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Am anderen Morgen fühlte sich die gerettete Selbstmordkandidatin bis auf ein bißchen Schwäche und Benommenheit des Kopfes leidlich wohl. Die Kusine redete ihr zu, sich einen Ruhetag zu gönnen; sie selbst telephonierte von einem nahen Bäckerladen aus nach Lisbeths Arbeitsstelle, um sie zu entschuldigen. Dann machten sie einen gemeinsamen Spaziergang. Die frische Luft verscheuchte zwar das Kopfweh, aber als sie in Lisbeths Zimmer zurückgekehrt waren, stellte die Ärztin fest, daß die Augen der Kusine noch immer trüb, wie hinter einem Schleier, blickten, und daß in ihren Mienen noch immer das Leid zu lesen war, von dem sich das so bitter getäuschte Herz noch nicht hatte befreien können.

Else Hauf küßte die still vor sich Hinbrütende auf die zuckenden Lippen.

»Ja, ja, so rasch findet man sein Gleichgewicht nicht wieder. Das weiß ich ja aus eigener Erfahrung. Jawohl! Du brauchst mich gar nicht so verwundert und ungläubig anzuschauen; auch mir ist es genau so ergangen, wie dir. Und ich meinte, in meinem ersten heißen Schmerz, nun wär' für immer alle Freude am Leben dahin. Freilich, an den Tod dachte ich nicht. Nein, das durfte ich meinen Eltern schon nicht antun, die sich das Geld zu meinem Studium – ich stak damals noch mitten darin – abgedarbt hatten. Mein Heilmittel war angestrengte geistige Arbeit. Damit kam ich über die erste große Enttäuschung meines Lebens hinweg. Und dann dachte ich über das, was mir widerfahren war, nach und zergliederte meine Lage, meine Empfindungen, die Handlung des Mannes nach allen Seiten, und las viel über Erotik und das Wesen der Geschlechtlichkeit, und sah auch mit offenen Augen in das Leben mit seinen Sinnlosigkeiten, mit seiner grotesken Heuchelei und mit all seinen Gemeinheiten. Und so gelangte ich dann zu den Ansichten, die ich dir gestern entwickelte. Da kam ich zur Erkenntnis, daß alle die verratenen Mädchen und Frauen, die an getäuschter Liebe zugrunde gehen, sich einem Phantom opfern, einem Phantom, das die lügenhafte, heuchlerische, konventionelle, sogenannte Moral der Gesellschaft ihnen aufgezwungen hat. Siehst du, meine liebe Lisbeth, das ist die große Versündigung an uns, daß wir nicht beizeiten aufgeklärt, daß uns Illusionen vorgegaukelt, daß uns Märchen erzählt werden von der schönen, zuckersüßen, himmelhohen Liebe, die natürlich immer zum Glück der Ehe führt, daß wir immer wieder, jede einzelne für sich, die Erfahrung machen müssen, wie schändlich wir an der Nase herumgeführt worden sind. Das ist das große Unrecht, das Verbrechen, das an uns begangen worden ist und immer noch begangen wird, daß schon unsere Erziehung uns widerstandslos macht, uns die Überlegenheit des Mannes und unsere Schwäche ihm gegenüber suggeriert und uns so spottleicht zur Beute eroberungslüsterner Don Juans werden läßt. Als ich das alles erkannt hatte, da versteckte ich mein Herz, da sagte ich mir: nun schön, du nimmst eben die Welt, wie sie ist, nicht nach den Vorstellungen, nach dem blauen Dunst, der uns Mädchen vorgemacht worden ist. So tat ich also etwas Besseres, als den Gashahn aufzudrehen oder ein paar Gramm Morphium zu schlucken, weil ein Schuft meine Unerfahrenheit benutzt hatte, um sich ein Vergnügen zu bereiten: ich erhob mein Haupt stolzer und stärker als vor dieser Erfahrung. Nun wußte ich ja, wie das Leben war, und was die Männer, die ja alle unsere Einrichtungen und Anschauungen geschaffen haben, aus der Liebe gemacht hatten. Nun fühlte ich mich sicher und frei. Betrogen, enttäuscht konnte ich ja nun nicht mehr werden. Nun wußte ich ja, was ein Mann wollte, der sich mir mit verliebten Blicken und schmeichelnden Reden näherte, nun wußte ich auch, daß die Ehe gar nicht das ist, was wir dummen Gänse in unserer blöden Unerfahrenheit uns einbilden, und daß wir viel besser tun, ihr aus dem Wege zu gehen –«

»Aber das – das kann doch nicht dein Ernst sein!« unterbrach die andere, aus ihrer Stumpfheit erwachend, interessiert.

Das Fräulein Doktor bejahte mit Überzeugung.

»Freilich ist das mein Ernst. Wenigstens für uns Frauen, die wir arm sind und den Mann nicht durch ein eigenes großes Vermögen in Schach halten und unsere wirtschaftliche Freiheit behaupten können, gilt das. Zunächst aber, bevor wir zur Ehe gelangen, wie müssen wir da nicht das Beste in uns verleugnen: weibliche Zurückhaltung, Schamgefühl, Ehrgefühl, unsere Selbstachtung, unsere Menschenwürde! Wie müssen wir nicht schöntun, girren, schmeicheln! Na, das wirst du ja wissen. Und was erreichen wir schließlich mit all dem? Ganz abgesehen von demütigendster Unsicherheit und oft recht bitteren materiellen Entbehrungen doch nur die Erkenntnis, daß der Mann in der Ehe ebensowenig treu ist, wie er es vordem in der Liebe gewesen, daß er sein liederliches Don-Juan-Leben weiterführt, daß die eheliche Untreue nur bei den Frauen als Verbrechen angesehen wird. Ach, du ahnst ja gar nicht, was arme, an Leib und Seele gemißhandelte Frauen in ihrer tiefsten Schmach und Erniedrigung uns Ärztinnen offenbaren!«

Mit schreckensweit geöffneten Augen starrte die halb Betäubte die Mitteilsame an, die den reichen Schatz ihrer Erfahrungen, Beobachtungen und Studien verschwenderisch vor ihr ausbreitete.

Ein Zug beißender Satire grub sich um die vibrierenden Lippen der jungen Ärztin.

»Ja, ja, meine Liebe, so ist das Los der Mädchen, der Frauen!«

Sie stand auf und entnahm ihrer Handtasche, die auf dem Tisch lag, ein Notizbuch und blätterte darin.

»Ich habe mir da ein ausgezeichnetes Wort einer Schriftstellerin notiert, das unsere Zustände in dieser Hinsicht ebenso köstlich wie treffend glossiert: ›Trotzdem die meisten Paare (Paare der Ehe) in dumpfer Verwirrung leben, oder in irgendeiner Zwangsmonogamie oder in heimlicher Polygamie, trotzdem man die Leute kreuz und quer ausspringen sieht aus dem Spiele, trotzdem überall alles rennt, rettet, flüchtet, trotz dieser heillosen Panik in den Ehehäfen, trotzdem werden die Pharisäer dort, wo sich diese Erscheinung einer Übergangsepoche ohne Heimlichkeiten an einem Menschenschicksal dokumentiert, das Richtschwert schwingen zur Abschlachtung.‹ Das ist unser Unglück, liebe Lisbeth, daß wir in einer Übergangszeit leben, wo alle diese ungesunden, sinnlos verrotteten Zustände auf die Spitze getrieben sind. Die nach uns, in fünfzig Jahren oder später, werden es einmal besser haben, werden unter besseren, menschenwürdigeren Verhältnissen leben, wo nicht immer einer des anderen Feind ist, wo die eine Hälfte der Menschheit nicht immer von der anderen brutalisiert, gemißbraucht, wo der Schwächere nicht immer von dem Stärkeren seines Menschenrechtes beraubt wird. Uns bleibt nichts übrig, als mit den Wölfen zu heulen und uns den Dingen, die wir nicht ändern können, anzubequemen.«

»Ich – ich verstehe dich nicht, Else!« stotterte die andere verwirrt. »Meinst du, wir sollen überhaupt nicht – nicht lieben?«

Die junge Ärztin lachte.

»Na, so dumm! Das meine ich keineswegs! Uns kasteien, naturwidrig leben, uns das versagen, wonach doch unser aller Natur, soweit wir normale Menschen sind, drängt, zur vertrockneten, griesgrämigen alten Jungfer werden? Fällt uns ja gar nicht ein! Wir wollen lieben mit allen Sinnen, wir wollen das Leben genießen mit allem Schönen, was es bietet. Wir wollen uns nicht dem unsinnigen, unverschämten Gebot der Männer fügen, daß wir verpflichtet wären, auch dem ungetreuen Mann die Treue zu wahren, und daß die Liebe uns ein für allemal versagt bleiben müsse, sobald es einem von ihnen gefallen hat, uns zu betrügen und uns sitzen zu lassen. Siehst du nicht ein, daß wir Esel wären, stumpfsinnige Geschöpfe, die nicht den Namen Mensch verdienen, wenn wir uns dieser Sklavenmoral fügten? Folgen wir dem Beispiel der Männer, die heimlich auf verbotenen Wegen wandeln, während sie öffentlich Moral predigen, die sich an die Ordnungen, die sie vorgeschrieben haben, selbst nicht kehren.«

»Aber Else, das wäre ja doch entsetzlich! Wir Frauen sind doch anders als die Männer.«

»Anders?« Else Hauf ließ ein ironisches, ärgerliches Lachen hören. »Ja, das sagen die Männer, um ihrer Forderung ein moralisches Mäntelchen umzuhängen. Sie behaupten, wir wären nicht so veranlagt wie sie, es würde uns viel leichter fallen, enthaltsam zu leben. So? Also wir hätten keine Sinne, nicht den natürlichen Drang zum anderen Geschlecht? Ich kann das von mir nicht sagen, und ich halte mich für ganz normal, und ich glaube auch nicht, daß andere gesunde Mädchen und Frauen, wenn sie die Mitte der Zwanzig erreicht haben, nicht demselben natürlichen Trieb unterliegen. Freilich, die meisten wollen's nicht Wort haben, schämen sich ihrer natürlichen Regungen. Herrgott, was wird in dieser Hinsicht nicht gelogen und geheuchelt unter uns Weibern!«

Sie faßte in ihrem Eifer die andere an der Hand.

»Na, sei mal ehrlich, Lisbeth! Wenn du bei deinem Geliebten warst, in seinen Armen, an seinen Lippen hingst, kam es dann nicht auch über dich, das Klopfen der Pulse, das Stürmen des Blutes?«

Die Gefragte schlug ihre Augen nieder.

»Ach, Else!« hauchte sie verschämt.

»Na also! Aber freilich, ein Unterschied ist zwischen den Männern und uns Frauen. So grobkörnig und brutal wie sie sind wir in Sachen Erotik nicht organisiert. Wir fühlen uns nicht von jedem passablen Vertreter des anderen Geschlechts gleich angeregt, elektrisiert wie die Männer in der Gegenwart jeden hübschen Exemplars der Weiblichkeit. Uns genügt nicht die rein körperliche Anziehungskraft, wir müssen auch seelisch beteiligt sein, bevor wir uns aus freiem Willen einem Manne hingeben. Und wir wahren auch, von einigen exzentrischen, unnormalen Frauen abgesehen, dem Manne die geschlechtliche Treue; darin sind wir reinlicher, feinfühliger. Es wird einem normalen Weibe nicht einfallen, einem Manne, dem sie sich geschenkt hat, die Treue zu brechen, nur weil es das Gelüst nach einer erotischen Abwechslung empfände, und niemals würden wir, wie es ja so viele Männer tun, mit zwei oder gar mehr Partnern nebeneinander verkehren, wie es bei den Männern gang und gäbe ist. Sie leisten sich gern einmal, auch wenn sie ein Weib noch so lieb haben, einen gelegentlichen Seitensprung, wie sie es nennen. Nein, einer solchen Indelikatesse machen wir, die wir auf uns halten, uns nicht schuldig. Auch die besten Männer, die in puncto Ehre im übrigen sehr fein empfinden, ermangeln in dieser Hinsicht des körperlichen und seelischen Reinlichkeitsgefühls.«

Die Blicke der Sprechenden richteten sich nachdenklich in die Leere.

»Ich weiß nicht, woran das liegt. Anders konstruiert sind sie in dieser Beziehung jedenfalls. Von einer größeren Aufnahmefähigkeit, von einer stärkeren Begierde kann es nicht kommen, denn als Ärztin ist es mir bekannt, und man findet diese Tatsache auch in wissenschaftlichen Büchern verzeichnet, daß wir Frauen in der Liebe« – sie lächelte – »gerade wie beim Tanzen eine stärkere Ausdauer besitzen als die Männer. Es muß aber wohl ein ihnen innewohnendes Variationsbedürfnis sein, das sie von einem Weibe zum andern treibt.«

»Also dann sagst du doch selbst«, wandte Lisbeth ein, »daß wir Frauen nur einen – einen Mann lieben können.«

»Ja, meine Liebe, nur einen, nicht zwei, im gleichen Zeitabschnitt. Aber wenn uns der Geliebte verläßt, oder wenn er uns einen zwingenden Grund gibt, unsere Beziehungen zu ihm einzustellen, dann können wir uns nicht für verpflichtet halten, uns um eines blinden, dummen Vorurteils willen für immer vom Liebesglück auszuschließen. Wir sind berechtigt, ja mehr, uns schuldig, einem neuen Gefühl der Sympathie nachzugeben, dem wieder erwachenden Naturtrieb zu folgen. So habe ich es gehalten, und ich bereue es nicht, ich schäme mich nicht. Als mich der erste, der in mir die volle Liebe geweckt hatte, unter schnödem, gemeinem Bruch seines Treueschwurs, seines Versprechens, unsere heimlichen Beziehungen dermaleinst zu legitimieren, verlassen hatte, trauerte ich ihm ein ganzes Jahr lang nach, dann lernte ich einen anderen kennen und lieben, und es ist nun ein halbes Jahr her, daß er – er war Assessor – befördert und versetzt wurde nach einer fernen Provinz. Nur einmal hat er mir geschrieben, einen kalten Abschiedsbrief. Die Verhältnisse seien stärker als er und was der Phrasen mehr sind, womit diese gebildeten Männer einer Geliebten den Abschied geben, weil sie ohne Mitgift nicht heiraten können oder wollen, aus Standesrücksichten oder weil sie ihrer überdrüssig geworden sind und sich verändern wollen. Also vorbei, Schwamm drüber! Meine Sinne aber, meine Liebe, sind deshalb nicht gestorben, und ohne Scheu gestehe ich dir, daß sie sich täglich stärker melden, und ich hoffe, daß auch mein Herz sich bald einem mir sympathischen Mann von meinem Typ erschließen wird.«

Lisbeth Glümer strich sich über das erhitzte Gesicht. Die Auseinandersetzungen und offenherzigen Geständnisse ihrer Kusine machten sie heiß, und im stillen kämpfte sie mit einem peinlichen Gefühl der Befremdung und des Widerwillens. Und verwirrt stammelte sie:

»Aber dann – dann kann man doch nicht heiraten!«

Die junge Ärztin lachte.

»Echt weiblich!« erwiderte sie. »Heiraten! Das ist das große Wort und der Inbegriff alles weiblichen Sehnens, aller weiblichen Seligkeit. Heiraten! Du bist noch rückständig, meine Liebe, wie so viele Mädchen im Mittelstande. Kennst du die Kreise der Arbeiterinnen? Die warten nicht, bis sich ein Mann herabläßt, sie der Ehre der Ehe mit ihm zu würdigen. Sie nehmen ihr gutes Recht auf Liebe, auf volle Liebe, schon vor der Heirat in Anspruch. Und unter den kleinen Geschäftsmädchen, wie viele sind da wohl, die sich Zwang auferlegen mit Rücksicht auf die heute immer unsicherer werdende Aussicht auf einen Ehemann und Versorger? Ja, sogar die Damen der oberen Stände sind heutzutage schon nicht allzu selten so vorsichtig, das beizeiten kennenzulernen, was ihre brennende Neugier, ihre durch das ganze Milieu, in dem sie leben, frühzeitig aufgestachelten Sinne begehren. Gerade ihnen wird es noch viel schwerer, sich das Süßeste im Leben zu versagen. Das Risiko, nachher mit ihrer ängstlich behüteten Tugend sitzenzubleiben, bis sie keines Mannes Gelüst mehr erregen, erscheint ihnen wohl zu groß, und sie wissen ja auch ganz genau, daß ihnen ihre Keuschheit niemand zum Lobe anrechnet, sondern daß sie als alte Jungfern nur verspottet und verhöhnt werden. Die meisten unter ihnen geben aber die Absicht, zu heiraten, keineswegs auf, auch wenn sie in die Ehe treten ohne den Reiz der Jungfräulichkeit, den die Männer ihrer Kreise so hoch schätzen, ja, in der Regel als conditio sine qua non ansehen. Erstensmal ist in sehr vielen Fällen eine reichliche Mitgift, die bekanntlich für die meisten Männer unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, vorhanden, und zweitens gibt es Mittel, die eine etwaige Unvollkommenheit den Männern verbirgt. Auch die erfahrensten Männer sind in dieser Hinsicht so dumm und die dümmsten Mädchen so schlau.«

»Ach Else«, stieß die von den verschiedensten, einander widerstrebenden Gefühlen ganz Benommene hervor, »ich würde nie wagen, ich würde mich immer fürchten –«

Das Fräulein Doktor lächelte.

»Ich wage es auch nicht. Aber aus einem ganz anderen Grunde als du. Nicht als ob ich mich nicht würdig genug fühlte – ach, du meine Güte, gegenüber solch einem Mann, der in allem, was geschlechtliche Sittlichkeit betrifft, tief, tief unter jeder von uns steht! Nein, weil die Ehe immer und immer ein Risiko bleibt, denn nur bei längerem, täglichem, intimerem Beisammensein und nicht in der kurzen Zeit des Flirts und des Brautstandes lernt man doch einen Menschen erst gründlich kennen. Und zweitens, weil der Mann, der seiner Frau die ganze Ehe hindurch die geschlechtliche Treue bewahrt, eine so große Seltenheit ist, daß keine sich schmeicheln darf, ein solches Phänomen zum Gatten zu bekommen. Und –« sie schnitt eine Grimasse des Widerwillens, des Ekels – »es wäre mir ein unerträglicher Gedanke, daß ein Mann vielleicht an demselben Tage, wo er mich begehrt, oder an einem der vorangegangenen Tage in engster Beziehung mit einer anderen gewesen ist. Gewiß, das kann auch bei einem freien Verhältnis vorkommen, aber doch viel, viel seltener, denn der Geliebte ist in der Regel viel mehr mit seinem ganzen Wesen, mit allen seinen Sinnen beteiligt, als dies in der Ehe gewöhnlich der Fall ist, denn das Eheleben mit seinen vielen Sorgen, öfteren Zwistigkeiten und Reibereien stumpft naturgemäß viel mehr gegeneinander ab. Daß einer zwei Liebesverhältnisse zu gleicher Zeit hat, ist wohl sehr selten, dazu haben ja die modernen Männer gar nicht die Muße und oft nicht die Mittel, aber daß ein Ehemann neben seiner angetrauten Gattin, die er überdies in sehr vielen Fällen überhaupt nicht aus seelischen oder sinnlichen Bedürfnissen gewählt hat, noch eine Geliebte hat, ist alltäglich, ist die Regel. Also ich kann viel, viel sicherer sein, meinen Geliebten für mich allein zu haben, während die allerwenigsten Ehefrauen dieses Bewußtsein ihrem Manne gegenüber besitzen können. Und wenn ich die Empfindung habe oder gar den Beweis, daß mich mein freigewählter Schatz betrügt, dann kann ich mich von ihm lossagen, sobald ich das über mich vermag. Eine Frau aber ist oft, ja in den meisten Fällen, auch gegen ihre Empfindung gezwungen, mit dem Manne weiterzuleben, der Kinder wegen oder in Rücksicht auf ihre Familie, der Eltern, der Geschwister wegen oder aus materiellen Gründen, denn für viele ist ja der Mann der Versorger oder bedeutet noch mehr: Luxus, Reichtum für sie, während sie selbst nicht imstande sind, sich durch eigene Arbeit zu ernähren. Auch soziale Gründe sprechen hierbei mit; besonders in den sogenannten besseren Gesellschaftsschichten spielt das Vorurteil einer geschiedenen Frau gegenüber eine Rolle. So muß sie also bei dem verabscheuten Mann bleiben, muß die tiefsten Erniedrigungen, die einer Frau von feinerem Empfinden zugefügt werden können, ertragen, muß Höllenqualen still erdulden. Ist das nicht viel, viel entsetzlicher als ohne den Titel einer Ehefrau durch das Leben zu gehen, während man sich doch das volle Ausleben des Weibes, eben die süßesten Momente des Verkehrs mit dem Manne, nicht zu versagen braucht?«

In dem jungen Mädchen wirbelten die Gedanken und Empfindungen. Von dieser Seite hatte sie die Ehe noch nie betrachtet; alles das war ihr so neu und überraschend, daß sie zu keiner klaren Auffassung der von der Kusine mit so viel Überzeugungskraft vorgetragenen Anschauungen kommen konnte, und so stimmte sie ebensowenig zu, als sie widersprach.

Die Stimme der jungen Ärztin nahm einen bitteren, spöttisch-ironischen Klang an, als sie jetzt fortfuhr: »Übrigens werden ja die Chancen, einen Ehemann zu bekommen, immer geringer, und der Wettkampf zwischen den heiratsfähigen Mädchen wird immer heftiger. Alle Künste und Listen werden aufgeboten, meist mit Unterstützung der in allen Schlichen und Ränken erfahrenen Mutter, um einen Mann zu umgarnen. Die Männer aber sind kopfscheu geworden. Vielleicht weißt du das aus Erfahrung, wie sie sich drehen und winden, wenn sie ein Liebesverhältnis eingegangen sind, um sich nicht für die Ehe einfangen zu lassen. Sie sind mit Shaws Helden in ›Mensch und Übermensch‹ der Ansicht, daß die Welt voll von Netzen und Schlingen sei, mit denen die Frauen den Männern nachstellen. Es gehört schon eine übermenschliche oder richtiger: überweibliche Portion von Geduld, Selbstentäußerung und Schlauheit dazu, um den Mann, wenn sie nicht Geld genug hat, sich zu kaufen, zum Heiraten zu pressen. Wie eine Spinne muß sie ein feinmaschiges Netz um ihn weben, ihn reizen und sich doch versagen, bis sie sein Begehren bis aufs äußerste aufgestachelt hat, so daß er sich, entnervt, verschmachtend vor Begierde, zum Standesamt schleppen läßt. Die meisten Ehen aber kommen heute durch das Heiratskontor oder durch Zeitungsinserate zustande. Da geht es wie auf einer Börse zu; der Mann steht hoch im Kurse, und die Schwiegereltern müssen sich schon zu einem hohen Gebot versteigen, wollen sie ihren Töchtern einen legitimen Gatten gewinnen. Siehst du, meine Liebe, das ist die Tragödie der modernen Frau, daß die Männer zwar den Verkehr mit dem Weibe wollen, heute mehr als je, aber sich vor der Ehe fürchten. Sich nur nicht verplempern, ist ihr Grundsatz!«

Mit allen Sinnen hörte die Jüngere zu. Ein heißer Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie hatte es ja selbst erlebt und erlitten. Ja, die Männer schienen die Ehe nur noch als Geschäft zu betrachten, und wenn sich ein Mädchen vor der Ehe gab, dann verlor sie in den Augen des Mannes, und je inniger sie sich an ihn schloß, desto weiter entfernte er sich von ihr, nur immer von dem Wunsche beherrscht, das Band, das sie umschloß, nicht zur eisernen Kette werden zu lassen.

Die Empfindungen der Sinnenden verrieten sich in einem unbewußten Seufzer. Dr. Else Hauf, die wohl ahnte, was in der Seele der Kusine vorging, sagte: »Und warum ist es so? Erstensmal weil es mehr Frauen gibt als Männer, zweitens weil er leicht Ersatz findet: hundert andere Mädchen breiten ihm ja ihre Arme entgegen. Drittens besitzt er in seiner Tätigkeit, in seiner Stellung sozialen Wert, an dem er seine Frau teilnehmen läßt, und viertens schadet's ihm ja nicht im geringsten, wenn er ein Verhältnis löst und ein anderes eingeht, während man die Verlassene ungerecht, mitleidlos und grausam verdammt.«

Die junge Ärztin richtete sich auf und schritt ein paarmal im Zimmer hin und her, lebhaft bewegt durch die Erinnerungen, durch die Gedanken und Empfindungen, die diese offenherzige, rückhaltlose Darlegung all der Anschauungen, zu denen ihre Erfahrungen während der letzten Jahre sie geführt hatten, in ihr aufwühlten. Ihre Augen blitzten; eine brennende Röte flammte in den vom vielen Studium gebleichten Zügen auf, und ihre schlanke, aber sehnige Gestalt reckte sich straff und stolz.

»Tausende und aber Tausende liebender, selbstbewußter Frauen haben diese Schmach empfunden, diese erniedrigende, entwürdigende Stellung, die die Männer dem Weibe seit Jahrhunderten zugewiesen haben – unter tausend Schwierigkeiten, in mühseliger Arbeit, verspottet, verhöhnt haben sie um ihre Erlösung, um Selbständigkeit gerungen, nicht vergeblich. Wir wollen nicht mehr wie bisher nur Weib, wir wollen auch Menschen, Vollmenschen sein und wollen dem Manne frei gegenüberstehen, gleichberechtigt. Dutzende von Berufen haben wir uns schon erobert, die uns ehedem rücksichtslos verschlossen waren, und wir werden nicht ruhen, bis wir in jeder Hinsicht, auch in der Politik, volle Gleichberechtigung, volle Selbständigkeit erlangt haben. Nicht mehr das Geschlecht und die brutale Gewalt, sondern allein die Überlegenheit des Geistes, des Fleißes, des größeren Pflichtgefühls und des stärkeren Willens soll den Ausschlag geben. Vielleicht, daß dann die Frau einmal auch in der Ehe eine würdigere, eine gleichberechtigte Stellung einnimmt, und daß sie nicht mehr von der Gnade des Mannes abhängt und nicht demütig, ergeben zu warten hat, bis es ihm gefällt, der nach Liebe und Heirat Schmachtenden gnädigst seine Hand zu reichen. Heute aber wird das Eheverhältnis immer noch zur Knechtung der Frau mißbraucht, und Tausende und aber Tausende gehen sittlich und körperlich zugrunde in ihm. Deshalb verachten alle die unter uns, die zum Selbstbewußtsein erwacht sind und zur Erkenntnis ihres sozialen Wertes, der dem des Mannes nicht nachsteht, die Ehe und die Stellung, die dem Mädchen und der Frau vor und in der Ehe zugewiesen ist.«

Die Sprechende, die sich immer mehr erhitzte, offenbarte rückhaltlos auch den letzten Grund ihres Denkens und Fühlens. Ein eigenartiges Gemisch von Selbstgefühl, Entschlossenheit und mädchenhafter Scham vibrierte in den intelligenten und anziehenden Zügen der jungen Doktorin. Ihre Arme verschränkten sich über der Brust, die trotz aller mühsamen Denkarbeit noch immer in reizvoller Rundung blühte, und weiblich-sinnliche Empfindung färbte ihre Wangen noch dunkler und flammte in ihren Augen:

»Wir wollen aber nicht verheimlichen, daß auch in uns die Gluten wogen, die zu den Qualen des Lebens gehören und doch zu dem höchsten, intensivsten menschlichen Glücksempfinden tragen. Wir wollen nichts entbehren, wie ich dir schon sagte, sondern wir wollen alle Glücksmöglichkeiten in uns steigern, ohne doch unsere Freiheit, unsere Selbständigkeit zu opfern. Wir wollen wie der männliche Hagestolz weder die Ehe noch das Band – wir schaffen den neuen Mädchentyp: die Junggesellin.«

*

Dr. Else Hauf schlief in der Nacht bei ihrer Kusine und suchte erst am folgenden Tage ein möbliertes Zimmer in der Nähe des im Nordwesten gelegenen Krankenhauses. Als sie die Kusine am Abend verließ, konnte sie beruhigt sein. Den Gedanken, ihrem Leben ein gewaltsames Ende zu machen, hatte Lisbeth Glümer aufgegeben. Die Ansichten, die die »Junggesellin« vor ihr so beredt und so überzeugt entwickelt hatte, waren nicht ohne starken Eindruck auf die aus ihrem ersten Liebestraum so entsetzt Erwachende geblieben.

»Wenn mir auch nicht alles, was du mir gesagt hast, einleuchtet, wenn sich auch mein Empfinden gegen manches in deinen Theorien sträubt, in diesem einen Punkte gebe ich dir recht: es wäre töricht gewesen, und ich hätte dem schlechten Menschen zu viel Ehre angetan, wenn ich seinetwegen in den Tod gegangen wäre. Zu gemein, zu erbärmlich hat er an mir gehandelt, und er verdient nur noch Verachtung, und daß ich ihn ein für allemal aus meinem Leben und meinem Gedächtnis streiche.«

Das wurde mit so großer Entschiedenheit gesprochen, daß die junge Ärztin nicht an der Aufrichtigkeit dieser Beteuerung zweifelte.

Und in der Tat, die in ihrem Ehrgefühl so bitter Gekränkte empfand nur noch die tiefste Empörung und Abscheu gegen den Mann, der mit ihrer Liebe und ihrem gläubigen Vertrauen ein so nichtswürdiges Spiel getrieben und sie bis zu seinem Verlobungstage mit einer anderen skrupellos zur Sklavin seiner Gelüste gemacht hatte. Dazu kam, daß im Geschäft gerade jetzt viel zu tun war. Neue Ware für den Sommer war hereingekommen, und sie mußte Überstunden machen, um die Hunderte und aber Hunderte von Kartons wegzubringen und den Tagesbestand aufzunehmen. Am 1. April wurde ein neuer Geschäftsführer eingestellt, und auch das trug naturgemäß dazu bei, ihre Gedanken von ihren Privatangelegenheiten abzulenken und ihr Interesse in Anspruch zu nehmen.

Es war ein noch junger Mann, Anfang der Dreißig, von ansprechendem, einnehmendem Äußeren und gefälligem, angenehmem Auftreten. Obgleich er einen Ehering trug, brachte doch sein Eintritt in das Geschäft eine sichtliche Bewegung unter dem weiblichen Personal hervor. Keine, die nicht in ihrer Toilette irgendeine Neuigkeit aufgewiesen hätte, eine schickere Bluse oder einen koketter geschnittenen Rock oder eine moderne Haarfrisur, und eine suchte immer die andere durch freundlicheres Wesen, durch schmachtende Augen, durch verführerisches Lächeln auszustechen.

Lisbeth Glümer amüsierte sich im stillen über die Bemühungen der Mädchen, dem neuen Vorgesetzten zu gefallen. Außer ihr war Fräulein Witte, die Buchhalterin im ersten Stockwerk, die einzige, die an diesem Wettrennen um die Aufmerksamkeit des Geschäftsführers nicht teilnahm. Ihre Zurückhaltung aber hatte die unbeabsichtigte Wirkung, daß er von den Anstrengungen der Gefallsüchtigen keine Notiz nahm, sondern gerade ihr ein Interesse schenkte, das, wie ihr schien, über die geschäftlichen Rücksichten hinausging. Nicht nur, daß er ihr gegenüber ein artigeres Wesen bekundete als gegen die übrigen weiblichen Angestellten, das sie ja schließlich auf ihre wichtigere Stellung zurückführen konnte, er knüpfte auch in stilleren Geschäftsstunden Privatgespräche mit ihr an. Er erkundigte sich, ob sie Berlinerin sei und ob sie auch keinen zu weiten Weg nach ihrer Wohnung habe, die sie wohl mit ihren Eltern teile, und dergleichen mehr. Und obgleich sie, mißtrauisch, eingeschüchtert, gewarnt, sich der größten Zurückhaltung befleißigte, und wenn auch nicht unhöflich, so doch nur kurze, knappe Antworten gab, so ließ er sich doch dadurch nicht von seinen Annäherungsversuchen abhalten.

»Sie besuchen gewiß öfters das Theater, Fräulein Glümer?« fragte er sie eines Tages, mit seinen dunklen Augen ihren Blick suchend.

»Ich? Wie sollte ich? Bei den teuren Preisen!«

Er gab seinen Mienen einen verbindlichen, bewundernden Ausdruck.

»Aber ich bitte Sie, wenn man so jung ist und sich solcher Vorzüge erfreut wie Sie, Fräulein Glümer, da hat man doch gewiß Verehrer, die mit Theater- und Konzertbilletts nicht geizen.«

Sie wich seinem Blick aus, in dem ein Funkeln glomm, dessen Bedeutung ihr ja nicht mehr unbekannt war.

»Ich pflege keine Geschenke anzunehmen«, versetzte sie kühl.

»Geschenke – nun ja. Aber eine Einladung, die Begleitung eines Freundes werden Sie doch natürlich nicht ablehnen.«

Sie erhob jetzt ihre Augen und sah ihn ernst und streng an.

»Ich habe nur Freundinnen, Herr Kollmann.« Allein der galante Mann, dem seine Erfahrungen eine gute Portion Selbstgefühl und Unternehmungslust eingeflößt hatten, ließ sich so leicht nicht einschüchtern. Ein ungläubiges Lächeln zuckte in seinem Gesicht.

»Ich sehe, ich erscheine Ihnen indiskret. Entschuldigen Sie, Fräulein Glümer, ich will mich ja natürlich nicht in Ihre Privatangelegenheiten drängen, aber dem Geschäftskollegen werden Sie es doch gewiß nicht abschlagen. Ich habe für morgen zwei Billetts für das Neue Operntheater bestellt. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft gönnen würden.«

Mit unverhohlener Ironie erwiderte sie:

»Ich muß sehr danken, Herr Kollmann. Ihre freundliche Einladung anzunehmen, verbieten mir meine Grundsätze.«

Er war offenbar überrascht und warf einen zweifelnden, forschenden Blick auf sie. Als er ihre stolze Haltung, ihre finsteren, entschlossenen Mienen bemerkte, die nichts Affektiertes, kokett Zögerndes hatten, erkannte er, daß er sich einmal ausnahmsweise geirrt hatte.

»So, so, Sie haben Grundsätze«, erwiderte er, halb ärgerlich, halb verwundert. »Na, dann muß ich Sie also noch einmal um Entschuldigung bitten, Fräulein Glümer. Nehmen Sie mir es nicht übel, bitte.«

Der Geschäftsführer war kein bösartiger Mensch. In seinem Ton und in seiner ganzen Haltung lag ein wirkliches Erstaunen und etwas aufrichtig Hochachtungsvolles, so daß sie ihm nicht zürnen konnte.

»Nein, ich kann es Ihnen nicht verargen«, erwiderte sie offen, »ich weiß ja, daß die meisten meiner Kolleginnen kein Bedenken tragen würden, ihr Anerbieten mit Freuden anzunehmen.«

Da streckte er ihr seine Rechte versöhnt, herzlich entgegen. »Ich sehe, Sie sind eine vernünftige Dame und beurteilen die Verhältnisse, wie sie sind. Also dann nichts für ungut und gute Kollegenschaft wie bisher!«

Es belustigte sie im stillen nicht wenig, als sie wahrnahm, wie der Geschäftsführer seine Huldigungen nunmehr, wenn auch diskret, dem schönen Fräulein Witte widmete, und mit großem Interesse erwartete sie das Resultat, das sich ja doch schließlich in irgendwelchen Anzeichen offenbaren würde. Ihre geheime Spannung wurde auf keine langdauernde Folter gespannt. Eines Abends, als sie das Geschäft verließ, gesellte sich die Buchhalterin zu ihr und begleitete sie ein Stück des Weges. Ihre vibrierenden Mienen deuteten auf eine große Erregung hin, die sich nun in hastigen Worten Luft machte.

»Denken Sie nur, Fräulein Glümer, dieser dreiste Mensch, der Kollmann, lud mich heute zu einem Souper im Chambre séparée bei Hoehne in der Französischen Straße ein. Was sagen Sie dazu?«

»Allerdings, da er verheiratet ist, ein starkes Stück«.

»Nicht wahr? Aber abgesehen davon, auch wenn er ledig gewesen wäre, hätte es mir nicht einfallen können, seine Einladung anzunehmen. Ich bin doch keine Alma Röpke und keine Erna Wernicke, die mit zwei oder drei Herren zu gleicher Zeit poussieren. Ich habe meinen Rechtsanwalt, und das genügt mir.

»Sie kennen den Herrn schon längere Zeit?« fragte Lisbeth Glümer interessiert.

»Seit drei Jahren, Fräulein Glümer.« Ein freudiges Strahlen glitt über das Gesicht der Sprechenden, und ein warmer, inniger Ton klang in ihrer Stimme: »Wir haben uns sehr lieb, und ich denke ja gar nicht daran, mich mit einem anderen einzulassen, ebensowenig wie er mit einer anderen.«

Lisbeth Glümers Sympathie für das bescheidene junge Mädchen, dessen bessere Bildung und ganze Art sich immer vorteilhaft von den weiblichen Angestellten im Geschäft abgehoben hatte, wuchs.

»Er hat gewiß die Absicht, Sie einmal zu heiraten?« bemerkte sie, während sie sich einer schmerzlichen und von Neid nicht ganz freien Empfindung nicht erwehren konnte.

Aber die andere erwiderte resigniert: »Das glaube ich nicht. Er ist arm und ich bin arm, und er hat es mir auch nie versprochen. Nach dem ersten Kuß hat er mir gesagt: ›Ich kann dir keine Hoffnungen machen auf eine Heirat zwischen uns. Das erkläre ich dir offen, damit du dir keine Illusionen machst und ehe wir uns noch mehr aneinander schließen. Ich würde es dir nicht verdenken, wenn du nun nicht wiederkommst, so sehr es mich auch schmerzen würde, denn ich habe dich herzlich lieb‹.«

»Das war jedenfalls sehr ehrenhaft von ihm«, bemerkte die mit lebhafter Teilnahme Zuhörende.

»Nicht wahr?« Die Augen der anderen leuchteten stolz. »Ja, er ist ein guter, lieber Mensch, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu verlassen. Ich habe ja dann noch manchmal schwer und bitter mit mir gekämpft, aber ich liebte ihn nun doch einmal und jetzt natürlich noch mehr als vorher, denn ich erkannte daraus seinen anständigen Charakter und seine ehrliche, selbstlose Liebe. Und es tut mir auch nicht leid, daß ich –«

Sie stockte und schlug die Augen nieder, und ein Schatten senkte sich auf ihr frisches, fröhliches Antlitz.

Lisbeth Glümer griff impulsiv nach der Hand der neben ihr Schreitenden und drückte sie herzlich. Sie wußte ja, was die innerliche Bewegung, die plötzlich über ihre Begleiterin gekommen war, zu bedeuten hatte, und sie empfand verständnisvoll mit ihr.

Fräulein Witte aber hob ihr Gesicht wieder, und ihre Stimme klang fest und entschieden: »Ja, ich bedaure es nicht, daß ich meinem Gefühl nachgegeben habe. Man will doch auch etwas vom Leben haben. Man sehnt sich doch nach ein bißchen Liebe und Glück. Immer nur arbeiten und des Abends allein zu Hause sitzen! Das bißchen Gehalt reicht doch nur gerade für das Notdürftigste. Sollen die Freuden des Lebens nur für die anderen blühen und für uns armen Geschäftsmädchen nicht?« –

Lisbeth Glümer ging in tiefen Gedanken nach Hause. Was würde das Ende sein? Der Rechtsanwalt würde schließlich eine junge Dame aus seinen Kreisen heiraten, und in der großen Zahl der verlassenen Mädchen gab es eine Nummer mehr. Nur daß in diesem Falle die Verlassene nicht das verbitternde Bewußtsein mit sich davontrug, verraten oder betrogen worden zu sein. Würde die Buchhalterin dann wie Else Hauf sich mit einem anderen Geliebten trösten und sich dann dem neuen Mädchenlos der Junggesellinnen ergeben?

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