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Die Violanta dient bei der Nagerin. Die Tage gehen mit den Wellen, die die Reuß zu Tal wälzt; die Violanta denkt nicht ans Fortgehen. Der Kreuzwirt ist gestern wieder dagewesen und hat sich erkundigt, wie es ihr gefällt. »Gut,« hat sie gesagt und hat gelacht; keines hat ein Wort verloren davon, daß das Mädchen wieder nach Anderhalden zurück könnte. Auch die Nagerin ist es zufrieden, daß sie bleibt. Zum Hofer läßt sich die Bäuerin vernehmen: »Völlig wohl ist mir, so eine im Haus zu haben. Eine gesunde ist die, die Violanta, eine starke; fast ist mir, als hätte ich baufälliger Mensch ein Mannsbild zum Schutz bei mir.«
Die Violanta beginnt den Tag, wann der Tag beginnt. Mit einem Summen oder Singen ist sie auf und an der Arbeit. Wundervoll ist das Leben, denkt sie. Wenn ihre Gedanken zu dem heißen Brutloch, dem Tal bei Intschi, zurückgehen, und zu der Zeit, da sie dort gelebt hat, scheint es ihr kaum zu glauben, daß es einen Ort auf der Welt gibt wie Oberalpen, so hell und himmelnah, mit der Luft, die die Brust völlig trinken kann, so hell und klar ist sie, und wenn sie sich die väterlichen Stuben ausmalt und die, die darinnen sitzen, dann muß sie immer wieder die Nagerin und ihre Behausung anstaunen. In Küche und Wohnräumen ist da oben eine unendliche Sauberkeit; die Violanta hat selbst nach der Schule der Kreuzwirtin noch lernen müssen, bis sie der Nagerin, ihrer Mutter, recht hat haushalten können. Nun aber, da sie in die Reinlichkeit und die Ordnung der Alten hineingewachsen ist, fühlt sie sich darin wie ein starker Mensch, der in klarem Flusse badet. An der Nagerin selber erst schaut sie sich nicht satt. Sie scheint ein zurückgezogenes Weib, von der niemand Aufsehen macht, die halb schon aus der Welt ist, aus der sie bald gehen wird; erst nach und nach hat die Violanta gelernt, wieviel heimliche Fäden in des Weibes Hand zusammenlaufen, das den lieber langen Tag im gleichen schlichten braunen Rock auf ihrem Lehnstuhl sitzt. Jeder Schuldenbauer kommt zu ihr, jedes Taglöhnerweib, dem schier die enge Stube die Kinder nicht mehr fassen kann; wenn die Oberalpener für die Gemeinde, wenn der Pfarrer für die Kirche Geld braucht, – bei der Nagerin klopfen sie unter den ersten an. Und am rechten Ort weiß sie immer zu geben. »Die im Kreuz zu Anderhalden brauchen es gottlob nicht,« sagt sie einmal zur Violanta, als diese gesehen hat, wie eine bettelnde Nonne eben eine schöne Geldgabe eingesackt hat.
Aber die Violanta weiß, daß die reiche Bäuerin auch nicht blindlings gibt; schon mehr als einen hat sie mit einem scharfen »Schaff mit deinen gesunden Gliedern« mit leeren Händen hinweggewiesen; gerade um ihrer Gerechtigkeit und ihres Scharfblickes willen, mit dem sie jeden, der ihr nahe kommt, durchschaut, empfindet die Violanta fast etwas wie Scheu vor der Alten. Die Nagerin ist eine fromme Frau. Bei keiner Frühmesse fehlt sie und bei keiner Abendandacht, und die Violanta, die die Lahme jedesmal zur Kirche führen muß, wundert sich über sich selber, daß sie des Ganges nicht müde wird; denn von der Intschihütte hat sie keine dreimal des Jahres den Weg zur Steger Kapelle gefunden. Es ist aber etwas Seltsames um diesen Kirchgang mit der Nagerin, diese hängt nicht den Kopf und verdreht nicht die Augen, wie manche überfromme Dörfler. Vor und nach der Kirche spricht sie ohne Scheinheiligkeit von allerlei weltlichen Dingen; aber während des Gottesdienstes hat sie ein Wesen, das ihre Magd, die an ihrer Seite sitzt, unwillkürlich selber zur Andacht zwingt. Da hockt das alte, zerbrechliche Weib vor seinem Herrgott, ein Häuflein Bescheidenheit; aus ihrer ganzen Haltung redet ein: »Du großmächtiger, lieber Unsichtbarer, da bin ich und fühle dich und bin zufrieden in deiner Nähe! Tu mit mir nach deinem Willen«. Die Violanta empfindet zuletzt die Andacht in der Kirche als dasjenige, was ihrem schönen, klaren, ruhigen Tag die Weihe gibt.
Die Oberalpener haben die Augen aufgesperrt, als die Nagerin zum erstenmal mit der neuen Magd den Kirchgang getan; sie reißen die Augen noch immer auf, wenn die Violanta durchs Dorf geht. Am Morgen, wenn sie am Brunnen auf dem Dorfplatz in dem großen kupfernen Kessel das Wasser holt, stehen da und dort einer oder eine im Fenster, die den Blick ihr folgen lassen, wendet da und dort sich ein Jungbub oder späht aus einer Haustür ein Mädchen hinter ihr drein. Die Violanta kommt mit dem schweren Kübel auf dem Kopf geschritten, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere am Kesselrand, gerade auf, die Arme nackt und weiß wie das Leinen ihrer kurzen Hemdärmel; fest und doch leicht schreitet sie daher. »Die könnte eine Bündnerin sein,« sagen die von Oberalpen, weil in Bünden die großen adeligen Weiber gehen.
Auf dem Gang vom Brunnen zum Nagerhaus sieht auch die Rennerin zuerst die Violanta, die Rennerin, die seit Wochen eine Witfrau ist und dem Nagerhaus gegenüberwohnt. Sie ist eine, die zum Müßiggang nicht Zeit und Lust hat, und doch zögert sie am Fenster, als ihr Blick auf das wassertragende Mädchen fällt. An demselben Abend, als sie mit dem Adelrich, ihrem Sohn, und dem Dienstvolk beim Abendbrot sitzt, gibt sie dem Staunen Worte, daß die Nagerin eine so stattliche und schöne Magd hat.
Das Rennerhaus ist ein fürnehmes Bauernhaus. Schon die Haustür von schwerem eichenen Holz mit dem Bogenfenster knarrt unbäuerisch schwer wie ein Schloßtor in den Angeln. Hinter ihr liegt ein weißgetünchter mächtiger Flur, dessen Decke sich wölbt wie die eines Kreuzganges. Der Flur mündet in eine gebohnte eichene Treppe aus; die Türen der Stuben, zu denen diese emporführt, sind von dunkelgebeiztem Holz, und ihrer Griffe gelbes Messing schimmert blank wie Gold. Die Stube, wo an zusammengeschobenen langen weißgescheuerten Tischen die Rennerin und der Adelrich mit Knechten und Mägden die Mahlzeiten einnehmen, ist ein großer, vielfenstriger Raum. Seine Wände sind zur unteren Hälfte mit grauem Getäfel verschlagen, zur obern kahl und weiß getüncht, ebenso kahl-weiß ist die lange Decke, so daß die Stube fast unwohnlich leer erscheint. Dennoch ist etwas wie Traulichkeit an ihr; es mag in ihrer Sauberkeit liegen; auch hat der Gültsteinofen, der protzig und breit von der einen Wand in die Stube hinaussteht, ein Verdienst um diese Traulichkeit; er schafft aus dem langen Raum zwei kleinere, behaglichere Teile. Zu Häupten des Eßtisches hat bis vor kurzem der Ratsherr, der Renner, gesessen, der größte Bauer zu Oberalpen und weit hinab ins Land, dem die weiten Alpen am Gurschen gehörten, der alljährlich die großen Märkte im Welschen, in Bünden und im Land selber mit ganzen Herden befuhr, der die einzige Käserei im Oberland betrieb und seine Ware nach allen Weltteilen versandte. Viele haben wissen wollen, der Renner hätte übervolle Geldtruhen, doch hat es andre gegeben, die zweifelnd die Köpfe schüttelten: »Sein Gewerb ist zu kostspielig; zuviel Volk hat er in Dienst«.
Der Renner ist tot. Sein Erbe ist der Adelrich, der der Mutter gegenüber am oberen Ende des Eßtisches hockt. Der Platz zu Häupten ist leer. Ein Lehnstuhl steht dort, dem Renner seiner; ein schweigendes Übereinkommen zwischen Mutter und Sohn fügt, daß der Stuhl leer bleibt; keines von den beiden will sich zum Regenten über das andre aufwerfen. Die Knechte und Mägde weiter unten am Tisch sind um kein Haar weniger zahm und gehorsam, seit der Platz am Tischende leer ist; die zwei, die ihre Reihen schließen, sind wortkarge, ernsthafte Menschen, vor denen Respekt haben leicht ist. Der Adelrich ist ein langer, hagerer Mann, lauter Haut und Knochen, aber mit Gliedern zäh wie Waldholzfasern. Er hat ein schmales Gesicht, dessen Haut faltig ist, weil das Fleisch darunter fehlt. Eine große Nase springt daraus hervor. Kleine braune Augen lugen scharf an dieser Nase vorbei; über dem schmal geschlossenen Mund, der selten lacht, steht weißer, seidenweicher Haarflaum; sonst ist das ganze Gesicht glatt. Der Adelrich ist nicht mehr jung, über die Dreißig hinaus und immer noch ledig; er ist keiner, nach dem die Mädchen groß ausschauen; auch hat er sich nicht Zeit genommen, selber nach ihnen sich umzusehen; ein Werkzeug in des Vaters Hand ist er gewesen von jung auf, immer ein brauchbares, festes Schaffeisen; viel andres als Arbeit hat er nie begehrt. Den Rahm vom Leben, das Vergnügtsein, hat immer der Jüngere, der Marianus, abgenommen; der hat gearbeitet, was ihm gerade gefiel, immer das Leichte und Schöne, der hat auf keinem Tanzboden und an keinem Dorffest gefehlt, der hat sich Zeit genommen, beim Militär die Offiziersschule durchzumachen; der Adelrich hat gerade lang genug zu Hause gefehlt gehabt, als er seine Rekrutenzeit abgedient hatte. Nun der Vater tot ist, arbeitet der Adelrich weiter; nichts hat sich geändert im Gang des Heimwesens. Er ist keiner, der neue Wege sucht, seine Art ist nicht, weit zu denken und groß zu planen; die gerade Treue ist der Kern seines Wesens. Und den hat er mit der Mutter gemein, die mit ihm am Tisch und in der Regierung des Hausstandes an gleicher Stelle sitzt. Die Rennerin ist eine häßliche Frau. Ihr Wuchs reicht nicht ganz an den ihres Buben heran, aber hager ist auch sie. Ihr Gesicht ist bleich, wenige tiefeinschneidende Falten furchen die Haut, von denen zwei wie Messerschnitte dem Munde zulaufen und den Zügen einen vergrämten Ausdruck geben. Die Stirn ist niedrig, das kurze, dünne, braungraue Haupthaar ist schwer am Hinterkopfe festzuhalten, oft fällt eine der rauhen Strähne wirr und unordentlich in die Stirn. Die Frau blickt aus grauen, rotgeränderten Augen, die wie von einem Tränenschleier trüb sind. Die Rennerin hat auf dem steifen Nacken Berglasten menschlicher Sorge getragen. Einen Bruder und eine Schwester hat sie viele Jahre im Hause gehabt, der Bruder ist am Leibe, die Schwester am Geiste siech gewesen; der Bruder hat ein grauenhaftes Gebresten an sich getragen, vor dem jeden anderen ekelte, die Rennerin hat ihn mit schweigender Treue gepflegt, bis der Tod ihn spät erlöst hat. Und so hat sie für die Irre gesorgt, die wie ein Kind war, das nicht gehen und stehen, nicht essen und reden kann. Die Kranken sind ihr geblieben bis ins letztvergangene Jahr. Inzwischen sind ihr im Laufe der Jahre vier blühende Kinder genommen worden, hat ihr die Laue (Lawine) den Vater, einen starken und treuen Alten, getötet, und ist der Marianus, ihr Jüngster, ihr Liebling, zum Lump erwachsen. Und dennoch ist die Rennerin ein aufrechtes Weib geblieben; nur mehr ins Haus hat sie sich noch zurückgezogen, so, als hätte sie Scheu vor den andern Menschen, und darum wundert sich auch der Adelrich, ihr Sohn, daß sie sich die Mühe und Zeit genommen, der neuen Magd aus der Nachbarschaft nachzusehen, wundert sich, daß sie, die Wortkarge, Insichgekehrte, Worte an jene verliert. »Eine Besondere muß das sein, die Magd,« denkt der Adelrich Renner bei sich.
Es ist sonderbar, wie lange der Bruder des Marianus und die Violanta als Nachbarn leben, bis sie einander in den Weg kommen. Ein seltsamer Zufall führt sie zusammen, nicht wo es sein sollte, daß sie täglich dicht aneinander vorüber müßten, sondern ganz außerhalb des Dorfes, wo selten Leute hinkommen. Sonntag ist es; der Kreuzwirt ist dagewesen und hat die Nagerin zu einem Besuch bei der Tochter nach Anderhalden geholt. Die Violanta weiß nicht, was sie mit dem Tag anfangen soll; weil er aber hell ist und seinen Sonnenschein über alle Berge gießt, läuft sie gegen Abend mit frohem Herzen hinaus und nach der Luft durstig, von der ein Zug wohltut wie ein Trunk Quellwasser. Bekanntschaft hat sie noch wenig zu Anderhalden, so läuft sie barhaupt in schlichtem schwarzen Rock zum Dorf hinaus, quer über die flachen Matten einem Bergabhang zu, an dem wie ein verlorenes Büschel Haare auf einem Kahlkopf eine schwarze Schar hoher, hagerer Tannen steht. Zu den Tannen hinauf führt ein Fußsteig, dem geht sie nach. Der Hang liegt im Schatten, aber von ihm blickt sich's wohl in das Hochtal hinaus, das in der Sonne daliegt, als ob der Herrgott mit heimlichen Kerzen in jede Ecke zünde: Sieh, das ist schön, und das und das!
Am Bergrücken entlang fährt ein kühler Windatem, in den Tannenwipfeln ist ein kaum merkliches Regen und Neigen. Die Violanta steigt bergan; die Matte zur Linken unterhalb des Waldes wird immer grüner und dunkler, zur Rechten aber verläuft die unfruchtbarere Lehne in eine Steinwüste; hoch oben am Berg ist zerrissenes Felswerk, der Hang ist von den Trümmern besät, die die Stürme aus dem Bergturm gerissen haben; weiß schimmern die Bruchstellen in der Höhe. Die Violanta setzt ihren Weg, leise vor sich hinsummend, fort, da steht es rot in den Steinen ihr zur Rechten; die Bergerdbeeren sind reif. Gedankenlos tut sie ein paar Schritte hinüber und pflückt lässig ein paar Beeren; dann faßt sie ein halber Eifer; sie steigt in die Steinschrunde hinab, tiefer hinein in die Wüste, wo kleine Wässerlein rinnen und zwischen Steinbrocken grüne Teppiche liegen. Über dem Suchen und Bücken vergißt sie die Zeit. Auf einmal fällt ihr ein, daß die Nagerin vor ihr zurück sein kann, wenn sie sich nicht auf den Heimweg macht. So sucht sie mit den Blicken den Weg, der weit drüben liegt, und hebt an, zurückzuklettern. Als sie dem Pfad wieder nahe ist, sieht sie einen Menschen über ihn herniedersteigen; und just, als sie den Weg erreicht, will jener vor ihr vorübergehen. Unwillkürlich verhalten beide die Schritte. Der Adelrich starrt der Violanta ins Gesicht. Es ist ihm wie angeworfen, daß der Nagerin ihre Magd vor ihm steht, aber er erschrickt ganz vor dem Weibe und seiner Schönheit.
»Nun,« sagt die Violanta mit aufgeworfenem Kopf; in dem Wort liegt die ungeduldige Frage: gehst du voran oder soll ich?
Der Adelrich, der in braungelbem schlechtsitzendem Sonntagsstaat steckt, schiebt den schwarzen Filz aus der Stirn, brummt etwas und steigt an ihr vorüber. Die Violanta folgt ihm langsam, damit er vorauskomme. Er nimmt auch anfänglich große Schritte, nach einer Weile aber, während welcher er mit auf die Brust hängendem Kopf bergab gestiegen ist, dreht er sich plötzlich um und läßt sie an sich herankommen.
»Da droben, wo du gestanden bist, hättest auch einen Stein an den Kopf bekommen können, Mädchen,« sagt er, ihr ins Gesicht sehend. Sie dreht sich um und blickt an der Wand hinauf. »Ist es da steinschlagig?« fragt sie.
»Natürlich,« murrt er zurück und setzt seinen Weg fort, wie einer, der ausgerichtet hat, was ihm aufgetragen ist. So stampfen sie hintereinander drein, gleichgültig, keines sich ums andre kümmernd. Das Maß ihrer Schritte ist aber dasselbe und bringt sie nicht weit auseinander, und als sie von dem Fußpfad in die breitere Straße hinaustreten, kommen sie unwillkürlich nebeneinander zu gehen; nur daß sie, indem eines am Rande zur Rechten, eines zur Linken geht, die ganze Breite der Straße zwischen sich legen.
»Du bist doch bei der Nagerin?« fragt da der Adelrich herüber.
»Ja,« gibt sie zurück.
Nach einigen Schritten hebt er wieder an: »Wir sind dann Nachbarn, wir beide.«
»Ich weiß,« sagt sie trocken; sie hat ihn einmal flüchtig gesehen.
So, als brächen sie Holzstückchen knackend entzwei, hacken sie eine Unterhaltung zurecht im Weitergehen. Das letzte Wort ist ein »Gut Nacht« hier und ein »Gut Nacht« dort. Dann biegen sie von ihrem Straßenrand ab, ein jedes nach seiner Haustür zu, so steif, als triebe sie ein gemeinsames Uhrwerk!