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Am Tag darauf kehrten sie nach London zurück, und gegen Abend brachte Aline ihren Schützling nach Hause. Sie verließ ihren Wagen nicht, sondern wartete nur, bis Dot Einlaß gefunden hatte, dann fuhr sie eilends weiter, denn sie war bei Freunden zu Tisch gebeten.
Jocelyn hatte sich gerade zu seiner einfachen und einsamen Abendmahlzeit niedergelassen, als Dot in seine Arme flog. Sie hatte die Thüre mit größter Vorsicht geöffnet und geschlossen, denn eine »Ueberraschung« war ihr höchster Triumph.
Ihm war's, als ob eine Flut von Sonnenschein hereingeströmt sei mit dem kleinen Geschöpf. Und wie sah sie frisch, rosig und strahlend aus! Daß sie sehr hübsch angezogen war, erbaute ihn zwar weniger, und Dot sagte, sein Stirnrunzeln bemerkend, eilig: »Die hübschen Sachen hat mir Fräulein T'w-illian zum Geburtstag geschenkt. Sagte zwar, er sei vorüber, dann hat sie gesagt, sie schenke mir's gleich zum nächsten Geburtstag.«
Das war ein glückseliger Abend für Jocelyn und sein Vögelchen, das ohne Unterlaß zwitscherte und furchtbar viel zu erzählen hatte. Darüber, daß sie eine wunderschöne, herrliche Zeit verlebt hatte, war nicht der geringste Zweifel möglich, aber Jocelyn war auch ohnedies froheren Muts gewesen als seit lange. Er hatte heute früh einen Brief von Penningtons Vater erhalten, der ihm die Verwaltung seiner Güter in Wales mit sehr anständigem Gehalt antrug. Er kannte den alten Herrn von Knabenzeiten her und hatte ihn immer sehr gern gehabt. Nur wem die Armut in Tagen der Krankheit und Verzweiflung ins Gesicht gestarrt hat, kennt das Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit, womit er Penningtons Anerbieten sofort angenommen hatte. Nun war auch noch sein Mädelchen heimgekommen, und er konnte ihr die frohe Kunde mitteilen. Dot freute sich, weil Jo sich freute; für sie selbst hatte die Armut keine Schrecken, solang sie bei ihrem Jo sein durfte.
Als sie nach dem Essen im Dämmerlicht am Fenster saßen, fing Dot plötzlich an: »Jo, ich weiß etwas, was du nicht weißt!«
»Und was ist's denn, Kleinchen?«
»Etwas von Fräulein T'w-illian.«
Er schwieg.
»Gestern abend hat sie geweint,« begann Dot wieder.
Jocelyn holte seine Cigaretten, sagte aber nichts.
»Und dann fragte sie mich,« fuhr Dot fort, »ob ich ein Geheimnis bewahren könne, und ich sagte, nur dir müsse ich's sagen. Da sagte sie aber, ich dürfe nicht!«
»Dann thu's auch nicht,« entschied Jocelyn kurz.
»Nein, thu's auch nicht! Aber sie und ich – das ist nicht das Geheimnis, Jo, Lieber! – wir wollen den lieben Gott alle Tage bitten, er soll machen, daß du sie wieder heiraten willst.«
Das Zündholz, womit Jocelyn seine Cigarette anstecken wollte, zitterte auffallend in seiner Hand.
»Sie ist ›g'enzenlos unglücklich‹, Jo, und es thut ihr sehr leid,« teilte Dot ernsthaft mit, »und – ich darf dir das Geheimnis nicht sagen, Jo, Lieber – aber vielleicht, wenn du sie fragen wolltest, thät' sie dir's sagen.«
Noch lange, nachdem Dot in ihr Bettchen gegangen war, saß Jocelyn am offenen Fenster; er war damit beschäftigt, sein Herz abwechselnd zu verhärten und wieder zu erweichen.
Als er sich schließlich zur Ruhe legte, hatte er wenigstens einen Entschluß gefaßt. Er wollte morgen zeitig von seiner Arbeit nach Hause kommen, um am Nachmittag Fräulein Tressillian einen Besuch zu machen und ihr für die Freundlichkeit zu danken, die sie dem Kind erwiesen hatte. Er beschloß ferner, Dot zu diesem Besuch mitzunehmen.
Aline empfing ihn etwas kühl und gelassen. Sie wurde weder rot noch blaß, nur ihre Lippen waren farblos, als sie Dot küßte, und die Hand, die sie Jocelyn reichte, war eiskalt, obwohl es ein heißer, gewittriger Tag war.
Er dankte ihr verbindlich und förmlich für all ihre Güte gegen das Kind, und sie antwortete ihm nicht minder förmlich. Dann versiegte das Gespräch, und ein peinliches Schweigen trat ein.
Dot war ins Gewächshaus gewandelt.
Aline lehnte sich müde im Stuhl zurück. Ihr Herz klopfte heftig, und sie wechselte jetzt fortwährend die Farbe. Ihre Schönheit war gedämpft, vergeistigt und ging Jocelyn bedenklich zu Herzen. Er sagte sich, daß er gehen müsse und zwar unverzüglich, sonst würde sein Stolz dahinschmelzen wie Frühjahrsschnee. In der Furcht, eine große Thorheit zu begehen, stand er hastig auf.
»Sie wollen – gehen?« stammelte Aline unsicher.
»Ja, ich muß.«
Sie griff mit der Hand in die Spitzenkrause, die ihren Hals umschloß.
»Ich – ich – hätte Ihnen gerne etwas gesagt –«
»Ja, und ...?« sagte er, an ihr vorübersehend.
Lautlose Stille herrschte in dem großen, sonnbeschienenen Zimmer. Plötzlich wandte er sich zu ihr und ergriff ihre beiden Hände.
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben,« kam es stoßweise von seinen Lippen, »so sagen Sie's – und lassen Sie mich gehen –«
Seine Hände zitterten derart, daß ihr Griff sie schmerzte. Stumm sah sie zu ihm auf, bis er endlich die Worte: »Nur das wollte ich sagen – daß ich tief bereue –« mehr von ihren Lippen ablesen als hören konnte, denn Schluchzen erstickte ihre Stimme.
»Daß Sie bereuen! Und das ist alles – alles, Aline?«
Sein leiser Ton klang streng, fast herb, aber den Blick, womit seine Augen in den ihrigen ruhten, den kannte sie und hatte ihn nie vergessen. Sie wußte jetzt, daß dies qualvolle Weh in ihrem Herzen zur Ruhe kommen werde.
Ihr schwindelte und es tanzte ihr vor den Augen.
»Das ist alles,« sagte sie, mühsam ihre Stimme beherrschend, »was ich Ihnen sagen kann.«
Er zog sie an sich.
»Und willst du mir nicht sagen,« flüsterte er bebend, »daß du mein Weib sein wirst? Das und nichts andres verlange ich zu hören.«
Nur ein tiefer, schluchzender Seufzer ward ihm zur Antwort, aber sie lag an seinem Herzen und die Küsse, wovon beide geträumt hatten, waren Wirklichkeit.
So verging eine lange Zeit.
Als sie dann wieder zum Bewußtsein ihrer Persönlichkeiten erwacht waren, schüttelte Aline ihr Herz aus. Jocelyn hörte ihr fast schweigend zu, aber er hielt sie fest in seinen Armen und küßte ihr die Worte von den Lippen. Innerlich frohlockte er, daß sie sich ihm angelobt hatte, ohne die günstige Wendung seines Schicksals zu ahnen. Sie wußte nur, daß er mit der Armut kämpfte, und er wollte ihr später erst sagen, daß seine Zukunft sich glücklich gestaltet hatte. Gute Nachrichten werden nicht altbacken.
Ein leises Geräusch veranlaßte die Glücklichen aufzublicken, Dot stand vor ihnen und sah sie mit großen Augen an.
»Hast du Jo das Geheimnis gesagt?« fragte die weiche Kinderstimme.
Er zog sie zärtlich an sich.
»Ja, mein Kind. Und sie hat sogar versprochen, mir all ihre Geheimnisse zu sagen.«
Das Kind blickte forschend in beider Gesichter, und obwohl beide sie mit Liebkosungen überhäuften, lag's wie ein Schatten über den hellen jungen Augen, und das kleine Herz war bedrückt von unbestimmter Angst.
Als Jocelyn am Abend dieses Tages an Dots Schlafkämmerchen vorüberging, war ihm, als ob er sie weinen hörte. Leise öffnete er die Thüre und schaute hinein.
Dot kniete aufrecht mit gefalteten Händchen in ihrem Bett, und durch die Dunkelheit erklang ihr Stimmchen, das, von Schluchzen unterbrochen, die Worte sprach: »O du lieber Gott, bitte, mach', daß Jo mich nicht fortschickt, weil er Fräulein T'w-illian heiratet. Laß mich immer bei ihm bleiben, lieber Gott! Bitte, thu' das – für immer und immer – Amen.«
Rasch trat er näher und zog das einsame, schluchzende Geschöpfchen in seine Arme.
»Mein Herzenskind!« sagte er, im Innersten bewegt. »Hast du gedacht, dein Jo könnte dich fortschicken? Du sollst nie von ihm gehen, Liebling – niemals! Ich könnte ja nicht leben ohne dich.«
Sie schmiegte sich noch inniger an ihn.
»Mich könnte nicht ohne dich!« schluchzte sie. »Lieber tot sein,« und dann setzte sie hinzu: »Läßt sie mich?«
»Mein süßes Herz, natürlich läßt Aline dich bei mir bleiben! Sie hat dich ja so lieb und sagt, du müssest jetzt auch ihr kleines Mädchen sein.«
»Nur dein kleines Mädchen,« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Niemand's sonst kleines Mädchen. Mich will Kuß haben.«