Ernst Zahn
Der Schatten
Ernst Zahn

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10.

Am folgenden Morgen, als der Adelrich sich früh von seinem Bett erhebt und sich ankleidet, sagt er nach einer Weile schwülen Schweigens, wie es jetzt oft zwischen die drei im Rennerhaus fällt, deren Herzen doch aneinanderhängen: »Du, Frau!«

Die Violanta wendet sich ihm zu. »Ja?« fragt sie.

Er seufzt, sieht sie an, unbeholfen und scheu. Endlich sagt er, der sonst so wenig grübelt und immer seinen geraden Weg geht: »Über die Geschichte vom Kain habe ich heute nacht nachdenken müssen, und – und es kann dazu kommen, es kann Zeiten geben, daß einer den Kain verstehen, daß einer selber den Bruder erschlagen könnte!«

Die Worte fallen zerhackt, langsam von seinem Munde. Er sieht ganz gelb aus im Gesicht dabei.

»Nein, du,« sagt die Violanta schaudernd, »solches mußt nicht denken.«

»Er brauchte nur dir oder den Kindern etwas antun zu wollen,« zuckt er aus neuem Brüten auf. Dann kleidet er sich fertig an und geht hinaus; ein zitternder Seufzer ringt sich von ihm, so schwer hat er noch nie sein Tagewerk angefangen.

Weil sie wissen muß, was der Marianus tun wird, geht Violanta dem Adelrich nach. Aber der Marianus weiß nichts mehr von den im Rausch herausgestoßenen Worten oder tut, als wüßte er nichts mehr. So hat sie abermals Frist. Aber gewarnt ist sie. Von da an ist sie wie der Tiger im Ansprung: wenn der Marianus redet, gibt es ein Unglück.

Der Winter vergeht. Die Schneehüllen lösen sich von den Berggliedern. In der Sonne und unter dem tiefblauen Himmel liegen die riesigen Leiber bloß und ihre Häupter im Greisenscheitel des ewigen Schnees ragen und strahlen.

Statt zu reden, geht der Marianus hinter der Violanta her, eifriger denn zuvor; die Mägde im Haus und die Mädchen im Dorf läßt er laufen; nur für sie hat er noch Augen. Sie aber weiß, daß es nicht lange mehr dauern kann, so werden dem Adelrich auch ohne Reden die Augen aufgehen. Sie zermartert sich den Kopf nach einem Ausweg und findet nur einen: der Marianus muß aus dem Leben derer, die im Rennerhaus wohnen, hinaus! Vorher kommt ihr der Gedanke, daß sie gehen könnte, und die Tropfen in ihrem Fläschchen fallen ihr ein. Aber was nützt es, wenn sie geht! Der andre bleibt doch zurück, der Schatten im Haus, vor dem alle Sonne gewichen ist! Und der Gedanke kommt wieder und wird zur Überzeugung. der Marianus muß fort!

Als dieser Gedanke die Seele des jungen Weibes gefangennimmt, spannen sich die Sehnen ihres Leibes wie unter einer letzten großen Anstrengung. Adelrich meint einmal scherzend zu ihr, daß sie noch gewachsen sei; er kann nicht wissen, woher die starre Aufrechtheit ihres schönen Körpers rührt. Noch im Scherzen aber überfällt ihn die Sorge neu, die seit langem auf ihm ist, die, daß sein Weib ihm krank werden will. Das Gesicht der Violanta ist hager geworden, ein Zug, der wie ein Schmerzverbeißen ist, liegt um ihren Mund, ihre schwarzen Augen haben einen fieberigen Glanz. »Was hast auch?« fragt Adelrich; »immer schmaler wirst, immer elender.«

Die Violanta sieht ihn an. Ihre Zähne schlagen aufeinander wie in plötzlichem Frost. »Ich weiß nicht,« sagt sie, »es ist so etwas in den Nerven, wofür man nicht viel helfen kann, es ist auch nichts Gefährliches. Wenn ich einmal ins Tal komme, will ich zu einem Doktor gehen.«

»Ja, ja,« sagt der Adelrich. Dann spricht er davon, daß sie die nächste Woche miteinander ins Tal zum Doktor fahren wollen, ist voller Besorgtheit und doch wieder voller Zuversicht, daß der Doktor helfen wird. Die Violanta drückt ihm die Hand und sagt »ja« zu allem.

An diesem Abend bei Tisch reden sie von den nahen Alpfahrten. »Nach der Hütte am Gurschen muß ich sehen, nächster Tage will ich hinauf,« sagt Adelrich. Dann scheint ihm einzufallen, daß die Violanta im vergangenen Jahre oft nach den Hütten gestiegen ist; ein plötzlicher Plan springt ihm auf. »Oder willst du gehen?« fragt er sein Weib. »Bist schon lange nicht mehr aus dem Hause gewesen. Es möchte dir gut tun, so eine Bergfahrt. Bis am Abend längstens bist wieder zurück.«

»Ach – geh du,« sagt Violanta. Dann fällt ihr ein, daß der Adelrich gerade jetzt zu Hause nötig ist, wo ein Knecht fehlt; und als sie sich den Gang nach dem Gurschen ausmalt, kommt ihr selbst eine Art Verlangen nach dem Berg, nach der Stille und Reinheit und Ruhe, die dort sind; sie meint zu fühlen, daß es ihr wohl tun wird, einen Tag lang aus der schwülen Luft des Hauses hinauszugehen. Sie besinnt sich. »Am Ende hätte ich doch Freude, zu gehen,« sagt sie dann.

Darauf reden sie eine Weile hin und her; der Marianus hockt daneben und staunt scheinbar ins Leere zwischen sie hinein. Der kleine Adel, als er hört, daß die Mutter fort will, fängt zu weinen an, schlägt die Ärmlein um sie und gräbt den braunen Lockenkopf in ihren Schoß; er ist ihr wie angeschmiedet, der Bub, aber er gibt sich zufrieden und lacht aus tränennassen großen Guckern, als der Vater ihm verspricht, daß er ihn auf dem Wagen mitnimmt, wenn er Gras einholt. Zuletzt wird es bestimmt, daß die Violanta nach der Gurschenhütte geht.

Sie ist nicht früh bereit an dem Tage, an dem sie den Gang tun will. Immer noch liegt ihr irgendeine Arbeit im Weg, ehe sie fortkommt; sie ist einmal so, daß sie alles schön glatt haben will, wenn sie aus dem Hause geht. »Es kann keiner wissen, ob er wiederkommt,« pflegt sie zu sagen. Zuletzt steht sie in ihrem schlichten braunen Kleid, das weiße Kopftuch in den Nacken zurückgestrichen, einen Stock in Händen und den Hüttenschlüssel in der Tasche, wegfertig da. Die Sonne steht hoch; es wird ein heißer Weg werden. Der Himmel ist blau, einzelne weiße Wolken quellen hinter den Bergen auf wie Rauchsäulen, mit Gewalt aus mächtigem Schlot gestoßen und im Bau plötzlich zur Unbeweglichkeit erstarrt.

»So, ade,« sagt die Violanta zur Rennerin oben in der Stube.

»Komm gut wieder heim,« grüßt die Alte, »und ja, du,« fügt sie hinzu, »nimm dich in acht am ›wilden Stutz‹ oben; es ist kein Spaß, bei Gott, der Weg dort.« Violanta blickt mit einem flüchtigen Lächeln zurück. »Es ist ein Weg wie ein andrer.«

Auch der Adelrich lächelt, indem er ihr die Hand zum Gruß hinstreckt. Er sieht mit einer Art andächtigen Stolzes ihre noch immer starke, stattliche Gestalt an: »Um dich ist mir nicht angst,« fährt es ihm durch den Kopf.

»Ade,« grüßt Violanta.

»Ade,« grüßt er zurück. Ihre Hände verschlingen sich mit dem starken, treuem Druck, den ihre Liebe verlangt. Dann geht sie hinaus. Unten auf der Schwelle der Haustür hockt der kleine Adel in der Sonne, mit nackten braunen Füßen und Beinen, nur Höslein an und ein Hemd. Sein Gesicht ist rund und gesund, seine großen verträumten Braunaugen sehen sinnend auf die Straße hinaus. Auf seinem welligen braunen Haare liegt die Sonne. Er steht auf, als die Mutter hinter ihn tritt. »Ich mitkommen,« sagt er und nestelt die dicke kleine Hand in ihre Linke. Dann kommt das Fini hinter dem Hause hervorgesprungen.

»Mutter – Mutt–utter, gehst jetzt?«

Das Kind ist barfuß wie der Bub. Die gelösten Zöpfe fliegen, die schönen klaren Augen strahlen.

»Kommt! Bis hinters Dorf könnt ihr mit,« sagt Violanta. Den Adel an der Hand, das Fini am Rocke, schreitet sie durchs Dorf. »Tag!« geht da und dort ihr Gruß über die Gasse; wer an den Hütten steht und wer ihr begegnet, grüßt froh und eilig und schaut ihr nach, wenn sie vorüber ist: sie ist ein so prächtiges Weib, und wer die Kinder ansieht, dem wird das Herz froh.

Hinterm Dorf heißt die Violanta die Kinder heimgehen. Zum Fini neigt sie sich nieder. »Trag ihm gut Sorg', dem Bub, durchs Dorf,« mahnt sie und streichelt ihr den glatten Scheitel. Den Adel hebt sie auf, daß er jauchzt vor Lachen, küßt ihn fest und stellt ihn nieder. »So – geht jetzt!«

Das Fini nimmt den Buben bei der Hand. Dann trotten sie davon. Die Violanta bleibt stehen und sieht ihnen nach, wie sie in die Dorfgasse einbiegen. Wie in einem dunkeln Höhlengang verschwinden die zwei kleinen Menschen zwischen den zwei Hüttenreihen; die Violanta hat ein Gefühl, als verschwänden sie ihr dort für immer. Es drängt sie, ihnen nachzulaufen, aber sie reißt sich los und geht mit großen, festen Schritten durch die Matten dem Hang zu, an dem hinan der Weg nach der Gurschenalp führt. Der Weg hat eine Bedeutung in ihrem Leben, den Adelrich hat sie da zuerst getroffen, versprochen hat sie sich mit ihm dort; es ist ihr, als müßte er ihr auch heute begegnen. Sie hat ein Heimweh nach ihm im Herzen, es tut ihr leid, ihn heute zu Hause zu wissen, zu wissen, daß er nicht vom Berge herab und ihr entgegenkommen kann. Es ist ihr nach und nach so ins Herz hineingewachsen, daß sie den Adelrich gern hat, still, fest. So mit hundert Fasern, daß es kein Losreißen geben kann, ist sie mit ihm verwachsen.

Als sie über die Mattenebene hinaus ist, wird ihr Schritt steter, emsiger. Die Luft ist heiß, die Sonne brennt ihr auf den Rücken, und sie muß das Kopftuch über den Scheitel legen, aber sie atmet doch frei und leicht, die Stille tut ihr wohl; zuweilen, wenn sie die nackten Arme hebt, streift ihr ein Luftzug die Haut, so daß die Muskeln sich kräftiger spannen. Jetzt stehen die Gurschenalptannen über ihr. Ihr Fuß tritt auf dürre Nadeln, ein wunderbarer Harzduft weht auf sie nieder. Die Lärchen stehen zwischen den dunkeln Tannen im ersten Grün, sie leuchten wie grüne, ruhige, lange Flammen aus der Nacht der übrigen Stämme. Violenta meint sich nicht getäuscht zu haben: der Tag in der Gottesfreiheit, wo der Marianus nicht ist, der seinen Schatten alle Stund' in ihren Weg wirft, muß ihr wohl tun; stärker wird sie am Abend zurückgehen.

Nun ist der Wald bald umschritten, schon leuchtet die Schneespitze des Gurschen über seine breite grüne Brust herab, und dahinter gleißt und blendet und flirrt das fleckenlos silberige Weiß des St. Annagletschers. Violanta tritt auf Alpgras, der Weg führt über den Wald hin nach der Rückseite des Berges, er windet sich aus der Sonne fort an die schattige steile Seite. Als die letzten Spitzen der Waldstämme ihr zu Füßen stehen, tönt ihr ein »He du!« im Rücken.

Eine Stimme in der Bergstille. Die Violanta ist unwillkürlich zusammengezuckt. »Ich komme auch mit, wenn's erlaubt ist,« tönt es wieder, keuchend, denn der es sagt, kommt gerade über den steilen Alpgrund aus dem Walde heraufgestiegen. »Tag,« sagt der Marianus, als er auf den schmalen Weg tritt. Er ist in Hose und Weste, hat schwere Schuhe an den Füßen, auf dem schwarzen Haar den runden Filzhut. Den Rock hat er an einem Beil über die Schulter gehängt.

Die Violanta steht wie angewurzelt mitten am Wege und sieht ihn mit großen, erschreckten Augen an; ihre Kniee zittern. Dann packt sie der Zorn. »Wohin mit?« fragt sie. »Da oben wirst wohl kein Holz mehr schlagen wollen.«

»Das« – er schüttelt lässig das Beil – »habe ich nur so mitgenommen, falls mich einer sieht. Ich will dir keine Angelegenheiten machen, daß die Leute reden könnten, wir seien allein in der Hütte gewesen, wir zwei.«

Einen Augenblick lang kämpft die Violanta, die Gedanken stürmen in ihrem Gehirn.

»Es hat mich kein Mensch gesehen,« fährt der Marianus flüsternd fort, »kein Mensch in ganz Oberalpen weiß, wo aus ich heute bin.«

Die Violanta starrt ihn noch immer an, und noch immer arbeitet es hinter ihrer glatten Stirn. Der Marianus scheint zu glauben, daß sie darauf sinne, ihm zu entfliehen. Sein Gesicht ist plötzlich von einer Flamme Blutes überloht. Etwas wie Wut bebt in seiner Stimme. »Weißt, jetzt – entweder – oder, entweder lässest mich mitkommen, oder heute abend erzähle ich etwas daheim.«

Ihr Blick weicht nicht von seinem Gesicht, es scheint ein eigentümliches Licht darin, so daß er nicht weiß, ob sie ihn sieht oder ins Leere starrt. Ihre Lippen werden schmal; unmerklich härtet sich jede Linie ihres Gesichtes, aber er achtet dessen nicht. Plötzlich sagt sie. »So komm.« Es klingt kaum verständlich; vielleicht läßt die innerliche Erregung die Worte nicht gedeihen. Äußerlich ist sie ganz ruhig, dreht sich um und hebt an, wieder bergan zu steigen. Marianus lacht. »So,« sagt er, breites Wohlbehagen im Ton, »man muß nur ungestört reden können miteinander.«

Eine Weile schreiten sie hintereinander her; er kann nicht Ruhe geben, jetzt packt er ihren Arm, jetzt, wenn der Weg ihm Raum läßt, legt er den seinen um ihre Hüfte, einmal überfällt er sie jäh und preßt den Mund auf ihre Wange. Sie steht nicht still; schweigend, mit verbissenen Lippen steigt sie weiter, kein Muskel zuckt in ihrem bleichen Gesicht, an der Nasenwurzel sitzt eine kleine Falte. Weil sie sich nicht wehrt, glaubt er sie willfährig, meint er, daß sie einsieht, wie sie in seinen Händen ist. Das Blut stürmt in ihm; er vermag nicht klar zu denken.

Jetzt weht eine Kühle sie beide an, der Weg hat sie um den Berg herumgeführt, immer steiler fällt die Halde zu ihrer Linken ab, zwischen dem Gurschen und dem Nachbarberg ist hier ein tiefes enges Tal gerissen. In seiner Tiefe ist weder Weg noch Steg, nur ein Wildbach braust im steinigen Bett, kommt aus einer Schlucht hervorgebrochen und stürzt versteckt, wie in Fesseln tobend, in andre Engen hinein, der Bündner Bergseite zu.

»Jetzt sind wir bald oben, Schatz!« sagt der Marianus, seine Stimme bebt, er lugt der Violanta von hinten über die Achsel, sein heißer Atem streift wieder ihre Wange.

Der Weg wird schmal. Zu ihrer Linken ist keine Halde mehr, nur starrer, wie eine Turmmauer abfallender Fels; plötzlich wird unten eine weiße zischende Linie sichtbar, der Wildbach, die Violanta geht weiter, über die Stelle hinaus, es ist kaum zu sehen, daß ihr Blick in die Tiefe gegangen ist. Auf einmal sagt sie ein Wort. »Jetzt!« Es ist kurz, heftig, ein Laut wie ein Schuß, der jäh sich entlädt. Sie dreht sich um, ihr Stock fällt wegaus, und beide frei gewordenem Hände schlägt sie dem Marianus, der ihr auf der Ferse ist, vor die Brust. Ein Stoß beider Fäuste! »Jetzt,« sagt sie noch einmal, diesmal keucht ihre Stimme, weil sie alle Kraft zu dem zusammennimmt, was sie tut. Der Marianus will etwas sagen, will rufen, aber er hat nicht Zeit, er taumelt schon, stürzt; stumm, die Züge verzerrt, fährt er dem Stock der Violanta nach in die Tiefe.

Violanta geht weiter, sie schluckt, der Atem kommt ihr unsicher, in kurzen Stößen erst zurück, aber sie hält nicht an, sicher und fast ruhig steigt sie weiter. Dann tut sich wieder grüner Alpgrund vor ihr auf, Sonnenlicht quillt ihr entgegen, der Blick kann ausfliegen ins Himmelsblau, in den heiter strahlenden Tag; sie ist auf der Höhe. Dort liegt auch die Hütte, die Gurschenhütte: graubraune Bretter, rohes Mauerwerk der Unterbau, Fenster und Türe verrammelt. Ein paar Schritte davor bleibt die Violanta stehen, hoch, fest und gerade auf, hat das helle Sonnenlicht auf Kopf und Schulter liegen, und die Höhenluft, die am nahen Schnee sich gekühlt hat, weht ihr das Haar von der Stirn zurück. Sie sieht mit klaren Blicken um sich, und mit just so klaren Blicken sieht sie in ihr eigenes Leben hinein und rechnet.

Jetzt! – Was wie ein Blitz ihr in die Seele geschlagen hat, daß sie es hat tun müssen, was geschehen ist, – gleichviel, was das war! Ist es ein Herrgottsgeheiß gewesen oder ein wildes, jähes Verlangen ihrer eignen sündigen Seele, gleichviel – es ist geschehen! Was da unten im Bach unterm »wilden Stutz« liegt, von dem weiß kein Mensch, das sucht kein Mensch, das findet keiner. Die Wildwasser zermalmen und zermahlen; was sie forttragen, kennt keiner. Und jetzt könnte sie auch da hinab . . . Nein, das kann sie nicht, eben nicht. Mit ihr muß alles seinen richtigen Gang nehmen, seinen natürlichen Gang. Dazu braucht es Kraft, Kraft, Herrgott, Kraft. Die will sie haben. Die Violanta Zureich – vor sich selber ist sie nicht mehr das Weib des Renner-Adelrich, nicht mehr die Mutter ihrer zwei Kinder, des Adelbub und des Fini – nicht mehr ihre Mutter, – die Violanta Zureich ist sie, die aus dem Sumpf gekommen ist und hat zurück sollen in den Sumpf, aber nicht hat wollen – nicht hat wollen.

Sie geht ruhig nach der Hütte, öffnet, schlägt die Laden auf, tut alle Arbeit, die nötig ist, um die Hütte wohnlich zu machen für die Zeit, da der Senn und die Knechte heraufkommen wollen. Stundenlang hat sie zu tun. Dann nimmt sie aus der Tasche das Mittagbrot, das sie mitgenommen hat; essen kann sie das nicht, aber verschwinden muß es; sie trägt es aus der Hütte gegen den Schnee hinauf und streut die Stücke ins Alpgras. die Geier und Füchse mögen sich letzen. Dann geht sie zurück, langsam schließt sie die Hütte ab, schaut sich da um und dort um und macht sich auf den Heimweg. Noch einmal zögert sie vor dem Abstieg, als müßte sie für sich noch einmal hersagen, was sie sich eingelernt hat. Es ist ganz klar! Krank hat sie all die Tage schon ausgesehen! Manch eines stirbt plötzlich hinweg, weiß niemand, was ihm gefehlt hat! Bah – und sie lächelt – wer wollte es zu Oberalpen herausfinden, wenn sie, die Violanta, plötzlich stirbt. Die alte Babeseppe, die Hebamme, die das ganze Talvolk doktert? Am Herzen hat es ihr gefehlt, wird sie sagen; von allen Leuten sagt sie, daß es ihnen am Herzen fehle!

Violanta beginnt den Abstieg. Und als sie geht, gehen ihr die Gedanken voraus. Sie läuft ihnen nach, unbewußt, froh; denn die Gedanken sind auch froh. Sie läuft wie blind vorüber am »wilden Stutz«, als ob dort nichts geschehen wäre, den frohen Gedanken nach, die schon im Rennerhaus sind: da ist der Adelrich, der große, eckige, seelengute Mensch, dem das Leben so sauer geworden ist. Wie wird er zaghaft staunen, wenn der Schatten nicht mehr ins Haus kommt, erst es nicht glauben, daß er fortbleibt, und dann immer mehr aufleben, wenn er doch nicht wiederkommt! Und die Rennerin? Die wird wieder die Angst überfallen, die Angst um das Unglückskind, das der Mutter immer das Liebste ist, und die Angst wird stiller werden, wenn die Zeit geht. Gestorben muß er sein, wird die Rennerin eines Tages von dem Marianus sagen. Und das Leid um den gestorbenen Leib wird nicht mehr so groß sein, wie das um die verdorbene Seele gewesen ist! Ruhig wird sie werden, die Rennerin, ruhig und froh, und aufleben in dem, was ihr nachkommt im Hause, in den zwei Kindern. Und diese, der Adel und das Fini! Die werden wachsen und gedeihen! Eine Großmutter haben sie, die um sie sorgt, und einen Vater, wie man so leicht keinen zweiten findet. Denen kann es nicht fehlen! – Und sie, die Violanta? In ein paar Jahren wird keines mehr wissen, daß sie dagewesen ist, hinter ihr wird sich das Leben der andern glätten wie der See hinter einem Schiff, das ihn durchschnitten. Gut wird alles sein, mein Gott, ganz recht und gut!

Sie steigt unablässig bergab, nicht eilig, ganz verloren in Gedanken. Als sie an die Gurschenwaldtannen kommt, setzt sie sich einen Augenblick auf einen Stein. Sie hat das Kopftuch wieder im Nacken, ihr schwarzes Haar glänzt, ein sanfter Strahl der westwärts wandernden Sonne leuchtet herüber, es geht dem Abend zu. Die Violanta legt die Hände in den Schoß. Plötzlich fällt ihr Blick auf diese zwei starken Hände. Sie zuckt zusammen! Es klebt kein Blut daran. Nein, nein, aber eigentümliche Schatten liegen doch darüber, die wie Blut sind. Halt! Mit den Händen darf sie keinen mehr anrühren, den Adelrich nicht, wenn er ihr die Hand zum Gruße bietet, die – Kinder nicht. Die Kinder bringt sie sonst immer zu Bett, heute muß sie warten, hier muß sie warten, bis es zu spät ist, bis die Großmutter sie schlafen gelegt hat.

An den Waldtannen bleibt Violanta sitzen bis an die Nacht. Die Hütten von Oberalpen verschwimmen zu verworrenen Schatten, Schatten sind die Berge ringsum; schreckhaft große Schatten stehen die dunkeln Stämme ihr zur Seite.

Jetzt schlafen die Kindlein!

Die Violanta schaudert und steht auf. Es ist kalt geworden, auch ihr ist so kalt, daß sie, wie in Frösten zitternd, unsicheren Ganges hinabsteigt in die Matten. Eine lange Gestalt kommt ihr des Wegs entgegen.

»Bist es?« ruft der Adelrich von weitem. »Wo ist auch gewesen so lange?« Da rüttelt sie sich auf, immer mit dem Frostgefühl im Innern, und geht ihm mit festem Schritt entgegen. Als sie zusammentreffen, hält sie nicht an. Sie übersieht seine Hand, – er mag meinen, daß es in der Dunkelheit geschehen – und drängt vorwärts. »Komm heim,« sagt sie, und die Zähne schlagen ihr hörbar zusammen, »es ist mir nicht so recht.«

Da geht er schweigend, ängstlich von der Seite nach ihr schauend, neben ihr.

»Komm nur,« ermuntert sie, sieht ihn aber nicht an, blickt nur geradeaus. Ihr Schritt ist eilig. »Ich lege mich gleich, wenn wir heimkommen,« sagt sie.

»Ja, ja,« stimmt er ihr bei. »Hast es auch schon so gehabt, gelt?« sagt er nun und fährt zu fragen fort, ob ihr nicht dann und wann schon so zumute gewesen sei, sagt das, um sich selber zu beruhigen.

»Ja, ja,« gibt die Violanta zurück; dazwischen hinein tut sie ein paar hastige kurze Fragen. »Sind die Kinder gesund? Ist die Mutter noch auf? Ist – ist der Marianus daheim?«

Sie fiebert, denkt der Adelrich. Hastiger schreiten sie weiter.

Der Himmel ist wolkig, aber die Luft still, manchmal zwischen schwarzen Wolkenbergen steht in einem Tälchen blauen Himmels ein schöner weißer Stern.

Als Adelrich und Violanta an die Tür des Rennerhauses kommen, zittert die Frau so heftig, daß sie sich am Türpfosten halten muß. »Sag – sag der Mutter, daß ich mich gleich lege,« flüstert sie, und steigt schneller die Treppe hinauf; an der Wohnstube will sie vorübergehen, als die Rennerin schon in der Tür steht. Die Violanta lächelt sie an: ein gräßlich verzerrtes Lächeln, wie unter fürchterlichen Schmerzen erzwungen. »Grüß Gott. Ich bin spät, gelt?« spricht sie eilig. »Ich bin halt – es ist mir nicht so recht. Ich gehe jetzt nur gerade hinauf, mich legen.« So redend, weiß sie an beiden, am Mann und an der Mutter, vorüberzukommen, nickt ihnen zu: »Ade! Morgen bin ich wieder zuweg,« und steigt die Treppe hinauf.

»Die Babeseppe will ich rufen,« sagt der Adelrich.

»Keine Rede,« ruft die Violanta noch mit fester Stimme von oben. »Geh in die Stube. Morgen früh bin ich zuweg.«

Adelrich und die Mutter lassen sich beruhigen. »Jetzt warte ich nicht länger, morgen fahr' ich mit ihr zum Doktor,« sagt aber der Adelrich, als sie beide in die Stube treten.

Die Violanta ist in schweigender Hast in die Kammer gegangen, herein durch die Tür, geradewegs ohne Umschauen, zum Schrank, wo im Winkel ein Fläschchen steht. Sie zögert und zuckt nicht, mit ganz sicherer Hand greift sie hinein. Sie nimmt das Fläschchen, setzt es an die Lippen, trinkt. Alles hat sie vorher bedacht; sie weiß klar, was zu tun bleibt. Hinüber geht sie jetzt an den Tisch, wo die Waschgeschirre stehen; dort wäscht sie die kleine Flasche, stellt sie leer in den Schrank zurück, auf ein Brett, wo offen allerlei Arzneizeug steht, mitten hinein zwischen andre Flaschen und Salben. So, jetzt soll einer raten, was darin gewesen. Nun wendet sie sich. Bis jetzt hat alles Eile gehabt, nun hat sie Zeit!

Ihr Blick fällt auf die Kinder. Sie schlafen. Da liegt das Fini, friedlich, da der Adel, die dicken Patschhändchen unter dem runden, schönen Kopf. Die Violanta tut einen Schritt gegen sie; ihr Oberleib neigt sich vor, eine wilde Gier kommt sie an, sich über die zwei schlummernden Menschlein zu werfen. Schreien will sie: mein seid ihr, mein! Und doch drängt sie etwas von ihnen zurück, wie ein Eisengitter, an das sie die Brüste preßt und das ihr den Zuweg wehrt; sie ächzt!

Da mahnt sie ein fürchterlicher Schmerz an das, was kommen will. Sie beißt die Zähne zusammen, verkrampft die Hände, dann taumelt sie nach ihrem Bett und legt sich in den Kleidern darauf.

Der Adelrich kommt nach einer Weile über die Treppe heraufgegangen. Sie kennt seine Schritte. Er müht sich, den Tritt der schweren Schuhe zu dämpfen. Sacht öffnet er die Tür: »Schläfst schon, Frau?«

Sie hebt sich ein wenig im Bette auf, ihre Züge sind ruhig, eine seltsame Klarheit liegt auf ihrer Stirn, auf die das rote Licht einer Kerze leuchtet, die sie angezündet hat. Sie hat Schmerzen, grimmige, rasende, aber so groß ist ihre Kraft und ihr Wille so mächtig, daß sie mit keinem Zucken verrät, was ihr ist.

»Ist dir jetzt besser?« fragt der Adelrich, hereintretend.

»Es kommt schon besser« sagt Violanta. Er steht ganz nahe bei ihr, hemdärmelig, lang und hager, mit seinem erschreckten, gutmütigen Gesicht. »Morgen fahren wir zum Doktor,« sagt er. Die Violanta nickt. Und da faßt es sie plötzlich, etwas, was sie noch nicht bedacht hat: Wenn sie jetzt stirbt, so denkt alles gut von ihr, das ganze Dorf wird gut von ihr reden, die Nagerin, die Mutter, der Adelrich, rühmen werden sie, nichts als rühmen! Und hintergangen hat sie doch alle! Die Sünde, das, was zwischen dem Marianus und ihr gewesen vor Jahren, das muß sie beichten! Damit keiner sie rühme! »Adel,« fährt sie auf, »du, – hör.«

Er neigt sich herab. »Was ist? Kann ich dir etwas tun?«

Sie stemmt beide Fäuste auf den Bettrand und neigt sich näher zu ihm: »Du!«

Ein Sturm von Schmerzen schüttelt sie.

»In der Intschihütte –«

Sie röchelt.

»Ich, und –«

Ein Name will auf ihre Lippen kommen, aber er ist nicht mehr verständlich, jäh schlägt der Oberleib hintenüber, zweimal bäumt sich der Leib im Krampfe auf. »Jesus, Jesus,« stöhnt der Adelrich und hält sie. »Frau, Frau!« stammelt der Unbeholfene, vorwurfsvoll, in bitterer Angst. Da durchläuft ein Zittern ihre Gestalt; nun liegt sie ganz still.

»Jesus Maria – jetzt – jetzt« stottert der Adelrich und läuft aus der Stube in den Flur. »Mutter!« schreit er hinab.

In ihren Betten erwachen die Kinder.

 

 

In der Rennerin ihrer Kammer liegt die Violanta aufgebahrt, auf einem hohen, mit Blumen und künstlichem Kranzwerk bedeckten Bett. Eine Menge Kerzen umstehen die tote Frau; es ist eine fürnehme Leiche. Ganz Oberalpen drängt sich an diesem Tage in die Stube. Jeder will die noch sehen, die so plötzlich verstorben ist. »Jesus, wie schön,« stammeln ein paar halbgewachsene Mädchen, die in das wachsbleiche Gesicht der Toten starren.

»Die Kraft selber, hab' ich gemeint, ist sie,« flüstert ein Weib in einer Ecke.

In einer andern redet die Babeseppe, die Hebamme, eine dicke, behäbige, gemütliche Frau: »Am Herzen hat es ihr gefehlt, ich habe es gleich gesehen! Da ist es eben plötzlich mit einem zu Ende.«

Das Flüstern hört den ganzen Tag nicht auf: »Was das für eine gewesen ist! Was für eine Arbeitsame, eine Aufrechte. Herrgott, eine solche kommt gar nicht mehr.«

Gegen Mittag geht auch die Kunde um, daß der Marianus nicht im Hause sei, nach dem schon der eine und andre gespäht hat. »Schon gestern ist er fort gewesen,« heißt es dann. »Am Ende ist er wieder auswärts,« vermutet einer. Groß fragt ihm keiner nach.

Am Abend steht der Adelrich allein am Bette seines Weibes, ganz zermalmt von Kummer, der lange Mensch, zitternd, die Züge von verhaltenem Weinen zuckend. »Was das für eine gewesen ist.«

Sie kann es nicht hindern, daß sie sie rühmen, die Violanta!

Sie rühmen sie lange, lange: so eine geht keine mehr durch die Gassen von Oberalpen! Aber es kommt so, wie sie gewußt hat. Es wird stille und sonnig im Rennerhaus. Die Kinder wachsen auf; die wissen, wie man eine Gestorbene vergißt, und helfen den andern es lernen. Und der Marianus ist fort! Die von Oberalpen wundern sich, wo er sich herumtreibt; der Adelrich forscht nach und bekommt keine Nachricht, die Rennerin seufzt manchmal und denkt an den Verschollenen. Und heimlich atmen sie alle auf, daß er immer nicht kommt, immer nicht. Und jetzt rühmen sie wieder die Violanta. Die Rennerin sieht die Kinder an. »Immer mehr gleicht das Fini der Mutter,« sagt sie.

»Es soll nur werden wie die,« sagt der Adelrich und blickt einen Augenblick trübe ins Leere. Es ist noch immer Staunen und Andacht in ihm, wenn er seines Weibes gedenkt.

Und er weiß nicht einmal, wie groß sie gewesen ist.


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