Paul Zech
Der schwarze Baal
Paul Zech

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Das Vorgesicht

(1912)

I

Einmal geschah es, daß Séverin Roubaud den erkrankten Steiger Poulein plötzlich vertreten mußte, weil er der Älteste auf der Sohle war.

Séverin aber betrachtete den Auftrag, einen verlodderten Flöz wieder berggerecht zu schaffen, sozusagen als Prüfungsaufgabe für den Hilfssteiger-Posten, der zu vergeben war.

Er spannte, von brutalem Ehrgeiz getreten, Hirn und Muskeln an. Trieb die fünf Kameraden wie Ochsen und fluchte bei der Einfahrt wie der Berginspektor selber.

Jaques, der fünfte von den Kerlen, lockerte im ersten Zorn schon das Messer.

Der verwahrloste Schacht stundete bereits ein paar Jahre und war schlüpfrig wie ein Sumpf.

Die sechs Männer hatten schwere Arbeit mit dem hervorgequetschten Gebirge, das sich über zehn Fuß Mächtigkeit hinstreckte.

Sie sackten jeden Schritt breit, den sie herausschlugen, sofort zu. Keile und Bolzen saßen fest im Aufhieb. Und aus Pram und Sohle rieselte kaum noch Staub.

Nur im vordersten Gang, wo Séverin allein schaffte, stand das Feuer in geduckten Funken und schrie nach der Wettermühle.

Aber Séverin hatte einen harten Schnapsschädel und bohrte fort, trotzdem die Bläser aus dem gerissenen Bruch schon explodierten und ein Heulen wie von gereizten Löwen war.

Dicht hinter den anderen stürzten die Ladungen wie Lawinen von Staub. Benahmen ihnen allen den Atem und saßen faustdick auf dem Gestänge.

Jaques murrte und warnte Séverin: den Bruch doch erst ausschwelen zu lassen. 54

Séverin aber stemmte die Eisen, als säße hinter ihm einer mit Keulen.

Da fingen auch die anderen um Jaques an, unruhig zu werden. »Man sollte den Obersteiger anklingeln,« schrie der rote Jean.

Zwei Weiber, die ganz hinten die Wagen andrückten und in Rufnähe waren, pfiff man heran.

Sie mußten die Wettermühle holen.

Séverin schlug weiter. Schlug, daß die ausgeklüfteten Felsen dröhnten.

In den Hölzern knackte es, als bohrten tausend Würmer darin. Und aus den Nebengebirgen scholl dumpfes Grollen herüber.

Man deckte das Kappholz und rammte die Buchenpfähle Schlag auf Schlag.

Widerliche Schwüle kam aus den Gängen, trotzdem die Mühle ungeheuer mit den Flügeln aus den Saugern schlug.

Der rote Jean, der aus dem Vlämischen stammte, warf die Eisen einfach fort und verkroch sich hinter das Gestänge. Ein schweres Grauen war über ihn gekommen, denn er hatte in der verflossenen Nacht einen bösen Traum gehabt. Er hatte seinen Vater rot und groß gesehen. Seinen Vater, der vom Förderseil aufgerissen wurde, vor Jahren, im Leichenkittel über die Halde tanzen sehen.

»Du Séverin!« heulte er auf und wischte sich den Schmutz von den dünnen Lippen.

Séverin blickte nicht auf von der Arbeit. Er lag auf den Knien und arbeitete, daß ihm die Zunge breit aus dem Halse hing.

Hin und wieder tat er ein paar Fehlschläge. Dann rann ihm das Blut aus großen Wunden von den Händen. Aber er zuckte nicht. Er fühlte sich wie ein Teil dieses Gebirges, das den anderen wie ein massiver Haufen aus dicker, ansteckender Finsternis erschien, in die sie ohnmächtig hineinbellten.

Endlich hatte er ein riesiges Loch geschlagen. Das Geröll quatschte auf seine Lenden wie lauter feuchte Sandsäcke. 55

Er beugte sich vor, tastete klirrend herum, ergriff die Flasche vom Rücken und goß sie ganz in sein inflammiertes Inwendige.

Als ihm der letzte Tropfen des Fusels durch den Schlund gefahren war, fühlte er wieder, was er vorhatte und schleuderte die Flasche zurück.

Der Hammer sprang wie geölt von seinen Schultern herab.

Rings war es ganz still geworden von den Fäustelschlägen der anderen.

Jean stand mitten im Gang und schrie noch einmal: »Du . . . du . . . Séverin . . . du . . . Mörder!«

Sein Gesicht war kreidig verzerrt.

Und die Augen zerrissen die Finsternis. Und plötzlich öffnete sich da im innersten Innern ihrer Pupillen eine Luke. Kohlschwarze Sammetpforten wurden tief drinnen aufgeschoben. Und es stiebte eine schwarze Glut heraus. Ein knitternder Schatten von Feuer. Eine Flamme . . .

Sein Atem hielt mit einem Seufzer inne.

Er fühlte sich sengend heiß.

Die Lippen brannten.

Mein Gott!

Mutter Maria!

Joseph . . .

Der Vater . . .!

Und da . . . da . . . da . . . wie von unten mit riesigem Nacken wütend emporgedrückt, brach die ganze Arbeit zusammen.

Splitterte. Riß. Knallte und rollte empor.

Die Kolbenwuchten steilten sich wie Dämme. Berg und Gehölz verschwanden in Rauch und Steinhagel. Ein Geheul wie nicht mehr aus menschlichen Kehlen donnerte auf.

Aber die wahnsinnigen Rufe starben hin in dem Lärm von herabstürzenden Brocken und Wasser, das wie ein Bergstrom einbrach und den Staub verschlammte. 56

Séverin schnaubte durch den verstopften Mund wie ein wilder Hengst. Stürzte in das Dunkel vor, wo er die Kameraden vermutete.

Da brach es noch einmal los und es war, als barst die ganze Erde zusammen.

Bis zur Brust war er festgekeilt und griff mit den Händen wie in Mehlberge.

Und immer neues Wasser ergoß sich und verschlang die Staubwolken.

Von einem geknickten Pfahl herunter blinkte gelbes Licht.

Das war Jeans Lampe.

Er griff danach und hob sie hoch.

Seine Augen zersägten das Dunkel.

Da hörte er ein Jammern tief unter sich wie aus einem ungeheueren Keller heraus.

Seine Augen begannen zu hüpfen.

Blut siedete auf den zackigen Felsstücken. Fleischteile lagen dampfend auf den zerschmetterten Hölzern.

Er bekam endlich eine warme Hand zu fassen und versuchte sie mit aller Macht emporzuziehen.

Tastete hinunter und griff nasses Gestein.

Die Hand ging verloren.

Er kratzte überall herum und konnte sie nicht wiederfinden.

Er versuchte, sich aus dem Bruch herauszuwinden. Aber je heftiger er sich abmühte, um so nachgiebiger rollte neues Gestein herab.

Seine Kraft erlahmte. Seine Augen brannten weh aus der Schwärze und suchten nach der Hand. Sie wurden gejagt von einem furchtbaren Wahnwitz. Jeder Nerv war aufgespannt.

Und da sah er sie wieder.

Die Hand . . .

Mit fünf Fingern . . .

Die bewegten sich. Zitterten. Krallten sich zusammen, 57

Séverin ächzte und drehte sich aus der Umklammerung in unsinnigen Verrenkungen.

Die dicke Luft machte seinen Atem kurz.

An den Geröllklumpen hämmerte sein Arm sich lahm.

Und dort unten war noch immer die Hand . . .

Finger, die krampfhaft verzerrt um Hilfe zuckten.

Sich wieder schlossen.

Ein mörderisch geballter Fluch, diese Faust.

Und sie wuchs heraus aus dem Gestein.

Ungeheuer groß heraus.

Séverin schüttelte sich wild.

Frost klirrte über sein Gesicht.

Tausend Räder brausten durch sein Gehirn.

Brausten und rissen die Augen mit, die nun nichts mehr sahen. Nur eine furchtbare Nähe geisterhaft fühlten.

Die krummgeballte Faust des Satans.

Und Brausen und Stampfen des Weltgerichts.


II

Als Séverin erwachte aus purpurner Finsternis, sah er in das blutige verzerrte Gesicht Jeans. Und die Hand, die er gefühlt hatte, die sich in sein Gehirn gehämmert hatte, hielt ihm die Lampe in die Augen.

»Ah – – – ah . . . du . . . du . . .« ächzte er und schüttelte sich vollends wach.

Jean erhob sich, langsam, mühselig, den Raum wie ein Riese ausfüllend. Eine Wolke, ein Berg – und brüllte: »Seht da! Seht den Séverin! Seht ihn an: da ist er, der das alles getan hat. Seht da! Den Mörder!« 58

Séverin, ganz Besinnung wieder und stark, packte ihn bei den Schultern, riß ihm die Lampe weg und kommandierte: »Maul halten! Du . . . du Tier. Siehst du nicht, daß wir hier fest sind?«

Jean schwankte zurück und grinste.

Séverin suchte indes mit der Lampe das Geröll ab. Nach einem Eisen oder so etwas. Und fand schließlich einen Fäustel.

Damit beklopfte er hinten die Wand.

Es klang hohl.

Séverin schrie auf: »Hierher Jean. Hier müssen wir durch.«

Jean hatte sich inzwischen ein Eisen herausgekratzt und kroch heran. Séverin hielt die Lampe in der einen Hand und hämmerte mit der anderen wild auf den Felsen.

Jean stieß mit dem Eisen schon wuchtig hinterdrein. Jeder Stoß würgte ihm das Gedärm in die Kehle. Sein nackter Oberkörper war klatschnaß und hautlos vor Schweiß.

Das Gebirge gab langsam nach und brach in kurzen Schollen herab. Dumpfes Dröhnen schauerte nach allen Seiten und fand keinen Ausweg. Die Adern der beiden Wühler bäumten sich gegen die Geräusche wie Stacheln auf, und Spannung brannte in den Muskeln mit rauchendem Eiter.

Sie hämmerten drei volle Stunden in einem Zuge. Und fielen beide zu gleicher Zeit erschöpft um.

Es war, als würden ihnen erst jetzt Augen, Ohren und alle Eingeweide allen Ernstes geöffnet für die Bodenlosigkeit dieses nachtschwarzen Elends!

Séverin flüsterte matt: »Jean . . . Jean . . . hör doch!«

»Was ist noch zu hören?« ächzte der aus schmerzhaften Krümmungen heraus.

»Du Jean!«

»Zum Teufel noch, was soll ich!« 59

»Du Jean, wenn wir noch eine Stunde schlagen, müssen wir durch sein. Keinen Meter mehr ist die Wand.«

»Verflucht, schlag doch wenn du kannst!«

»Hör', ehe sie uns von vorn herausgraben, sind wir da hinten schon auf dem alten Gang. Ein Notschacht ist da.«

»Schrei doch nicht so, du Hund! Mein Kopf ist ganz zerschossen. Krepieren müssen wir doch hier. Alles ist vorbei.«

Sein Gesicht fiel mit einem Knick vornüber.

Séverin bemühte sich, wieder auf die Füße zu kommen. In seinen Schläfen und in seiner Stirn beutelten sich dicke Blasen. Blut trat ihm schwarz aus Kinn und Hals.

Dann begann er zu hämmern und dachte an Maruscha. O, schönes warmes Bett mit Maruscha! Nun wird sie oben am Tor stehen und mit den anderen Weibern flennen. O Maruscha! Bald, ja, ach bald komm ich wieder zum Küssen. Schönes warmes Bett. Maruscha!

Er hatte wieder Schwung in den Muskeln und sein Riemen stand. O Maruscha!

Auch Jean hatte sich wieder aufgereckt. Stützte sich auf das Eisen und horchte. Schlenkerte mit dem verwundeten Arm und sackte ein bißchen in den Knien ein.

Plötzlich jauchzte er laut: »Schüsse . . . hör' . . . Sprengschüsse!«

Séverin ließ den Hammer fallen und drückte sich mit dem Kopf tief in das Gestein.

»Donner, ja, Jean, ganz deutlich. Wirklich Schüsse!«

Nun hieben sie alle beide wie verrückt. Körper an Körper. Und Jeans Besinnung wuchs mit jedem Hieb, den er ausholte.

Ach, die Wand gab nicht nach. Und die Minuten zogen die Sekunden mehr und mehr in die Länge, zerrten sie ungeheuer auseinander, walzten sie wie Draht aus, der mit spinnendem Klang in die Ohren hineintönte. 60

Jean schmiß das Eisen trostlos hin. Seufzte: »Alles ist wieder still. Horch . . . ganz still . . .«

Séverin klappte zusammen. Tastete blind und grausam in der Luft herum. Dachte einen Augenblick: »Hab' ich wirklich Schüsse gehört? Wie? Hab' ich Schüsse gehört?«

Jean fühlte sich wie ins Genick gestoßen. Ein Knochengerüst klapperte über seinen Rücken.

»Hu . . . Hu . . . Der Alte . . .« spie er fröstelnd. Und sprang wieder an die Wand.

Helles Feuer blitzte vom Eisen. Und der Staub pfiff, von einer fremden Schwingung weggestoßen, ihm breit ins Maul.

Splitternd gab die Gesteinswand nach.

Eine handgroße Lücke klaffte und ließ eine wunderlich kalte Luft hereinziehen.

Séverin, der einen halben Meter seitwärts stand, bekam den Durchzug zu schnappen.

»O ihr Heiligen all! Jean! Jean! Nun können wir bald durchschlüpfen.«

Jean spürte, wie seine Adern heraufschwollen: Dieser Hund kann noch lachen? In diesem Unglück noch lachen?

Und stellte sich vor das Loch: so, daß der andere nicht hinzukonnte und schlug in besessener Wut in den Bruch.

Stück um Stück fiel klirrend herab. Und das Loch war schon so, daß man den Kopf durchstecken konnte.

Und noch immer ließ er Séverin nicht heran. Eine wahnsinnige Ahnung polterte durch sein Gehirn.

Mit einem Ruck hob er sich in die Ellenbogen und zwängte erst seinen Kopf und dann den Oberkörper durch das Loch.

Enttäuscht ließ er sich wieder zurückschnellen und fiel hinterrücks auf eine Steinkante. 61

Séverin sah, wie er die Beine hoch in die Luft warf. Und dann auf einmal die Hand.

Die Hand mit den fünf Fingern, die auf- und zugingen. Sich ballten und wie ein fleischgewordener Fluch standen.

Er hielt sich an einen Felszacken gepackt. Und aus seinen Augen, die vor Qual schimmerten, schoß wagerecht die Angst.

Da flog er vor. Warf den Hammer wütend in den Bruch und begann die Öffnung weiter auszubrechen.

Jean konnte sich nicht rühren. Seine Augen waren voll Blut. Und durch dieses Blut schwamm das knarrende Geripp des Alten. Und immer hörte er den andern hämmern.

»Er wird durchkriechen und mich hier liegen lassen! Der Mörder wird mich hier verrecken lassen! Ei verflucht!«

Und da kam ihm seine Kraft zurück und riß den Wahnsinn aus den Augen.

Und sieh: Heilige Mutter Maria, Joseph! Der andere steckte schon halb im Loch.

Wie eine Riesenschlange wälzte sich Jean auf den Knien vor und faßte Séverins Beine.

»'Raus da, du Mörder!«

Séverin stürzte platt zu Boden. Drehte sich herum. Sein Gesicht gab ein wüstes Gebrüll. Er schlug mit den Armen wild um sich. Kam mit einem Ruck wieder auf die Beine und rutschte nach der Öffnung.

Da kugelte sich Jean noch einmal auf ihn, biß und kratzte.

»Was willst du Lump? Hast du einen Flapps?« krächzte Séverin.

Jean hatte Séverins Kehle zu fassen bekommen. Schraubte seine Finger fest herum.

Séverin fühlte diese Krallen wie Schüsse im Gehirn. Jeder Finger schoß hundert Kugeln. Das Herz stand ihm bebend in der 62 Kehle. Finger rissen es heraus. Fünf Finger, die wie ein Fluch geschlossen waren.

»Maruscha . . .!«

Das war der einzige Laut, den die Finger aus dem zuckenden Herzen quetschten.

Dann schnellten diese Finger zurück, und Jean fuhr sich damit über den rauchenden Schädel.

Und da befiel ihn naßkalt schweißiges Grausen.

Mit einem Satz war er aus dem Loch heraus. Tastete sich mit blinden Händen durch den Schacht. Sein Kopf ging wie ein Pendel. Ein ganz kleines Pendel. Bis er an ein Gerüst schlug und stehenblieb.

Verdammt und verflucht stehenblieb.

Mit einem gut Teil Anstrengung war es Jean dann gelungen, sich wieder zu konzentrieren. Seine Finger griffen etwas Festes. Balken, die hochsteilten. Ein widerlicher Luftstrom brauste da von oben herab. Ein Fauchen und Zischen von Drähten.

Und dann stolperte Jean in den Korb. Riß an dem Zinkseil. Das Auffahrtsignal schnellte nach oben. Packend schnappten die schweren Traggesenke ineinander. Der Korb stieg wie eine Wolke. Die Lust pfiff heiß und giftig.

Jean hatte eine Empfindung, als sei er erst jetzt er selber geworden, ganz und gar. Und jubelte: o ihr Heiligen alle! Gelobt! Gelobt Jesus Christus!

Plötzlich stand der Korb mit einem Ruck. Schleuderte Jean herauf, daß ihm die Bordkante tief in die Brust schnitt.

Jäh grub er beide Fäuste wild in seinen Busen hinein. Krähend vor Schreck. Und suchte das Seil.

Riß mit beiden Händen an dem Tau und schrie alle Schutzpatronen hinauf. Riß das Tau herunter und riß es tief in seinen 63 Schädel. Mit den Armen, die in weißlichen glatten Windungen von seinem Körper herabfielen.

Und da! Wie ein geborstener Meteor, sausend, polternd fegte der Korb wieder in die Tiefe hinab, von einer Satanskralle wütend herabgezogen.

Immer tiefer.

Grenzenlos durch Finsternis und Nächte sausend.

Bis auf den Grund durch Meerjahre und Sternkorallen.

Abwärts.

Endlos in das torweit aufgesperrte Maul des Alten, der einmal im Knochenrock über die Halde tanzte.

 


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