streik nichts wie Erpressung ist. Aber man weiß ja, die Kerle haben sich aufhetzen lassen von denen, die oben stehen und berühmt werden wollen. Der Jean Paquet ist übrigens auch so ein Hetzer. Was hat er als Maschinist mit den Grubenleuten zu tun? Schon längst hätte er hier weg müssen. Der Hetzer!«

»Sind Sie nie in einer Versammlung gewesen?«

Vildrac richtete sich auf mit geröteten Augen. Sein sonst gelbes Gesicht glich augenblicklich einem nebligen Herbstmond. Es war fast glutrot. Mit schleimigen Gurgelstößen erwiderte er: »Soll ich auch etwa unter die Hungerleider gehn, Herr Ingenieur? Ich habe fünf Kinder, Herr! Gegen meine Überzeugung soll ich Front machen? Nein. Nie im Leben! Sie sehen ja, die Geschichte führt ja doch zu nichts. Nächste Woche werden Leute aus Holland kommen. Dann können die hier sich trollen. Und dann: Ist das ein Kampf? Nichts als Mord. Mord!«

Da brauste der Ingenieur Erwin Vallotti auf: »Aber nun hören Sie mal. Gewiß ist das ein Kampf. Ein Bazillenkampf. Ihre Brüder hungern. Ihre Brüder finden das Hungern unbehaglich. Sie vereinigen sich, um sich das Brot, d. h. die Produktion zu 89 erkämpfen. Sie sagen Mord? Nun, wenn Kampf einmal im Gange ist, hagelt es auch Hiebe. Und wenn Brotläden gestürmt werden, hol' der Henker den, der umherfackelt und von den Lilien auf dem Felde faselt. Es wird ja nicht nach Formen und Billigkeit gefragt, sondern nach Macht und Konjunkturen. Rechtmäßig heißt jeder Streik, der gelingt. Und dieser Streik wird und muß gelingen, weil er sozial und ein Kraftmesser ist.«

Vildrac spreizte die Hände. In seinen Mienen jagten sich Abwehr und Angst. Keifte Unverständliches und kroch wie ein verprügelter Hund unter die Riemen.

Der Ingenieur Erwin Vallotti hingegen stand mit geballten Fäusten. Ein Verödendes lief über sein Denken. Er wurde fast irre in der Wut darüber, daß jener, ein Vernarrter, da war und sein Haus beschrie. Einer da war, der nicht fühlte, daß die große Quelle des Neuen draußen unter den Brüdern herausgebrochen ist, die schon lebte in ihrer dem Tode abgekehrten Art. Ihre Sache ist Zweck und ihre Seele Lust. Frei freute diese sich erst, wenn keiner der Beteiligten mehr unentwickelt im Knäuel der primären Triebe läge, wenn nicht mehr lebende Möglichkeiten von Menschen aus dem Meere des Goldes hinausgeworfen wären auf den Strand der Not.

In diesen Gedankengängen kam der Ingenieur Erwin Vallotti dazu, ein Signal zu geben. Und sein Wille konzentrierte sich vorerst auf die große Maschine, die Ursache war, daß unter den Brüdern Unlust und Untätigkeit verheerend kroch. Und eine Eingebung versetzte ihn in einen Zustand freudiger Erregung.

IV

In der Nacht auf den Tag, da zweihundert Streikbrecher unter Begleitung von Gendarmen ins Dorf gekommen waren, gingen alle drei Dynamomaschinen. Die Förderkörbe stiegen auf und ab und in den Paternosterwerken lärmten die eisernen Schieber. Vildrac 90 und der Ingenieur Erwin Vallotti waren allein in dem Maschinenhaus. Ihre schwarzen Schatten standen riesengroß auf den weißen Wänden. Die Bogenlampen schwammen wie in Blut, und die großen Regulatoren zerspritzten das Purpurne mit rasendgeregten Drehungen. Die Pistons ächzten unruhig einem Unfaßbaren entgegen. Durch die Fenster zwängte sich der Flor der Nacht und trieb die Außenwelt weit hinaus.

Vildrac hockte wie ein Götze auf der Plattform, und unter ihm sausten die öligen Drahtseile wie Befehle aus seinen Händen entsprungen. Die Ringe unter den Kupferbürsten liefen durch sein Gehirn, das von jeder Runde das geschöpfte Wasser zu messen schien. Der dumpfe Ton des Tumultes klang ihm wie eine Bestätigung.

Der Ingenieur Erwin Vallotti pendelte mit unruhig gelängten Schritten durch den ungeheuern Raum. Als er aber an den Schalttafeln hantierte, ließ ihn Vildrac nicht mehr aus den Augen. Eine erträumte Ahnung quoll die weißverzerrten Äpfel wie Knollen aus den Höhlen vor. Plötzlich vereinte sich dem ahnend Erdachten, zu dem ihm Hellsehen stieß, eine Tat. Er hörte etwas einschnappen und sah, daß die Armatur ihren Lauf veränderte. Kurzschluß!

Der Ingenieur Erwin Vallotti stand am Fenster und rührte sich nicht.

Da kroch Vildrac von der Plattform und untersuchte den Draht. Er ächzte und stöhnte dabei. Hielt Schläge aus, die vom Strom sprangen, und näherte sich befriedigt der Endung, als die Armatur plötzlich zurücksprang und den Körper hochriß.

Wie ein nasser Sandsack platschte er aus der Höhe auf den Steinboden zurück.

Der Ingenieur Erwin Vallotti klingelte die Heizer herein. Einer mußte den Direktor holen. Der richtete an den Ingenieur einige Fragen, die dieser mit gleichgültigem Kopfnicken bestätigte.

Unfall. Selbstverschuldet. 91

Man hielt sich nicht lange auf und schaffte den Leichnam hinaus. Es waren noch zwei Stunden bis zur Ablösung, und die nützte der Ingenieur Erwin Vallotti, der allein in der Halle blieb, aus zu dem rächerischen Werk, das keiner Zeugen bedurfte. Er hatte den vorerwogenen Weg, der doch zu keinem Ziele führte, endgültig verlassen und strebte darum dem Letzten zu. Er wußte. nur ein dröhnendes Signal könnte die Scharen sammeln. Und dieses furchtbare Signal wollte er geben. Denn die Brüder brauchten einen Schlachtruf zu jener Sieghaftigkeit, die ihres Willens zur Freude wert ist. Sie werden dann nicht mehr sich selber zerfühlen, zerfleischen müssen, fühlten sie erst den großen Kampf vor sich als einen halberrungenen Sieg.

Dann erst wandelte sich zur Tat jedes Mühn, wenn der es in den Ekel zerrende Zusammenhang mit der Stillung des Hungers zerrissen wäre und auch nicht mehr die Farbe des Einzelnen trüge.

Der Ingenieur Erwin Vallotti atmete erst auf, als die Patronen gelegt waren und die Drähte verbunden. Und niemand würde, das war ihm gewiß, den Plan in den ersten vierundzwanzig Stunden entdecken.

Mit gehobenen Schultern trat er ins Freie.

V

Vor dem Tor der Grube staute sich ein wütender Menschenschwarm. Mit Steinen standen sie da. Wurfbereit. Manche schwangen schwere Knüppel. So wollten sie die Streikbrecher empfangen.

Der Direktor hatte nach der Stadtkommandantur telegraphiert. Militär war unterwegs. Um sechs sollte es eintreffen. Das war zeitig genug. Denn um sieben kamen erst die Streikbrecher aus der Schicht. Als der Ingenieur Erwin Vallotti sich durch den 92 Menschenwald zwängte, vertrat ihm Jean Paquet den Weg. Ein unheimliches Feuer brannte in dessen Blick.

Da sagte der Ingenieur, indem er ihm die Hand hinreichte: »Was ist Ihnen? Sie sehen aus wie der Tod. Zweifeln Sie an der Sache?«

»Verflucht! Sie fragen noch? Mit den Soldaten hat man uns gedroht!«

»Den Ausgang habe ich vorausgesehen!«

»Natürlich wußten Sie das. Denn Sie haben ja ein Interesse daran, daß die Maschinen wieder voll gehen.«

»Das können Sie glauben?«

Jean Paquet griff sich ans Herz. Aber dann ging wieder die Wut über sein Gesicht und er schrie: »Das sage ich Ihnen, ehe das erste Bajonett blitzt, haben wir die fremden Teufel aus dem Dorf gejagt. Mit Steinen werden wir sie jagen. Und das Maschinenhaus werden wir stürmen. Kein Rad soll ganz bleiben. Dann wird der Hund von Direktor schon nachgeben! Und wenn Sie kein Messer zwischen die Rippen haben wollen, Herr Ingenieur, dann bleiben Sie nur heute aus dem Werk.«

Der Ingenieur Erwin Vallotti hatte von dem Sprecher kein Auge gewandt. Und dachte: Seltsam, daß niemand von den Oberbeamten begriffen hat, was da unter den rauchigen Augenbrauen dieses Kerls qualmte. Heute forderte er diese Idioten heran, sie zu zermalmen. Die Masse wird sie zermalmen, die schlau genug ist, ihre Dummheit zu hüten, diesen unersetzlichen Vorrat an Energie, Glauben und Selbstsicherheit. Sie braucht nicht von ihrer Höhe hinabzusteigen wie der Philosoph, wenn er zur Schimäre des Wissens vorgedrungen ist und ein Verlangen nach Handgreiflichkeit und Handlung fühlt. Sie besitzt aber auch nicht jene Naivität, die der Philosoph vorheucheln oder erst schaffen muß, wenn er sich auf Erden wandeln fühlen will. Die Kultur ist ihr Zeughaus für ihren 93 Kampf gegen die Kultur, und das einzige, was sie sich aus Hellas geholt hat, heißt Ostrazismus, die Verfolgung der Selbständigen. Und jetzt ballen sie die Fäuste, jetzt lockert der halbnackte Rotzbengel den Leibgurt mit der Stahlschnalle.

Ein Ellenbogenpuff irgendwoher weckte den Ingenieur Erwin Vallotti aus seinem Traumzustande, der schon eine Helle war. Dicht trat er an Jean Paquet heran und flüsterte fast: »Sie haben recht. Ich werde das Werk nicht mehr betreten. Ich reise heute ab, und unsere Wege werden sich nicht mehr kreuzen. Denn meine Arbeit ist hier beendet. Aber ein Signal werde ich zurücklassen. Das soll die neue Stunde anzeigen. Denken Sie dann an mich.«

Seine Brust arbeitete, er richtete den Blick nach oben.

Jean Paquet stand gefesselt, gelähmt auf dem Fleck, von wo aus der Ingenieur wie ein Spuk sich erhoben hatte. Nicht einmal der Geruch seines Atems war geblieben.

Jean Paquet stand und tat nichts, schrie nicht auf: Simson wach auf! Philister über dir!

Ein Signal? Sollte es das Recht sein, ehe das Rufen zum Wiederwerden aus dem Gewordenen zu tönen beginnt, diese Unterdrückten hinüberzusenden in ihren Ursprung, ins Nichts?

Da zerriß endlich heiseres Rufen die Menge, die geballt war. Bewegung schnellte in die Breite: Auf! Die Soldaten kommen!

Das rüttelte empor. Raste durch's Dorf. Riß an den Fensterläden. Stieg über die Dächer. Strich wie Brandgeruch.

Und es war ein Blitz: Auf mit dir, alter Faulpelz, der du mit deinen achtzig Jahren daliegst und dich räkelst!

Auf Gebärende, deine Geburtswehen können warten!

Und der Boden dröhnte schon unter dem Marschtritt: eins, zwei! Eins zwei! 94

Die Masse stand wie eine Mauer. Und der buntgefleckte Schlangenleib wälzte sich näher heran.

Helme blitzten.

Mann an Mann.

Schritt und Tritt.

»Steine her! Steine her!«

Trommelwirbel.

»Kerle, schleppt Steine . . . Steine . . .!«

Lautlose Stille hüben und drüben.

Da fegte ein Donner über die Straße und riß alles zu Boden. Über dem Gewerkschaftskomplex entbrannte furchtbarer Qualm. Ein Steinhagel pflügte Blutfurchen.

Durch die schreckentwaffnete Menge stampfte der Soldatenzug in prachtvoller Auflösung zu retten. Kletterte über die Fabrikmauern und sammelte sich auf dem Hof.

Das Maschinenhaus war vom Boden rasiert und die Dächer von den stehengebliebenen Häusern einfach abgesägt.

Mit wahnsinnig vorgerollten Augen sprang der Direktor durch die Trümmer. Stieg auf den Steigerturm und riß die Notglocke.

Da kamen die Ausständigen mit kindlichem Willen. Verbrüdert mit der Soldateska retteten sie, was zu retten war. Stiegen auf Leitern die Notschächte hinab, die Streikbrecher zu suchen, die gänzlich abgeschnitten waren und versaufen mußten, nun, da die Pumpen nicht gingen.

Draußen aber, auf der höchsten Geröllhalde, stand der Ingenieur Erwin Vallotti mit ausgebreiteten Armen und sah beschwörend auf die Trümmer, wo die Saat des Neuen aufging.

Über seine Lippen strich es wie Osterwind: Nun werden Wandlungen sein, und sie werden nicht mehr wissen, daß sie waren. Immer aber: daß sie sind. Sie werden das wissen, weil sie nicht sie sind, sondern irgendein Mai, der sich in jedem Baum fühlt, der grün 95 wird. Denn das unendliche Grün ist unendlicher Weg geworden. Dieses genügt, dieses befiehlt. Ist schön und lockte.

Ich aber nehme mich zurück. Denn in Wahrheit ist meine Welt nicht die ihre zu fühlen, daß ich ehrlich war mitten in dem Verbrechen.

 


 


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