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Weshalb Jocelyn sein Zelt gerade in dem nicht übermäßig bequem gelegenen Viertel Nord-Kensington, statt in einer andern Himmelsgegend des großen London aufgeschlagen hatte, war für Freunde, die in zugänglicheren Stadtteilen wohnten, von jeher ein Rätsel, mitunter auch ein Stein des Anstoßes gewesen.
Seiner Meinung nach indes war diese Straße so gesund, begehrenswert und passend als jede andre und obendrein minder kostspielig. Er hatte im ersten Stock eines düster aussehenden Hauses, weit draußen in der Ladbroke-Grove-Straße, »Wohnung mit Bedienung« gemietet und sich in einem zufälligen üppigen »Stil« eingerichtet, der sich keinem andern Gesetz als dem seines persönlichen Geschmacks unterwarf. Der Empfangs- und Arbeitsraum war ein großes, nördlich gelegenes Zimmer, das über das Erdgeschoß und Wirtschaftsräume hinausgebaut war und sich bis zur äußersten Grenze der sogenannten »Rückgärten« der Nachbarschaft erstreckte. Es war ein wohnlicher, ansprechender Raum, dessen Einrichtung immer noch vermehrt wurde, sobald die Kasse es gestattete. Da und dort ein Divan, Schaukelstühle, große Stehlampen, Teppiche, Seltenheiten in Glas und Porzellan und ähnlicher Luxus, wie man ihn in den Werkstätten »überzeugter« Künstler nicht allzu häufig trifft. Dieses Zimmer war es, was durch Raumverhältnisse und Aussicht den Mieter angezogen hatte, auch war das Haus in sanitärer Beziehung gut gebaut und eingerichtet, und dieser Punkt zählte zu Jocelyns »Sparren«.
Ueberdies war die Ladbroke-Grove-Straße, wie seine Hauswirtin immer versicherte, »riesig geschickt«, weil es »von Omnibussen nur so wimmle«. Als weiteren Vorzug hatte sie auch schon hervorgehoben, daß die Straße »lebhafter« sei als alle ihre Nachbarinnen, weil doch alle »Begräbnisse« hier vorbeikämen!
Die kleine Dot wußte diese Annehmlichkeit zu schätzen; sie pflegte diesen traurigen Zügen mit gespannter Aufmerksamkeit nachzusehen, wenn sie sich langsam und feierlich nach dem hoch gelegenen Friedhof emporschlängelten. Auch heute, am Vormittag eines besonders trübseligen Regentags, hockte sie an ihrem Lieblingsplatz in der Fensterbrüstung und verfolgte mit ihren hellen Kinderaugen jede Einzelheit des immer gleichen Vorgangs. Sie saß ganz still, und wenn sie eine Bewegung machte, geschah es lautlos, denn Pa schlief ja noch, obwohl es schon spät war, und war nicht, wie sonst, in die Stadt gegangen.
Der Regen fiel in Strömen. Wie komisch die aufgespannten Schirme von oben aussahen, gerade wie schwarze Pilze, die sich bewegen! Jetzt kam wieder ein Leichenzug; der Sarg war dieses Mal ganz klein, Dot dachte träumerisch darüber nach, ob es wohl der Sarg des kleinen Mädchens sein konnte, von dem ihr Pennington erzählt hatte. Oben war er ganz mit weißen Blumen bedeckt und auch an den Seiten hingen Kränze; sie zählte vier wunderhübsche. Das Kinn auf ihre Händchen gestützt, überlegte sie, ob die Seele des kleinen Mädchens, die ja jetzt im Himmel war, es wohl wisse, daß ihr Körper langsam, ganz langsam unter weißen Blumen im strömenden Regen den Hügel hinauffahre und ob es der Seele wohl leid thue, daß der Körper, der doch ihre Behausung gewesen sei, jetzt in die nasse, kalte Erde gelegt und dann ganz allein gelassen werde auf dem schweigenden Kirchhof. Sie wußte ganz genau, wie es dort aussah, denn an Sonntagnachmittagen führte der Pa sie manchmal hin, und im Frühjahr und Sommer gefiel es ihr sehr gut dort, aber heute an diesem frostigen, nassen Februartag mußte es recht trübselig aussehen. Einmal hatte sie weinen müssen über die vielen, vielen Gräber von kleinen Kindern; man sah's ihnen ja an, daß es Kindergräber waren, sie waren so winzig. Und da hatte ihr der Pa gesagt, sie brauche nicht zu weinen, denn die Seelen der Kinder seien jetzt im Himmel und ganz glücklich. Als sie ihn dann gefragt hatte, ob denn die Seele der Mutter auch im Himmel und ganz glücklich sei, da hatte sie keine Antwort bekommen, und darüber wunderte sie sich heute noch. Wenn's nicht der Pa gewesen wäre, der doch ganz groß und erwachsen war, so hätte Dot denken können, er verschlucke Thränen.
Sie hatten sich so furchtbar lieb, der einsame Mann und sein Kind, und obwohl sie genau wußten, wie weh die Armut thut, hätten sie ganz glücklich sein können, wenn nur »das eine« nicht gewesen wäre, aber dieses »eine« lag wie ein geheimnisvoller böser Dunst über Dots junger Seele und verkümmerte ihre Entfaltung. Es kam ihr manchmal vor, als ob sie zwei Pa hätte, einen lieben, herzensguten, der mitunter sogar lustig sein konnte, und einen andern – ach der andre, das war ja gar kein Pa!
»Ist denn dein Pa noch nicht auf?« fragte eine harte, aber gutmütige Stimme von der Thüre her. »Es wird gleich Zwölf schlagen! Geh' mal hinein und sieh nach ihm, das gehört sich für ein artiges Kind!«
»Pa wünscht nicht be-un-ruh't zu werden,« sagte Dot, über das von Pa erlernte, etwas schwierige Wort stolpernd.
Frau Lamb, die Hauswirtin, verschwand, indem sie einige unverständliche Worte in sich hinein brummte, und Dot widmete sich wieder der Außenwelt. Es regnete jetzt noch stärker; nur selten ließ sich ein Vorübergehender erblicken; sogar der Straßenkehrer an der Ecke war nach Hause gegangen. So war denn der Vormittag vorüber und Dot kletterte die vielen, vielen Stufen zu Frau Lambs Küche hinunter, wo sie in der Regel ihr Mittagsmahl einnahm.
»Ist denn dein Pa noch nicht auf?« fragte die würdige Dame abermals, jetzt in entschieden mißbilligendem Ton.
»Nein,« sagte Dot. »S'laft sich noch fest. Mich hat hineingeguckt.«
»Schlafen um diese Tageszeit! Ja, das kommt davon ...« bemerkte das naseweise Hausmädchen, ihren Kopf mit den gebrannten Haaren schüttelnd.
»Am Ende ist deinem Pa schlecht,« sagte Frau Lamb zu der Kleinen. »Wenn er nicht krank ist, sollte er sich schämen.«
Dot wurde dunkelrot; hastig kletterte sie von ihrem hohen Stuhl herunter, und bald darauf hörte man die kleinen Füßchen die Stufen hinauftrippeln.
»Wenn das unschuldige Kind nicht wäre,« erklärte Frau Lamb mit Märtyrermiene, sobald Dot außer Hörweite war, »heute noch thät' ich dem Dachstock kündigen, keine Nacht ließ' ich ihn mehr da. Wenn er mir wenig schuldig ist, ist's viel.«
»Der hat ja nur Geld für das, was er besser lassen thäte,« bemerkte die kleine Magd schnippisch. »Wenn mich einer fragen wollte, wie dem sein Geld aussieht, ich wüßt's wahrhaftig nicht!«
Mittlerweile hatte das Kind seinen Turm erstiegen und war leise in ihres Vaters Stube geschlichen. Er schlief noch immer.
Sie kauerte sich auf einem Stuhl an seinem Bett zusammen und sah ihn zärtlich an. Lange, lange saß sie so, bis der trübe Nachmittag in Dämmerung überging. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr viermal.
»Pa!« flüsterte sie endlich. »Pa!«
Dann zog sie ihn sanft und sachte am Haar, wie sie es häufig am Morgen that, um ihn aufzuwecken, aber er rührte sich nicht.
»Mein kleiner Pa,« flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr, »seist dich krank? Wach' doch auf und sprich mit kleiner Dot!«
Aber der Pa schlief und schlief.
Das Zimmer war eisig kalt. Dot zitterte vor Frost, als sie nun vollends aufs Bett kletterte, die Arme um Pas Hals schlang und ihr Mündchen an sein Ohr drückte.
»Pa! Pa!« – es klang wie verhaltenes Schluchzen – »Wach auf! Mich so allein ohne dich! Und kalt – so kalt.«
Auch der Pa mußte frieren. Das Gesicht, das die kleine Tochter jetzt küßte, war wenigstens erschreckend kalt, und die Hände wie Eis.
»Armer Pa!« sagte sie mitleidig. »Dich kalt im Schlaf, dich warm machen!«
Sie holte seinen Rock und deckte ihn damit zu, schob die eine Hand unter die ärmliche Bettdecke und suchte die andre zwischen ihren dünnen, halb erstarrten Fingerchen zu erwärmen.
Mit einem Mal überkam sie ein seltsames Angstgefühl und sie begann verzweifelt zu schluchzen.
»Pa – mein kleiner Pa – so allein ohne dich. Aufwachen, mein kleiner Pa, will mich haben ...«
Weinend und die immer steifer werdende Hand streichelnd, schlief sie endlich selbst ein. Ihre wirren Haare lagen über seinem Hals, und eine Locke fiel gerade über seine Lippen, aber kein Hauch bewegte sie.
Als Jocelyn gegen Abend nach Hause kam, traf er Frau Lamb auf der Treppe. Sie wischte sich die Augen mit dem reinlichsten Zipfel ihrer Schürze.
»Ach! Gott steh' uns bei! Herr Jocelyn! Da ist 'was Arges passiert, und wenn Sie nur die Güte haben wollten, hinaufzugehen und nach dem armen lieben Schäfchen von einem Kind zu sehen.«
»Nach was für einem Kind?« fragte Jocelyn, in dessen Seele gerade ein neues großes Kunstwerk keimte. »Ach, die kleine Dot? Wo steckt sie denn? Was ist denn los mit ihr?«
»Ach, Herr Jocelyn, die Sache ist nämlich die, daß sie ein Waislein ist,« versetzte Frau Lamb mit wehmütigem Kopfschütteln. »Ihren Vater hat's plötzlich ereilt und er liegt eiskalt und tot in seinem Bett. Und das Kind will ihn aufwecken,« fuhr sie schluchzend fort, »und zieht an seinen Augenlidern und will sie aufmachen – einen Stein müßt's erbarmen!«
»Großer Gott! Haben Sie nach einem Arzt geschickt?« fragte Jocelyn nun tief erschüttert.
»Freilich, freilich, er wird gleich da sein, aber das Kind von ihm wegbringen, das kann ich nicht!«
Jocelyn stürmte die Treppe hinauf, und der Anblick, der sich ihm in der Dachkammer bot, haftete bedeutend länger in seinem Gedächtnis, als angenehm war.
»Dot!« sagte er sanft, indem er sich bemühte, ein unbequemes Hindernis in seiner Kehle nicht zu beachten, »Komm' mit mir, Liebling, komm' in mein Zimmer, Dot. Wir haben ein gutes Feuer, und hier ist's kalt – komm'!«
Aber Dot schlug nur eine Sekunde die Augen zu ihm auf, dann schmiegte sich das Köpfchen wieder an die kalte Wange des stillen Mannes.
»Pa,« stöhnte sie verzweifelt, »o Pa, sie sagt, dich seist tot. Dich wärest doch nich' tot geworden, ohne deine kleine Dot vorher zu sagen – nich', Pa?«
Aber Pa blieb stumm.