Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Es ist wahrlich eine höchst widrige Fügung und muß als sehr bedauerlich bezeichnet werden, daß wir gerade über diesen Abschnitt in Orlandos Laufbahn, da er im öffentlichen Leben seines Landes eine höchst bedeutsame Rolle spielte, am allerwenigsten wissen und ermitteln können. Wohl wissen wir, daß er seine Pflichten bewunderungswürdig erfüllte – wie durch die Verleihung des Bath-Ordens und der Herzogswürde an ihn bezeugt wird. Wir wissen ferner, daß er bei einigen der heikelsten Verhandlungen zwischen König Karl und den Türken die Hand im Spiele hatte – dafür legen gewisse in den Gewölben des Staatsarchivs aufbewahrte Staatsverträge Zeugnis ab. Die Revolution indessen, die während seiner Amtszeit ausbrach, und die darauf folgende Feuersbrunst haben alle diejenigen Papiere, aus denen wir irgendwelche zuverlässigen Kenntnisse schöpfen könnten, dermaßen beschädigt oder gar zerstört, daß unsere Mitteilungen von beklagenswerter Unvollständigkeit sein müssen. Oft war das Papier mitten im wichtigsten Satz zu einem tiefen Braun versengt. Wenn wir eben meinten, wir könnten ein Geheimnis aufhellen, das den Historikern seit hundert Jahren Rätsel aufgegeben hat, war in der Handschrift ein Loch, groß genug, den Finger hindurchzustecken. Wir haben unser Bestes getan, um aus den übrig gebliebenen verkohlten Bruchstücken ein mageres Ergebnis zusammenzustückeln; aber wir waren oftmals darauf angewiesen, eigener Forschung zu vertrauen, Vermutungen einzusetzen, ja unsere Phantasie arbeiten zu lassen.

Orlando verbrachte, so scheint es, den Tag ungefähr auf folgende Art: Er stand etwa um sieben Uhr auf, hüllte sich in einen langen türkischen Schlafrock, zündete sich eine Zigarre an und stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung. So stand er und sah mit weitgeöffneten Augen auf die große Stadt zu seinen Füßen, sichtlich hingerissen durch den Anblick. Zu dieser Stunde war der Nebel noch so dicht, daß die Kuppeln der Hagia Sophia und der anderen Moscheen wie auf einer Flut auf ihm schwammen; allmählich aber sank der Nebel nieder wie eine Hülle; die auf der Flut treibenden Gebilde wurden zu fester Gestalt; dort war der Fluß; dort die Brücke von Galata; dort die augen- und nasenlosen Bettler, grünbeturbant, um Almosen bettelnd; dort die herrenlosen Hunde, die sich Abfälle suchten; dort die verschleierten Frauen; dort die unzähligen Maultiere; und Männer und Pferde, die lange Pfähle schleppten. Und bald schon war die ganze Stadt voll lärmenden Lebens vom Peitschenknallen und Gongschlagen und Gebetsrufen, von den Geißelschlägen der Maultiertreiber und dem Gerassel messingbeschlagener Räder; indessen strenge Gerüche vom Brotbacken und von Weihrauch und von Gewürzen sogar bis zu den Höhen von Pera empordrangen, als wären sie der Atem dieses kreischenden, vielfarbigen, barbarischen Volkes.

Nichts auf der Welt, so sann Orlando beim Anblick des nun von heller Sonne überglänzten Bildes, konnte wohl so verschieden sein von den Grafschaften Surrey und Kent, von den Städten London oder Tunbridge Wells. Zur Rechten und zur Linken hoben sich in kahl und steinig ragender Ungastlichkeit die asiatischen Berge, an denen hier und dort das nackte Bergnest eines Räuberhäuptlings hing; nirgendwo aber sah man Pfarrhäuser, nirgendwo Herrensitze und Landhäuser, nirgendwo Eichen, Ulmen, Veilchen, Efeu oder Wildrosen. Hier gab es keine Hecken, an denen Farnkraut wachsen, keine Wiesen, auf denen Schafe grasen konnten. Die Häuser waren weiß wie Eierschalen – und ebenso kahl. Daß er, der er doch mit allen Wurzeln und Fasern seines Wesens Engländer war, sich nun durch dies wilde Panorama entzückt fühlen sollte bis ins tiefste Herz; daß er stand und starrte und immer nur zu jenen Pässen und fernen Gipfeln emporschaute, erfüllt von Plänen zu einsamen Fußwanderungen auf Pfaden, die vor ihm nur Ziegen und Schafhirten betreten hatten; daß er eine leidenschaftliche Zuneigung fühlen sollte für diese leuchtenden, gar nicht in die Jahreszeit passenden Blüten; daß er die struppigen Straßenhunde mehr liebte als sogar seine Elchhunde daheim; daß er den ätzenden, scharfen Geruch dieser Straßen gierig einsog – das erschien ihm verwunderlich. Er fragte sich, ob vielleicht zur Zeit der Kreuzzüge einer seiner Ahnen einen Liebeshandel mit einer zirkassischen Bäuerin gehabt haben mochte; hielt das für möglich; meinte eine gewisse dunkle Tönung in seiner Hautfarbe zu entdecken; zog sich wieder ins Zimmer zurück und begab sich in sein Bad.

Eine Stunde später empfing er, geziemend mit Duftmitteln besprengt, gekräuselt und gesalbt, die Besuche von Sekretären und anderen hohen Amtspersonen; sie trugen, einer nach dem anderen, rote Kassetten herbei, die nur mit Orlandos goldenem Schlüssel zu öffnen waren. Darin lagen Papiere von allerhöchster Bedeutung, von denen heute nur noch Bruchstücke übrig sind: bald ein Schnörkel, bald ein Siegel, das fest an einem Stück versengter Seide klebt. Infolgedessen können wir über ihren Inhalt nicht berichten, sondern nur beurkunden, daß Orlando mit diesen Schriftstücken – mit Siegelwachs und Petschaften, mit Bändern verschiedener Farben, die auf verschiedene Art befestigt werden mußten, mit sorgsam gemalten Titeln und Schnörkeln, die zu runden großen Buchstaben wurden – daß er mit diesen Schriftstücken angelegentlich zu tun hatte, bis das Frühstück kam: ein üppiges Mahl von vielleicht dreißig Gängen.

Nach dem Frühstück meldeten ihm Lakaien, daß seine sechsspännige Kutsche vor der Tür stand; und er brach auf, um die anderen Gesandten und die Würdenträger des Staates zu besuchen. Dem Wagen voraus liefen purpurne Janitscharen, die große Straußenfederfächer über ihren Köpfen schwangen. Der Verlauf der feierlichen Handlung war immer der gleiche. Wenn die Janitscharen den Hof erreichten, schlugen sie mit ihren Fächern gegen das Haupttor, das sich alsbald öffnete und den Zutritt zu einem großen, reichausgestatteten Zimmer freigab. Darin saßen zwei Gestalten, zumeist verschiedenen Geschlechtes. Tiefe Verneigungen und Hofknickse wurden ausgetauscht. In diesem ersten Raum war lediglich eine Erwähnung des Wetters statthaft. Nachdem der Gesandte sich dahin geäußert hatte, daß es schön oder feucht, heiß oder kalt sei, begab er sich in den nächsten Raum, wo sich abermals zwei Gestalten erhoben, ihn zu begrüßen. Hier war es lediglich statthaft, Konstantinopels Eigenschaften als Wohnort mit denen Londons zu vergleichen; und der Gesandte sagte natürlich, daß er Konstantinopel vorziehe, während seine Gastgeber ebenso natürlich sagten, daß sie London vorzögen, obwohl sie es nicht kannten. Im nächsten Raum wurden der Gesundheitszustand des Königs Karl und der des Sultans mit einiger Ausführlichkeit erörtert. Im nächsten wurde das Befinden des Gesandten selbst und das der Gattin (seines Gastgebers) erörtert, aber kürzer. Im nächsten sagte der Gesandte dem Gastgeber Schmeicheleien über seine Raumausstattung, und der Gastgeber sagte dem Gesandten Schmeicheleien über seinen Anzug. Im nächsten wurden Süßigkeiten gereicht; der Gastgeber beklagte es, daß sie so schlecht seien, der Gesandte pries mit hohem Lob ihre Güte. Die feierliche Handlung endete schließlich damit, daß man eine Huka rauchte und ein Glas Kaffee trank; aber wenngleich die Bewegungen des Rauchens und Trinkens mit peinlicher Genauigkeit ausgeführt wurden, war weder Tabak in der Pfeife noch Kaffee im Glas: denn wäre auch nur eines von beidem wirklich vorhanden gewesen, so hätte kein menschlicher Körper dem Übermaß standgehalten. Kaum nämlich hatte der Gesandte einen derartigen Besuch in Eile erledigt, als auch schon ein weiterer ausgeführt werden mußte. Dieselben feierlichen Handlungen in genau derselben Reihenfolge mußten sechs- oder siebenmal in den Häusern der anderen hohen Beamten absolviert werden, so daß der Gesandte oft erst spät am Abend wieder heimkam. Obwohl Orlando sich dieser Pflichten mit bewundernswertem Geschick entledigte und niemals bestritt, daß sie vielleicht der bedeutsamste Teil diplomatischer Obliegenheiten sind, ermüdeten sie ihn doch unzweifelhaft und versetzten ihn oft in eine so bedrückte und düstere Stimmung, daß er es vorzog, sein Dinner allein und nur in der Gesellschaft seiner Hunde einzunehmen. Und dann hörte man, wie er sich mit ihnen in seiner Sprache unterhielt. Zuweilen auch, so heißt es, verließ er spät am Abend das Haus in so tiefer Vermummung, daß die Wachen ihn nicht erkannten. Dann mischte er sich in das Volksgedränge auf der Galatabrücke; oder er schlenderte durch die Basare; oder er warf seine Schuhe von sich und gesellte sich zu den Betenden in den Moscheen. Einmal, als offiziell verlautete, er wäre am Fieber erkrankt, berichteten Hirten, die ihre Ziegen auf den Markt brachten, sie wären droben auf dem Gipfel des Gebirges einem englischen Lord begegnet, der zu seinem Gott betete. Man vermutete, daß das Orlando gewesen sei und das Gebet war ohne Zweifel ein laut gelesenes Gedicht: denn man wußte, daß er immer noch in der Brusttasche seines Mantels ein überall vollgekritzeltes Heft trug; und Diener, die an der Tür lauschten, vernahmen, daß der Gesandte, wenn er allein war, mit sonderbar singender Stimme unverständliche Worte vor sich hinsprach.

Solche Bruchstücke müssen wir zusammensetzen, so gut es eben geht, um von Orlandos Leben und Wesen zu dieser Zeit ein Bild zu zeichnen. Bis auf den heutigen Tag gibt es Gerüchte, Legenden und Anekdoten unbekannten Ursprungs, unbewiesen, gleichsam verschwommen – wir haben ja einige davon hier angeführt –, die sich mit Orlandos Aufenthalt in Konstantinopel befassen; man kann sie als Beweis dafür nehmen, daß er jetzt, da er in der Blüte seines Lebens stand, die Phantasie zu erregen und die Blicke zu fesseln vermochte, wodurch das Andenken eines Menschen noch lebendig bleibt, nachdem alles, was dauerhaftere Eigenschaften für das Fortbestehen eines Andenkens wirken können, vergessen ist. Es ist das eine geheimnisvolle Macht, gegründet auf Schönheit, hohe Geburt und eine seltenere Gabe, die wir kurzweg ›Zauber‹ nennen wollen, ohne uns auf weitere Erörterungen einzulassen. Eine Million Kerzen, so hatte Sasha gesagt, brannte in ihm, ohne daß er sich die Mühe zu machen brauchte, auch nur eine einzige davon anzuzünden. Er schritt dahin wie ein Hirsch, ohne auf die Bewegung seiner Beine achten zu müssen. Er sprach mit seiner gewohnten Stimme, und das Echo schlug einen silbernen Gong. So umspannen ihn denn Sagen und Gerüchte. Viele Frauen und etliche Männer beteten ihn an. Es war, um es dahin zu bringen, gar nicht einmal nötig, daß sie mit ihm sprachen, ja, sie brauchten ihn noch nicht einmal zu sehen: sie brauchten nur, besonders in romantischer Umgebung oder beim Sonnenuntergang, die Gestalt eines vornehmen Edelherrn in seidenen Strümpfen heraufzubeschwören. Über die Armen und Unwissenden hatte er ebenso große Macht wie über die Reichen. Schafhirten, Zigeuner, Eseltreiber singen noch heute Lieder von dem »englischen Lord, der seine Smaragde in den Brunnen fallen ließ«, womit sie ohne Zweifel Orlando meinen, der, so scheint es, eines Tages in einem Anfall von Wut oder rauschhafter Verzückung seine Juwelen in einen Springbrunnen warf. (Ein Page fischte sie wieder heraus.) Aber diese romantische Macht ist bekanntlich oft mit einem Wesen von äußerster Zurückhaltung verbunden. Orlando hat anscheinend in Konstantinopel keine Freundschaften geschlossen. Er ließ sich auch, soviel wir wissen, nicht von Liebesbanden fesseln. Eine gewisse große Dame kam den ganzen weiten Weg aus England angereist, nur um ihm nahe zu sein, und fiel ihm mit ihren Bemühungen um seine Gunst zur Last; er indessen erfüllte weiterhin seine Pflichten so unermüdlich, daß er noch nicht zwei Jahre Gesandter am Goldenen Horn gewesen war, als König Karl auch schon die Absicht kundgab, ihn in den allerhöchsten Adelsstand zu erheben. Die Neider behaupteten, es wäre das auf Nell Gwyns Betreiben geschehen, die der Form seiner Beine gedachte. Da sie ihn indessen nur ein einziges Mal gesehen hatte und obendrein emsig damit beschäftigt war, ihren königlichen Herrn mit Nußschalen zu bewerfen, so dürfen wir wohl annehmen, daß er die Herzogswürde seinen Verdiensten, nicht seinen Waden verdankte.

Hier müssen wir eine Pause machen, denn Orlandos Laufbahn hat einen Punkt von höchster Bedeutsamkeit erreicht. Die Verleihung der Herzogswürde an ihn wurde nämlich der Anlaß zu einer sehr berühmten und viel erörterten Begebenheit, die wir nun schildern müssen, wobei wir inmitten von Resten verbrannten Papiers und Fetzen von Siegelbändern unseren Weg ertasten, so gut es eben geht. Am Schlusse des großen Ramadanfestes trafen der Bath-Orden und der Adelsbrief für ihn ein, in einer Fregatte, die von Sir Adrian Scrope befehligt wurde; und Orlando machte dies zum Anlaß einer so glanzvollen Lustbarkeit, wie sie vorher und nachher in Konstantinopel nicht erlebt worden ist. Es war eine wundervolle Nacht; ungeheuer war das Menschengedränge, und die Fenster des Gesandtschaftsgebäudes waren strahlend erleuchtet. Wieder fehlen uns die Einzelheiten, denn das Feuer hat mit allen derartigen Berichten sein Wesen getrieben und uns nur Bruchstücke hingeworfen, vor denen wir Tantalusqualen leiden, da sie die wichtigsten Dinge im Dunkeln lassen. Doch entnehmen wir dem Tagebuch eines englischen Seeoffiziers namens John Fenner Brigge, der sich unter den Gästen befand, daß Menschen aus aller Herren Länder im Hofe ›eingequetscht waren wie Heringe in der Tonne‹. Das Gedränge rückte ihm so peinlich auf den Leib, daß Brigge bald auf einen Judasbaum kletterte, um die Vorgänge besser beobachten zu können. Unter den Einheimischen war (und das ist ein neuer Beweis für Orlandos geheimnisvolle Macht über die Phantasie) ein Gerücht im Umlauf, daß an diesem Abend irgendein Wunder geschehen würde. ›Infolgedessen‹, schreibt Brigge (seine Handschrift ist voller Brandflecke und Löcher, so daß einige Sätze ganz unleserlich sind), ›war uns, als die ersten Raketen emporstiegen, recht unbehaglich zumute, denn wir fürchteten, die eingeborene Bevölkerung könnte womöglich … gepackt werden … höchst ungemütliche Folgen für alle Gäste … englische Damen in der Gesellschaft waren, so gestehe ich, daß ich die Hand am Griffe des Dolches hatte. Glücklicherweise‹, so fährt er in seinem etwas weitschweifigen Stil fort, ›schienen diese Befürchtungen für den Augenblick grundlos, und indessen ich … das Benehmen der Eingeborenen beobachtete, kam ich zu dem Schluß, daß diese anschauliche Vorführung unserer Fertigkeit in der Kunst der Pyrotechnik wertvoll war; und wenn auch nur deswegen, weil sie den Leuten die britische Überlegenheit eindrucksvoll vor Augen führte. Der Anblick war von unbeschreiblicher Großartigkeit. Ich ertappte mich dabei, daß ich abwechselnd Lobpreisungen auf den Herrn dachte, weil er erlaubt hatte, daß … und wünschte, daß meine arme liebe Mutter … Der Gesandte hatte Befehl gegeben, die langen Fenster, die eine so achtunggebietende Besonderheit der östlichen Baukunst … (denn dieses Volk ist zwar in mancher Hinsicht unwissend, aber …) weit zu öffnen; und so sahen wir, daß drinnen ein lebendes Bild oder eine Theateraufführung, in der englische Damen und Herren … ein Maskenspiel von … darstellten. Die Worte konnte ich nicht verstehen, aber der Anblick so vieler vornehmer Landsleute und ihrer Damen, gekleidet mit so reicher und erlesener Feinheit … riß mich zu tiefer Bewegung hin, deren ich mich nicht schäme, wenn ich auch außerstande bin, … Ich betrachtete eben angelegentlich das erstaunliche Betragen der Lady …, das so arg war, daß es aller Blicke auf die Dame lenkte, und das Schande auf ihr Geschlecht und ihr Vaterland häufte, als …‹ unglücklicherweise ein Zweig des Judasbaumes brach und Leutnant Brigge zur Erde fiel. Der Rest der Eintragung bezieht sich dann nur noch auf seine Dankbarkeit für die Vorsehung (die in dem Tagebuche eine sehr große Rolle spielt) und enthält ein genaues Verzeichnis seiner Verletzungen.

Zu unserem Glück war Miss Penelope Hartopp, Tochter des Generals Hartopp, beim Feste drinnen zu Gaste und setzt Leutnant Brigges Schilderung in einem Briefe an eine Freundin in Tunbridge Wells fort. Allerding ist auch dieser Brief stark beschädigt. Miss Penelopes Begeisterung war nicht weniger überschwenglich als die des tapferen Offiziers. ›Herrlich!‹ heißt es da wohl zehnmal auf einer Seite, ›wundervoll! … man kann es ganz einfach nicht beschreiben … goldenes Tafelgeschirr … Armleuchter … Neger in Plüschhosen … Pyramiden von Gefrorenem … Springbrunnen von Würzwein … Die Kriegsschiffe Seiner Majestät, nachgebildet in Gelee … Schwäne … und Wasserlilien … Vögel in goldenen Käfigen … Herren in geschlitztem karmesinroten Sammet … Kopfputz der Damen mindestens sechs Fuß hoch … Spieldosen … Mr. Peregrine sagte, ich sähe ganz entzückend aus, was ich Dir nur deswegen berichte, weil ich weiß … Oh, wie ich mich nach Euch allen gesehnt habe! … übertraf alles, was wir in den Pantiles in Tunbridge Wells erlebt haben … ein ganzer Ozean von Wein … einige der Herren hatten des Guten zu viel getan … Lady Betty hinreißend … Die arme Lady Bonham hatte das Mißgeschick, sich hinzusetzen, ohne daß ein Stuhl unter ihr war … die Herren alle sehr ritterlich … tausendmal gewünscht, daß Ihr, Du und unsere liebe Betsy, dabeisein könntet … der prächtigste Anblick aber … aller Augen magisch anzog … war der Gesandte selbst, das konnte auch der schlimmste Neider nicht leugnen. Alle sagten es. Solche Beine! Solch eine Haltung!! Ein so fürstliches Gebaren!!! Ein erlesenes Schauspiel, wenn er ins Zimmer trat! und wenn er wieder hinausging! Und dabei in seinem ganzen Gesichtsausdruck so etwas Interessantes! Man fühlt, daß er gelitten haben muß! Man sieht es, wenn ich auch nicht recht weiß, woran. Es wird erzählt, eine Dame wäre die Ursache seines Kummers gewesen. So ein herzloses Ungeheuer!!! Da nennt man uns nun das ›zarte Geschlecht‹! und eine von uns hat die Grausamkeit –!!! Er ist unverheiratet, und die Hälfte der hiesigen Damenwelt ist toll in ihn verliebt … Viele tausend Küsse für Tom, Gerry, Peter und die süße Miez‹ (offenbar ihre Katze).

Das Amtsblatt weiß zu berichten, daß ›beim Glockenschlage zwölf der Gesandte auf dem Mittelbalkon erschien, der mit kostbaren Teppichen geschmückt war. Sechs Türken von der Leibwache des Sultans, jeder über sechs Fuß lang, standen ihm zur Rechten und zur Linken und hielten Fackeln in den Händen. Bei seinem Erscheinen stiegen Raketen zum Himmel empor, und die Menschenmenge begrüßte ihn mit brausenden Zurufen. Der Gesandte verneigte sich tief zum Danke und hielt eine kurze Rede in türkischer Sprache, die er – auch dies ist eine seiner hervorragenden Eigenschaften – vollkommen beherrscht. Sodann trat Sir Adrian Scrope vor, in der vollen Galauniform des britischen Admiralsranges; der Gesandte beugte das Knie; der Admiral legte ihm die Kette des Hohen Bath-Ordens um den Hals und befestigte ihm den Stern an der Brust; danach trat ein anderer Herr vom diplomatischen Korps herzu, legte ihm den Herzogsmantel um die Schultern und überreichte ihm auf einem karmesinroten Kissen die Herzogskrone.‹

Orlando, in einer Haltung von ungemeiner Hoheit und Anmut, verneigte sich tief, richtete sich stolz und gerade auf, nahm den goldenen Kranz aus Erdbeerblättern und legte ihn mit einer Bewegung, die keiner der Zuschauer jemals vergaß, um seine Stirn. In diesem Augenblick geschah es, daß sich zum ersten Male Tumult erhob. Ob nun das Volk ein Wunder erwartet hatte – manche wollen wissen, es wäre prophezeit gewesen, daß ein goldener Regen vom Himmel fallen sollte –, das dann ausblieb, oder ob dieser Augenblick das verabredete Zeichen für den Beginn des Aufruhrs war: das weiß offenbar niemand. Aber in der Sekunde, als Orlando die Krone auf seinem Haupte befestigt hatte, brach ein gewaltiger Lärm los. Glocken läuteten; die gellenden Schreie der Propheten übertönten das Gebrüll des Volkes; viele von den Türken warfen sich platt zu Boden und berührten mit der Stirn die Erde. Eine Tür sprang auf. Die Einheimischen drängten sich in die Festgemächer. Frauen kreischten schrill. Eine Dame, von der es hieß, sie verschmachte in Liebe für Orlando, packte einen Leuchter und schmetterte ihn zu Boden. Wäre nicht Sir Adrian Scrope mit einem Trupp englischer Blaujacken zur Stelle gewesen – niemand weiß, was dann daraus hätte werden können. Aber der Admiral ließ Alarm blasen; hundert Blaujacken standen im Nu in Reih und Glied, der Aufruhr wurde erstickt, und Frieden senkte sich über den Schauplatz – wenigstens für den Augenblick.

Bis hierher befanden wir uns auf dem Boden beurkundeter Wahrheit, wenn der Pfad auch schmal war. Was aber in den späteren Stunden jener Nacht geschah, das hat niemals ein Mensch genau erfahren. Jedoch scheint das Zeugnis der Wachen und der anderen Dienerschaft zu beweisen, daß das Gesandtschaftsgebäude um zwei Uhr nachts vom letzten Besucher verlassen war und wie sonst abgeschlossen wurde. Man sah, daß der Gesandte, noch mit den Zeichen seiner Würde bekleidet, in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich zumachte. Einige behaupten auch, er hätte hinter sich abgeschlossen; was er sonst nicht zu tun pflegte. Andere lassen sich nicht davon abbringen, sie hätten später in der Nacht im Hof unter dem Fenster des Gesandten Musik gehört – eine ländliche Musik, wie die Schäfer sie spielen. Eine Waschfrau, die durch Zahnschmerzen ihres Schlafes beraubt wurde, erzählte, sie hätte eine in einen Mantel oder einen Schlafrock gehüllte Männergestalt auf den Balkon hinaustreten sehen. Der Mann hätte einen Strick über die Brüstung hinabgelassen und eine Frau, die dicht vermummt war, aber offenbar der Landbevölkerung entstammte, daran zu sich emporgezogen. Die beiden hätten sich dann, sagte die Waschfrau, leidenschaftlich umarmt, ›wie ein Liebespaar‹, wären miteinander ins Zimmer gegangen und hätten die Vorhänge zugezogen, so daß die Waschfrau sich an weiteren Beobachtungen verhindert sah.

Am anderen Morgen fanden die Sekretäre den Herzog – so müssen wir ihn jetzt nennen – in tiefem Schlaf; das Bett, in dem er lag, war beträchtlich zerwühlt. Auch im Zimmer bemerkte man auffällige Unordnung; die Herzogskrone war auf den Boden gerollt, Mantel und Hosenbandorden hatte er achtlos auf einen Stuhl geschleudert. Papiere lagen über den Tisch verstreut. Zunächst fand man daran nichts Bedenkliches, denn die Anstrengungen der Nacht waren ja groß gewesen. Als es aber Nachmittag wurde und der Herzog immer noch schlief, holte man einen Arzt. Der wandte die uns schon von früher her bekannten Mittel an: Pflaster, Nesseln, Brechmittel; aber ohne Erfolg. Orlando schlief weiter. Nun hielten seine Sekretäre es für ihre Pflicht, die auf dem Tische liegenden Papiere durchzusehen. Viele davon waren mit Versen bekritzelt, in denen häufig eines Eichbaumes Erwähnung getan wurde. Man fand ferner verschiedene amtliche Schriftstücke und eine Anzahl privater Papiere, die sich auf die Verwaltung von Orlandos Besitz in England bezogen. Schließlich aber stießen sie auf eine Urkunde von weit größerer Bedeutung. Und zwar war das nichts Geringeres als ein Heiratsdokument, aufgesetzt, unterzeichnet und vor Zeugen abgeschlossen zwischen Seiner Lordschaft Orlando, Ritter des Hosenbandordens usw. usw. usw., und Rosina Pepita, einer Tänzerin, Vater unbekannt, aber angeblich ein Zigeuner, und Mutter ebenso unbekannt, aber dem Vernehmen nach eine Alteisenhändlerin auf dem Marktplatz drüben bei der Galatabrücke. Die Sekretäre sahen einander bestürzt an. Und immer noch schlief Orlando. Morgen auf Morgen, Abend auf Abend betrachteten sie ihn; aber wenn man davon absah, daß sein Atem regelmäßig ging und seine Wangen immer noch das gewohnte tiefe Rot hatten, war kein Zeichen des Lebens an ihm zu gewahren. Was immer Gelehrsamkeit und Erfindungsgabe zu tun vermochten, um ihn zu wecken, das taten sie. Er aber schlief weiter.

Am siebenten Tage dieses Starrzustandes (also am Donnerstag, dem 10. Mai) knallte der erste Schuß jenes furchtbaren und blutigen Aufstandes, dessen erste Anzeichen Leutnant Brigge entdeckt hatte. Die Türken empörten sich gegen den Sultan, setzten die Stadt in Brand und überantworteten jeden Fremden, den sie finden konnten, dem Schwert oder der Bastonade. Einigen wenigen Engländern gelang es, zu entkommen; die Herren von der Britischen Gesandtschaft aber taten, was man von ihnen erwarten durfte: Sie verteidigten ihre roten Kassetten mit ihrem Leben und schluckten im äußersten Notfalle die Schlüsselbunde lieber hinunter, als daß sie sie in die Hände der Ungläubigen fallen ließen. Die Aufrührer drangen auch in Orlandos Schlafgemach ein, aber da sie ihn so starr ausgestreckt liegen sahen, hielten sie ihn für tot und rührten ihn nicht an; sie raubten ihm nur seine Herzogskrone und den Hosenbandorden.

Nun senkt sich abermals Dunkel herab, und ach! wir wollten, es wäre noch undurchdringlicher! Fast drängt unser Herz uns, auszurufen: Wäre es doch so undurchdringlich, daß seine Schwärze sich jedem Blick verwehrte! Ach, könnten wir doch jetzt die Feder nehmen und ›Finis‹ unter unsere Arbeit schreiben! Könnten wir doch dem Leser ersparen, was nun kommt, und kurz und abschließend den Satz hinschreiben: Orlando starb und wurde bestattet. Aber wehe! da erheben sich die strengen Gottheiten, die am Tintenfaß des Biographen Wache halten: Wahrheit und Rechtlichkeit und Ehrlichkeit; und sie rufen Nein! Sie setzen ihre silbernen Trompeten an die Lippen, und ihr Hornstoß fordert: Wahrheit! Und abermals rufen sie: Wahrheit! Und zum drittenmal dröhnt ihre dreifach-einstimmige Forderung: Wahrheit! und nichts als Wahrheit!

Hier öffnen sich – und dafür danken wir dem Himmel, denn so ist uns eine Atempause vergönnt – sacht die Türen, als hätte der sanfteste und frömmste Himmelshauch sie aufgeweht, und drei Gestalten treten herein. Als erste kommt Unsere Herrin Reinheit; ihre Stirn ist geschmückt mit einer Binde aus der weißesten Lammwolle; ihr Haar wallt nieder wie eine Wehe von frischgefallenem Schnee; in der Hand hält sie die weiße Feder einer jungfräulichen Gans. Ihr folgt, aber mit stolzerem Schritt, Unsere Herrin Keuschheit; über ihrer Stirn gleißt wie ein Turm aus brennendem, aber nicht sengendem Feuer ein Diadem aus Eiszapfen; ihre Augen sind helle Sterne, und wenn ihre Finger dich berühren, so erstarrst du bis ins Mark der Knochen zu Eis. Hinter ihr kommt, sich bergend im Schatten ihrer stolzeren Schwester, Unsere Herrin Bescheidenheit, die zerbrechlichste und lieblichste von den dreien; ihr Antlitz glänzt nur matt zu uns herüber, wie der junge Mond matt und sichelförmig zwischen Wolken aufglänzt, die ihn halb verhüllen. Die drei schreiten vor bis zur Mitte des Raumes, in dem Orlando immer noch schlafend liegt; und Unsere Herrin Reinheit beginnt zu sprechen, mit Gebärden, die zugleich flehentlich und gebieterisch sind:

»Ich bin die Hüterin des schlummernden jungen Rehs: der Schnee ist meinem Herzen teuer; und der aufgehende Mond; und die silberne See. Mit meinen Gewändern bedecke ich schützend die Eier der bunten Henne und die getigerte Seemuschel; ich bedecke Laster und Armut. Auf alle Dinge, die leicht zerstörbar sind oder dunkel oder fragwürdig, sinkt mein Schleier herab. Darum sage ich dir: Rede nicht, enthülle das Verborgene nicht. Laß sein, oh, laß sein!«

Hier aber schmettern die Trompeten:

»Reinheit verschwinde! Hinweg mit dir, Reinheit!«

Sodann spricht Unsere Herrin Keuschheit:

»Ich bin die Mächtige, deren Berührung zu Eis gefrieren macht und deren Blick in starren Stein verwandelt. Ich habe angehalten den Stern in seinem Tanz und die Welle in ihrem Niederfall. Die höchsten Alpengipfel sind mein Wohnsitz; wenn ich dahinschreite, flammen die grellen Blitze in meinem Haar; wohin der Blick meiner Augen fällt, da tötet er. Ehe denn ich es dulde, daß Orlando erwacht, will ich ihn zu Eis gefrieren lassen bis ins Mark seiner Knochen. Laß sein, oh, laß sein!«

Hier aber schmettern die Trompeten:

»Keuschheit verschwinde! Hinweg mit dir, Keuschheit!«

Dann spricht Unsere Herrin Bescheidenheit also, und sie spricht so leise, daß man es kaum vernehmen kann:

»Ich bin die Jungfrau, die von den Menschen Bescheidenheit genannt wird. Jungfrau bin ich und werde es immer sein. Nicht für mich sind die früchtevollen Felder, nicht für mich die fruchtbaren Weingärten. Alles fruchttragende Wachsen ist mir zuwider; wenn die Apfelbäume ansetzen oder die Vogelscharen brüten, so fliehe ich, oh, so fliehe ich. Ich lasse meinen Mantel fallen. Mein Haar verdeckt mir die Augen. Ich erblicke nichts. Laß sein, oh, laß sein!«

Und zum drittenmal schmettern die Trompeten:

»Bescheidenheit, verschwinde! Hinweg mit dir, Bescheidenheit!«

Mit Gebärden des Kummers und der Klage reichen die drei Schwestern sich nun die Hände, schwingen die Schleier und singen, indessen sie sich zum Gehen wenden: »Wahrheit, komm nicht hervor aus deinem greulichen Versteck. Verbirg dich noch tiefer, abscheuliche Wahrheit! Denn dein roher Griff gibt dem rücksichtslosen Blick der Sonne Dinge preis, die besser unbekannt und ungetan blieben; was schamhaft sich verhüllt, reißest du schamlos ans Licht. Was dunkel ist, machst du hell. Verbirg, verbirg, oh, verbirg dich!« Hier treffen sie Anstalten, Orlando mit ihrem Stoffumhang zuzudecken. Mittlerweile schmettern die Trompeten immer noch:

»Die Wahrheit! und nichts als die Wahrheit!«

Nunmehr versuchen die Schwestern ihre Schleier über die Mündungen der Trompeten zu werfen, als wollten sie sie ersticken, aber vergebens, denn alle Trompeten schmettern im Chor:

»Abscheuliche Schwestern, hinweg mit euch!«

Die Schwestern geraten sichtlich in Bestürzung und jammern im Dreigesang, immer noch ihren Reigen tanzend und ihre Schleier auf- und niederschwingend:

»Es war nicht immer so! Aber die Männer haben sich von uns abgewandt; die Frauen verabscheuen uns. Wir gehen; wir gehen.« – »Ich« (dies sagt die Reinheit) »auf die Hühnerstange.« – »Ich« (dies sagt die Keuschheit) »in das noch unbefleckte Hochland von Surrey.« – »Ich« (dies sagt die Bescheidenheit) »in jeden heimeligen Winkel, wo Efeu in dichter Fülle rankt und hüllende Vorhänge sind.«

»Denn dort, nicht hier« (dies sagen sie alle drei, indessen sie einander an den Händen fassen und mit Gebärden des Abschieds und der Verzweiflung zu dem Bette hinüberblicken, auf dem Orlando schlafend liegt) »wohnen noch im behaglichen Nest und im Damenzimmer, in der Amtsstube und im Gerichtssaal die Menschen, die uns lieben; die Menschen, die uns ehren: Jungfrauen und Bürger der Altstadt; Advokaten und Doktoren; die Hinderer und Leugner; die Menschen, die da Ehrfurcht erweisen, ohne zu wissen, warum; die da lobpreisen, ohne zu begreifen; die (dafür sei dem Himmel gedankt) noch immer zahlreiche Sippe der Ehrbaren; denen es lieber ist, wenn sie nicht sehen; die den Wunsch hegen, nicht zu wissen; die das Dunkel lieben. Alle diese verehren uns noch immer, und mit gutem Grund; denn wir gaben ihnen Reichtum, Wohlstand, Behaglichkeit und frohes Gedeihen. Zu ihnen gehen wir, dich verlassen wir. Kommt, ihr Schwestern, kommt! Dies ist keine Stätte für uns.«

Sie ziehen sich eilig zurück, wobei sie ihre Stoffumhänge über ihren Häuptern schwingen, als wollten sie sich gegen ein Schauspiel schützen, das sie nicht zu erblicken wagen; und dann machen sie die Tür hinter sich zu.

Wir befinden uns infolgedessen nunmehr mit Orlando und den trompetenden Gottheiten ganz allein im Zimmer. Die Trompeterinnen treten in Reih und Glied und schmettern einen einzigen furchtbaren Hornstoß –:

»Die Wahrheit!«

dem zufolge Orlando erwachte.

Er reckte sich. Er erhob sich. Er stand vor uns in völliger Nacktheit. Und indessen die Trompeten ihr ›Wahrheit! Wahrheit! Wahrheit!‹ schmettern, bleibt uns keine andere Wahl, als zu bekennen, daß er – ein Weib war.

Der Trompetenton verklang, und Orlando stand da, völlig nackt. Nie hat, seitdem die Welt erschaffen wurde, ein menschliches Wesen ihn an hinreißender Schönheit übertroffen. Seine Gestalt vereinigte die Kraft des Mannes mit der Anmut des Weibes. Indessen er so dastand, dehnten die Trompeten absichtlich ihren letzten Ton, als trennten sie sich ungern von dem lieblichen Anblick, den ihr Geschmetter sozusagen verursacht hatte; und die Keuschheit, die Reinheit und die Bescheidenheit, ohne Zweifel dazu angestiftet durch die Neugier, spähten zur Tür herein und warfen nach der nackten Gestalt ein handtuchähnliches Wäschestück, das indessen leider um mehrere Zoll zu kurz fiel. Orlando betrachtete sich von Kopf bis Fuß in einem hohen Spiegel, ohne sich irgendwie erstaunt oder bestürzt zu zeigen, und begab sich dann vermutlich ins Bad.

Wir möchten diese willkommene Pause im Gange unserer Erzählung dazu benutzen, ein paar notwendige Anmerkungen zu machen. Orlando war zum Weibe geworden – das läßt sich nicht bestreiten noch verhehlen. In jedem anderen Betracht aber blieb Orlando genau so, wie er gewesen war. Der Wechsel des Geschlechts hatte wohl die Zukunft Orlandos – oder der beiden Orlandos – geändert, aber sie blieben trotzdem durchaus das, was man identisch nennt. Auch waren, wie ihre Bildnisse beweisen, ihre Gesichter ganz und gar die gleichen. Sein Gedächtnis – aber in Zukunft müssen wir uns wohl dem herkömmlichen Brauche fügen und nicht mehr ›er‹, sondern ›sie‹, nicht mehr ›sein‹, sondern ›ihr‹ sagen – ihr Gedächtnis also durchwanderte alle Begebenheiten ihres vergangenen Lebens, ohne dabei auf irgendein Hindernis zu stoßen. Vielleicht hat es hier und da eine ganz leichte Trübung gegeben, als wären ein paar dunkle Tropfen in den klaren Teich der Erinnerung gefallen; ein paar Dinge hatten etwas verschwommene Umrisse bekommen; aber das war auch alles. Die Verwandlung hatte sich, so schien es, ebenso schmerzlos wie vollständig vollzogen; und sie war auf eine Art erfolgt, über die Orlando selbst keinerlei Erstaunen zeigte. Etliche wackere Leute haben in Anbetracht dieser Tatsache und in der Meinung, daß ein solcher Wechsel des Geschlechtes wider die Natur sei, große Mühe aufgewendet, um zu beweisen: 1. daß Orlando immer eine Frau gewesen sei; 2. daß Orlando in diesem Augenblick ein Mann sei. Mögen Biologen und Psychologen diese Frage klären. Wir begnügen uns damit, die schlichte Tatsache festzustellen: Bis zum 30. Lebensjahr war Orlando ein Mann; dann wurde er eine Frau und ist es seither geblieben.

Doch überlassen wir es anderen Federn, Abhandlungen über Geschlecht und Geschlechtlichkeit zu schreiben; wir wenden uns von diesen üblen Dingen ab, so schnell wir können. Orlando hatte nun also ihr Bad genommen und sich mit jener türkischen Tracht, Rock und Hose, bekleidet, die von beiden Geschlechtern ohne kenntlichen Unterschied getragen werden kann; nunmehr war sie genötigt, sich über ihre Lage klarzuwerden. Daß dieselbe höchst heikel und beunruhigend war, muß der erste Gedanke eines jeden Lesers sein, der Orlandos Schicksalsweg bis hierher mit Anteilnahme verfolgt hat. Orlando, jung, vornehm, schön, hatte sich bei ihrem Erwachen in der mißlichsten Lage vorgefunden, die wir für eine junge Dame aus edlem Geblüt zu erdenken vermögen. Hätte sie geklingelt, hätte sie geschrien, wäre sie in Ohnmacht gefallen – wir würden sie darum nicht getadelt haben. Aber Orlando zeigte keine solchen Anzeichen von Bestürzung. Alle ihre Handlungen waren in höchstem Maße bedachtsam; ja, man hätte vielleicht gar Merkmale dafür entdecken können, daß sie vorherbedacht waren. Zunächst sah sie sorgfältig alle auf dem Tische liegenden Papiere durch; nahm diejenigen, die anscheinend mit Versen beschrieben waren, an sich und verbarg sie an ihrem Busen; rief dann ihren seleukischen Hund zu sich, der in allen diesen Tagen nicht von ihrer Seite gewichen war, fütterte das halb verhungerte Tier und kämmte es; steckte ein paar Pistolen in den Gürtel; und schlang sich schließlich noch mehrere Ketten mit aufgereihten Smaragden und Perlen von schönstem Wasser um den Leib, die zur Gesandtenausrüstung gehört hatten. Danach lehnte sie sich aus dem Fenster, ließ einen leisen Pfiff ertönen und stieg die verwüstete und blutbefleckte Treppe hinab, die mit dem verstreuten Inhalt von Papierkörben, mit Verträgen, Kurierbriefen, Siegeln, Siegelwachs und dergleichen Dingen in wüstem Durcheinander bedeckt war. So gelangte sie in den Hof. Dort, im Schatten eines riesigen Feigenbaumes, wartete, auf einem Esel sitzend, ein alter Zigeuner. Einen zweiten Esel hatte er am Zügel. Orlando schwang das Bein über den Sattel. Und so, von einem mageren Hund begleitet, auf einem Esel reitend, in der Gesellschaft eines Zigeuners, verließ der Gesandte Großbritanniens am Hofe des Sultans Konstantinopel.

Sie ritten mehrere Tage und Nächte hindurch und erlebten etliche Abenteuer, teils durch Menschenhand, teils durch Naturgewalten, in denen allen Orlando wackeren Mut bewährte. Nach einer Woche erreichten sie die Hochebene jenseits von Brussa, damals der Hauptlagerplatz des Zigeunerstammes, dem Orlando sich angeschlossen hatte. Oft hatte sie von ihrem Balkon im Gesandtschaftsgebäude zu diesen Bergen hinübergeblickt; oft hatte sie sich danach gesehnt, dort oben zu sein; wird dann eine solche immer gehegte Sehnsucht erfüllt, so findet ein besinnlicher Kopf darin mancherlei Stoff zum Nachdenken. In den ersten Tagen freilich war sie über die Verwandlung ihres Lebens viel zu glücklich, um sich dieses Glück durch Denken zu vergiften. Keine Urkunden siegeln oder unterschreiben, keine Phrasen drechseln, keine Besuche machen zu müssen – das war Glücks genug. Die Zigeuner zogen dem Graswuchs nach; wenn die Weiden abgegrast waren, brachen sie ihre Zelte ab und wanderten weiter. Orlando wusch sich in Bächen, sofern sie sich überhaupt wusch; kein Mensch behelligte sie mit Kassetten, weder mit roten noch mit blauen noch mit grünen; einen Schlüssel, geschweige denn einen goldenen Schlüssel, gab es im ganzen Lager nicht; und ›Besuchemachen‹ war hier ein unbekanntes Wort. Sie melkte die Ziegen; sie sammelte Reisig; sie stahl sich dann und wann ein Hühnerei, aber sie legte immer ein Geldstück oder eine Perle dafür hin; sie hütete das Vieh; sie las Weinbeeren und kelterte sie; und sie füllte den ziegenledernen Sack und trank daraus. Und wenn sie dann daran dachte, daß sie eigentlich um diese Tageszeit bei einer leeren Kaffeetasse und einer leeren Pfeife hätte sitzen und die Bewegungen des Rauchens und Trinkens hätte machen müssen, so lachte sie laut, schnitt sich noch einen tüchtigen Happen Brot ab und bettelte um einen Zug aus der Pfeife des alten Rustum, mochte diese Pfeife auch mit Kuhdung gefüllt sein.

Die Zigeuner, mit denen sie offenbar schon vor dem Aufstand in geheimer Verbindung gestanden haben muß, scheinen Orlando durchaus so behandelt zu haben, als wäre sie ihres Stammes; und das ist ja der größte Achtungsbeweis, den ein Volk zu geben hat. Ihr schwarzes Haar und ihre dunkle Hautfarbe erweckten wohl die Vorstellung, sie wäre ein Zigeunerkind, und ein englischer Herzog hatte sie in ihrer frühesten Jugend aus einem Nußbaum entwendet und mit sich in jenes barbarische Land genommen, wo die Menschen in Häusern wohnen, weil sie zu schwach und kümmerlich sind, um die freie Luft ertragen zu können. Sie sahen wohl, daß Orlando es ihnen in vielen Dingen nicht gleichtun konnte, aber sie wollten ihr gern helfen, ihnen ähnlich zu werden; sie brachten ihr die Künste der Käsebereitung und des Korbflechtens bei, sie unterwiesen sie in den Wissenschaften des Stehlens und des Vogelschlingen-Legens, ja, sie waren sogar geneigt, eine Heirat mit einem ihres Stammes in Erwägung zu ziehen. Aber Orlando hatte sich in England von einigen jener Bräuche oder Krankheiten (oder wie man es sonst nennen will) anstecken lassen, die man, so scheint es, nicht wieder austreiben kann. Eines Abends, als alle um das Lagerfeuer saßen und über den Hügeln Thessaliens der Sonnenuntergang loderte, rief Orlando:

»Oh, wie schmeckt das gut!«

(Die Zigeuner nämlich haben kein Wort für ›schön‹; ›gut schmecken‹ kommt dem im Sinne am nächsten.) All die jungen Burschen und Mädchen brachen in tobendes Gelächter aus. Nein, wirklich! Der Himmel und gut schmecken! Die Alten aber, die sich mit Fremden besser auskannten als die Jungen, wurden argwöhnisch. Es entging ihnen nicht, daß Orlando oft ganze Stunden lang dasaß und nichts, gar nichts tat, nur so hierhin und dorthin blickte; oder sie ertappten sie dabei, wie sie auf einer Hügelkuppe saß und starr geradeaus sah, ohne sich darum zu kümmern, ob die Ziegen weideten oder sich verliefen. So begannen die Älteren unter den Zigeunern zu argwöhnen, daß Orlando einen anderen Glauben hatte als sie, und sie hielten es sogar für wahrscheinlich, daß sie der scheußlichsten und grausamsten aller Gottheiten, nämlich der Natur in die Klauen geraten sei. Und damit waren sie der Wahrheit gar nicht so fern. Die englische Nationalkrankheit, Liebe zur Natur, war ihr angeboren, und hier, wo die Natur so viel weiter, gewaltiger, mächtiger war als in England, geriet sie in ihren Bann wie noch nie zuvor. Die Krankheit ist zu wohlbekannt und leider allzuoft beschrieben worden, als daß wir uns hier anders als in aller Kürze mit ihr befassen müßten. Da waren Berge; da waren Täler; da waren Flüsse. Orlando erklomm die Berge; durchstreifte die Täler; saß an den Ufern der Flüsse. Sie verglich die Hügel mit Wällen, mit der Brust einer Taube, mit den Flanken einer Kuh. Die Blumen verglich sie mit Schmelzglas und den Rasen mit dünngewetzten türkischen Matten. Bäume wurden zu dürren alten Hexen, Schafe zu grauem Felsgeröll. Alles, was sie sah, verwandelte ihr Vergleich. Sie fand den kleinen See auf dem Bergesgipfel und hätte sich fast hineingestürzt, um das Wissen zu suchen, das, so meinte sie, darin verborgen lag; und als sie von der Berghöhe über das Marmarameer hinweg die Ebenen Griechenlands gewahrte und (die Schärfe ihrer Augen war bewundernswert) die Akropolis erspähte, mit ein paar weißen Strichen, die gewiß – wie konnte es anders sein? – der Parthenon waren, da weiteten sich ihre Augen, und es weitete sich ihre Seele; sie betete – was ja alle diese gläubigen Seelen beten –, daß sie an der Erhabenheit der Berge teilhaben, die Gelassenheit der Ebenen erfahren möge und so weiter. Dann, vor sich niederblickend, sah sie die rote Hyazinthe und die purpurne Schwertlilie und pries hingerissen, mit entzücktem Aufschrei, die Güte und Schönheit der Natur; worauf sie die Augen wieder hob, den hoch im Äther kreisenden Adler erblickte und die Lust seines Schwebens in der Phantasie erlebte, als wäre sie ihr selbst geschenkt. Auf dem Heimweg grüßte sie dann jeden Stern, jede Felsspitze, jedes Wachtfeuer, als wäre das alles für sie, nur für sie allein da; und zuletzt, wenn sie sich im Zigeunerzelt auf ihre Matte warf, so brach wieder dieser Ausruf aus ihr hervor: »Wie schmeckt das gut! Wie schmeckt das gut!« (Denn es ist schon sonderbar mit den Menschen bestellt: lieber setzen sie sich dauernd der Lächerlichkeit und dem Mißverständnis aus, als daß sie eine Erfahrung für sich behalten; mögen ihre Verständigungsmittel auch so unvollkommen sein, daß sie ›es schmeckt gut‹ sagen, wenn sie ›schön‹ meinen, und umgekehrt.) Die ganze Zigeunerjugend lachte. Aber Rustum el Sadi, der alte Mann, der Orlando auf seinem Esel aus Konstantinopel hierhergebracht hatte, saß dabei und schwieg. Seine Nase war krumm wie ein Türkensäbel; seine Wangen waren gefurcht, als wäre ein Menschenalter lang eiserner Hagel darauf niedergeprasselt; er war braun und scharfäugig, und wie er so dasaß und an seiner Huka sog, beobachtete er Orlando mit gespannter Aufmerksamkeit. Er hatte einen ganz tiefwurzelnden Verdacht, daß ihr Gott die Natur sei. Eines Tages fand er sie in Tränen. Er deutete sich das so, daß ihre Gottheit sie bestraft hatte, und er sagte ihr, daß er sich darüber nicht wundere. Er zeigte ihr die Finger seiner linken Hand, die vom Frost fast verkrüppelt waren; er zeigte ihr seinen rechten Fuß, den ein stürzender Felsblock zermalmt hatte. Dies, so sagte er, sei es, was ihre Gottheit den Menschen zufüge. Als sie dann sagte: – »aber sie ist doch so schön!« (sie gebrauchte das englische Wort), schüttelte er den Kopf; und als sie es abermals sagte, wurde er ärgerlich. Er sah, daß sie nicht glaubte, was er glaubte, und das genügte, um ihn, weise und betagt, wie er war, in Wut zu bringen.

Orlando, die bis dahin vollkommen glücklich gewesen war, fühlte sich durch diese Meinungsverschiedenheit verstört. Sie begann darüber zu grübeln, ob die Natur nun eigentlich schön oder grausam war; dann fragte sie sich, worin diese Schönheit denn eigentlich bestand; ob sie den Dingen eigen sei, oder ob sie nur in ihrem eigenen Innern zu finden war; so geriet sie mit ihrem Grübeln auf das Wesen der ›Wirklichkeit‹; von da kam sie auf die ›Wahrheit‹; und von da wiederum auf ›Liebe‹, ›Freundschaft‹, ›Dichtkunst‹ – genau wie in den Tagen auf der Hügelhöhe daheim; und diese Betrachtungen, die sie alle stumm in sich verschließen mußte, bewirkten es, daß sie sich nach Feder und Tinte sehnte, wie sie sich noch nie im Leben danach gesehnt hatte.

»Oh, wenn ich doch nur schreiben könnte!« rief sie (denn sie hatte, wie alle, die aufs Schreiben versessen sind, die sonderbare Vorstellung, daß Worte-Niederschreiben Sich-Mitteilen heißt). Tinte hatte sie nicht; und nur wenig Papier. Aber sie verfertigte sich Tinte aus Beeren und Wein; und da sie in dem Manuskript vom ›Eichbaum‹ ein paar freie Ränder und leere Stellen fand, so brachte sie es fertig, in einer Art von Kurzschrift die Landschaft in einem langen Blankversgedicht zu beschreiben und mit sich selbst in diesem engen Raum ein Zwiegespräch über ›Schönheit‹ und ›Wahrheit‹ zu führen. Dies schenkte ihr für viele Stunden ein Glück ohne Maßen. Aber die Zigeuner wurden mißtrauisch. Zunächst bemerkten sie, daß sie weniger anstellig als früher beim Melken und Käsemachen war; dann zögerte sie oft, bevor sie auf Fragen antwortete; und eines Tages wachte ein Zigeunerjunge, der schlafend gelegen hatte, erschrocken auf, als er ihre Augen auf sich ruhen fühlte. Zuweilen empfand der ganze Stamm, der mehrere Dutzend Erwachsener zählte, diese Beklemmung. Sie entsprang dem Gefühl (und ihre Sinne sind sehr scharf und viel feiner ausgebildet als ihr Ausdrucksvermögen), daß alles, was sie taten, ihnen wie Asche unter den Händen zerbröckelte. Da saß zum Beispiel eine alte Frau und flocht einen Korb, oder ein Junge häutete Schafe ab, und sie sangen oder summten zufrieden bei ihrer Arbeit: und dann kam Orlando ins Lager, warf sich am Feuer nieder und starrte in die Flammen. Sie brauchte die anderen nicht einmal anzusehen, und doch fühlten sie (wir übersetzen hier mehr schlecht als recht aus der Zigeunersprache): Hier ist ein Mensch, der zweifelt; der das, was er tut, nicht tut, nur eben um es zu tun; der nicht blickt, um eben nur zu blicken; ein Mensch, der weder an Schafhäute noch an Körbe glaubt; sondern der (hier sahen sie sich angstvoll im Zelte um) etwas anderes sieht. Dann begann ein unbestimmtes, aber höchst unangenehmes Gefühl in dem Jungen und in der alten Frau sein Wesen zu treiben. Sie zerbrachen die Weidenruten; sie schnitten sich in die Finger. Heftige Wut erfüllte sie. Und sie wünschten, Orlando möchte das Zelt verlassen und ihnen niemals wieder nahekommen. Und doch mußten sie zugeben, daß sie von freundlichem und dienstwilligem Wesen war; und eine einzige ihrer Perlen genügte, um die schönste Ziegenherde von Brussa zu kaufen.

Langsam begann auch Orlando zu erkennen, daß es zwischen ihr und den Zigeunern einen Unterschied gab, der es ihr zuweilen zweifelhaft erscheinen ließ, ob es richtig wäre, einen von ihnen zu heiraten und sich ihnen damit auf immer anzuschließen. Zuerst versuchte sie das damit zu erklären, daß sie selbst ja einer alten und zivilisierten Rasse entstammte, während diese Zigeuner ein unwissendes Volk waren, nicht viel besser als Wilde. Eines Abends, als man sie über England ausfragte, trieb es sie unwiderstehlich, mit einigem Stolz das Haus zu schildern, in dem sie geboren war: von seinen dreihundertfünfundsechzig Schlafzimmern sprach sie und daß es seit vier- oder fünfhundert Jahren im Besitze ihrer Familie war. Ihre Ahnen wären Grafen oder gar Herzöge, fügte sie hinzu. Hier bemerkte sie abermals, daß die Zigeuner in unbehaglicher Stimmung zuhörten; diesmal aber waren sie nicht etwa ärgerlich, wie früher, wenn Orlando die Schönheiten der Natur pries. Vielmehr waren sie höflich, aber gezwungen, wie Leute von guter Lebensart es sind, wenn ein Fremder das Unglück gehabt hat, seine niedrige Herkunft oder seine Armut zu offenbaren. Rustum folgte ihr allein vor das Zelt und sagte, wenn ihr Vater ein Herzog wäre und all die Schlafzimmer und all das Hausgerät besäße, von denen sie da erzählte, so möchte sie sich deswegen keinen Kummer machen. Es würde darum keiner schlechter von ihr denken. Da fühlte Orlando sich von einer Scham ergriffen, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Es war klar, daß für Rustum und die anderen Zigeuner ein Stammbaum, der vier- oder fünfhundert Jahre zurückreichte, das Armseligste war, was man sich denken konnte. Denn ihre eigenen Familien ließen sich mindestens zwei- oder dreitausend Jahre zurückverfolgen. Für den Zigeuner, dessen Vorfahren Jahrhunderte vor Christi Geburt die Pyramiden gebaut hatten, war der Stammbaum der Howards und der Plantagenets nicht besser und nicht schlechter als der irgendeiner Familie Smith oder Jones; das heißt: er war ihnen gleichermaßen belanglos. Obendrein: Wo jeder Hütejunge aus so uraltem Geschlecht stammte, da war eben an einer so langen Ahnenreihe nichts sonderlich Merkwürdiges oder Begehrenswertes mehr; Landstreicher und Bettler hatten sie ja auch. Und zu alledem: Der Zigeuner war zwar zu höflich, um es auszusprechen, aber es war klar, daß es nach seiner Auffassung keinen gemeineren Ehrgeiz geben konnte als den, Schlafzimmer zu Hunderten zu besitzen, wo doch (sie standen während dieses Gesprächs auf der Kuppe eines Hügels; es war Nacht; rings um sie her ragten die Berge) uns Menschen die ganze Erde gehört. Orlando begriff: Vom Zigeunerstandpunkt betrachtet, war ein Herzog nichts weiter als ein Geschäftemacher oder Räuber, der Leuten, die solchen Dingen geringen Wert beimaßen, Land und Geld wegschnappte, und der nichts Gescheiteres im Kopfe hatte, als sich dreihundertfünfundsechzig Schlafzimmer zu bauen, wo doch eines genug war und gar keins sogar noch besser als überhaupt eins. Sie konnte nicht leugnen, daß ihre Vorfahren Besitz auf Besitz gehäuft hatten: Felder und aber Felder; Häuser und aber Häuser; Ehren und aber Ehren; und doch waren weder Heilige noch Helden noch große Wohltäter der Menschheit in ihrer Reihe zu entdecken. Auch mußte sie verstummen vor dem Argument (Rustum besaß zuviel natürliche Ritterlichkeit, um es nachdrücklich zu betonen, aber sie verstand ihn auch so), daß jeder, der die Taten ihrer Vorfahren von vor drei- oder vierhundert Jahren etwa heutigentags wiederholen wollte, in Schanden ein gemeiner Emporkömmling, ein Glücksritter, ein ›nouveau riche‹ genannt werden würde – und das am allerlautesten gerade von ihrer Familie.

Sie versuchte solchen Beweisgründen mit dem bekannten, wiewohl unlauteren Mittel zu begegnen, daß sie ihrerseits das Zigeunerleben roh und barbarisch fand: und so gärte schon nach kurzer Zeit auf beiden Seiten viel böses Blut. Solche Meinungsverschiedenheiten tragen ja durchaus die Kraft in sich, Blutvergießen und Umsturz zu verschulden. Um nichtigerer Ursachen willen sind Städte geplündert worden, und viele Hunderttausende von Märtyrern haben lieber den Martertod am Pfahl erlitten, als daß sie in einer der hier umstrittenen Fragen auch nur einen Zoll breit nachgaben. Keine Leidenschaft ist stärker in der Brust des Menschen als das Verlangen, andere das glauben zu machen, was er selber glaubt. Nichts nagt so an der Wurzel seines Glücks, nichts erfüllt ihn so mit Wut wie das Gefühl, daß ein anderer gering achtet, was er hochschätzt. Whigs und Tories, Liberale und Labour-Partei – um was geht es denn bei ihren Kämpfen, wenn nicht um ihr Prestige? Was hetzt Gemeinde gegen Gemeinde und ist schuld daran, daß ein Kirchspiel dem anderen Kirchspiel jämmerlichen Untergang wünscht? Nicht Wahrheitsliebe, sondern Großmannssucht. Bei jedermann stehen ein friedliches Gemüt und Dienlichkeit höher im Kurs als der Triumph der Wahrheit und die Begeisterung wahrer Tugend. Aber diese moralischen Betrachtungen fallen in die Zuständigkeit des Geschichtsschreibers, und ihm wollen wir sie überlassen; denn sie sind so schal wie Spülwasser.

»Vierhundertsechsundsiebzig Schlafzimmer machen nicht den mindesten Eindruck auf sie«, seufzte Orlando.

»Ein Sonnenuntergang ist ihr lieber als eine ganze Ziegenherde«, sagten die Zigeuner.

Vergeblich grübelte Orlando, was da zu tun sei. Die Zigeuner verlassen und wieder Gesandter (oder vielmehr jetzt Gesandtin) werden zu sollen, schien ihr ein unerträglicher Gedanke. Aber ebenso unmöglich war es, für immer hier zu bleiben, wo es weder Tinte noch Schreibpapier, weder Ehrfurcht vor den Talbots noch Achtung vor einer Menge Schlafzimmern gab. So sann sie, als sie an einem schönen Morgen auf dem Hang des Berges Athos saß und ihre Ziegen hütete. Und da geschah es, daß die Natur, der ihr Zutrauen gehörte, ihr entweder ein Trugbild vorgaukelte oder für sie ein Wunder wirkte – hier gehen wieder einmal die Meinungen zu sehr auseinander, als daß man sich für diese oder jene Möglichkeit entscheiden könnte. Orlando starrte in ziemlich trostloser Stimmung auf den steilen Abhang zu ihren Füßen. Es war nun Mittsommer, und wenn wir für das Landschaftsbild einen Vergleich liefern sollen, so müssen wir schon sagen: sie glich einem blanken Knochen; einem Schafsgerippe: einem riesigen Totenschädel, den die Schnäbel von tausend Geiern weiß gewetzt haben. Die Hitze war sehr groß, und der kleine Feigenbaum, unter dem Orlando lag, vermochte nichts weiter auszurichten, als daß er ihren hellen Burnus mit einem Feigenblattmuster bedruckte.

Plötzlich erschien auf dem kahlen Gebirgshang gegenüber ein Schatten, obwohl da nichts war, was einen Schatten hätte werfen können. Er vertiefte sich schnell, und bald war eine grüne Mulde sichtbar, wo vorher unfruchtbares Felsgestein gewesen war. Wie Orlando hinschaute, wuchs die Mulde in die Tiefe und in die Weite, und eine parkähnliche Landschaft erschien in der offenen Flanke des Berges. Drinnen erfaßte Orlandos Blick im Winde wogendes Gras; sie sah Eichbäume da und dort aufragen: sie sah Drosseln in den Zweigen der Eichbäume hüpfen. Sie sah Rotwild mit zierlichem Schritt von Schatten zu Schatten treten, ja, sie hörte sogar das Summen der Insekten und das sachte, behagliche Seufzen und Erschauern eines englischen Sommertages. Als sie eine Weile wie gebannt hinübergestarrt hatte, begann Schnee zu fallen; bald war die ganze Landschaft nicht mehr von gelber Sonnenhelle überflutet und gefleckt, sondern mit violetten Schatten bedeckt. Nun sah sie auf den Landstraßen schwere Lastfuhrwerke daherkommen, mit Baumstämmen beladen, die, das wußte sie, zu Feuerholz zersägt werden sollten; und dann erschienen da drüben die Dächer und Glockentürme und Türme und Höfe ihres eigenen Hauses. Der Schnee fiel stark und stetig, und nun vernahm sie auch das Schurren und plumpsende Aufschlagen, wenn er das Dach hinabglitt und auf den Boden fiel. Aus tausend Schornsteinen stieg Rauch auf. Alles war so klar und scharf von Umriß, daß sie sogar eine Dohle sah, die im Schnee nach Würmern pickte. Dann allmählich vertieften sich die violetten Schatten und schlossen sich über den Lastwagen, den Rasenflächen, dem großen Haus. Alles wurde von ihnen verschlungen. Und nun war von der Grasmulde im Berg nichts mehr zu sehen, und statt des grünen Grases war da nur noch der flammende Berghang, der aussah, als hätten tausend Geier ihn kahlgepickt. Bei diesem Anblick brach Orlando in leidenschaftliche Tränen aus; mit raschen Schritten kehrte sie ins Lager der Zigeuner zurück und sagte ihnen, sie müßte sogleich, sie müßte morgen schon nach England fahren.

Es war ihr Glück, daß sie das tat. Schon hatte eine Verschwörung der jungen Männer ihren Tod beschlossen. Die Ehre forderte, so sagten sie, Orlandos Tod, denn sie denke nicht so, wie sie dachten. Allerdings würden sie es bedauert haben, wenn sie ihr die Kehle hätten durchschneiden müssen; und die Nachricht von ihrer Abreise war ihnen willkommen. Es fügte sich glücklich, daß im Hafen ein Schiff unter Segel lag, bereit zur Rückkehr nach England; und Orlando konnte, indem sie eine weitere Perle von ihrem Halsband löste, nicht nur die Überfahrt bezahlen, sondern behielt sogar noch ein paar Banknoten in ihrem Reisesack. Gern hätte sie diese den Zigeunern geschenkt. Aber sie wußte, daß sie den Reichtum verachteten; und so mußte sie sich zum Abschied mit Umarmungen begnügen, die sie ihrerseits ehrlich und herzlich meinte.


 << zurück weiter >>