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Orlando ging ins Haus. Es war vollkommen still. Es war ein sehr tiefes Schweigen. Da stand das Tintenfaß; da lag die Feder; da war das Manuskript ihres Gedichts, abgebrochen mitten in einer Huldigung der Ewigkeit. Sie hatte, als Basket und Bartholomew sie mit dem Teegeschirr störten, sagen wollen: nichts ändert sich. Und dann hatte sich in einem Zeitraum von drei und einer halben Sekunde alles geändert: sie hatte sich den Knöchel gebrochen, sich verliebt und Shelmerdine geheiratet.
Da war der Ehering an ihrem Finger, als Beweis. Gewiß, sie hatte ihn schon dahin gesteckt, bevor sie Shelmerdine traf, aber das hatte sich als ärger denn nutzlos erwiesen. Nun drehte sie ihn um und um, mit abergläubischer Ehrfurcht und behutsam darauf achtend, daß er nicht über das Fingergelenk rutschte.
»Der Trauring muß auf dem vierten Finger der linken Hand getragen werden«, sagte sie wie ein Kind, das artig seine Lektion wiederholt, »wenn er überhaupt irgendeinen Zweck haben soll.«
Sie sagte es laut und mit einer feierlichen Betonung, die ihr sonst fremd war: so, als sollte jemand sie hören, an dessen günstiger Meinung ihr gelegen war. Und in der Tat machte sie sich nun, da sie überhaupt wieder Gedanken sammeln konnte, Gedanken über den Eindruck, den ihr Verhalten auf den Geist der Zeit gemacht haben könnte. Es lag ihr ungeheuer viel daran, zu erfahren, ob die Schritte, die sie auf dem Wege zur Verlobung und zur Heirat mit Shelmerdine getan hatte, wohl seine Billigung fanden. Soviel war gewiß: sie fühlte sich jetzt mehr sie selbst. Seit jenem Abend auf der Heide hatte es in ihrem Finger nicht mehr gekribbelt; oder doch jedenfalls nicht nennenswert. Und doch konnte sie sich nicht verhehlen, daß sie ihre Zweifel hatte. Sie war verheiratet, ja; aber wenn der Ehemann immerzu rund um Kap Hoorn segelte: war das Ehe? Wenn man ihn gern hatte: war das Ehe? Wenn man auch andere Leute gern hatte: war das Ehe? Und schließlich: Wenn man auf der ganzen weiten Welt keinen größeren Wunsch hatte als den, Verse zu schreiben: war das Ehe? Sie hatte ihre Zweifel. Aber sie wollte die Probe aufs Exempel machen. Sie sah den Ring an. Sie sah das Tintenfaß an. Durfte sie es wagen –? Nein, sie durfte es nicht wagen. Aber sie mußte. Nein, sie konnte nicht. Was aber sollte sie denn tun? Ohnmächtig werden, wenn's möglich war. Aber sie hatte sich nie im Leben besser gefühlt.
»Hol's der Henker!« rief sie mit einem Anflug ihrer alten Feurigkeit. »Los geht's!«
Und sie tauchte die Feder bis an den Hals in die Tinte. Zu ihrer ungeheuren Überraschung gab es keine Explosion. Sie zog die Spitze heraus. Sie war feucht, aber sie tropfte nicht. Nun schrieb sie. Die Worte ließen sich ein bißchen Zeit mit dem Kommen, aber sie kamen. Ja, sie kamen – aber ergaben sie auch einen Sinn? fragte sie sich, und eine rasende Angst packte sie, daß die Feder womöglich wieder auf eigene Faust ihre Schelmentänze machen könnte. Sie las:
›– ein Feld betrat ich nun, darauf das sprießende Gras
durch Blütenkelche düster und fremd verdunkelt ward:
die Kaiserkrone war es, die schlangenhafte,
purpurn umgürtet, wie ägyptische Mädchen – –‹
Indessen sie dies schrieb, fühlte sie, daß irgendeine Macht (hier ist zu bedenken, daß wir es mit einer der dunkelsten Kundgebungen der menschlichen Seele zu tun haben) über ihre Schulter hinweg las; und als sie ›ägyptische Mädchen‹ geschrieben hatte, befahl die Macht ihr, innezuhalten. »›Gras‹«, sagte die Macht und fuhr mit einem Lineal zum Anfang der Zeilen hinauf, wie Erzieherinnen es tun, »›Gras‹ – das ist in Ordnung; ›Blütenkelche – Kaiserkrone‹ – bewundernswert; ›schlangenhaft‹ – klingt ein bißchen stark aus der Feder einer Lady, aber Wordsworth heißt es zweifellos gut; aber – ›Mädchen‹? Geht es nicht ohne Mädchen? Du hast einen Ehemann, der ums Kap fährt, sagt du, nicht? Aha, danke, dann weiß ich schon Bescheid.«
So redete er weiter, der Geist der Zeit.
Und Orlando neigte sich im Geiste (denn alles dies vollzog sich im Geiste) in tiefer Ehrfurcht vor dem Geist der Zeit; wenn man große Dinge mit kleinen vergleichen wollte, könnte man sagen: etwa so, wie es ein Reisender, auf dessen Gewissen ein in der Kofferecke verstecktes Zigarrenpaket lastet, vor dem Zollbeamten tut, der zuvorkommend sein Kreidegekritzel auf den Kofferdeckel gesetzt hat. Denn es war äußerst zweifelhaft, ob der Geist der Zeit, wenn er den Inhalt ihres Gehirns sorgsam durchsucht hätte, darin nicht irgendwelche höchst gefährliche Schmuggelware entdeckt und ihr dafür einen gehörigen Zoll mitsamt Strafe aufgebrummt haben würde. Sie war nur mit genauer Not entronnen. Sie hatte dem Geist der Zeit ein listiges Zugeständnis gemacht, indem sie einen Trauring aufsetzte und auf der Heide einen Ehemann fand, indem sie die Natur liebte und es weder mit der Satire noch mit dem Zynismus noch mit der Psychologie hielt (denn diese Konterbande wäre natürlich sofort entdeckt worden); so hatte sie es fertiggebracht, die Untersuchung erfolgreich zu bestehen. Und sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, wozu sie in der Tat Ursache hatte: denn was der Schriftsteller und der Geist der Zeit miteinander abzuhandeln haben, ist eine unendlich heikle Angelegenheit, und von einem hübschen Übereinkommen zwischen den beiden hängt das ganze Schicksal seiner Werke ab. Orlando hatte die Sache so geordnet, daß sie sich in höchst glücklicher Lage befand: sie brauchte weder gegen ihre Zeit zu kämpfen noch sich ihr zu unterwerfen; sie gehörte dazu und blieb doch sie selbst. Deswegen konnte sie nun schreiben; und das tat sie. Sie schrieb. Sie schrieb. Sie schrieb.
Das war im November. Auf November folgt Dezember. Dann Januar, Februar, März und April. Nach dem April kommt der Mai. Juni, Juli und August folgen. Der nächste Monat ist der September. Dann – Oktober; und siehe da: nun sind wir schon wieder beim November angelangt, und ein ganzes Jahr ist herum.
Diese Art, Lebensgeschichte zu schreiben, hat zwar ihre Verdienste, aber sie sieht vielleicht ein bißchen kahl aus, und der Leser könnte, wenn wir damit fortführen, mißvergnügt geltend machen, daß er seinen Kalender selber lesen und auf diese Weise seiner Tasche die Ausgabe der Summe, welche die Hogarth Press als Preis für dieses Buch angemessen findet, ersparen könnte. Aber was kann der Biograph tun, wenn der Gegenstand seiner Schilderung ihn in die Verlegenheit bringt, in die Orlando nun uns gebracht hat? Das Leben – darüber sind sich alle einig, deren Meinung gehört zu werden verdient – das Leben ist der einzig passende Stoff für den Romanschreiber wie für den Biographen; das Leben – so haben die gleichen Sachverständigen entschieden – besteht nicht darin, daß man still auf einem Stuhl sitzt und denkt. Damit hat es sogar nicht das mindeste zu tun. Denken und Leben sind polare Gegensätze. Still auf einem Stuhl – sitzen und denken – gerade das ist es aber, was Orlando jetzt tut; und deshalb bleibt uns nichts weiter übrig, als den Kalender herzusagen, einen Rosenkranz herunterzubeten, uns die Nase zu putzen, das Feuer zu schüren, aus dem Fenster zu gucken – bis sie fertig ist. Orlando saß so still da, daß man eine Nadel hätte fallen hören können. Ach, wenn doch wenigstens eine Nadel zur Erde gefallen wäre! Das wäre doch so etwas Ähnliches wie Leben gewesen. Oder wenn ein Schmetterling zum Fenster hereingeflattert wäre und sich auf ihre Stuhllehne gesetzt hätte; darüber hätte sich doch etwas schreiben lassen. Oder – nehmen wir einmal an: sie wäre aufgestanden und hätte eine Wespe getötet. Da hätten wir unverweilt unsere Feder zücken und loslegen können. Denn das bedeutete Blutvergießen – wenn es auch nur Wespenblut war. Wo Blut ist, da ist auch Leben. Und wenn das Töten einer Wespe auch, verglichen mit dem Töten eines Menschen, eine lächerliche Nichtigkeit ist, so kann der Romanschreiber oder der Biograph doch immer noch mehr damit anfangen als mit diesem Dahocken; diesem Grübeln; diesem Stillsitzen im Stuhl tagaus, tagein, mit einer Zigarette und einem Blatt Papier und einer Feder und einem Tintenfaß. Wenn doch nur unsere Helden, so möchten wir uns beklagen (denn unser Geduldsfaden ist am Zerreißen), mehr Rücksicht auf ihre Biographen nehmen wollten! Was kann einen Biographen mehr in Harnisch bringen, als mit ansehen zu müssen, wie sein Held, an den er so viel Zeit und Mühe verschwendet hat, ihm gänzlich aus den Fingern schlüpft und dem Denken und Phantasieren frönt? (Beweise –? Bitte, hört doch, wie Orlando seufzt und ächzt, seht doch, wie sie abwechselnd rot und blaß wird, wie ihre Augen bald strahlend hell wie Laternen, bald düster verstört wie Dämmerwolken sind!) Was könnte uns ärger demütigen, als mit ansehen zu müssen, wie diese ganze stumme Szene des Bewegt- und Erregtseins sich vor unseren Augen abspielt, wo wir doch ganz genau wissen, daß ihre Ursachen (nämlich Denken und Phantasie) ohne jeglichen wie auch immer gearteten Belang sind?
Aber Orlando war eine Frau – Lord Palmerston hatte es gerade eben nachgewiesen. Und wenn wir das Leben einer Frau schildern, so müssen wir wohl, darüber herrscht Übereinstimmung, auf die Forderung nach Taten verzichten und Liebe an deren Stelle setzen. Die Liebe, hat der Dichter gesagt, ist der Frauen ganzes Sein. Und wenn wir Orlando einen Augenblick betrachten, wie sie da am Tisch sitzt und schreibt, so müssen wir zugeben, daß nie eine Frau für dieses Geschäft besser taugen mochte als sie. Da sie eine Frau ist, und eine schöne Frau, und eine Frau in der Blüte des Lebens, so wird sie das Getue mit dem Schreiben und Denken ganz bestimmt bald aufgeben und schließlich an einen Wildhüter zu denken beginnen (und solange eine Frau an einen Mann denkt, hat ja kein Mensch etwas dagegen einzuwenden, daß sie denkt). Und dann wird sie ihm ein Briefchen schreiben (und solange eine Frau Briefchen schreibt, hat ja auch kein Mensch etwas dagegen einzuwenden, daß sie schreibt) und ihn zum Sonntag in der Dämmerung bestellen, und dann wird diese sonntägliche Dämmerung kommen; und der Wildhüter wird unter dem Fenster pfeifen – und all das ist natürlich im wahrsten Sinne das, was man ›das Leben‹ nennt, und der einzig mögliche Stoff für die Romanliteratur. Gewiß hat doch wohl auch Orlando etwas dergleichen getan? Leider – tausendmal müssen wir sagen: leider! – Orlando hat nichts dergleichen getan. Müssen wir denn also zugeben, daß Orlando eines jener Ungeheuer an Verworfenheit war, die nicht lieben? Sie war freundlich gegen Hunde, ehrlich gegen ihre Freunde, die verkörperte Großmut gegen ein Dutzend darbender Poeten, hatte eine Leidenschaft für die Dichtkunst. Aber die Liebe, wie die männlichen Romanschreiber sie verstanden wissen wollen – und wessen Stimme hat, recht bedacht, mehr Ansehen und Gewicht? – Liebe hat nicht das mindeste zu schaffen mit Freundlichkeit, Treue, Großmut und Dichtkunst. Liebe heißt, sich den Rock vom Leibe ziehen und – – Aber das wissen wir alle ja ohnehin. Hat Orlando das getan? Die Wahrhaftigkeit zwingt uns, zu sagen: Nein, hat sie nicht. Wenn nun aber der Gegenstand unserer biographischen Bemühungen weder lieben noch töten, sondern nur denken und phantasieren will, so dürfen wir daraus schließen, daß er (oder sie) genausogut tot sein könnte – und ihn (oder sie) lassen.
Nun bleibt uns nur noch eine Zuflucht: nämlich die, aus dem Fenster zu sehen. Da waren Spatzen; da waren Stare; da waren ein paar Tauben und eine oder zwei Krähen – alle miteinander auf ihre Art beschäftigt. Der eine findet einen Wurm, der andere eine Schnecke. Der eine flattert auf einen Zweig, der andere macht sich ein bißchen Bewegung auf dem Rasen. Dann geht ein Diener, der eine grüne Friesschürze trägt, über den Hof. Vermutlich ist er in einen Handel mit einer der Mägde in der Speisekammer verwickelt und deshalb unterwegs, aber da wir auf dem Hof keinen Beweis für diese Annahme zu erblicken vermögen, so können wir nur das Beste hoffen und die Sache auf sich beruhen lassen. Wolken ziehen vorüber, dünne und dicke, und richten drunten in der Farbe des Grases einige Unregelmäßigkeiten an. Die Sonnenuhr verzeichnet auf die ihr eigene geheimnisumwitterte Art die Stunde. Unsere Gedanken beginnen mit ein paar Fragen zu spielen, eitlen, vergeblichen Fragen: nach dem Leben. »Leben«, so singen sie – oder vielmehr: so summen sie wie ein Kessel am Haken über dem Feuer, »Leben, Leben, was bist du? Licht oder Finsternis, die grüne Friesschürze des niederen Dieners da draußen oder der Schatten des Stares da im Gras?«
Auf denn in diesen Sommertagen, wir wollen uns auf die Suche wagen und Pflaumenblüte und Biene befragen, die die Herzen aller erfreun. Und mit Zagen und Stocken fragen wir gar den munteren Star (er ist ein umgänglicherer Vogel als die Lerche), ob's ihm bekannt da auf dem Rand des Kehrichtkastens; das ausgekämmte Haar der Scheuermägde sieht man ihn picken zwischen den Flicken. »Was ist das: das Leben?« fragen wir, aufs Hofgitter gelehnt. »Das Leben! Leben! Leben!« ruft der gefiederte Gesell, als hört' er's schnell und wüßte genau, was wir meinen, wenn wir auf gewohnte Weise plagen und fragen, drinnen und draußen, spannen und spähen und nach Gänseblümchen sehen, wie es Schriftsteller so machen, wenn sie nicht weiter wissen im Text. »Dann kommen sie zu mir«, sagt der Vogel, »und fragen mich, was ›das Leben‹ ist. Das Leben! Leben! Leben!«
Ja, da wandern wir denn den Heidepfad hinan bis zur Stirnhöhe des weinblauen purpurdunklen Hügels und werfen uns da nieder und träumen und sehen einem Grashüpfer zu, der einen Halm in seine Höhle schleppt. Und er sagt (wenn wir seinem Gesäge einen so geheiligten und zarten Namen geben dürfen): »Leben ist Arbeit!« – wenigstens deuten wir das Geschwirr seiner staubverstopften Kehle so. Und es reden die Ameise und die Biene nach der gleichen Weise; aber wenn wir hier lange genug liegen bleiben, um die Nachtfalter zu fragen, die abends zwischen den blasseren Glockenblüten der Heide hervorkrauchen, so werden sie uns einen tollen Unsinn ins Ohr hauchen, wie man ihn beim Schneesturm aus Telegraphendrähten klingen hört: Hihi! haha! »Gelächter! Gelächter!« sagen die Nachtmotten.
Nun haben wir also Mensch und Vogel und Insekten befragt (denn die Fische, so sagen uns Leute, die jahrelang in grünen Höhlen gelebt haben, um sie sprechen zu hören, reden nie, niemals, und deshalb wissen sie vielleicht, was das ist: das Leben); haben sie alle gefragt und sind dadurch nicht klüger geworden, sondern nur älter und kälter (denn hatten wir nicht einst um ein Buch gefleht, darin zu beschließen geht, was so unumstößlich, so selten wär', daß es unschwer als der Sinn des Lebens zu beschwören wär?); dann heißt's zurück, und also müssen dem Leser gradheraus wir sagen, der beflissen zu erfahren wartet, was das Leben nun sei – daß wir das, leider, auch nicht wissen.
In diesem Augenblick, aber gerade eben noch zur rechten Zeit, um dieses Buch vor dem Untergang zu retten, stieß Orlando ihren Stuhl zurück, reckte die Arme, warf die Feder weg, ging ans Fenster und rief: »Fertig!«
Sie wurde beinahe zu Boden geschleudert durch den außergewöhnlichen Anblick, der sich ihren Augen bot. Da war der Garten, da waren ein paar Vögel. Die Welt ging ihren Gang wie immer. Während der ganzen Zeit, da Orlando geschrieben hatte, war die Welt wie immer ihren Gang gegangen.
»Und wenn ich tot wäre, würde es ganz genauso sein!« rief sie aus.
So groß und stark war dies Gefühl, daß sie sich sogar vorstellen konnte, sie hätte wirklich die irdische Auflösung erlitten; vielleicht hat auch in der Tat so etwas wie eine Schwäche sie ergriffen. Einen Augenblick stand sie da und starrte mit weitgeöffneten Augen auf das schöne, gleichgültige Bild. Schließlich wurde sie auf wunderliche Art aus der Erstarrung geweckt. Die Handschrift ihres Gedichts, die auf ihrem Herzen ruhte, begann hin- und herzuzucken und sich heftig zu regen, als wäre sie ein lebendes Wesen; und (was noch seltsamer war und ein beglückendes Verbundensein erwies) sie brauchte nur den Kopf zu neigen, um zu verstehen, was das Ding da an ihrem Herzen sagen wollte. Es wollte gelesen werden. Es mußte gelesen werden. Es würde an ihrer Brust sterben, wenn es nicht gelesen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben begehrte sie mit Heftigkeit gegen die Natur auf. Elchhunde und Rosenbüsche gab es rings um sie her im Überfluß. Aber Elchhunde und Rosenbüsche konnten nicht lesen. Hier hat die Natur eine beklagenswerte Unterlassung begangen, die Orlando noch niemals mit solcher Betroffenheit erkannt hatte. Nur menschlichen Wesen ist diese Gabe verliehen. Und menschliche Wesen brauchte Orlando jetzt. Sie klingelte. Sie befahl die Kutsche, um sogleich nach London zu fahren.
»M'lady werden gerade noch den Zug um 11 Uhr 45 erreichen«, sagte Basket. Orlando hatte von der Erfindung der Dampfmaschine bisher noch nicht Kenntnis genommen; aber sie war so ganz erfüllt und bewegt von den Qualen eines Geschöpfes, das zwar nicht sie selbst, aber doch ganz und gar auf sie angewiesen war, daß sie zum ersten Mal einen Eisenbahnzug sah, sich zum ersten Mal in einen Eisenbahnwagen setzte, sich die Reisedecke um die Knie legen ließ, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die ›erstaunliche Erfindung‹ zu wenden, die, wie die Geschichtsschreiber sagen, ›das Antlitz Europas in den letzten zwanzig Jahren völlig verwandelt hatte‹. (Was freilich sehr viel häufiger geschieht, als die Geschichtsschreiber annehmen.) Sie bemerkte lediglich, daß das Ding in höchstem Maße rußig war; daß es gräßlich ratterte und daß die Fenster klemmten. So wurde sie, in Gedanken verloren, in einer knappen Stunde nach London gerasselt, stand in Charing Cross auf dem Bahnsteig und wußte nicht, wohin.
Das alte Haus in Blackfriars, wo sie im achtzehnten Jahrhundert so viele köstliche Tage verbracht hatte, war nun verkauft, teils an die Heilsarmee, teils an eine Regenschirmfabrik. Sie hatte sich in Mayfair ein anderes gekauft, das ›gesund‹, ›bequem‹ und im Herzen der eleganten Welt gelegen war; aber war es denkbar, daß die Sehnsucht ihres Gedichtes in Mayfair gestillt werden konnte? ›Gütiger Himmel, nein‹, dachte sie, als sie sich die strahlenden Augen der Myladys und die untadeligen Beine der Lords vergegenwärtigte –: ›in Mayfair sind sie nicht aufs Lesen versessen. Das wäre auch ein wahrer Jammer.‹ Und dann war da Lady R.s Salon. Sie zweifelte nicht, daß darin noch immer nach der alten Weise weitergeredet würde. Vielleicht war die Gicht aus des Generals linkem Bein in das rechte übergesiedelt. Mr. L. hatte möglichenfalls einmal nicht bei T., sondern bei R. zehn Tage verbracht. Und dann kam Mr. Pope herein. Ach so, nein – Mr. Pope war ja tot. Wie mochten wohl jetzt die großen Geister heißen? – aber das war eine Frage, die man keinem Gepäckträger stellen konnte; also setzte Orlando sich in Bewegung. Nun drang ihr das Geklingel zahlloser Schellen auf den Köpfen zahlloser Pferde schmerzhaft in die Ohren. Eine ganze Flottille der wunderlichsten kleinen Kisten auf Rädern lag aufgereiht am Rande des Bürgersteigs. Sie ging zum Strand. Da war das Getümmel sogar noch ärger. Fahrzeuge aller Formen und Größen, gezogen von Vollblutpferden und von Karrengäulen, mit einer einzelnen vornehmen alten Dame darin oder bis obenhin vollgestopft von Männern mit Backenbärten und Seidenhüten, waren unentwirrbar gedrängt. Die Kutschen, Lastkarren und Omnibusse machten für Orlandos Augen, die so lange nur den Anblick eines blanken Blattes Schreibpapier gekannt hatten, den Eindruck, als wären sie in ein bedrohliches Geraufe verwickelt; und für ihre Ohren, auf das Kratzen einer Feder eingestellt, war der Straßenlärm ein heftiges und abscheuliches Mißgetön. Jeder Zoll des Straßenpflasters trug Menschengewimmel. Ströme von Menschen, die sich beim Ausweichen und in dem polternden Hin und Her des Wagenverkehrs mit unglaublicher Gelenkigkeit bewegten, flossen unaufhörlich nach Osten und Westen. Am Rand des Bürgersteiges entlang standen Händler mit Kästen voll Trödelkram und brüllten. An den Straßenecken saßen Frauen neben großen Körben voll Frühlingsblumen und schrien. Jungen rannten zwischen den Pferdenasen hinüber und herüber, preßten Bündel bedruckten Papiers an sich und schrien nicht minder: »Unglück! Unglück!« Zuerst meinte Orlando, sie wäre in einem für ihr Land irgendwie entscheidungsvollen Augenblick gekommen; ob es ein glücklicher oder ein tragischer war, vermochte sie freilich nicht zu sagen. Angstvoll sah sie den Leuten in die Gesichter. Aber davon wurde ihre Verwirrung nur schlimmer. Da kam zum Beispiel ein Mann daher, in Verzweiflung versunken, und murmelte vor sich hin, als brächte er schreckliche Trauerkunde. An ihm vorbei schob sich ein fetter Kerl mit fröhlichem Gesicht und bahnte sich mit kräftigen Schultern vergnügt den Weg, als wäre es ein Festtag für die ganze Welt. Schließlich kam Orlando zu dem Schluß, daß weder Sinn noch Verstand in alledem war. Jeder von diesen Menschen kümmerte sich nur um seine eigenen Angelegenheiten. Und sie –? Wohin sollte sie gehen?
Sie ging weiter, ohne einen klaren Gedanken, die eine Straße hinauf und die andere hinab, vorüber an gewaltigen Schaufenstern, in denen Handkoffer und Spiegel und Schlafröcke und Blumen und Angelgerätschaften und Frühstückskörbe in Stößen und Stapeln und Bündeln lagen; indessen Stoffe aller Farben und Muster, dicke Stoffe und dünne Stoffe, kreuz und quer und hin und her geschlungen und geknüpft und gebauscht waren. Zuweilen kam sie durch breite Straßen mit behäbigen Wohnhäusern, säuberlich mit Nummern versehen: 1, 2, 3, und so fort bis zwei- oder dreihundert, eines das getreue Abbild des anderen, mit zwei Säulen und sechs Stufen und sorgsam zurechtgezupften Vorhängen und hübsch gedeckten Frühstückstischen für die Familie; und aus dem einen Fenster guckte ein Papagei und aus dem anderen ein Diener; und das ging so fort, bis ihr ganz schwindelig war von all der Eintönigkeit. Dann kam sie auf große freie Plätze, und mittendrauf standen schwarze, blanke, straff zugeknöpfte Standbilder dicker Herren, sich bäumende Schlachtrosse, aufstrebende Säulen und niederfallende Springbrunnen, von Tauben umflattert. So wanderte und wanderte Orlando auf dem Pflaster zwischen den Häusern dahin, bis sie heftigen Hunger verspürte; und ein Geflatter an ihrem Herzen erinnerte sie vorwurfsvoll an etwas, das sie ganz vergessen hatte. Es war das Manuskript ›Der Eichbaum‹.
Scham über ihre Nachlässigkeit überwältigte sie. Und sie blieb stehen, wo sie stand. Nirgendwo war eine Droschke zu sehen. Die Straße, breit und von hübscher Stattlichkeit, war ungewöhnlich leer. Nur ein einzelner älterer Herr kam des Wegs. In seinem Gang war etwas, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Als er sich näherte, war sie überzeugt, daß sie ihm schon einmal irgendwo begegnet sein mußte. Aber wo? War es möglich, daß dieser Herr, dieser sorgsam gekleidete, wohlbeleibte, Behagen ausstrahlende Herr mit dem Stock in der Hand und der Blume im Knopfloch, mit dem rötlichen, rundlichen Gesicht und dem gepflegten weißen Schnurrbart – war es denn möglich, daß dies – – ja, beim Zeus, er war es! – ihr alter, ihr sehr alter Freund Nick Greene!
Im gleichen Augenblick bemerkte er sie; entsann sich ihrer; erkannte sie. »Lady Orlando!« rief er und schwenkte seinen Seidenhut bis beinahe in den Staub.
»Sir Nicholas!« rief sie.
Denn aus einem gewissen Etwas in seiner Haltung hatte sie wie durch Eingebung erkannt, daß der gemeine kleine Zeilenschinder, der zur Zeit der Königin Elisabeth sie und so manchen anderen geschmäht hatte, nun emporgestiegen war in der Welt und es sicherlich bis zum Ritter gebracht hatte, gar nicht zu reden von einem Dutzend anderer schöner Titel.
Durch eine zweite Verbeugung erkannte er an, daß ihr Schluß richtig war; er war Ritter, er war Literarum Doctor; er war auch Professor. Er war Verfasser von zwanzig Bänden. Er war, kurz gesagt, der einflußreichste Kritiker der Viktorianischen Zeit.
Ein heftiger Gefühlsaufruhr tobte in ihr, als sie dem Manne begegnete, der ihr vor Jahren soviel Schmerz angetan hatte. War es denkbar, daß dies der unleidliche, rastlose Bursche sein sollte, der Löcher in ihre Teppiche gebrannt, Käse im italienischen Kamin geröstet und von Marlowe und allen den anderen so lustige Geschichten erzählt hatte, daß sie in neun von zehn Nächten bis zum Sonnenaufgang beisammensaßen? Er trug jetzt einen tadellosen grauen Vormittagsanzug und dazu passende graue Schwedenhandschuhe – und im Knopfloch eine Nelke. Aber während sie noch stand und staunte, fragte er, mit einer abermaligen tiefen Verbeugung, ob sie ihm die Ehre erweisen wolle, mit ihm zu frühstücken? Die Verbeugung war vielleicht ein wenig übertrieben, aber als Nachahmung feiner Sitte doch löblich. Sie folgte ihm, des Staunens voll, in ein prachtvolles ›Restaurant‹, wo es lauter roten Plüsch, weiße Tischtücher und silberne Menagen zu sehen gab; das war den alten Tavernen und Kaffeehäusern mit ihrem sandbestreuten Fußboden, ihren Holzbänken, ihren Punsch- und Schokoladeschüsseln, ihren Flugschriften und Spucknäpfen so unähnlich wie nur möglich. Er legte seine Handschuhe sorgsam neben sich auf den Tisch. Noch immer konnte sie kaum glauben, daß dies derselbe Mensch war. Seine Nägel waren sauber; wo sie doch früher einen Zoll lang gewesen waren. Sein Kinn war rasiert; wo es doch früher einen schwarzen Stoppelbart getragen hatte. Er trug goldene Manschettenknöpfe; wo er doch früher ein ausgefranstes Leinenhemd in die Suppe gestippt hatte. Wahrhaftig, erst als er den Wein bestellt hatte – er tat es mit einer Sorgfalt, die Orlando an seine vor langer Zeit in Malmsey offenbarte Kennerschaft erinnerte –, war sie überzeugt, daß sie wirklich Nick Greene vor sich hatte. »Ah!« sagte er mit einem tiefen Seufzer, der doch von innigem Behagen zeugte, »ah, meine teure Lady, das große Zeitalter der Literatur ist vorüber. Marlowe, Shakespeare, Ben Jonson – das waren die Giganten der Dichtkunst. Dryden, Pope, Addison – das waren die Helden. Sie alle, alle sind nun tot. Und wen haben sie uns Heutigen gelassen? Tennyson, Browning, Carlyle!« Er stieß die Namen mit einem unsagbaren Maß von Verachtung hervor. »Aber es verhält sich eben so«, sagte er und goß sich ein Glas Wein ein, »daß alle unsere jungen Schriftsteller im Sold der Buchhändler stehen. Sie verzapfen jeden Schund, der dazu dient, ihnen ihre Schneiderrechnungen bezahlen zu helfen. Das Kennzeichen unseres Zeitalters«, sagte er und bediente sich mit Vorspeisen, »sind großtuerische Spiegelfechtereien und wilde Experimente. Weder das eine noch das andere hätte das Elisabethanische Zeitalter auch nur einen Augenblick geduldet.«
»Nein, meine liebe Lady«, fuhr er fort und genehmigte mit beifälliger Miene den gebackenen Steinbutt, für den der Kellner seine Billigung heischte, »das große Zeitalter ist vorüber. Wir leben in einer entarteten Zeit. Wir müssen die Werte der Vergangenheit hüten und pflegen und solche Schriftsteller ehren – es gibt immer noch ein paar davon –, die sich die hohe Überlieferung zum Vorbild nehmen und nicht um des Geldes willen schreiben, sondern nur – –« Hier hätte Orlando beinahe laut dazwischengerufen: »– – Glåhr zu ernten.« Sie hätte wahrhaftig darauf schwören mögen, daß sie ihn vor dreihundert Jahren haargenau dasselbe hatte sagen hören. Die Namen lauteten natürlich anders, aber der Sinn war derselbe. Nick Greene hatte sich nicht verändert, trotz all seiner Ritterlichkeit. Und doch: eine Veränderung war da. Denn indessen er redete – er sprach davon, daß man sich Addison zum Vorbild nehmen müsse (früher war es Cicero, dachte sie), und daß man morgens im Bette liegen (wozu ihn, wie sie sich mit Stolz sagte, das von ihr vierteljährlich gezahlte Ruhegeld in den Stand setzte) und die besten Werke unserer besten Schriftsteller mindestens eine Stunde lang immer und immer wieder auf der Zunge schmecken müsse, bevor man die Feder zur Hand nahm, um auf diese Weise die üble Roheit unseres Zeitalters und den beklagenswerten Zustand unserer Muttersprache läutern zu helfen (sie kam zu der Ansicht, daß er wohl lange Zeit in Amerika gelebt haben müsse) – indessen er solchermaßen redete, ganz genau wie der Greene vor dreihundert Jahren, hatte sie Muße, sich zu fragen: inwiefern er sich denn nun eigentlich gewandelt hatte? Er war rundlich geworden; aber er stand ja auch an der Schwelle der Siebzig. Er war geschmeidig glatt geworden: die Literatur hatte sich offenbar als eine lohnende Beschäftigung erwiesen; aber irgendwie schien es, als wäre seine alte, unrastige, unbehaglich rührige Lebendigkeit von ihm gewichen. Seine Geschichten funkelten von Witz, aber sie waren nicht mehr so unbekümmert und sorglos. Gewiß, noch immer erwähnte er alle zwei Sekunden seinen ›teuren Freund Pope‹ und seinen ›erlauchten Freund Addison‹, aber es war jetzt eine Atmosphäre von Achtbarkeit um ihn, die beklemmend war, und er unterrichtete sie jetzt augenscheinlich weit lieber darüber, was die Leute aus ihren eigenen Kreisen sagten und taten, als daß er ihr, wie früher, Skandalgeschichten über Dichter erzählte.
Orlando fühlte sich auf unerklärbare Art enttäuscht. In ihren Gedanken war die Literatur (und dafür müssen ihr zurückgezogenes Leben, ihr Rang, ihr Geschlecht als Entschuldigung dienen) in allen diesen Jahren etwas gewesen, das wild wie der Wind, heiß wie das Feuer, schnell wie der Blitz war; abenteuerlich, unberechenbar, jäh. Und siehe da: nun war die Literatur ein älterer Herr in grauem Anzug und redete über Herzoginnen. Ihre Enttäuschung war so groß und so heftig, daß irgendein Haken oder Knopf, der ihr Kleid oben zusammenhielt, aufsprang –: und auf den Tisch fiel ›Der Eichbaum. Eine Dichtung‹.
»Ein Manuskript!« sagte Sir Nicholas und setzte seinen goldenen Kneifer auf. »Wie interessant! Wie außerordentlich interessant! Gestatten Sie mir, einen Blick hineinzuwerfen!« So nahm Nicholas Greene nach ungefähr dreihundert Jahren abermals Orlandos Gedicht in die Hand. Er legte es zwischen die Kaffeetassen und Likörgläser und begann zu lesen. Diesmal aber lautete sein Urteilsspruch ganz anders als dereinst. Die Dichtung erinnerte ihn, sagte er im Blättern, an Addisons ›Cato‹. Sie hätte vorteilhafte Ähnlichkeit mit Thomsons ›Jahreszeiten‹. Und er wäre beglückt, sagen zu dürfen, daß kein Hauch des modernen Geistes darin zu spüren sei. Sie sei mit einer Ehrfurcht vor der Wahrheit, der Natur, der gebieterischen Sprache des menschlichen Herzens geformt, die in dieser Zeit der bedenkenlos tobenden Überspanntheit selten sei. Sie müsse natürlich sogleich veröffentlicht werden.
Orlando wußte wahrhaftig nicht, was er meinte. Sie hatte das Manuskript immer im Busenausschnitt ihrer Kleider mit sich herumgetragen. Die Vorstellung amüsierte Sir Nicholas nicht wenig.
»Wie aber ist es mit dem Honorar?« fragte er.
»Was ist das: Honorar?« fragte Orlando. Sie dachte an etwas ungemein Hohes und Ehrenvolles.
Sir Nicholas war höchlich ergötzt. Er habe, erläuterte er. damit andeuten wollen, daß die Herren X & Y (hier nannte er ein bekanntes Verlagshaus) das Buch sicherlich, wenn er ihnen eine Zeile schriebe, mit dem größten Vergnügen zur Subskription auflegen würden. Er könnte wahrscheinlich eine Tantieme von 10 Prozent für das Stück bei einer Auflage bis zu 2 000 erwirken; für alle weiteren Auflagen 15 Prozent. Ja, und die Kritiker – da würde er selbst eine Zeile an Mr. Z. schreiben; das wäre der einflußreichste; na, und einige schmeichelhafte Worte – mit ein paar hübschen Waschzettelredensarten über ihre Gedichte – an Mrs. W., die Gattin des Herausgebers vom *** – – das würde bestimmt nicht schaden. Und einen Besuch würde er machen – – So redete und redete er. Orlando verstand kein Wort von alledem und traute auch aus alter Erfahrung seiner guten Absicht nicht recht; aber es blieb ihr ja nichts anderes übrig, als einverstanden zu sein mit dem, was offenbar sein Wunsch und das glühende Verlangen des Gedichtes selbst war. Also faltete Sir Nicholas das blutbefleckte Heft handlich zusammen und steckte es, sorgsam geglättet, in die Brusttasche, damit es den Sitz seines Rockes nicht beeinträchtigte; worauf sie sich mit vielen gegenseitigen Höflichkeitsbezeigungen trennten.
Orlando wanderte die Straße hinauf. Und nun, da das Gedicht fort war und sie auf der Brust, wo sie es immer getragen hatte, eine leere Stelle fühlte, blieb ihr nichts anderes mehr zu tun übrig, als nach Belieben über irgend etwas nachzudenken: zum Beispiel über die außerordentlichen Möglichkeiten des menschlichen Schicksals. Da ging sie nun in der St. James's Street, eine verheiratete Frau; mit einem Trauring auf dem Finger; wo einst ein Kaffeehaus gestanden hatte, war nun ein ›Restaurant‹; es war ungefähr halb drei Uhr nachmittags; die Sonne schien; da waren drei Tauben, ein Terrierbastard, zwei Hansoms und eine Kalesche zu sehen. Was nun also war das Leben? Jäh kam ihr der Gedanke in den Sinn (wenn nicht etwa der alte Greene irgendwie die Ursache war). Und es mag zur Ausdeutung ihrer Beziehungen zu ihrem bei Kap Hoorn befindlichen Gatten dienen (und zwar ungünstig oder günstig, ganz wie der Leser will), daß sie immer, wenn ihr ein Gedanke in den Kopf sprang, stracks zum nächsten Telegraphenamt ging und ihm ein Telegramm schickte. Es fügte sich, daß eines ganz in der Nähe war. ›Du mein Gott, Shel‹, drahtete sie, ›Leben Literatur Greene hetue …‹, hier ging sie zu einer Geheimsprache eigener Erfindung über, die sie miteinander vereinbart hatten, so daß ein ganzer Gemütszustand von höchst verwickelter Beschaffenheit in einem oder zwei Worten untergebracht werden konnte, ohne daß der Telegraphenbeamte irgendwie daraus klug wurde; und sie fügte die Worte ›Rattigan Glumphoboo‹ hinzu, die den Bericht auf das genaueste vervollständigten. Denn nicht nur, daß die Ereignisse dieses Vormittags einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatten – es kann auch der Aufmerksamkeit des Lesers nicht entgangen sein, daß Orlando ein erwachsener Mensch wurde (was nicht immer gleichbedeutend mit ›ein besserer Mensch‹ ist); und ›Rattigan Glumphoboo‹ umschrieb einen höchst verwickelten Geistes- und Gemütszustand, den der Leser fraglos auf eigene Faust ermitteln kann, wenn er seine ganze Geisteskraft in unseren Dienst stellt.
Es mußten mehrere Stunden vergehen, bis eine Antwort auf ihr Telegramm eintraf; auch herrschte wahrscheinlich (so dachte sie und blickte zum Himmel empor, wo in den oberen Luftschichten die Wolken rasch dahinflogen) ein Sturm bei Kap Hoorn, so daß man annehmen durfte, daß ihr Gatte auf der Mastspitze saß oder daß er zerschlagene Spieren kappte, wenn er nicht etwa gar einsam mit einem Schiffszwieback in einem Boot saß. So verließ sie denn das Postamt und ging, um sich die Zeit zu verkürzen, in den nächsten Laden; einen Laden, der für uns Heutige so alltäglich ist, daß wir uns eine Beschreibung sparen können, für Orlandos Augen aber über die Maßen seltsam war: einen Laden nämlich, wo man Bücher verkaufte. Ihr ganzes Leben lang war Orlando mit Manuskripten vertraut gewesen; sie hatte die groben braunen Blätter in den Händen gehalten, die mit Spensers kritzeliger kleiner Schrift bedeckt waren: sie hatte Shakespeares und Miltons Handschrift gesehen. Auch besaß sie eine stattliche Anzahl von Quart- und Foliobänden, oft mit einem Sonett zu ihrem Preise und zuweilen auch mit einer Haarlocke darin. Aber die zahllosen kleinen Bände, einander ähnlich wie Eier, blank, für den Tag geboren (denn sie waren anscheinend in Pappdeckel gebunden und auf Seidenpapier gedruckt), waren für sie eine außerordentliche Überraschung. Shakespeares ›Sämtliche Werke‹ kosteten eine halbe Krone und konnten in einer Tasche Platz finden. Lesen konnte man sie allerdings kaum, so klein war der Druck; aber ein Wunder war es trotzdem. ›Werke‹ – die Werke aller Schriftsteller, die sie kannte, und vieler, von denen sie nie gehört hatte, standen in langen Reihen auf langen Regalen. Auf Tischen und Stühlen waren weitere ›Werke‹ gestapelt und getürmt; und zwar waren das, wie sie bei flüchtigem Blättern sah, vielfach Werke über andere Werke; als Verfasser zeichneten Sir Nicholas und zwanzig andere, die, wie sie in der Einfalt ihres Herzens meinte, wohl ebenfalls große Schriftsteller sein mußten: denn sie waren ja gedruckt und gebunden. So gab sie dem Buchhändler einen erstaunlichen Auftrag – nämlich: ihr alles von irgendwelcher Bedeutung, das der Laden aufzuweisen hatte, zu senden; und ging.
Sie begab sich in den Hyde Park, der ihr von alters her bekannt war (unter jenem gespaltenen Baum war, sie entsann sich genau, der Herzog von Hamilton, durchbohrt von Lord Mohuns Degen, zusammengebrochen), und ihre Lippen, die schon oft Anlaß zu Tadel gegeben haben, begannen die Worte ihres Telegramms zu einem sinnlosen Singsang zu formen: Leben Literatur Greene hetue Rattigan Glumphoboo; so daß mehrere Parkwächter sie argwöhnisch betrachteten und nur durch das Perlenhalsband, das sie trug, zu einer günstigen Ansicht über ihre geistige Gesundheit gebracht wurden. Sie hatte sich aus dem Buchladen einen Packen Kritikzeitschriften und sonstige Blätter mitgebracht; schließlich warf sie sich unter einem Baum nieder, stützte sich auf den Ellbogen, breitete die Hefte rings um sich her aus und gab sich redliche Mühe, die edle Kunst der Prosaformung, wie diese Meister sie übten, bis zum Grunde auszuloten. Denn noch immer lebte in ihr die alte Glaubenswilligkeit; sogar der verschmierte Druck eines Wochenblattes hatte in ihren Augen etwas Geheiligtes. So las sie denn, auf den Ellbogen gestützt, einen Aufsatz von Sir Nicholas über die Gesammelten Werke eines Mannes, den sie dereinst gekannt hatte: John Donne. Aber sie hatte sich, ohne es zu merken, nicht weit vom Serpentine niedergelassen. Das Bellen von tausend Hunden klang ihr in die Ohren. Rundherum sausten unablässig Kutschenräder. Blätter säuselten über ihr. Von Zeit zu Zeit streiften ein mit Borten besetzter Rock und ein Paar straffer scharlachfarbener Hosenbeine wenige Schritte von ihr entfernt durch das Gras. Einmal bumste ein riesiger Gummiball auf ihre Zeitschrift. Violette, gelbrote, rote und blaue Lichter drangen durch die Laublücken und sprühten Funken in dem Smaragd an ihrem Finger. Sie las einen Satz und blickte zum Himmel empor; sie blickte zum Himmel empor und sah wieder in ihr Heft. Leben –? Literatur –? Läßt sich das eine in das andere verpflanzen? Ja – aber wie entsetzlich schwer ist das! Denn – hier kam ein Paar straffer scharlachfarbener Hosenbeine – wie hätte Addison das ausgedrückt? Hier kamen zwei Hunde auf den Hinterbeinen dahergetanzt. Wie hätte Lamb das geschildert? Denn wie sie nun Sir Nicholas und seine Freunde las (was sie in den Pausen des Umherblickens tat), bildete sich bei ihr irgendwie der Eindruck – – hier stand sie auf und ging weiter – – es war einem dabei zumute – und zwar war das ein höchst unbehagliches Gefühl –, als dürfe man niemals, niemals sagen, was man dachte. (Sie stand am Ufer des Serpentine. Das Wasser war bronzefarben; spinnendünne Boote schnellten von Ufer zu Ufer.) Man bekam dabei das Gefühl, so sann sie weiter, daß man immer, immer schreiben mußte, als wäre man irgendweranders. (Ihre Augen füllten sich mit Tränen.) Denn wahrhaftig, so dachte sie und stieß ein kleines Boot mit der Fußspitze vom Ufer (und hier stand ihr der ganze Aufsatz von Sir Nicholas vor Augen, wie es mit solchen Aufsätzen zehn Minuten nach dem Lesen geht, dazu sein Arbeitszimmer, sein Kopf, seine Katze, sein Schreibtisch und die Tageszeit der Arbeit) – ›wahrhaftig‹, so dachte sie, indessen sie den Aufsatz unter diesem Gesichtspunkt betrachtete, › ich könnte nicht in einem Arbeitszimmer sitzen – nein, es ist ja kein Arbeitszimmer, es ist so eine Art von schlechtgelüftetem Salon: den ganzen Tag in einem solchen Raum sitzen und mit netten jungen Leuten reden und ihnen Anekdötchen erzählen (die sie für sich behalten müssen), was Tupper über Smiles gesagt hat; und dann‹, fuhr sie fort und weinte bitterlich: ›sie sind alle so – männlich‹; und dann: ›ich finde Herzoginnen scheußlich; und ich mag keinen Kuchen; und wenn ich auch boshaft bin – so boshaft zu sein, würde ich niemals lernen: wie kann ich da Kritikerin werden und die beste englische Prosa meines Zeitalters schreiben?‹ »Den ganzen Kram soll der Teufel holen!« rief sie und versetzte einem der Pennydampfer einen so heftigen Tritt, daß das arme Fahrzeug beinahe in den bronzefarbenen Wogen versank.
Nun verhält es sich ja folgendermaßen: Wenn man – wie die Pflegerinnen es nennen – einen ›Zustand‹ gehabt hat (und Orlando hatte noch immer die Augen voll Tränen), so wandelt sich das Ding, das man gerade betrachtet, zu einem anderen, einem größeren und viel bedeutsameren Ding und bleibt doch dasselbe. Wenn man in solcher Verfassung den Serpentine betrachtet, so werden seine Wellen alsbald genausogroß wie die des Atlantischen Ozeans; die Spielzeugboote sind nicht mehr von Ozeandampfern zu unterscheiden. So nahm denn auch Orlando irrtümlicherweise das Spielzeugboot für die Brigg ihres Gatten: und die Welle, die sie mit ihrem Fuß verursacht hatte, für ein Wassergebirge bei Kap Hoorn; und als sie sah, wie das kleine Boot das Plätscherwellchen erklomm, meinte sie Bonthrops Schiff einen gläsernen Wellenberg erklimmen zu sehen; höher und höher stieg es, und ein weißer Wogenkamm, der tausend Tode barg, wölbte sich über ihm; und durch die tausend Tode fuhr es und verschwand – – »Es ist untergegangen«, schrie sie laut in Todesangst – und dann, siehe da, war es wieder aufgetaucht und segelte sicher und wohlbehalten inmitten der anderen Segel auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans.
»Entzückung!« rief sie. »Entzückung! – Wo ist das Postamt?« fragte sie. »Denn ich muß sofort Shel telegraphieren und ihm sagen – –« Und indessen sie immer umschichtig »ein Spielzeugboot auf dem Serpentine« und »Entzückung« vor sich hin sagte (die beiden Gedanken waren nämlich austauschbar und bedeuteten ganz und gar dasselbe), ging sie eilenden Schrittes zur Park Lane.
»Ein Spielzeugboot, ein Spielzeugboot, ein Spielzeugboot«, wiederholte sie und nötigte so sich selbst zur Erkenntnis der Tatsache, daß nicht den Aufsätzen Nick Greenes über John Donne und nicht dem Achtstundentag und nicht Verträgen und nicht der Fabrikgesetzgebung Wichtigkeit zukommt; »wichtig ist etwas ganz anderes; etwas Nutzloses, Plötzliches, Heftiges; etwas, das ein Leben kostet; etwas Rotes, Blaues, Purpurnes; ein jähes Aufschnellen; ein Spritzfleck; so wie die Hyazinthen da« (sie kam gerade an einem schönen Beet vorbei); »frei von Makel, Abhängigkeit, Befleckung des Menschseins und Sorge für die eigene Art; etwas Tollköpfiges, Lächerliches, wie Bonthrop, meine Hyazinthe – ich wollte sagen: mein Mann; das ist wichtig – ein Spielzeugboot auf dem Serzentine, Entzückung – jawohl, Entzückung ist wichtig.« So sprach sie laut mit sich selbst, indessen sie am Stanhope Gate wartete, bis der Wagenstrom sie über die Straße ließ – denn wenn man einen Mann hat und nur in der Zeit mit ihm lebt, da der Wind abgefallen ist, so hat das zur Folge, daß man in der Park Lane mit lauter Stimme Unsinn redet. Hätte sie das ganze Jahr über mit ihm gelebt, wie Königin Victoria es ihren Untertanen anempfahl, so wäre es zweifellos anders gewesen. So aber traf der Gedanke an ihn sie jedesmal wie ein Blitz. Sie fand es unbedingt notwendig, sogleich und auf der Stelle mit ihm zu sprechen. Es war ihr vollkommen gleichgültig, was für ein Unsinn dabei herauskommen konnte und was für ein Durcheinander sie möglichenfalls damit in unserer Geschichte anrichtete. Nick Greenes Aufsatz hatte sie in den Abgrund der Verzweiflung gestürzt; das Spielzeugboot hob sie auf den Gipfel der Freude. Deshalb sagte sie immer wieder »Entzückung, Entzückung«, während sie darauf wartete, über die Straße gehen zu können.
Aber der Verkehr war an jenem Frühlingsnachmittag stark und zwang sie, lange Zeit dazustehen und ›Entzückung, Entzückung, Entzückung‹ oder ›ein Spielzeugboot auf dem Serpentine‹ zu sagen: während alles, was in England Geld und Macht besaß, statuenhaft ehern, in Hut und Mantel, in Vierspännern, Viktoriachaisen und Kaleschen vor ihr auffuhr. Es war, als wäre ein goldener Fluß geronnen und hätte sich in goldenen Blöcken auf der Park Lane gestaut. Die Damen hielten Besuchskartentäschchen in den Händen; die Herren hatten Spazierstöcke mit goldenen Krücken zwischen die Knie geklemmt. Orlando stand da, staunend, voller Bewunderung, von Ehrfurcht ergriffen. Nur ein einziger Gedanke beunruhigte sie; er ist allen vertraut, die jemals mächtige Elefanten oder Wale von unglaublicher Größe betrachtet haben, und der ist: Wie pflanzen diese Leviathane, denen doch offenbar Anstrengung, Veränderung und lebhafte Bewegung so zuwider sind, ihre Art fort? Vielleicht, so dachte Orlando und betrachtete die stolzen, reglosen Gesichter, ist für sie die Zeit der Fortpflanzung vorüber; vielleicht ist dies die Frucht; dies die Vollendung. Was sie hier nun sah, war das Sieggepränge eines Zeitalters. Da saßen sie, stattlich und glanzvoll. Nun aber ließ der Verkehrspolizist die Hand sinken; der Strom kam wieder in Fluß, die dichte Zusammenballung glanzvoller Erscheinungen bewegte sich, zerstreute sich und verschwand in Richtung auf Piccadilly.
Also überquerte Orlando die Park Lane und ging zu ihrem Haus in der Curzon Street, wo sie, wenn die Spierstauden blühten, sich an den Ruf des Brachvogels erinnert fühlte und an einen sehr alten Mann, der eine Flinte trug.
Sie konnte sich auch, so meinte sie, als sie über die Haustürschwelle trat, daran erinnern, was Lord Chesterfield gesagt hatte – aber ihre Erinnerung wurde jäh angehalten. Die Halle, vornehm im Stil des achtzehnten Jahrhunderts ausgestattet – sie sah deutlich vor sich, wie Lord Chesterfield darin ablegte, hier seinen Hut, dort seinen Überrock, mit einer Eleganz der Haltung, die zu beobachten ein Vergnügen war –, die Halle war nun ganz und gar übersät mit Paketen. Während sie im Hyde Park saß, hatte der Buchhändler ihren Auftrag ausgeführt, und das Haus war vollgestopft – sogar die Treppe herunter kamen die Pakete gerutscht – mit dem gesamten Schrifttum des Viktorianischen Zeitalters, in graues Papier gepackt und säuberlich mit Bindfaden verschnürt. Sie brachte so viele von den Paketen, wie sie tragen konnte, in ihr Zimmer und ließ die anderen von der Dienerschaft hinterdrein schaffen; so daß sie, hastig zahllose Bindfäden durchschneidend, bald von zahllosen Bänden umgeben war.
Orlando, die nur die kleinen Literaturen des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts kannte, war über die Folgen ihres Auftrages wahrhaft entsetzt. Denn natürlich war für die Menschen des Viktorianischen Zeitalters der Begriff ›viktorianische Literatur‹ nicht gleichbedeutend mit vier großen, deutlich abgehobenen und vereinsamten Namen, sondern er bedeutete: vier große Namen versenkt und eingebettet in eine Flut von Alexander Smiths, Dixons, Blacks, Milmans, Buckles, Taines, Paynes, Tuppers, Jamesons – und alle miteinander waren sie bedeutend, volltönend und mit Lärm verbunden, und jeder von ihnen verlangte genausoviel Beachtung wie jeder andere. Orlandos Ehrfurcht vor dem Gedruckten bekam hier eine harte Nuß zu knacken; aber sie zog ihren Stuhl ans Fenster, um zu nutzen, was irgend an Licht zwischen den hohen Häusern Mayfairs hindurch zu ihr hereindringen wollte, und versuchte zu einem Schluß zu kommen.
Nun ist es klar, daß es nur zwei Wege gibt, um über die Literatur des Viktorianischen Zeitalters zum Schluß zu kommen. Der eine besteht darin, daß man sechzig Bände im Oktavformat darüber zusammenschreibt; der andere darin, daß man sie in sechs Zeilen von der Länge der hier verwendeten zusammenquetscht. Haushälterische Erwägungen (denn unsere Zeit geht zur Neige) veranlassen uns, von diesen beiden Wegen den zweiten zu wählen: und das wollen wir nun also tun. Orlandos erster Schluß, nachdem sie ein halbes Dutzend Bände aufgeschlagen hatte, war, daß sich nicht eine einzige Widmung an einen Edelmann darunter befand und daß das höchst seltsam war; ihr zweiter (nachdem sie einen gewaltigen Stoß Memoirenbücher durchgeblättert hatte), daß mehrere von diesen Schriftstellern Stammbäume besaßen, die tatsächlich bis zur halben Höhe ihres eigenen reichten; der dritte, daß es in höchstem Maße unklug wäre, eine Zehnpfundnote um die Zuckerzange zu wickeln, wenn Miß Christina Rossetti zum Tee kam; der vierte (hier kam ein halbes Dutzend Einladungen, Hundertjahrfeiern durch Festessen zu begehen), daß die Literatur, wenn sie alle diese Festschmäuse aß, sehr beleibt werden mußte; der fünfte (sie wurde zu zwei Dutzend Vorträgen über den Einfluß von diesem auf jenes, über die Renaissance des Klassizismus, über die Romantik in der Jetztzeit und über andere Themen ähnlich verlockender Art eingeladen), daß die Literatur, wenn sie alle diese Vorlesungen belegte, sehr trocken werden mußte; der sechste (hier wohnte sie einem Empfang bei, den eine Pairsgattin gab), daß die Literatur, wenn sie alle diese Pelzkragen trug, sehr respektabel werden mußte; der siebente (hier besuchte sie Carlyles schalldichtes Zimmer in Chelsea), daß das Genie, wenn es aller dieser Verzärtelung bedurfte, sehr zart und empfindlich werden mußte; und so gelangte sie schließlich zu ihrem letzten und endgültigen Schluß, der von der höchsten Bedeutsamkeit war, den wir aber, da wir unsere selbstgesetzte Grenze von sechs Zeilen bereits stark überschritten haben, hier übergehen müssen.
Orlando stand, nachdem sie zu diesem Schluß gekommen war, geraume Zeit am Fenster und blickte hinaus. Denn wenn man zu einem Schluß gekommen ist, so ist das ganz genauso, als hätte man einen Ball über das Netz geschlagen und müßte nun warten, bis der unsichtbare Gegenspieler ihn zurückbringt. Was würde, so fragte sie sich gespannt, aus dem farblosen Himmel über Chesterfield House als nächstes zu ihr herabgesandt werden? Und mit gefalteten Händen stand sie geraume Zeit erwartungsvoll da. Plötzlich erschrak sie – und hier haben wir nur den innigen Wunsch, daß, wie bei einem früheren Anlaß, Reinheit, Keuschheit und Bescheidenheit die Tür öffnen und uns wenigstens eine Atempause verschaffen möchten, in der wir uns überlegen können, in welcher Umhüllung wir das, was nun mit allem schuldigen Zartgefühl des echten Biographen berichtet werden muß, dem Leser darbieten können. Aber nein! Nachdem das weiße Kleidungsstück, das sie nach der nackten Orlando geworfen hatten, um mehrere Zoll zu kurz gefallen war, hatten die drei Damen diese vielen Jahre jeglichen Verkehr mit ihr aufgegeben und waren nun anderweitig in Anspruch genommen. Wird denn nun aber an diesem bleichen Märzmorgen nichts, gar nichts, sei es, was es sei, geschehen, um diese unableugbare Begebenheit abzuschwächen, zu verschleiern, zu verdecken, zu verhehlen, zu verhüllen? Denn als Orlando den jähen, heftigen Schreck bekommen hatte, geschah es – aber Gott sei Dank! gerade in diesem Augenblick begann draußen eine jener gebrechlichen, schnarrenden, ruckhaft quäkenden, altmodischen Drehorgeln zu spielen, die zuweilen noch von italienischen Leierkastenmännern in abgelegenen Gassen betätigt werden. Nehmen wir dieses dazwischentretende Ereignis, so armselig es ist, hin, als wäre es die Musik der Sphären, und gestatten wir ihm, pustend und stöhnend diese Buchseite mit Klang zu füllen, bis der Augenblick kommt, dessen Kommen ableugnen zu wollen unmöglich ist; den der Diener hat kommen sehen und die Magd und auf dessen Anblick sich auch der Leser gefaßt machen muß; denn auch Orlando selbst ist ganz offenbar außerstande, davor jetzt noch die Augen zu verschließen – lassen wir die Drehorgel tönen und uns von dannen tragen auf sinnenden Gedanken. Solches Sinnen ist, wenn Musik ertönt, wie ein kleines Schiff, das auf den Wellen tanzt; kein Fahrzeug ist schwerer zu steuern, keines führt zu ungewisserem Ziel: und es trägt uns über die Dächer und die Hinterhöfe, in denen Wäsche hängt, nach – ja, wo sind wir denn nun? Erkennt ihr das Paradies im Grünen und den Spitzturm in der Mitte, erkennt ihr das Tor mit den schlafenden Löwen zu beiden Seiten? Wahrhaftig, ja, es ist Kew! Und Kew ist uns gerade recht. So sind wir denn also in Kew, und ich will euch heute (wir schreiben den 2. März) unter dem Pflaumenbaum eine Traubenhyazinthe und einen Krokus zeigen, dazu eine Knospe am Mandelbaum; so daß man beim Spazierengehen an Zwiebeln denken muß, haarige, rote Zwiebeln, die im Oktober in die Erde gesteckt wurden, und die nun blühen; so daß man mehr Träume spinnen muß, als hier mit ordentlichen Worten ausgedrückt werden kann, und sich eine Zigarette oder auch eine Zigarre aus der Dose nimmt und sich einen Mantel unter einer Eiche ausbreitet, um da zu sitzen und auf den Eisvogel zu warten, der, so wird behauptet, hier eines Abends gesehen wurde, wie er von Ufer zu Ufer flog.
Wartet nur! Wartet! Der Eisvogel kommt; der Eisvogel kommt nicht.
Betrachtet inzwischen die Fabrikschornsteine und ihren Rauch; betrachtet die Angestellten aus der Stadt, die in ihren Rennbooten vorüberflitzen. Betrachtet die alte Dame, die ihren Hund ausführt, und das Dienstmädchen, das seinen neuen Hut zum ersten Male ein bißchen schräg aufgesetzt hat. Betrachtet sie alle. Der Himmel in seiner Gnade hat es freilich so gefügt, daß die Geheimnisse aller Herzen verborgen sind, damit wir in alle Ewigkeit dazu verlockt werden, etwas zu vermuten, das es vielleicht gar nicht gibt; und dennoch: ja, durch den Rauch unserer Zigarette sehen wir aufleuchten und uns grüßen die herrliche Erfüllung natürlichen Verlangens nach einem Hut, nach einem Boot, nach einer Ratte im Abzugsgraben; wie wir dereinst leuchten sahen – so wunderliche Hopser und Sprünge machen die Gedanken, wenn sie an einem solchen Tag über den Rand schwappen und ein Leierkasten spielt – wie wir dereinst in der Nähe Konstantinopels vor den Minaretts ein Feuer aufleuchten sahen auf einem Felde.
So sei denn gepriesen, natürliches Verlangen! Sei gepriesen. Glück, göttliches Glück! und Lustbarkeit aller Arten, Blumen und Wein, wenn auch die Blumen welken und der Wein trunken macht; seid gepriesen, ihr billigen Sonntagsfahrkarten aus London heraus ebenso wie der Hymnengesang vom Tod in einer dunklen Kapelle, und überhaupt alles, was uns Urlaub und Erlösung verschafft vom Schreibmaschinentippen, Briefeordnen und vom Schmieden jener Glieder und Ketten, die das Imperium zusammenhalten. Seid sogar ihr gepriesen, ihr grobgeschminkten roten Lippenbögen in Ladenmädchengesichtern (die ihr ausseht, als hätte Cupido, ungeschickt genug, den Daumen in rote Tinte gestippt und im Vorbeilaufen rasch einen Klecks geschmiert). Sei gepriesen, Glück! Eisvogel, der von Ufer zu Ufer flitzt, und alle Erfüllung natürlichen Verlangens, magst du nun sein, was du nach der Behauptung männlicher Romanschreiber sein sollst; oder Gebet; oder Leugnung; sei gepriesen! in welcher Form du auch immer kommen magst, und mögest du in noch mehr Formen kommen, und in noch seltsameren! Denn dunkel fließt der Strom, aber trüber noch und ärger ist unser alltägliches Geschick; ohne Träume, regsam, glatt, geläufig, voll Üblichkeit, unter Bäumen, deren olivgrüner Schatten das Schwingenblau des verschwindenden Vogels verschluckt, wenn er jäh von Ufer zu Ufer flitzt.
So sei denn gepriesen, Glück; ihr aber sollt nicht gepriesen sein, ihr Träume, die ihr nach Stunden des Glückes das scharfumrissene Bild auftreibt wie fleckige Spiegel in ländlichen Gaststuben unser Gesicht; die ihr alles zersplittert und uns Menschen auseinanderreißt und uns verwundet und in die Einsamkeit stoßt, nachts, wenn wir so gern schlafen möchten; ja, schlafen, schlafen, so tief, daß alle Form zu Staub von unendlicher Weichheit zermahlen, zu Wasser von unergründlich dunkler Tiefe zerschmolzen wird: und da liegen wir, auf dem Grunde des Schlafs, das Gesicht im Sand, eingehüllt, verborgen, wie eine Mumie, wie eine Nachtmotte.
Aber wartet noch! wartet! wir werden diesmal noch nicht an der düsteren Küste landen. Denn blau, wie in tiefster Pupille aufflammender Zündschnurblitz, fliegt er, brennt er, sprengt er das Siegel des Schlafes: der Eisvogel, der Königsfischer; und nun fließt, zurückflutend wie zulaufendes Wasser, der rote, dicke Strom des Lebens wieder rückwärts: gurgelnd und tropfend; und wir stehen auf den Füßen, und unsere Augen grüßen (wie trefflich eignet sich ein Reim dazu, uns heil über den heiklen Übergang vom Tode zum Leben hinwegzutragen!) – – grüßen – – (hier hört die Drehorgel ganz plötzlich auf zu spielen).
»Es ist ein ganz prächtiger Junge, M'lady« sagte Mrs. Banting, die Hebamme, und legte Orlando ihr erstgeborenes Kind in die Arme. Mit anderen Worten: Orlando war am Donnerstag, dem 20. März, um drei Uhr früh, glücklich von einem Sohne entbunden worden.
Wieder einmal stand Orlando am Fenster; aber der Leser möge sich nicht erschrecken lassen; es wird sich an diesem Tage, der natürlich mitnichten derselbe Tag ist, nicht wieder etwas dergleichen ereignen. Nein – denn wenn wir aus dem Fenster schauen, wie Orlando es in diesem Augenblick tat, so werden wir sehen, daß die Park Lane sich beträchtlich verändert hat. Man kann tatsächlich zehn Minuten lang und länger stehen (wie Orlando es jetzt tat), ohne eine einzige Kalesche zu sehen. »Nun seh einer das an!« rief sie ein paar Tage später, als eine merkwürdig verstümmelte Kutsche ohne Pferde davor von selbst davonglitt. Wahrhaftig: eine Kutsche ohne Pferde davor! Orlando wurde gerade in diesem Augenblick abgerufen, aber sie kam nach einer Weile zurück und blickte abermals aus dem Fenster. ›Sonderbares Wetter heutzutage‹, dachte sie. ›Ich kann mir nicht helfen – sogar der Himmel sieht anders aus als früher.‹ Er war nicht mehr so dick, so mit Feuchte vollgesogen, so regenbogenfarbig, seitdem König Edward (sieh an, da war er ja höchstselbst! – stieg aus einem hübschen Brougham und ging gegenüber in ein Haus, eine gewisse Dame zu besuchen) auf Königin Victoria gefolgt war. Die Wolken waren zu einem dünnen Flor zusammengeschrumpft; das Himmelsgewölbe sah aus, als bestünde es aus Metall, das bei heißem Wetter grünspan-, kupfer- oder orangefarben anlief, wie Metall es bei Nebel tut. Es war ein bißchen beklemmend – dies Wegschwinden. Alles schien zu schwinden, kleiner zu werden. Als sie gestern abend am Buckingham Palace vorüberfuhr, war keine Spur mehr von jener riesig aufwachsenden Anhäufung zu sehen gewesen, die sie für ewig gehalten hatte; Zylinderhüte, Witwenkleider, Trompeten, Teleskope, Blumengewinde – alles war verschwunden und hatte keinen Fleck, ja nicht einmal eine Pfütze auf dem Pflaster hinterlassen. Aber jetzt – nach einer abermaligen Unterbrechung, war sie wieder an ihren Lieblingsplatz am Fenster zurückgekehrt – jetzt am Abend war die Veränderung am auffälligsten. Sieh bloß mal einer die Lichter in den Häusern an! Mit einem einzigen Druck der Hand war ein ganzer Raum erleuchtet; Hunderte von Räumen waren erleuchtet; und einer sah ganz genauso aus wie der andere. Man sah alles in diesen kleinen viereckigen Schachteln; es gab keine Zurückgezogenheit mehr; keinen von den zögernd verweilenden Schatten, keinen von den wunderlichen Winkeln, die man früher gekannt hatte; keine von den Frauen, die Schürzen trugen und wackelige Lampen vorsichtig auf diesen und jenen Tisch setzten. Man knipste mit dem Finger, und das ganze Zimmer war hell. Auch der Himmel war hell, die ganze Nacht über; und das Straßenpflaster war hell; alles war hell. Das nächste Mal, als sie hinaussah, war Mittag. Wie schmal die Frauen heutzutage geworden waren! Sie sahen aus wie Getreidehalme, hoch und schlank, schimmernd, gleichförmig. Und die Gesichter der Männer waren so nackt wie die Handfläche. Die Trockenheit der Luft ließ alle Farben hervortreten, und es war, als machte sie die Muskeln in den Wangen hart. Man weinte nicht mehr so leicht. Wasser war in zwei Sekunden heiß. Der Efeu war eingegangen oder von den Hauswänden gerissen. Das Gemüse wuchs nicht mehr so üppig; die Familien waren viel kleiner geworden. Vorhänge und Decken waren aufgekräuselt, und die Wände waren kahl, so daß neue, farbfunkelnde Bilder von wirklichen Dingen – Straßen, Regenschirmen, Äpfeln – in Rahmen aufgehängt oder auf das Holz gemalt werden konnten. Die ganze Zeit hatte etwas Bestimmtes und Deutliches an sich, das Orlando an das achtzehnte Jahrhundert erinnerte, wenn nicht eine gewisse Unrast, eine gewisse Hoffnungslosigkeit gewesen wäre – – Indessen sie dies dachte, war es, als ob ein unermeßlich langer Schacht, in dem sie seit Hunderten von Jahren gepilgert war, sich weitete; Licht strömte herein; ihre Gedanken wurden auf geheimnisvolle Art gestrafft und gespannt, als hätte ein Klavierstimmer seinen Schlüssel in ihren Rücken gesteckt und zöge nun die Nerven sehr straff an; gleichzeitig schärfte sich ihr Gehör; sie vernahm jedes Gewisper und Geknister im Raum, so daß die Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, wie ein Hammer schlug. So wurde nun, in Sekundendauer, das Licht hell und immer heller, sie sah alles klar und immer klarer, die Uhr tickte laut und immer lauter, bis es unmittelbar in ihrem Ohr einen betäubenden Knall gab. Orlando sprang auf, als hätte sie einen heftigen Schlag an den Kopf bekommen. Zehnmal hintereinander bekam sie diesen Schlag. In Wahrheit schlug es zehn Uhr morgens. Es war der elfte Oktober. Es war das Jahr 1928. Es war der gegenwärtige Augenblick.
Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß Orlando heftig erschrak, die Hand aufs Herz preßte und bleich wurde. Denn kann es eine schrecklichere Entdeckung geben als die, daß es der gegenwärtige Augenblick ist? Daß wir den Schreck überhaupt überleben, ist nur deshalb möglich, weil die Vergangenheit uns auf der einen Seite schützt und die Zukunft auf der anderen. Aber wir haben jetzt keine Zeit, Betrachtungen anzustellen; Orlando hatte sich ohnehin schon fürchterlich verspätet. Sie rannte die Treppe hinunter, sie sprang in ihren Kraftwagen, sie drückte auf den Anlasser und fuhr los. Riesige blaue Gebäudeblöcke hoben sich in die Luft; die roten Kappen der Schornsteine fleckten unregelmäßig verstreut den Himmel; die Straße gleißte wie silberköpfige Nägel; Omnibusse kamen auf sie zu, statuenhafte, weißgesichtige Fahrer am Steuer; sie sah Schwämme, Vogelbauer, Behälter aus grünem Wachstuch. Aber sie gestattete keinem dieser Dinge, die ihr Auge auffing, auch nur den Bruchteil eines Zolles in ihr Bewußtsein einzudringen, indessen sie über die schmale Planke des gegenwärtigen Augenblicks fuhr; sonst wäre sie in den rasenden Sturzbach darunter gefallen. »Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst? – Heda, Hand ausstrecken, ja?!« – das war alles, was sie sagte, scharf, als würden die Worte aus ihr hervorgeschleudert. Denn auf den Straßen herrschte unermeßliches Gedränge; Menschen liefen über die Fahrbahn, ohne nach rechts und links zu sehen; Menschen summten und brummten rings um die Spiegelscheiben, in denen man ein rotes Aufglühen, ein gelbes Aufflammen sah: als ob sie Bienen wären, dachte Orlando – aber der Gedanke, daß es Bienen wären, wurde mit heftigem Knips abgeschnitten, und sie sah, wie sie mit einem einzigen Augenaufschlag wieder die richtige Perspektive zurückgewann, daß es Menschen waren: »He, Sie – können Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten?« stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
Schließlich aber fuhr sie doch bei Marshall & Snelgrove vor und ging in den Laden. Dämmerung und Duft hüllten sie ein. Die Gegenwart fiel von ihr ab wie Tropfen siedenden Wassers. Licht schwankte auf und nieder, wie Stoffe, die ein leichter Sommerwind bewegt. Sie nahm eine Liste aus ihrer Handtasche und begann abzulesen, zuerst mit seltsam gezwungener Stimme, als hielte sie die Worte – Kinderstiefel, Badesalz, Sardinen – in einen Strahl vielfarbenen Wassers. Sie sah, wie sie sich veränderten, wenn das Licht sie traf. Badesalz und Stiefel wurden stumpf und dumpf; Sardinen zähnten sich wie eine Säge. So stand sie in der Erdgeschoßabteilung bei Marshall & Snelgrove; blickte hierhin und dorthin; sog diesen Geruch ein und jenen; und vergeudete so einige Sekunden. Dann trat sie in den Fahrstuhl, aus dem einfachen Grunde, weil die Tür offenstand, und glitt schnell und ruhig nach oben. ›Heutzutage‹, dachte sie, ›ist schon das rein äußere Gefüge des Lebens zauberhaft. Im achtzehnten Jahrhundert wußten wir bei jedem Ding genau, wie es gemacht wurde; hier aber hebe ich mich in die Luft empor; ich höre Stimmen aus Amerika herüberklingen; ich sehe Menschen fliegen – und ich komme nicht einmal dazu, auch nur darüber nachzudenken, wie es gemacht wird. So gewinne ich meinen Glauben an Magie zurück.‹ Nun tat der Fahrstuhl einen kleinen Ruck, als er im ersten Stockwerk anhielt; und sie sah, wie in einem Traumbild, das prunkende Geflatter zahlloser farbiger Stoffe in einer Brise, von der deutliche, seltsame Gerüche ausgingen; und jedesmal, wenn der Fahrstuhl anhielt und mit einem Ruck die Türen aufsprangen, wurde ein anderer Ausschnitt Welt vor ihr enthüllt, und alle Gerüche, die ihm eigen waren, hafteten daran. Sie fühlte sich an den Fluß oberhalb von Wapping zur Zeit der Königin Elisabeth erinnert, dort, wo die Schatzschiffe und die Kauffahrteischiffe zu ankern pflegten. Was für ein vielfältig würziger, seltsamer Geruch war das gewesen! Wie gut sie sich noch des Gefühls entsann, wenn ihr beim Wühlen in einem der Schatzsäcke die ungeschliffenen Rubine durch die Finger glitten! Ja – und dann, als sie mit Sukey (oder wie die Dirne geheißen hatte) im Schiffsraum lag und das Licht von Cumberlands Laterne auf sie niederblitzte! Die Cumberlands hatten jetzt ein Haus in Portland Place; erst neulich hatte sie bei ihnen gefrühstückt und beim alten Herrn eine kleine scherzhafte Anspielung auf gewisse Armenhäuser in der Sheen Road riskiert. Er hatte verständnisvoll geblinzelt. Nun aber mußte sie aussteigen, denn höher ging der Fahrstuhl nicht – und der Himmel mochte wissen, was für eine ›Abteilung‹ das nun wieder war. Sie blieb stehen, um ihre Einkaufsliste zu Rate zu ziehen; aber da wurden Badesalz und Knabenstiefel verlangt, und dergleichen Gegenstände waren hier oben weit und breit nicht zu erblicken. So wollte sie denn wahrhaftig wieder hinunterfahren, ohne etwas zu kaufen; aber vor solcher Schmach blieb sie doch bewahrt: sie las nämlich mechanisch den letzten Punkt von ihrer Liste ab, und es fügte sich, daß er ›Bettücher, für ein Doppelbett‹ forderte.
»Bettücher, für ein Doppelbett«, sagte sie zu einem Mann hinter einem Ladentisch, und wie die Vorsehung wollte, waren es gerade Bettücher, was der Mann da hinter dem Tisch zu verkaufen hatte. Denn Grimsditch – ach so, nein, Grimsditch war ja tot! – Bartholomew – ach so, nein, Bartholomew war ja auch tot! – also Louise war neulich in großer Aufregung zu ihr gekommen, denn sie hatte ein Loch im Bettuch des Königsbettes entdeckt. Viele Könige und Königinnen hatten darin geschlafen – Elisabeth; Jakob; Karl; Georg; Victoria; Edward; kein Wunder, daß da das Tuch ein Loch hatte. Aber Louise sagte, sie wüßte ganz genau, wer es gewesen war. Der Prinzgemahl war es gewesen. »Sale Boche!« sagte Louise (denn es hatte schon wieder einmal einen Krieg gegeben – diesmal gegen die Deutschen).
»Bettücher, für ein Doppelbett«, wiederholte Orlando nachdenklich; denn ein Doppelbett mit einer silbergewirkten Decke entstammte einer Geschmacksrichtung, die sie jetzt ein bißchen gewöhnlich fand; ›alles in Silber‹, dachte sie; aber sie hatte die Einrichtung geschaffen, als sie dieses Metall leidenschaftlich liebte. Während der Mann die Bettücher holen ging, zog sie einen kleinen Taschenspiegel und eine Puderquaste hervor. Die Frauen machten heutzutage (so dachte sie, während sie sich mit der größten Unbekümmertheit puderte) nicht halb soviel Umstände wie zu der Zeit, da sie selbst eine Frau wurde und auf dem Deck der ›Verliebten Lady‹ saß. Sie gab ihrer Nase bedachtsam die rechte Tönung. Ihre Wangen rührte sie niemals an. Sie war nun sechsunddreißig Jahre alt – im Aussehen aber war sie nicht um einen Tag gealtert. Sie hatte noch genau dasselbe schmollende, trotzige, hübsche, rosige Gesicht (›wie ein Christbaum mit Millionen Kerzen‹, hatte Sasha gesagt) wie damals auf dem Eis, als die Themse zugefroren war und sie Schlittschuh laufen gingen – –
»Bestes irisches Leinen, Ma'am« sagte der Verkäufer und breitete die Tücher auf dem Ladentisch aus.
– – und einer alten Frau begegnet waren, die Reisig sammelte. Hier nun, als sie geistesabwesend über das Leinen strich, öffnete sich eine der Schwingtüren zwischen den Abteilungen (vielleicht die zur ›Galanteriewaren-Abteilung‹), und herein wehte eine Welle von Duft, Wachsduft, wie von rosenfarbenen Kerzen; und der Duft wölbte sich wie eine Schale um eine Gestalt – war es ein junger Bursche oder ein Mädchen? – jung, schlank, verführerisch – ein Mädchen, bei Gott! in Pelze gehüllt, mit Perlen geschmückt, in russischen Beinkleidern; aber treulos, treulos!
»Treulos!« rief Orlando (der Verkäufer war fortgegangen), und der ganze Laden war überflutet und schäumend überkreiselt von gelbem Wassersturz, und fern sah sie die Masten des russischen Schiffes, das nach See zu lag. Und dann, wie durch ein Wunder (vielleicht tat die Tür sich abermals auf) wurde aus der Muschelschale, die der Duft gewölbt hatte, eine Plattform, eine Estrade, von der eine fette, in Pelze gehüllte Frau herabstieg, erstaunlich gepflegt, verführerisch, diademgeschmückt, die Mätresse eines Großfürsten: sie hatte sich, Butterbrot essend, über die Ufer der Wolga gebeugt und zugesehen, wie Menschen ertranken; nun kam sie durch den Laden auf Orlando zugeschritten.
»Oh, Sasha!« rief Orlando. Es gab ihr wirklich einen ordentlichen Stoß, daß Sasha so geworden sein sollte; so fett; so träge; und sie neigte den Kopf über das Leinen, damit dieses Spukbild einer grauen Frau in Pelzen und eines Mädchens in russischen Beinkleidern, mit all den Gerüchen von Wachskerzen, weißen Blumen und alten Schiffen, die es mit sich brachte, ungesehen hinter ihrem Rücken vorüberschweben konnte.
»Auch Handtücher, Servietten, Wischtücher gefällig, Ma'am?« fragte der hartnäckige Verkäufer. Und es spricht außerordentlich zugunsten der Einkaufsliste, die Orlando nun zu Rate zog, daß sie mit äußerlich vollkommen gewahrter Fassung antworten konnte, sie hätte nur einen einzigen Wunsch in dieser Welt: Badesalz; und das gab es in einer anderen Abteilung.
Aber als sie im Fahrstuhl wieder hinunterfuhr – so tückisch ist jede solche Wiederkehr des Erlebten –, sank sie wieder tief unter den gegenwärtigen Augenblick hinab, und als der Fahrstuhl unten mit einem Ruck aufsetzte, meinte sie einen Topf an einem Flußufer zerschellen zu hören. Nun handelte es sich darum, die rechte Abteilung zu finden, mochte sie heißen, wie sie wollte; und Orlando stand gedankenverloren inmitten von lauter Handtaschen, taub gegen die dienstfertigen Anerbietungen aller der höflichen, schwarzen, wohlfrisierten, lebhaften Ladengehilfen, die vielleicht ebenso wie sie und vielleicht nicht minder stolz als sie aus Vergangenheitstiefen herabgestiegen waren, heute aber den undurchdringlichen Vorhang der Gegenwart herabgezogen hatten und aus eigener Wahl als einfache Angestellte der Firma Marshall & Snelgrove in Erscheinung traten. Orlando stand da und zögerte. Durch die großen Glastüren konnte sie auf den Verkehr in der Oxford Street hinausblicken. Es sah aus, als türmte sich Omnibus auf Omnibus und risse sich dann mit einem Ruck wieder los. So, gerade so hatten sich an jenem Tage auf der Themse die Eisblöcke rasend und wirbelnd aufeinander getürmt. Ein alter Edelmann in pelzbesetzten Pantoffeln hatte rittlings auf einem von ihnen gesessen – dort trieb er – sie sah ihn jetzt – und schrie Verwünschungen auf die irischen Rebellen. Nun war er versunken – dort, wo das Auto stand.
›Die Zeit hat mich übergangen‹, dachte sie und versuchte sich zu sammeln. ›Dies ist nun also der Beginn der mittleren Jahre. Wie seltsam ist das! Alles ist zwiefach geworden. Ich nehme eine Handtasche auf und denke an eine Bumbootfrau, die im Eise eingefroren sitzt. Irgend jemand zündet eine Kerze an, und ich sehe ein Mädchen in russischen Beinkleidern. Wenn ich aus der Tür trete – so wie jetzt –‹ (hier trat sie auf die Oxford Street hinaus), ›was rieche ich? Kleine Kräuter. Ich höre Ziegenglocken. Ich sehe Berge. Türkenland? Indien? Persien?‹ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Hier wird es dem Leser vielleicht auffallen, daß Orlando sich ein wenig allzuweit vom gegenwärtigen Augenblick entfernt hatte, wenn er sie beobachtet, wie sie sich nun anschickt, in ihr Auto zu steigen: die Augen voll von Tränen und von Traumgesichten persischer Berge. Und es läßt sich denn ja auch nicht leugnen, daß die erfolgreichsten Praktiker der Lebenskunst (nebenbei bemerkt: sie bleiben oft gänzlich unbekannt) es vermögen, die sechzig oder siebzig verschiedenen Zeituhren, die in jedem normalen menschlichen Organismus gleichzeitig gehen, in zeitliche Übereinstimmung zu bringen –: so daß, wenn es elf schlägt, alle miteinander harmonisch einfallen und die Gegenwart weder in wüstes Mißgetön zerrissen noch über der Vergangenheit gänzlich vergessen wird. Von solchen Menschen kann man mit Recht behaupten, daß sie haargenau die achtundsechzig oder zweiundsiebzig Jahre, die ihnen der Grabstein zuspricht, leben. Und die übrigen –: von manchen wissen wir, daß sie tot sind, obwohl sie unter uns wandeln; manche sind noch nicht einmal geboren, obwohl sie die äußeren Formen des Lebens durchlaufen: andere wieder sind Hunderte von Jahren alt, wenn sie auch behaupten, sie wären sechsunddreißig. Die wirkliche Dauer eines Menschenlebens ist, was auch das ›Dictionary of National Biography‹ sagen mag, immer eine strittige Sache. Denn es ist ein schwieriges Geschäft – das Zeitmaßhalten; nichts bringt es schneller in Unordnung als Fühlung mit irgendeiner der Künste; so mag denn die Liebe zur Dichtkunst schuld daran gewesen sein, daß Orlando ihre Einkaufsliste verlor und ohne die Sardinen, ohne Badesalz und ohne Knabenstiefel die Heimfahrt antrat. Als sie nun draußen stand, die Hand auf dem Türgriff ihres Autos, traf die Gegenwart sie abermals auf den Kopf. Elfmal fiel der heftige Schlag auf sie nieder.
»Hol's der Teufel!« rief sie, denn es gibt dem Nervensystem einen tüchtigen Stoß, wenn man eine Uhr schlagen hört – dermaßen, daß wir eine Zeitlang jetzt nichts anderes von ihr berichten können, als daß sie leicht die Stirn runzelte, bewundernswert die Gänge schaltete und, wie früher, ihre Rufe ausstieß: »Paß doch auf, wo du hintrittst!« – »Wieder einer, der nicht weiß, wo er hin will!« – »Na, warum denn nicht gleich?« – während der Wagen schießend, schwenkend, sich durch das Gewühl drängend und gleitend (denn sie verstand sich aufs Fahren) die Regent Street entlang, Haymarket entlang, die Northumberland Avenue hinunter, über Westminster Bridge fuhr, links, geradeaus, rechts, wieder geradeaus – –
In der alten Kent Road war am Donnerstag, dem 11. Oktober 1928, starker Verkehr. Der Bürgersteig quoll über von Menschen. Da waren Frauen mit Einkaufstaschen. Kinder rannten dazwischen. In Stoffläden drängten sich die Käufer. Die Straßen waren mal breit, mal eng. Weite Durchblicke schrumpften stetig zusammen. Hier wurde Markt gehalten. Dort fuhr ein Leichenzug. Dann kam ein Umzug mit Fahnen. ›Ra-Un‹ stand darauf – aber was weiter? Fleisch leuchtete sehr rot. Schlächter standen vor den Ladentüren. Frauen ließen sich beinahe die Hacken abfahren. ›Amor vin –‹ stand über einem Portal. Eine Frau blickte aus einem Schlafkammerfenster, in tiefe Betrachtung versunken, sehr still. ›Applejohn & Applebed, Beerd – –‹ Nichts sah man ganz, nichts konnte man von Anfang bis zu Ende lesen. Was man beginnen sah – zum Beispiel die Begegnung zweier Freunde, die zueinander über die Straße strebten –, das sah man niemals enden. Nach zwanzig Minuten Fahrt waren Körper und Geist wie Papierschnitzel, die aus einem Sack niederflattern; und in der Tat: wenn man einen Wagen in rascher Fahrt aus London lenkt, so ähnelt dieser Vorgang so sehr der Zerfetzung des bewußten Eigenlebens, die der Bewußtlosigkeit und vielleicht auch dem Tode vorangeht, daß wir die Frage, inwieweit von einem Da-Sein Orlandos im gegenwärtigen Augenblick die Rede sein kann, offenlassen müssen. Und hier sollten wir sie vielleicht, als eine ganz aus aller ordentlichen Zusammensetzung geratene Persönlichkeit, einfach aufgeben: wenn nicht nun doch noch zur Rechten ein grüner Vorhang sich ausgebreitet hätte, vor dem die Papierschnitzel langsamer niederfielen; und dann breitete sich auch zur Linken ein grüner Vorhang aus, so daß man nun die einzelnen Schnitzel unterscheiden konnte, wie sie in der Luft um sich selber kreiselten; und dann waren grüne Vorhänge ständig zu beiden Seiten gezogen, so daß sie sich auch wieder vortäuschen konnte, ihr Hirn sei ein Behältnis der Dinge; und sie sah ein Bauernhaus, den Hofplatz dazu und vier Kühe, alles in natürlicher Größe.
Als sich dies begab, stieß Orlando einen Seufzer der Erleichterung aus, zündete sich eine Zigarette an und paffte eine oder zwei Minuten schweigend. Dann rief sie zögernd, als wüßte sie nicht recht, ob die Gerufene da war: »Orlando –?« Denn wenn in unserem Hirn (auf gut Glück veranschlagt) sechsundsiebzig verschiedene Uhren gleichzeitig ticken – wie viele verschiedene Persönlichkeiten mögen da wohl (der Himmel sei uns gnädig!) zu der einen oder anderen Zeit im Geist eines Menschen hausen? Von manchen hört man die Zahl zweitausendundzweiundfünfzig. So daß es das alltäglichste Ding von der Welt ist, wenn ein Mensch, sobald er allein ist, »Orlando!« ruft (sofern er so heißt) und damit sagen will: »Komm, o komm! Ich habe das jetzige Selbst zum Sterben satt. Ich möchte ein anderes haben!« Daher auch die erstaunlichen Wandlungen, die wir an unseren Freunden bemerken. Aber es ist immer noch ein ziemlich unsicheres Verfahren, denn wenn man auch, wie Orlando, als sie draußen auf dem Lande war und vermutlich das Bedürfnis nach einem anderen Selbst verspürte, »Orlando« ruft, so ist es doch möglich, daß die Orlando, die sie braucht, nicht kommt; denn die verschiedenen Selbste, aus denen wir aufgebaut sind und die sich aufeinanderstapeln wie Teller in der Hand des Kellners, haben durchaus ihre Zu- und Abneigungen, ihre Temperamentchen und Rechte für sich, mag man sie nennen, wie man will (und für manche dieser Dinge gibt es gar keine Benennungen); so daß das eine nur dann kommt, wenn es regnet, das andere in einem Raum mit grünen Vorhängen, das dritte, wenn Mrs. Jones nicht da ist, das vierte, wenn du ihm ein Glas Wein in Aussicht stellen kannst; und so weiter; denn jeder kann aus eigener Erfahrung ein Vielfaches an schwierigen Bedingungen nennen, die seine verschiedenen Selbste ihm auferlegt haben – und manche von ihnen sind von so ausschweifender Lächerlichkeit, daß man sie in einem gedruckten Buch überhaupt nicht erwähnen kann.
So rief denn Orlando, an der Ecke bei der Scheune, mit einem fragenden Klang in der Stimme »Orlando!« und wartete. Orlando kam nicht.
»Na, dann nicht«, sagte Orlando mit der Gutgelauntheit, die man bei solchen Anlässen einzusetzen pflegt; und sie versuchte es mit einem anderen Selbst. Denn sie hatte natürlich eine große Zahl der verschiedenartigsten Selbste, die sie rufen konnte, weit mehr, als der Raum uns zu behandeln gestattete; eine Biographie wird nämlich als vollständig angesehen, wenn sie nur über sechs oder sieben Selbste Bericht gibt, während ein Mensch ebenso viele Tausende davon haben kann. Wenn wir also nur diejenigen davon aussuchen, für die wir Raum gefunden haben, so könnte Orlando jetzt den Knaben gerufen haben, der den Kopf des Mohren herunterschlug; den Knaben, der ihn wieder aufknüpfte; den Knaben, der auf dem Hügel saß; den Knaben, der den Dichter sah; den Knaben, der der Königin die Schale mit Rosenwasser reichte; oder sie hätte den jungen Mann anrufen können, der sich in die Liebe zu Sasha verstrickte; oder den Höfling; oder den Gesandten; oder den Soldaten; oder den Reisenden; oder sie hätte die Frau anrufen können: die Zigeunerin; die vornehme Dame; die Einsiedlerin; das ins Leben verliebte Mädchen; die Schutzherrin der Literatur; die Frau, die ›Mar‹ rief (und heiße Bäder und Kaminfeuer am Abend damit meinte) oder ›Shelmerdine‹ (und Krokusblüten in herbstlichen Wäldern damit meinte) oder ›Bonthrop‹ (und den Tod damit meinte, den wir täglich sterben) oder alle drei Namen gleichzeitig – womit mehr Dinge gemeint waren, als zu schildern wir Raum haben – alle waren sie verschieden, und jede von ihnen hätte sie anrufen können.
Vielleicht; als gewiß aber erscheint (denn wir befinden uns hier in dem Bezirk, wo man ›vielleicht‹ sagen muß und ›erscheint‹), daß gerade das eine Selbst, dessen sie am meisten bedurfte, sich fernhielt, denn sie wechselte, nach ihren Reden zu schließen, die Selbste so schnell, wie sie fuhr – an jeder Wegbiegung kam ein neues dran; wie es denn so geht, wenn aus irgendeinem unerklärbaren Grunde das bewußte Selbst, das obendrauf sitzt und die Kraft hat, Wünsche zu äußern, nichts weiter sein will als Es Selbst. Dieses bewußte Selbst wird von manchen Menschen das wahre Selbst genannt, und es ist, sagen sie, zusammengesetzt aus allen den Selbsten, die zu sein wir die Möglichkeit in uns tragen; es wird, sagen sie, befehligt und verschlossen gehalten von dem Oberselbst, dem Schlüsselselbst, das sie alle mischt und überwacht. Sicherlich suchte Orlando dieses Selbst; der Leser mag es aus ihren Reden entnehmen, die sie während des Fahrens führte (und wenn es planlos schweifendes Gerede ist, zusammenhanglos, platt, langweilig und zuweilen unverständlich, so ist daran der Leser schuld: warum belauscht er die Selbstgespräche einer Dame? Wir geben hier nur die Worte wieder, wie sie sie sprach, und fügen in Klammern hinzu, welches Selbst nach unserer Meinung redet; aber in diesem Punkte können wir uns sehr wohl irren).
»Was also? Wer also?« sagte sie. »Sechsunddreißig; in einem Auto; eine Frau. Jawohl; aber ebensogut vielleicht auch eine Million Sonstwas. Aufgeblasen bin ich? Der Hosenbandorden in der Halle? Die Leoparden? Meine Vorfahren? Stolz auf sie? Ja! Gierig, prunksüchtig, lasterhaft? Bin ich das?« (Hier kam ein neues Selbst herein.) »Ist mir verdammt egal, ob ich's bin. Aufrichtig? Ich denke: Ja. Freigebig? Ach, das zählt ja nicht.« (Hier kam ein neues Selbst herein.) »Liege morgens im Bett auf feinem Linnen und höre den Tauben zu; Silberschüsseln; Wein; Mägde; Lakaien. Verwöhnt? Vielleicht. Viel zuviel Dinge für nichts und wieder nichts. Daher meine Bücher« (hier nannte sie fünfzig klassisch klingende Titel; wahrscheinlich waren das, so vermuten wir, die romantischen Frühwerke, die sie vernichtet hatte). »Gewandt, glatt, romantisch. Aber« (hier kam ein neues Selbst herein) »ein Pfuscher, ein Tölpel. Linkischer könnte ich gar nicht sein. Und – und –« (hier zögerte sie, ein gewisses Wort auszusprechen, und wenn wir vermuten, daß es ›Liebe‹ war, so irren wir uns vielleicht; jedenfalls aber lachte sie und wurde rot und schrie laut los:) »Eine Kröte aus Smaragden! Harry der Großherzog! Brummfliegen an der Decke!« (Hier kam ein anderes Selbst herein.) »Aber Nell, Kit, Sasha?« (sie versank in Schwermut: es formten sich wahrhaftig Tränen in ihren Augen, und sie hatte sich das Weinen doch schon so lange abgewöhnt.) »Bäume«, sagte sie. (Hier kam ein anderes Selbst herein.) »Ich liebe Bäume« (sie fuhr gerade an einer Baumgruppe vorbei), »die seit tausend Jahren da wachsen. Und Stallungen« (sie fuhr an einem baufälligen Stall am Rande der Straße vorbei). »Und Schäferhunde« (hier kam einer über die Straße dahergetrabt. Sie fuhr sorgsam um ihn herum). »Und die Nacht. Aber Menschen« (hier kam ein anderes Selbst herein). »Menschen?« (Sie wiederholte das Wort als Frage.) »Ich weiß nicht. Geschwätzig, boshaft, immerzu verlogen.« (Hier bog sie in die Hauptstraße ihres Heimatstädtchens ein, in der – es war Markttag – ein dichtes Gedränge von Bauern und Schafhirten und alten Frauen mit Hühnern in Körben herrschte.) »Ich mag die Bauern gern. Ich verstehe was von der Ernte. Aber« (hier sprang ein neues Selbst über den Wellenkamm ihrer Gedanken wie der Strahl eines Leuchtturms). »Ruhm!« (Sie lachte.) »Ruhm! Sieben Auflagen! Preisgekrönt. Photos in den Abendblättern« (dies bezog sich auf den ›Eichbaum‹ und den Preis der ›Burdett-Coutts-Gedächtnisstiftung‹, den sie erhalten hatte; und hier müssen wir uns nun wohl den Raum nehmen und zum Ausdruck bringen, wie ärgerlich es für den Biographen ist, daß ihm dieser Höhepunkt, zu dem sich das ganze Buch emporsteigerte, dieser wirksame Schluß, mit dem es enden sollte, durch dieses beiläufige Lachen zur nebensächlichen Arabeske gemacht wird; aber es ist nun einmal so: wenn wir über eine Frau schreiben, sitzt nichts am richtigen Fleck – weder ›Kulminationen‹ noch ›Perorationen‹; der Akzent gerät niemals an dieselbe Stelle wie bei einem Manne). »Ruhm!« (wiederholte sie). »Ein Dichter – ein Schaumschläger; und beides jeden Morgen mit derselben Regelmäßigkeit, wie der Briefträger kommt. Zusammenkünfte, Mahlzeiten; Mahlzeiten, Zusammenkünfte; Ruhm – Ruhm!« (Hier mußte sie Gas wegnehmen, um durch das Gewühl des Marktvolkes zu steuern. Aber kein Mensch beachtete sie. Ein Tümmler im Fischladen erregte weit mehr Aufmerksamkeit als eine Lady, die einen Literaturpreis bekommen hatte und die, wenn es ihr etwa gefiele, drei Adelskronen übereinander hätte auf der Stirn tragen können.) Während sie nun ganz langsam fuhr, summte sie, als wäre es eine Strophe aus einem alten Lied: »Für meine Guineen kauf ich Blütenbäume, Blütenbäume, Blütenbäume, und ich wandle unter den Blütenbäumen und sag meinen Söhnen, was ›Ruhm‹ ist.« So summte sie, und nun senkten alle ihre Worte sich da und dort und hingen nieder wie ein barbarischer Halsschmuck aus schweren Perlen. »Und ich wandle unter den Blütenbäumen«, sang sie mit starkem Ton auf jedem Wort, »und sehe, wie langsam der Mond aufgeht, und sehe die Wagen von dannen fahren – –« Hier brach sie jäh ab und starrte in tiefen Gedanken geradeaus auf die Kühlerhaube ihres Wagens.
»Er saß in Twitchetts Zimmer am Tisch«, sann sie, »und hatte eine schmutzige Halskrause – – War es der alte Mr. Baker, der das Holz ausmessen wollte? Oder war es Sh-p-re?« (denn wenn wir im Selbstgespräch Namen nennen, vor denen wir tiefe Ehrfurcht haben, so sprechen wir sie niemals ganz aus). Zehn Minuten lang starrte sie vor sich hin und ließ den Wagen beinahe zum Stillstand kommen.
»Behext!« rief sie und trat jäh das Gaspedal. »Behext! immer schon, seit meiner Kindheit. Da fliegt die Wildgans. Sie fliegt am Fenster vorüber dem Meere zu. Auf sprang ich« (sie packte das Steuerrad fester) »und reckte die Arme nach ihr. Aber die Wildgans fliegt zu schnell. Ich habe sie gesehen – hier – und da – und dort – – in England, Persien, Italien. Immer fliegt sie schnell dem Meere zu, und immer schleudere ich Worte hinter ihr drein wie Netze« (hier warf sie die Hand empor), »aber sie schrumpfen leer zusammen, wie ich die Netze leer zusammenschrumpfen sah, wenn sie mit nichts als Tang darin an Deck gezogen wurden; und zuweilen liegt ein Klümpchen Silber – sechs Worte – ganz unten im Netz. Niemals aber ist der große Fisch darin, der in den Korallengrotten lebt.« Hier neigte sie den Kopf und saß in tiefen Gedanken.
Und gerade in diesem Augenblick, da sie aufgehört hatte, ›Orlando‹ zu rufen, und in tiefen Gedanken an etwas anderes dasaß, geschah es, daß die Orlando, die sie gerufen hatte, aus freien Stücken kam; was durch die Wandlung dargetan wurde, die nun mit ihr vorging (sie war durch das Pförtnertor in den Park eingefahren).
Ihr ganzes Sein dunkelte und wurde fest, wie wenn eine Oberfläche die Folie erhält, deren Hinzufügung ihr Rundung und Festigkeit gibt: und das Flache wird tief und das Nahe fern; und alles wird gehalten, wie Wasser von den Flanken einer Welle gehalten wird. So war sie nun gedunkelt und zur Ruhe gefestigt und durch die Hinzufügung dieser Orlando das geworden, was man – mit Recht oder Unrecht – ein Eigenselbst, ein wirkliches Selbst nennt. Und sie verstummte. Denn wahrscheinlich steht es so: Wenn Menschen laut reden, so wissen die Selbste (deren es vielleicht mehr als zweitausend gibt), daß sie ohne Zusammenhang sind, und sie versuchen in Verbindung zu kommen; ist aber die Verbindung da, so verstummen sie.
Rasch, in meisterlich gefahrenem Bogen lenkte sie den Wagen im Schatten der Ulmen und Eichen den Fahrweg hinan, der sich durch den allmählich abfallenden Rasen des Parkes zog: so sanft geneigt war die Rasenfläche, daß sie, wäre sie Wasser gewesen, das Gestade mit glattem grünem Strom überronnen hätte. Hier und dort, in feierlich ernsten Gruppen, standen Buchen und Eichen. Hirsche schritten zwischen ihnen einher; einer von ihnen war weiß wie Schnee, ein anderer trug den Kopf schräggeneigt, denn irgendein Drahtnetz hatte sich in seinem Geweih verfangen. Alles dies, die Bäume, die Hirsche, den Rasen, betrachtete sie mit der größten Befriedigung, als wären ihre Gedanken ein Gewässer geworden, das die Dinge umfloß und ganz umschloß. Eine Minute später fuhr sie in den Hof ein, in dem sie nun schon seit so vielen Jahrhunderten ankam, im Sattel oder in der sechsspännigen Kutsche, mit Berittenen vor sich oder hinter sich; wo Pferde ihre Federbüsche schüttelten, Fackeln flammten und dieselben Bäume, die jetzt ihre Blätter fallen ließen, ihre Blüten niederstreuten. Nun war sie allein. Die herbstlichen Blätter fielen. Der Pförtner öffnete die großen Torflügel. »Morgen, James«, sagte sie. »Im Wagen liegen ein paar Sachen. Bringen Sie sie herein, ja?« – Worte, die, wie man zugeben wird, an und für sich weder schön noch auffällig noch bedeutsam sind; jetzt aber waren sie so geschwellt von Sinn, daß sie niederfielen wie reife Nüsse vom Baum – und so bewiesen sie, daß die Sinne sich erstaunlich befriedigt fühlen, wenn die verrunzelte Haut des Alltäglichen mit Sinn prallgemacht wird. Das traf nun bei Orlando für jede Bewegung und Handlung zu, mochte sie auch noch so alltäglich sein; so daß, als sie nun ihren Rock gegen Kniehosen aus Whipcord und eine Lederjacke vertauschte (was sie in weniger als drei Minuten tat), jeden Beobachter die Schönheit ihrer Bewegungen entzückt hätte, als sähe er Madame Lopokova ihre höchste Kunst offenbaren. Dann ging sie mit langen Schritten ins Eßzimmer, wo ihre alten Freunde Dryden, Pope, Swift und Addison sie zuerst zurückhaltend ansahen, als wollten sie sagen: »Da ist ja die Preisträgerin!« – aber als sie bedachten, daß es sich um zweihundert Guineen handelte, nickten sie beifällig mit den Köpfen. »Zweihundert Guineen«, schienen sie zu sagen; »zweihundert Guineen, das ist kein Pappenstiel.« Sie schnitt sich eine Scheibe Brot und eine Scheibe Schinken ab, klappte beides aufeinander und fing an zu essen; dabei ging sie mit langen Schritten auf und ab, ohne auch nur einen bewußten Gedanken daran zu wenden, daß sie hier ihr sonstiges gesellschaftliches Benehmen völlig abstreifte. Nach fünf- oder sechsmaligem Marsch durch den Raum goß sie ein Glas spanischen Rotwein hinunter, schenkte sich ein zweites ein, nahm es in die Hand, schritt durch den langen Flur und durch ein Dutzend Wohnräume und machte solchermaßen einen Besichtigungsgang durch das Haus, begleitet von den Elch- und Wachtelhunden, die gerade Lust hatten, ihr zu folgen.
Auch dies war ihre alltägliche Gewohnheit. Eher hätte sie es beim Nachhausekommen unterlassen, ihrer leiblichen Großmutter einen Kuß zu geben, als daß sie es unterlassen hätte, einen Rundgang durch das Haus zu machen. Sie bildete sich ein, daß die Räume sich aufhellten, wenn sie hineinkam; daß sie sich rührten und die Augen aufschlugen, als hätten sie in der Herrin Abwesenheit ein Schläfchen gemacht. Auch bildete sie sich ein, daß sie bei jedem, aber auch jedem Anblick anders waren (und sie hatte sie doch Hunderte und Tausende von Malen gesehen), als hätten sich in ihrem so langen Leben unendlich viele Stimmungen in ihnen angehäuft, die nun fortwährend wechselten, je nachdem, ob Winter oder Sommer, helles oder dunkles Wetter war, je nach Orlandos Schicksal und der Wesensart der Menschen, die in ihm weilten. Fremden gegenüber waren sie immer höflich, aber ein bißchen verstimmt; für ihre Herrin waren sie ganz und gar offen und wohlgelaunt. Und warum auch nicht? Sie kannten einander ja nun schon seit fast vier Jahrhunderten, sie und ihre Räume. Sie hatten nichts voreinander zu verbergen. Orlando kannte ihre Betrübnisse und Freuden. Sie kannte das Alter jedes einzelnen Stückes in ihnen und seine kleinen Geheimnisse – eine Geheimschublade, einen verborgenen Schrank, vielleicht auch irgendeinen Fehler, wie etwa eine ausgebesserte Stelle oder eine nachträgliche Ergänzung. Und alle diese Gegenstände wiederum kannten auch sie in allen Stimmungen und Wandlungen. Sie hatte nichts vor ihnen verborgen; war als Knabe und als Frau zu ihnen gekommen, weinend und tanzend, in düsterer Stimmung und heiter. Auf diesem Fenstersitz hatte sie ihre ersten Verse geschrieben; in dieser Kapelle war sie getraut worden. Und hier würde sie auch begraben werden, so dachte sie, wie sie in der langen Galerie auf der Fensterbank kniete und ihren spanischen Wein nippte. Es ließ sich zwar kaum ausdenken, aber es war doch so: auch an dem Tage, da man sie zu ihren Vorfahren in die Gruft senkte, würde der Leib des heraldischen Leoparden gelbe Farbtümpel auf den Fußboden malen. Sie, die an Unsterblichkeit in keiner Form glaubte, konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß ihre Seele in alle Ewigkeit kommen und gehen würde mit den roten Lichtern auf der Täfelung und den grünen auf dem Sofa. Denn der Raum – sie war auf ihrem Streifzug in das Botschafterzimmer gekommen – leuchtete wie eine Muschelschale, die seit Jahrhunderten auf dem Meeresboden liegt, und die das Wasser mit einer Million von Farbtönen überkrustet und bemalt hat; er war rosenfarben und gelb, grün und sandfarben. Er war zerbrechlich wie eine Muschelschale, ebenso schillernd und ebenso leer. Nie wieder würde ein Gesandter darin schlafen. Oh, aber sie wußte, wo noch das Herz des Hauses schlug. Sacht öffnete sie eine Tür, blieb auf der Schwelle stehen (denn so, meinte sie, konnte der Raum sie nicht sehen) und sah zu, wie die Wandteppiche sich hoben und senkten in dem ewigen leichten Luftzug, der sie immer, immer bewegte. Noch immer ritt der Jäger; noch immer floh Daphne vor ihm her. ›Noch immer schlägt das Herz‹, dachte sie, ›wenn auch schwach, wenn auch in weite Ferne entrückt; das zerbrechliche, das unbezähmbare Herz des ungeheuren Hauses.‹
Nun rief sie den Trupp ihrer Hunde zu sich und schritt die Galerie hinab, deren Fußboden aus zersägten ganzen Eichenstämmen bestand. Reihen von Stühlen mit gänzlich verblichenen Samtbezügen standen an der Wand aufgereiht und streckten die Armlehnen aus nach Elisabeth, nach Jakob, vielleicht auch nach Shakespeare, nach Cecil, die niemals kamen. Der Anblick stimmte sie düster. Sie hakte die Schnur aus, die den Weg zu den Stuhlreihen versperrte. Sie setzte sich in den Stuhl der Königin; sie nahm ein handgeschriebenes Buch auf, das auf dem Tische Lady Bettys lag; sie rührte mit dem Finger die uralten Rosenblätter auf; sie bürstete ihr kurzes Haar mit den silbernen Bürsten des Königs Jakob; sie schüttelte und klopfte sein Bett (kein König würde jemals wieder darin schlafen, wenn Louise auch noch so schönes neues Bettzeug hineingetan hatte) und preßte die Wange auf die abgenutzte silberne Steppdecke, die darauf lag. Aber überall waren kleine Lavendelbeutel, um die Motten fernzuhalten, und gedruckte Warnungen ›Bitte nicht berühren!‹ – sie hatte sie eigenhändig angebracht und kam sich nun doch selbst wie von ihnen gescholten vor. Das Haus gehörte nicht mehr ihr, sagte sie sich seufzend. Es gehörte jetzt der Zeit; der Geschichte; war der Berührung und Beherrschung durch die Lebenden entrückt. Niemals mehr würde man hier Bier verschütten, dachte sie (denn sie war jetzt in der Kammer, in der der alte Nick Greene geschlafen hatte), niemals mehr Löcher in den Teppich brennen. Niemals mehr würden zweihundert Diener lärmend mit Wärmpfannen und dicken Ästen für die Kamine durch die Korridore rennen. Niemals mehr würde man in den Werkstätten draußen vorm Haus Ale brauen und Kerzen ziehen und Sättel machen und Steine behauen. Hämmer und Schlegel waren nun verstummt. Stühle und Betten waren leer; silberne und goldene Kannen waren in Glasschränken eingeschlossen. Die großen Schwingen des Schweigens schlugen auf und nieder im leeren Haus.
So saß sie am Ausgang der Galerie in Königin Elisabeths hartem Lehnstuhl. Ihre Hunde lagen rings um sie her. Die Galerie erstreckte sich weithin – weithin bis in fast lichtlose Ferne. Sie glich einem Schacht, der tief in die Vergangenheit gebohrt war. Als sie hineinspähte, sah sie Gestalten darin: lachende und redende Menschen; die großen Männer, die sie gekannt hatte; Dryden, Swift und Pope; und Staatsmänner in ernstem Gespräch; und Liebende, die in den Fensternischen tändelten; und Leute beim Schmaus und Trunk an den langen Tischen; und der Holzrauch kräuselte sich um ihre Köpfe und machte sie niesen und husten. Noch weiter hinab sah sie prächtig gekleidete Tanzpaare sich zur Quadrille formen. Eine flötenhaft sanfte, zarte und doch stolze Musik erklang. Eine Orgel dröhnte. Ein Sarg wurde in die Kapelle getragen. Ein Hochzeitszug verließ die Kapelle. Bewaffnete, Helme auf den Köpfen, zogen in den Krieg. Sie kehrten zurück von den Schlachtfeldern von Flodden und Poitiers; sie brachten erbeutete Fahnen mit und befestigten sie an der Wand. So füllte sich die lange Galerie mit Gestalten, und als Orlando in noch weitere Ferne spähte, meinte sie ganz, ganz am Ende, jenseits der Leute um Elisabeth und die Tudors, eine noch ältere, noch fernere Gestalt zu gewahren, noch dunkler, in Kutte und Kapuze, klösterlich, streng: einen Mönch, der die Hände fest um ein Buch geschlossen hielt und daherschritt, murmelnd – –
Die Stalluhr schlug vier; es klang wie Donner. Noch nie hat ein Erdbeben so jäh eine ganze Stadt zerstört. Die Galerie und alle ihre Bewohner zerfielen zu Staub. Orlandos Gesicht, das im Schauen verdunkelt und düster gewesen war, wurde hell, wie vom Blitz einer Pulverexplosion überflammt. Und in ebendiesem Licht waren alle Dinge in ihrer Nähe mit äußerster Deutlichkeit sichtbar. Sie sah zwei Fliegen kreisen und nahm den blauen Schimmer auf ihren Leibern wahr; sie sah einen Astknoten im Holz, wo ihr Fuß stand; sie sah einen der Hunde mit dem Ohr zucken. Gleichzeitig vernahm sie, wie im Garten ein Ast knarrte, wie im Park ein Schaf hustete, wie ein Mauersegler am Fenster vorüberpfiff. Sie erschauerte und zitterte am Körper, als stände sie plötzlich nackt in scharfem Frost. Und doch bewahrte sie, anders als damals beim Schlag der zehnten Stunde in London, vollkommene Fassung; denn sie war jetzt eins und ein Ganzes und bot dem Stoß der Zeit vielleicht eine größere Oberfläche dar. Sie stand auf, aber ganz ohne Hast, rief die Hunde und schritt fest, aber mit lebhaften Bewegungen die Treppe hinab und in den Garten. Hier waren alle Pflanzenschatten wunderbar deutlich. Sie unterschied die einzelnen Erdkrumen in den Blumenbeeten so klar, als trüge sie ein Mikroskop vor den Augen. Sie sah jeden Zweig an jedem Baum mit allen Verästelungen. Jeder Grashalm war deutlich und die Zeichnung aller Blattrippen und Blumenblätter. Sie sah den Gärtner Stubbs auf dem Wege daherkommen, und jeder Knopf an seinen Gamaschen war sichtbar; sie sah Betty und Prince, die Zuggäule, und sie hatte niemals so deutlich den weißen Stern auf Bettys Stirn, die drei langen, über alle anderen hinaushängenden Haare an Princes Schwanz bemerkt. Draußen im Hof sahen die alten grauen Wände des Hauses aus wie eine verkratzte neue Photographie; sie hörte, wie der Lautsprecher auf der Terrasse eine Tanzmelodie verdichtete, der die Leute im rotsamtenen Raum der Wiener Oper lauschten. Sie fühlte sich gestrafft und wie eine Saite gespannt vom gegenwärtigen Augenblick und spürte doch eine seltsame Angst, daß jedesmal, wenn der Schlund der Zeit sich öffnete und eine Sekunde durchließ, irgendeine unbekannte Gefahr auf sie losgelassen werden könnte. Die Spannung war zu unbarmherzig und zu gewaltsam, als daß sie lange ohne Mißbehagen hätte ertragen werden können. Sie ging mit lebhafterem und rascherem Schritt, als es ihr selbst angenehm war (denn eine fremde Kraft schien ihre Beine zu bewegen), durch den Garten und in den Park hinaus. Hier zwang sie sich mit großer Anstrengung, bei der Zimmermannswerkstatt stehenzubleiben und zuzusehen, wie Joe Stubbs ein Wagenrad zimmerte. Sie stand da, den Blick auf seine Hand geheftet, als es Viertel schlug. Der Schlag sauste durch sie hin wie ein Meteor, so heiß, daß keine Hand es halten kann. Sie sah mit ekelerregender Eindringlichkeit, daß der Daumen an Joes rechter Hand keinen Fingernagel hatte, sondern statt des Nagels ein erhabenes schüsselartiges Gebilde aus hellrotem Fleisch. Der Anblick war so abstoßend, daß sie sich einen Augenblick schwach fühlte – aber in diesem Augenblick der Dunkelheit, da ihre Augenlider zuckten, war sie vom Druck der Gegenwart entlastet. Es war etwas Seltsames in dem Schatten, den das Geflatter ihrer Augenlider warf, etwas, das (wie jeder selbst erproben kann, indem er zum Himmel aufblickt) immer der Gegenwart entrückt ist – daher sein Grauen, seine Unbenennbarkeit; etwas, das mit einem Namen durch den Leib zu stechen wie einen Schmetterling mit der Nadel und ›Schönheit‹ zu nennen uns ein Erschauern verbietet: denn es ist körperlos, es ist wie ein Schatten ohne Stofflichkeit und bestimmbare Beschaffenheit, und doch hat es die Kraft, alles zu wandeln, dem es sich gesellt. Dieser Schatten also stahl sich hervor, als während des Schwächeanfalls in der Zimmermannswerkstatt ihre Lider flatterten; er verband sich den unzähligen Gesichten, die sie empfangen hatte, und ordnete sie mit sänftigender Kraft, so daß sie ertragbar und begreifbar wurden. Orlandos Gedanken begannen zu wogen wie das Meer. ›Ja‹, dachte sie und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, während sie sich von der Werkstatt abwandte, um den Hügel hinanzusteigen, ›ich kann wieder beginnen zu leben. Ich stehe am Serpentine‹, dachte sie, ›das kleine Boot klimmt durch die weiße Wölbung aus tausend Toden. Ich stehe an der Schwelle des Begreifens – –‹.
Das waren ihre Worte, und sie sprach sie ganz deutlich aus; dennoch können wir nicht die Tatsache verhehlen, daß wir sie jetzt als eine sehr wenig verläßliche Zeugin für die wahre Beschaffenheit der Dinge um sie her anzusehen haben und daß sie leicht ein Schaf irrtümlicherweise für eine Kuh hätte halten können und einen alten Mann namens Smith für einen anderen, der Jones hieß und zu ihm in keiner wie immer gearteten verwandtschaftlichen Beziehung stand. Denn der Schatten von Schwäche, den der nagellose Daumen warf, hatte sich nun hinten in ihrem Hirn (dem Teil also, der am weitesten der Sicht entrückt ist) zu einem Gewässer gesammelt, zu einem Teich, der die Dinge in so tiefer Dunkelheit birgt, daß wir sie kaum benennen können. Sie blickte hinab in diesen Teich oder diesen See, in dem alles sich spiegelt; und es sind, sagen manche, alle unsere heftigsten Leidenschaften, ebenso auch Kunst und Religion, der Widerschein, den wir in der dunklen Höhlung hinten in unserem Kopfe erblicken, wenn die sichtbare Welt für den Augenblick verfinstert ist. Orlando blickte nun hinein, lange, tief, in Sinnen versunken; und sogleich begab es sich, daß der farnige Pfad, auf dem sie hügelan ging, nicht mehr nur und ganz ein Pfad war, sondern gleichzeitig auch der Serpentine; die Hagedornbüsche waren gleichzeitig auch Damen und Herren, die dasaßen, Besuchskartentäschchen und goldkrückige Stöcke in den Händen; die Schafe waren gleichzeitig auch hohe Häuser in Mayfair; alles war gleichzeitig auch etwas anderes, als wäre ihre Wahrnehmungswelt ein Wald geworden, mit Lichtungen, die sich dahin und dorthin verzweigten. Die Dinge näherten und entfernten sich, sie gingen die seltsamsten Verbindungen und Verquickungen ein, in einem unaufhörlichen Schachbrett von Licht und Schatten. Nur wenn Canute, der Elchhund, ein Kaninchen aufjagte und sie daran erinnerte, daß es ungefähr halb fünf sein mußte – in Wirklichkeit war es dreiundzwanzig Minuten vor sechs –, dachte sie an die Zeit; sonst vergaß sie sie.
Der farnige Pfad führte mit vielen Windungen und Krümmungen höher und höher bis zu dem Eichbaum, der den Hügel krönte. Seitdem sie den Baum kannte – und das war so ungefähr seit dem Jahre 1588 –, war er dicker, stärker und knorriger geworden, aber er stand noch immer in der Vollkraft des Lebens. Die kleinen, scharf gekräuselten Blätter flatterten noch immer in dichter Fülle an seinen Zweigen. Sie warf sich auf den Waldboden und fühlte, wie die Wurzeln des Baumes unter ihr verliefen, dahin und dorthin, Knochen vergleichbar – Rippen, die von einem Rückgrat ausgingen. Sie liebte es, sich vorzustellen, daß sie auf dem Rücken der Erde ritte. Sie liebte es, sich an etwas zu halten, das hart war. Als sie sich niederwarf, fiel ein kleines, starkes, in rotes Leinen gebundenes Buch aus der Brusttasche ihrer Lederjacke – ihre Dichtung ›Der Eichbaum‹. ›Ich hätte mir einen Spaten mitbringen sollen‹, dachte sie. Aber über den Wurzeln lag eine so flache Erdschicht, daß es ihr zweifelhaft schien, ob sie ihre Absicht, das Buch hier zu vergraben, würde ausführen können. Außerdem würden die Hunde es ja wieder ausscharren. Über diesen sinnbildlichen Handlungen steht niemals ein guter Stern, dachte sie. Da wäre es vielleicht ebensogut, wenn man sich ohne dergleichen behalf. Eigentlich hatte sie ja eine kleine Ansprache vorbereitet, die sie über dem Buche halten wollte, wenn sie es vergrub. (Es war ein Exemplar der ersten Ausgabe, von der Verfasserin und dem Künstler signiert.) »Ich vergrabe dies als eine Huldigungsgabe«, hatte sie sagen wollen, »daß wieder zu Erde werde, was die Erde mir gegeben hat.« Aber du lieber Himmel – wie albern klangen solche Worte, wenn man sie erst einmal laut auszusprechen begann! Sie mußte an den alten Greene denken, wie er neulich von der Rednerbühne herab sie mit Milton verglichen (abgesehen von der Blindheit, natürlich) und ihr einen Scheck über zweihundert Guineen überreicht hatte. Da waren ihre Gedanken bei dem Eichbaum hier auf dem Hügel gewesen, und sie hatte sich verwundert gefragt: »Was hat das alles mit Dichtkunst zu schaffen?« Was hatten sieben Auflagen (denn zu nicht geringerer Höhe war das Buch schon emporgeklettert) mit dem Wert einer Dichtung zu schaffen? War nicht das Dichten eine heimliche Handlung, war es nicht eine Stimme, die einer Stimme Antwort gab? Darum paßte alles dies: das Schwatzen und Lobhudeln und Kritteln und das Zusammentreffen mit Leuten, die einen bewunderten, und Leuten, die einen nicht bewunderten – darum paßte alles dies so übel wie nur möglich zu dem, was das Eigentliche war: die Antwort einer Stimme auf eine Stimme. Konnte es – so dachte sie – etwas Geheimeres geben, etwas, das langsamer sich von der Zunge löste, das mehr dem Tun Liebender glich als die stammelnde Antwort, die sie in all diesen Jahren dem uralten leisen Summen der Wälder gegeben hatte – und den Bauernhöfen, und den braunen Pferden, die am Zaun standen, Kopf an Kopf, und der Schmiede und der Küche und den Feldern, die so fleißig Weizen, Rüben und Gras trugen, und dem Garten, der Schwertlilien und Kaiserkronen blühen ließ?
So ließ sie denn ihr Buch unvergraben und mit flatternden Seiten am Boden liegen und betrachtete den gewaltigen Rundblick, der in dieser Abendstunde wechselreich wie der Boden eines Meeres war, von Sonne überleuchtet und von Schatten überdunkelt. Da war ein Dorf mit einem Kirchturm inmitten von Ulmen; ein graues, von einer Kuppel gekröntes Herrenhaus inmitten eines Parks; ein Lichtfunke, der auf dem Glasdach irgendeines Gewächshauses blitzte; ein Bauernhof mit gelben Getreideschobern. Die Felder waren von dunklen Baumgruppen abgegrenzt, jenseits der Felder erstreckte sich weites Waldland, dort drüben glänzte ein Fluß, und dann kamen wieder Hügel. Ganz in der Ferne stieß das Felsgezack des Snowdon weiß in die Wolken hinauf; sie sah die fernen Hügel Schottlands und die wilden Flutwirbel um die Hebriden. Ihr war, als müßte Kanonendonner vom Meer herüberklingen; sie lauschte: nein – nur der Wind blies: Es war ja gegenwärtig kein Krieg. Drake war dahin; Nelson war dahin. ›Und das da‹, dachte sie und senkte die Augen, die in jene Fernen geblickt hatten, wieder auf das Land zu ihren Füßen nieder, ›war einmal mein Land: jenes Schloß inmitten der Hügel war mein; und das ganze Heidemoor, das sich fast bis hinab zum Meere erstreckt, war mein.‹ Hier (das schwindende Licht muß Orlandos Augen einen Streich gespielt haben) schüttelte sich das Land, es ballte und hob sich, es ließ diese ganze Last von Häusern, Schlössern und Wäldern von seinen Flanken (wie Zeltflanken sahen sie aus) niedergleiten. Die kahlen Berge der Türkei lagen vor ihr. Es war glühender Mittag. Sie blickte gerade auf den sonnengedörrten Berghang. Ziegen zupften vor ihr an den sandigen Grasbüscheln. Ein Adler schwang sich über ihr in den Raum. Die heisere Stimme Rustums, des alten Zigeuners, krächzte ihr in die Ohren: »Was ist dein alter Adel und dein Edelgeschlecht, was sind deine Güter im Vergleich zu diesem? Wozu brauchst du vierhundert Schlafzimmer und silberne Deckel auf allen deinen Schüsseln und staubwischende Mägde?«
In diesem Augenblick schlug unten im Tal eine Turmuhr. Die zeltförmige Landschaft wankte und fiel in sich zusammen. Wieder einmal strömte die Gegenwart auf Orlandos Scheitel nieder; nun aber, da das Licht schwand, kam sie mit sachterem Tun; diesmal enthüllte sie dem Blick keine winzigen Einzelheiten, sondern nur nebelüberwogte Felder, Lampenlicht aus Bauernhäusern, die schlummernde Masse eines Waldes, ein fächerförmiges Licht, das auf irgendeinem Heckenweg die Dunkelheit vor sich her schob. Ob es neun, zehn oder elf geschlagen hatte, wußte Orlando nicht zu sagen. Die Nacht war da – die Nacht, die sie über alles liebte, die Nacht, da die Spiegelungen im dunklen See der Gedanken klarer leuchten als bei Tage. Jetzt bedurfte es keines Anfalls von Schwäche mehr, um tief in die Dunkelheit hinabblicken zu können, wo die Dinge sich formen, um im See der Gedanken Gestalten zu schauen – Shakespeare, oder ein Mädchen in russischen Beinkleidern, oder ein Spielzeugboot auf dem Serpentine, und schließlich den Atlantischen Ozean, wie er mit mächtigen Wellen am Kap Hoorn vorüberstürmt. Sie blickte ins Dunkel. Da war die Brigg ihres Mannes: sie stieg auf den Kamm der Welle! Höher stieg sie, höher, immer höher. Die weiße Wölbung aus tausend Toden hob sich vor ihr. O du tollkühner, o du wunderlicher Mann, der du immerzu so für nichts und wieder nichts dem Sturm gerade entgegen rund um Kap Hoorn segelst! Aber die Brigg war aus dem Wassergewölbe aufgetaucht; sie war jenseits, sie war gerettet!
»Entzückung!« rief sie, »Entzückung!« Und nun legte sich der Wind, die See wurde still; und sie sah die Wellen ruhig im Mondlicht sich kräuseln.
»Marmaduke Bonthrop Shelmerdine!« rief sie, wie sie da bei der Eiche stand.
Der schöne, schimmernde Name fiel vom Himmel nieder wie eine stahlblaue Feder. Sie sah ihm zu, wie er sank, drehend und kreiselnd wie ein langsam fallender Pfeil, der mit schönem Schwung den hohen Raum durchschneidet. Er kam, wie er immer kam, in Augenblicken völliger Stille; wenn die Wellen sich kräuselten und die bunten Blätter in herbstlichen Wäldern langsam auf ihre Füße herabfielen; wenn der Leopard still war; wenn der Mond das Wasser beglänzte und nichts sich regte zwischen Himmel und Meer. Dann kam er.
Alles war nun still. Die Mitternacht war nahe. Über dem Wald stieg langsam der Mond empor. Sein Licht schuf ein Zauberschloß auf Erden. Da stand das große Haus, und alle seine Fenster waren von Silber überglänzt. Da war nicht Wand mehr noch sonstige Stofflichkeit. Alles war Zaubergebild. Alles war still. Alles war erleuchtet wie zum Empfang einer toten Königin. Orlando, unverwandt hinabblickend, sah im Hofe schwarze Federbüsche nicken, sah Fackeln flattern und Schatten niederknien. Wieder einmal geschah es, daß eine Königin aus ihrer Kutsche stieg.
»Das Haus steht zu Eurem Dienst bereit, Ma'am«, rief sie und knickste tief. »Ihr werdet nichts verändert finden. Der tote Lord, mein Vater, wird Euch hineingeleiten.«
Indessen sie sprach, erklang der erste Schlag der Mitternacht. Der kalte Lufthauch der Gegenwart streifte ihr Gesicht wie mit einem Atemzug der Furcht. Angstvoll blickte sie zum Himmel auf. Er war nun von Wolken verfinstert. Der Wind brauste ihr in die Ohren. Aber im Brausen des Windes vernahm sie das donnernde Brausen eines Flugzeugs, das näher und näher kam.
»Hier, Shel! hier!« rief sie und entblößte ihre Brust dem Monde (der nun mit hellem Licht schien), so daß ihre Perlen wie die Eier einer riesigen Mondspinne schimmerten. Das Flugzeug brach aus den Wolken hervor und schwebte über ihr. Es umkreiste sie. Ihre Perlen brannten mit hellschimmerndem Gleißen im Dunkel.
Und als Shelmerdine, nun ein stattlicher Seekapitän, gesund, mit frischen Farben, behende, zur Erde sprang, schwang sich über seinem Kopfe ein Wildvogel auf.
»Es ist die Gans!« rief Orlando. »Die Wildgans – –«
Und der zwölfte Schlag der Mitternacht erklang; der zwölfte Schlag der Mitternacht am Donnerstag, dem elften Oktober des Jahres neunzehnhundertachtundzwanzig.