Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht erhob sich Lisbeth Glümer, müde, abgespannt von ihrem Lager. Der Kopf schmerzte sie heftig, und sie überlegte, ob sie sich nicht krank melden sollte. Aber ihr Pflichtgefühl sträubte sich heftig dagegen, dazu kam die Gewißheit, daß das Nichtstun, das Alleinsein in ihrem stillen Zimmer ihren Zustand nur noch verschlimmern würde. Sie wußte ja, daß sie unaufhörlich über die große Frage grübeln würde, ohne doch zu einem Entschluß zu kommen, denn das eine schien ihr so unmöglich wie das andere.
Verzweifelt griff sie sich an die schmerzende Stirn. War schon je ein Mädchen vor eine so furchtbare Entscheidung gestellt worden. Entweder dem Geliebten entsagen, den sie noch immer liebte mit allen ihren Sinnen, oder aber alles das in sich ersticken, mit Füßen treten, was sie bisher hoch und heilig gehalten?
In tiefstem Schmerz rang sie die Hände, und heiße Empörung wallte in ihr auf. Wie konnte Kurt von ihr verlangen, daß sie – ?
Sie erschauerte und mochte den Gedanken nicht ausdenken. Alles Gefühl in ihr bäumte sich dagegen auf. Hatten ihre Eltern, die seit Jahren das kühle Grab deckte, sie in Anstand, zur unbedingten Keuschheit und strengem Ehrgefühl erzogen, hatte sie in ihren fünf Berliner Jahren den zahlreich an sie herantretenden Versuchungen immer mit gleicher Unempfindlichkeit und Entschiedenheit widerstanden, um ihre Mädchenehre nun mit vollem Bewußtsein zu opfern, weil Kurt Vollbrecht es von ihr verlangte? Die Unglückliche sank auf den nahe stehenden Stuhl nieder, ihre Hände falteten sich unwillkürlich, und ihr Blick richtete sich nach oben. Sie sah das liebevolle und bekümmerte Gesicht ihrer Mutter und hörte die Worte, die sie zu ihr gesprochen hatte, damals, als sie sich auf den Rat einer Landsmännin und Freundin entschlossen hatte, ihr nach Berlin zu folgen: »Bleibe immer brav, mein Kind! Vergiß nie, was du dem Andenken deines Vaters, was du deiner alten Mutter schuldest!«
Die Tränen traten der Sinnenden in die Augen, und mit dem festen Vorsatz erhob sie sich, auch künftig sich so zu verhalten, daß sie, wie bisher, mit gutem Gewissen, in Liebe und Ehrfurcht ihrer Eltern gedenken konnte.
Dann nahm sie ihr Frühstück zu sich und begab sich eilig ins Geschäft, um allen weiteren verwirrenden, quälenden Grübeleien zu entrinnen.
Im Laufe des Vormittags erhob sich ein lautes Hallo unter den Verkäuferinnen. Herr Lindner, der Reisende, war von seiner Geschäftstour zurückgekehrt, und in seiner stets aufgeräumten und schnoddrigen Art sagte er jeder ein paar anzügliche Worte. Lisbeth Glümer war die erste, an die er herantrat.
»Nun, Äbtissin (diesen Beinamen hatte er ihr wegen ihrer stets zurückhaltenden, unnahbaren Wesens gegeben), halten Sie noch immer die strengen Klosterregeln, kasteien Sie noch immer Ihren schönen Leib, oder werden Sie mir das Vergnügen machen, heute nacht mit mir in das Palais de danse zu gehen?«
Als ihm die Angesprochene, während die Mädchen in der Nähe kicherten, den Rücken drehte, wandte er sich an die dicke Erna Wernicke: »Na, hören Sie mal! Ich dachte, Sie würden mindestens fünfzig Pfund abgenommen haben aus Gram über meine lange Abwesenheit Wer hat denn all den Hummer und den Sekt bezahlt, mit dem Sie sich so angemästet haben?«
Und zu der ihn herausfordernd anblitzenden Alma Röpke sagte er noch ungenierter: »Na, mit wie vielen Schätzen haben Sie mich in den drei Monaten betrogen, schöne Alma?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, eilte er der Buchhalterin entgegen, die eben die nach den oberen Räumen führende Treppe heruntergesprungen kam.
»Guten Morgen, Fräulein Witte! Wie geht's denn Ihrem knickrigen Assessor mit det kalte Abendbrot?«
Schlagfertig antwortete die Berlinerin: »Der ist inzwischen Rechtsanwalt geworden und läßt Ihnen sagen, Sie möchten Ihre Quadratschnauze besser in acht nehmen, sonst würde er Ihnen noch einmal einen Injurienprozeß an den Hals hängen –«, eine Abfertigung, die ringsum mit vergnügtem Lachen begrüßt wurde. –
Ein paar Tage später, in der Frühstückspause, machte sich die dicke Erna Wernicke mit ihrem freundlichen Lächeln in dem nach dem Hofe gelegenen Nebenraum, in dem Hunderte von Schachteln mit allerlei Schuhwaren aufgestapelt waren und in dem die Angestellten ihre Garderobe ablegten, an die Aufsichtsdame heran. Sie drehte und spreizte sich vor der erstaunt Aufblickenden.
»Sehen Sie mal, Fräulein! Feine Bluse – was? Crêpe de chine! Hat mir der Lindner spendiert. Nobel ist er, das muß man ihm lassen.«
Lisbeth Glümer tat ihr den Gefallen und pries das mit sichtbarer Freude und Eitelkeit getragene neue Garderobestück. Im stillen aber war Widerwille und Abscheu in ihr. So weit kannte sie ja die Verhältnisse und den Charakter des Reisenden, um ahnen zu können, daß er sich nicht umsonst in solche Unkosten stürzte und daß die Leichtfertige den verlangten Preis dafür entrichtet hatte.
Während sie an einem kleinen Pult am Fenster Notizen machte und die Verkäuferin den Raum verlassen hatte, trippelte eilfertig ein anderes der Mädchen heran.
»Fräuleinchen! Na, nu seien Sie schon wieder jut! Wissen ja, daß mir die Zunge manchmal durchgeht, ohne daß ich es böse meine.«
Es war die freche Alma Röpke. Und als sie sich nun zu ihr herumdrehte, hob die triumphierend Strahlende mit beiden Händen ihr ohnedies kurzes Kleid noch zwei Handbreit in die Höhe und zeigte stolz ihre prallen, in lachsfarbenen Strümpfen leuchtenden Waden.
»Feinste Tramaseide! Habe noch ein ebensolches Paar in Lila. Entzückend, wie? Von Lindner! Is freilich 'n Luder, aber lumpig is er nich!«
Die Überraschte schüttelte sich innerlich. Wie tief konnte solch ein Mädchen sinken, wenn sie erst einmal das Gefühl für Scham und Ehre verloren hatte! Kalte und heiße Schauer durchrannen sie. War es nicht wie ein Menetekel? –
Als sie am Abend in den Hausflur in der Treskowstraße einbog, kam ihr von der Treppe her Herr Pietschmann, der Hausbesitzer, entgegen. Er zog seinen Hut tief, und in den kleinen grauen Augen, in dem gelblichen Gesicht des Leberleidenden funkelt es.
»Freue mich immer, Sie zu sehen, Fräulein Glümer. Immer frisch und froh und anmutig!«
Sie zog ihre Stirn kraus, denn die Galanterien des alten Junggesellen berührten sie heute noch weniger angenehm als sonst.
»Ah!« unterbrach er seinen Redeschwall. »Haben Sie Ärger gehabt im Geschäft?« Er zog sein Gesicht in bedauernde Falten. »Ja, ja, die Herren Chefs, eine Bande. Haben immer zu mäkeln, verlangen für das lumpige Gehalt, daß sich solche schutzlose arme Angestellte für das Geschäft aufreibt. Sind überhaupt viel zu schade, Fräulein Glümer, für so 'nen schweren, anstrengenden Beruf!«
»Zum arbeiten ist doch niemand zu schade, Herr Pietschmann.«
Am liebsten hätte sie ihn stehengelassen, aber das widersprach ihrer rücksichtsvollen, freundlichen Art.
»Freilich«, erwiderte er. »Sie überarbeiten sich aber. Sehen wirklich abgespannt aus, übermüdet. Zu viel Pflichteifer, Fräulein. Dafür dankt Ihnen niemand.«
Er sah ihr mit wirklicher Anteilnahme und Besorgnis in die blassen, nervös zuckenden Mienen.
»Ja, ich fühle mich allerdings nicht wohl«, gab sie mit einem Seufzer zurück. »Will mich nur gleich niederlegen. Guten Abend, Herr Pietschmann!«
Sie nickte und eilte die Treppe hinan. Der alte Junggeselle sah ihr mit glänzenden Augen nach. Wie leichtfüßig und graziös sie dahinschritt! Es wurde ihm warm ums Herz. Ja, ja, wer solch ein reizendes, berückendes Geschöpf um sich hätte, der würde noch etwas vom Leben haben. Wenn er sich dagegen seine alte, klapperdürre Haushälterin mit den dünnen, grauen Strähnen auf dem Kopf und dem schlürfenden Gang in den ewigen Filzpantoffeln vorstellte – brr!
Oben in ihrem Zimmer legte Lisbeth mit müden, lässigen Bewegungen ab, dann ließ sie sich auf dem Sofa nieder. Nicht einmal zu ihrem frugalen Abendbrot, das in der Regel aus einem belegten Butterbrot und einer Tasse selbstbereiteten Kaffees bestand, hatte sie Appetit. Wieder vertiefte sie sich mit erregten Nerven, mit heftig pochendem Herzen in die eine große Frage: »Was nun? Sie hatten nichts verabredet. Sollte sie warten, bis Kurt schrieb, oder sollte sie zu ihm gehen?
Ein Schauder durchflog ihre Gestalt. Dann würde es wieder so werden, wie es das letztemal war. Und schließlich würde er einmal die Herrschaft über sich verlieren und sie – ? Die Einsame umspannte mit beiden Händen ihre glühende Stirn. Hatte er nicht gesagt, daß auch sie innerlich darunter litt, ohne sich dessen bewußt zu sein? Sollte es wirklich wahr sein, daß dieser Zustand der letzten Wochen, ihre unbestimmte Unruhe, ihre Nervosität die Bedeutung hatte, die Kurt ihr unterlegt hatte?
Wieder lief ein Schauder über ihren Körper. Wenn Kurt recht hatte, dann – war dann nicht die Gefahr, daß sie sich von seiner Glut, von seinem Begehren hinreißen ließ?
Das junge Mädchen sprang auf und rannte stöhnend durch das Zimmer. Nein, nein, das konnte ja nicht sein. So schamlos war sie nicht. Er irrte sich. Herr Pietschmann hatte gewiß recht; sie war überarbeitet und die fortwährenden Aufregungen im Geschäft, der Ärger mit den leichtsinnigen Mädchen, die so wenig Interesse für das Geschäft besaßen und nur immer an ihre frivolen Liebesgeschichten dachten, hatten ihre Nerven irritiert. Ja, es war recht häßlich von Kurt, daß er sie so verkannte. Nein, sie begehrte nichts weiter als seine Nähe, die lieben Worte von ihm, als seinen Kuß. Aber er – war er wirklich nicht imstande, die zwei Jahre, die es noch bis zu ihrer Verheiratung dauern konnte, so mit ihr zu verkehren wie bisher?
Ja, die Männer mochten wohl anders sein als die Mädchen. Bei ihnen mochte wohl die Liebe dazu drängen, wonach ein Mädchen nicht begehrte, sondern vor dem sie sich fürchtete und entsetzte. Und wenn er gemeint hatte, daß auch bei einem Mädchen die wahre, tiefe und starke Liebe danach verlangte, so irrte er sich, oder er hatte es nur gesagt, um sie zu betören und seinen Wünschen willfährig zu machen.
Die Unglückliche nahm ein Buch zur Hand und setzte sich nieder. Das Grübeln nützte zu nichts, sagte sie sich seufzend. Aus dem Labyrinth der Widersprüche kam sie nicht heraus. Da war es besser, an nichts zu denken und lieber zu lesen. Aber sie mußte bald erkennen, daß sie keine Ruhe dazu hatte. Wohl glitten ihre Blicke über die Seiten, aber wenn sie ein Blatt gewendet hatte, wußte sie nicht, was eigentlich darauf gestanden, und sie blätterte zurück, um noch einmal zu lesen. Schließlich gab sie es auf, denn alles das, was da in dem Roman stand, kam ihr so nichtig, so unwahr, so verlogen vor. Ach, das Leben war viel weniger schön und romantisch und erhaben, es war so nüchtern, so unerfreulich, so häßlich und so – ja, so schmutzig!
Stöhnend entkleidete sie sich, aber auch im Bett quälten sie die Gedanken noch lange, ehe sie den ersehnten Schlaf fand. –
Acht Tage wartete Lisbeth Glümer vergeblich. Kurt Vollbrecht ließ nichts von sich hören. Zürnte er ihr? Aber warum – was hatte sie ihm denn getan? Nein, so lieblos, so ungerecht konnte er nicht sein. Doch warum schrieb er nicht, warum – ?
Ihre Erregung, ihre Nervosität wuchs. Wie ein Fieber glühte es in ihr. Eine furchtbare Angst packte sie. Die Abschiedsworte, die er bei ihrem letzten Besuche zu ihr gesprochen, fielen ihr ein. War es denn möglich, daß er aufhören konnte, sie zu lieben, weil er bei ihr nicht fand, wonach seine Sinne sich sehnten? Hatten ihn ihr Widerstand, ihr Fernbleiben in die Arme einer anderen, Nachgiebigeren getrieben?
Der Gedanke peitschte sie, ließ alle Bedenken, alle anderen Rücksichten schwinden. Eilig machte sie sich fertig und stürmte die Treppe hinab. Zehn Minuten später stand sie hoch atmend an der Tür; ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, klopfte sie. Mit vor Eifersucht geschärften Sinnen hörte sie, wie ein Stuhl gerückt wurde und wie sich Schritte näherten. Im nächsten Moment riß er die Tür auf. Die Spannung, das heiße Sehnen vibrierte noch in seinen Mienen.
»Lisbeth!« rief er jauchzend und zog sie in sein Zimmer.
Ihr stürzten die Tränen aus den Augen vor Aufregung und Glück, ihn wiederzuhaben.
»Ach Kurt – !«
Willenlos sank sie in seine Arme.
*
Lisbeth Glümer hätte nicht geglaubt, daß es so viel Seligkeit in der Welt gäbe. Alle ihre früheren Skrupel verrannen in nichts. Wenn gelegentlich noch einmal ein Bedenken in ihr aufstieg, sagte sie sich, daß sie ja gar keine Wahl gehabt habe, daß sie nicht anders habe handeln können. Hätte sie den Geliebten aufgeben, hätte sie es gelassen zugeben sollen, daß er seine Zuflucht zu schlechten, leichtfertigen Mädchen nahm, die sich nicht aus selbstloser, alles überwindender Liebe dem Manne hingaben, sondern um sich mit ihm zu amüsieren, um ihn zu veranlassen, sie zu Vergnügungen aller Art zu führen und mit schönen Geschenken zu überhäufen?
Und sie empfand es jetzt, wie wahr er gesprochen hatte: ja, ihre Natur selbst hatte sie zu ihm zurückgeführt. Jetzt, wo sie die volle Liebe kannte mit all ihren Süßigkeiten und himmelhohen Wonnen, wußte sie, daß es die Stimme der Natur gewesen, die sich in ihr geregt und die sie nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Nie hatte sie ein so beruhigendes, sättigendes Glück in sich gefühlt, nie so schöne, erhebende Genugtuung und Zufriedenheit wie jetzt. Nie war sie so frisch und stark gewesen, so voll Arbeitslust. Nie hatte sie sich so voll Freude gefühlt und von dem Verlangen beherrscht, gut zu sein und auch anderen Menschen Freude zu bereiten.
Erst jetzt strömte ihr die Liebe zu Kurt in allen Nerven und Adern, erst jetzt war sie sich bewußt, wieviel er ihr war und wieviel sie ihm. Ja, gewiß, ihre Liebe zueinander war tiefer und reicher geworden. Ihr Gefühl für den Geliebten steigerte sich zur Anbetung und Bewunderung. Voll Dankbarkeit und Verehrung hätte sie sich ihm zu Füßen werfen und ihm die Hände küssen mögen, daß er sie das volle Liebesglück in seiner ganzen berauschenden Stärke, in all seiner Schönheit und Herrlichkeit kennen gelehrt.
Auch Kurt Vollbrecht empfand in den ersten Wochen ein großes Behagen, auch ihn durchströmte eine große Zufriedenheit und ein Glücksgefühl, wie er es bis dahin noch nicht gekannt hatte. Das war doch etwas anderes als die losen Verhältnisse, die er, wie alle anderen jungen Männer in Berlin, gehabt hatte. Es war außerordentlich reizvoll, dem keuschen, reinen Mädchen die vollen Freuden der Liebe zu erschließen. Wie die natürlich furchtsame Scheu mit der unter seinen Küssen und Liebkosungen erwachenden Begierde rang, wie die anfängliche Enttäuschung allmählich in Staunen und brausende Leidenschaft überging, wie die Flammen immer höher schlugen: eine nie zuvor empfundene Wonne war es, dies zu beobachten, zu erleben. Mit innigem Behagen nahm er es wahr, wie die Liebe zu ihm ihr Denken und Sinnen, ihr ganzes Wesen ausfüllte, wie sie ihre Liebe zu einem wahren Gottesdienst gestaltete. Nichts Süßeres, Höheres schien es für sie zu geben, als seine Zufriedenheit zu erwerben. Einen förmlichen Genuß fand sie offenbar darin, sich ihm unterzuordnen, ihre Lebensanschauung, ihren Geschmack, ihren Willen ganz dem seinen anzupassen. Reizend war es, wie sie für ihn sorgte, wie sie bestrebt war, ihm Vergnügen zu bereiten, durch immer neue Überraschungen und Aufmerksamkeiten sein Gefallen zu erregen. In ihrem Äußeren, der Kultivierung ihres Körpers wurde sie noch sorgsamer als früher. Sie ließ ihre Kostüme bei einem besseren Schneider arbeiten, trug stets das eleganteste Schuhwerk, änderte ihre Haarfrisur, und die leiseste Andeutung von ihm genügte, sie zu immer neuen Anstrengungen, neuen Anschaffungen zu veranlassen. Sie hatte ja in den letzten Jahren Ersparnisse gemacht und besaß auch von ihren Eltern ein kleines Erbteil, so daß sie in der Lage war, allen Einfällen und Launen in dieser Hinsicht zu entsprechen. Fast alle Abende brachte sie bei ihm zu, und als eine Hauptaufgabe betrachtete sie es, seinen Abendbrottisch mit den Delikatessen der Jahreszeit zu versehen. Auch eine Flasche feinen Likörs brachte sie zuweilen mit. Kurz, sie sorgte mit dem ganzen Eifer und der ganzen Aufopferungsfähigkeit des liebenden Weibes für das leibliche Wohl des Geliebten. –
Es war in diesem Stadium seiner Beziehungen zu Lisbeth Glümer, als Kurt Vollbrecht den Posten des ersten Buchhalters erhielt, den er als letzte Etappe zu der Vertrauensstellung als Prokurist ansah. Mit dieser Beförderung war zugleich eine nicht unerhebliche Erhöhung seines Gehalts verknüpft, das bei bescheidenen Ansprüchen nun wohl ausgereicht hätte, einen eigenen Hausstand zu gründen. Aber der junge Mann war keine schnell entschlossene impulsive Natur; in aller Ruhe und Besonnenheit ging er mit sich zu Rate, ob es in seinem Interesse läge, Lisbeth überhaupt davon Mitteilung zu machen. Hatte er einen Vorteil, so überlegte er bei sich, wenn er das geheime Sehnen des jungen Mädchens erfüllte und sie zum Standesamt führte? Mit der ganzen Umständlichkeit und Bedenklichkeit seines Charakters vertiefte er sich in diese Frage. Welchen Vorteil und welchen Nachteil würde er von der Heirat haben? Die Hauptänderung war die, daß Lisbeth ihre Stellung aufgab, und daß sie zusammen wohnten. Für die Geliebte sicherlich ein vorteilhafter Wechsel. Sie hatte eine eigene behagliche Häuslichkeit statt ihres öden Chambregarnie und brauchte nicht mehr für fremde Leute zu arbeiten. Und er – er selbst? Er war den ganzen Tag im Geschäft, würde also Lisbeths Gesellschaft eigentlich nur des Abends und – des Nachts genießen.
Der angelegentlich mit sich zu Rate Gehende lächelte. Dieses Vorzuges erfreute er sich ja heute schon. Sie war ja so ziemlich alle Abende bei ihm, und hin und wieder hatte sie ihm auf seinen Wunsch und wohl auch ihrem eigenen Gelüst nachgebend, eine ganze Nacht gewidmet.
Also auf seiner Seite Vorteil gleich Null. Und sonst? Sie konnte als Frau seine Kleider besser in Ordnung halten, ihm noch mehr Bequemlichkeit und Behagen in der Häuslichkeit schaffen, und er brauchte sein Mittagsbrot nicht mehr in der Kneipe einzunehmen.
Und welche Nachteile standen diesen doch eigentlich recht geringen Vorteilen gegenüber, denn wer wußte z. B., ob die gewiß einfache Hausmannskost ihm besser munden würde, als das Restaurationsessen, abgesehen davon, daß er ja als Junggeselle nach seinem Belieben wechseln konnte, was ja für den Ehemann ausgeschlossen war?
Der erste Nachteil war, daß er sich in seinen persönlichen Ausgaben würde einschränken müssen, denn er hatte ja dann für zwei zu sorgen. Für zwei? Ein Dienstmädchen würde er seiner Frau wohl halten müssen, also für drei. Und dabei würde es ja natürlich nicht bleiben, denn sie würde gewiß ein Kind haben wollen, vielleicht zwei oder drei oder gar noch mehr. Wer konnte das wissen? Und dann kamen Krankheiten, damit Unruhe und große Ausgaben. Vorbei war es mit dem Behagen, und Sorgen und Entbehrungen aller Art würden für ihn an der Tagesordnung sein.
Den Grübelnden schauderte es. Sicherlich war, daß die Summe der Nachteile die wenigen geringen Vorteile bei weitem überwog. Mithin wäre er ein Tor, wenn er die schöne, nette, sorgenlose Gegenwart mit den Lasten der ungewissen Zukunft vertauschte. Ja, den Luxus, ein armes Mädchen zu heiraten, konnte man sich doch nur leisten, wenn man ein sicheres, höheres Einkommen besaß. Und wer wußte denn, wie Lisbeth sich in der Ehe als Gattin und Hausfrau bewährte? Wie oft hatte er nicht schon in anderen Ehen gesehen, daß aus einer liebenswürdigen, hübschen, fröhlichen Braut eine nachlässige, verdrießliche und gar zänkische Xantippe geworden war! Natürlich, wenn es an allen Ecken und Kanten fehlte und man knapsen oder sich gar in Schulden stürzen mußte, dann flohen Zufriedenheit und Glück, und von der Liebe und dem Liebesglück blieb nur der schale Bodensatz.
Also vorläufig festhalten, was man hatte, und abwarten! Man war ja noch jung und hatte keine Eile mit dem Heiraten. Die Gegenwart war ja so angenehm, und leichtsinnig wäre es gewesen, das Schöne aus der Hand zu geben und sich in ein Meer großer und kleiner Verdrießlichkeiten zu stürzen.
*
Eines Abends – sie waren eben mit dem Essen fertig – lehnte sich Kurt Vollbrecht hintenüber und gähnte, Arme und Hände hinter seinen Kopf legend, die Kinnbacken weit aufreißend.
»Bist du müde, Schatz?« fragte Lisbeth, seine Ungeniertheit mit lächelnder, zärtlicher Rücksichtnahme hinnehmend. »Hast wohl schlecht geschlafen letzte Nacht?«
Er schüttelte mit dem Kopf und gähnte nochmals.
»Schlecht geschlafen? Nein! Aber findest du nicht, daß es ein bißchen – ein bißchen eintönig ist, so Abend für Abend zu Hause zu bleiben?«
Sie verneinte lebhaft.
»Gar nicht! So behaglich kann ich es dir doch nirgends machen, so nett und gemütlich können wir doch nirgends plaudern.«
Sie sprang auf und eilte nach dem kleinen Tisch an der Wand, wo die Zigarrenkiste stand, nahm eine Zigarre, knipste die Spitze ab und entzündete ein Streichholz, um selbst den Glimmstengel in Brand zu setzen. Damit kehrte sie zu ihm zurück und steckte ihm das brennende Kraut in den Mund, ihm zärtlich die Backen tätschelnd.
»Schmeckt's?« fragte sie, ihm zuschauend, wie er behaglich paffte.
Er nickte grunzend. Einen weiteren Ausdruck seines Dankes hatte er sich schon abgewöhnt; er hätte ja sonst fast den ganzen Abend in einem Danken bleiben können.
»Soll ich dir nicht noch einen Likör einschenken, Schatz?« fragte sie.
»Brauchst du erst zu fragen?« gab er, ein wenig ungeduldig, mit einem kurzen Auflachen zurück.
Sie hatte schon die Flasche – es war feiner Benediktiner, mit dem sie ihn vor einigen Tagen überrascht hatte – ergriffen, jetzt schenkte sie ein und reichte ihm das Gläschen. Er schüttete den Inhalt wieder mit einem unartikulierten Laut hinunter. Dann schwang er sich zu einer Galanterie auf.
»Willst du nicht auch einen nehmen?«
Sie verneinte, glücklich lächelnd, und strich ihm liebevoll über das Gesicht.
»Bewahre! Die Flasche bleibt für meinen Schatz.«
Sie setzte sich auf seine Knie, entwand ihm seine Zigarre schelmisch und tat ein paar Züge. Er sah ihr eine Weile zu; seine Stirn runzelte sich leicht.
»Frauen sollten eigentlich nicht rauchen. Ich finde, es sieht unweiblich aus.«
Erschrocken, mit rascher Bewegung nahm sie die Zigarre aus dem Mund und schob sie wieder zwischen seine Lippen.
»Ja, es ist wahr«, beeilte sie sich ihm zuzustimmen. »Du hast recht. Entschuldige!«
»Höchstens mal eine Zigarette«, bemerkte er. »Ausnahmsweise bei besonderen Gelegenheiten, wenn die rechte Stimmung, die rechte Fidelitas da ist. Überhaupt in Gesellschaft, aber in der Häuslichkeit ist es nicht angebracht.«
Seine Bemerkung überraschte sie, denn sie erinnerte sich, daß er selbst es gewesen, der ihr die erste Zigarette, die sie in ihrem Leben geraucht, präsentiert und angezündet hatte. Ja, sie wußte genau, daß er sich köstlich amüsierte, wie drollig sie sich zuerst angestellt, sich verschluckt und den Rauch wider Willen hinuntergeschluckt hatte. Zuletzt, als sie es schon verstand, mit Grazie zu schmauchen und den Rauch durch die Nase zu ziehen, hatte er es allerliebst und reizend gefunden.
Er machte eine Bewegung und lüftete das eine Bein, eine Grimasse schneidend.
»Inkommodiere ich dich?« fragte sie erschrocken und stand auf.
Er strich sich das Knie.
»Das Bein ist mir wie abgestorben.«
Und als er ihre betrübte Miene sah, fügte er mit versöhnlichem Scherz hinzu: »Du scheinst stärker geworden, Lisbeth. Wieviel wiegst du denn?«
»Hundertfünfundzwanzig Pfund, vor drei Monaten wog ich über hundertunddreißig.«
»Da müssen wir ein bißchen solider leben.«
Sie sah ihn verständnislos, erstaunt an. Das mokante, zynische Lächeln, das um seine Lippen zuckte, und das listige Zwinkern seiner Augen machte, daß sie über und über errötete. Verlegen wandte sie sich um und schritt dem Bücherschrank zu.
»Soll ich dir etwas vorlesen, Schatz?«
»Nein, nein, laß nur! Die Romane kenne ich alle schon und die ewigen Klassiker – ist ja langweilig!«
Er zog seine Taschenuhr.
»Erst dreiviertel acht Uhr!«
Wieder legte er sich hintenüber und renkte sich bald die Kinnbacken aus. Als das Gähnen vorüber war, erhob er sich in plötzlichem Entschluß.
»Weißt du, wir fahren 'runter, besuchen ein – Lichtspieltheater!«
Sie sah ihn betroffen an. Es war noch gar nicht lange her, da hatte er über das Kino geschimpft und es albern, langweilig genannt, gut für geschmacklose, oberflächliche Leute, die keinen Sinn für die Reize eines behaglichen Beisammenseins zu zweien besäßen, und die sich nur amüsieren konnten, wenn sie viele Menschen, Trubel und Lärm um sich hätten.
Aber sie schluckte die Entgegnung, die ihr auf die Lippen treten wollte, hinunter, eilte in den Flur, holte seinen Überzieher herbei und war ihm beim Anziehen behilflich. Dann, während er sich eine frische Zigarre anzündete, machte sie sich selbst zum Ausgehen fertig.
*