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Fünftes Kapitel

Die große Wolke, die am ersten Tage des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur über London, sondern über dem ganzen britischen Inselreich hing, verharrte da; oder vielmehr: sie verharrte nicht; denn sie wurde fortwährend von tosenden Stürmen hin- und hergeschleudert, die lange genug währten, um für alle im Schatten der Wolke Lebenden außerordentliche Folgen zu haben. Es war. als hätten sich die Witterungsverhältnisse Englands gewandelt. Häufig fiel Regen, aber nur in launisch spritzenden Böen, von denen die eine kaum vorüber war, als auch schon die andere einsetzte. Die Sonne schien – natürlich schien die Sonne; aber sie war so in Wolken eingebettet, und die Luft war so gesättigt mit Wasser, daß ihre Strahlen entfärbt wurden, und purpurne, gelbrote und rote Farbenspiele, matt und glanzlos, hatten die schärfer geprägten Landschaftsbilder des achtzehnten Jahrhunderts verdrängt. Unter diesem zerbeulten und unfreundlich trüben Baldachin geriet das Grün der Kohlköpfe weniger kräftig, und die Weiße des Schnees sah verschmutzt aus. Aber das war noch nicht das schlimmste: denn feuchter Dunst, der tückischste aller Feinde, fand nun seinen Weg in jedes Haus. Sonne kann man durch Vorhänge ausschließen. Frost kann man an einem tüchtigen Feuer rösten, aber Feuchte stiehlt sich herein, während wir schlafen; Feuchte ist stumm, unsichtbar und ungreifbar, allgegenwärtig. Feuchte macht das Holz quellen, den Kessel Stein ansetzen, das Eisen rosten, den Stein zerfallen. Das alles geht ganz allmählich vor sich; und nicht eher schöpfen wir auch nur Verdacht, daß das fressende Übel am Werke ist, als bis wir eine Kommode öffnen oder einen Kohlenkasten anfassen und das ganze Ding unter unseren Händen in Stücke zerfällt.

So änderte sich denn verstohlen und unmerklich, ohne daß jemand Tag und Stunde des Wandels hätte angeben können, die ganze Beschaffenheit Englands, und niemand wußte darum. Überall waren die Wirkungen fühlbar. Den abgehärteten Landedelmann, der sich mit Freuden in einem mit klassischer Würde – sagen wir von den Gebrüdern Adams – entworfenen Raum zu einem Mahl aus Ale und Fleisch niedersetzte, begann es zu frösteln. Fußteppiche kamen auf; Bärte sprossen; Hosen wurden straff unter dem Spann des Fußes befestigt. Dem Frösteln, das er in den Beinen spürte, gab der Landedelmann bald auch in der Einrichtung seines Hauses Ausdruck: Möbel wurden mit Stoff umhüllt: Wände und Tische wurden bedeckt: nichts blieb blank und nackt. Dann vollzog sich ein erheblicher Wandel in der Ernährung. Die Teesemmeln wurden erfunden und die Teekuchen. Kaffee verdrängte als Nachtischgetränk den Portwein: und da man vom Kaffee auf ein Gesellschaftszimmer kam, in dem man ihn trinken konnte, und vom Gesellschaftszimmer auf Glasschränke, und von Glasschränken auf künstliche Blumen, und von künstlichen Blumen auf Kaminsimse, und von Kaminsimsen auf Klaviere, und von Klavieren auf Wohnzimmerballaden, und von Wohnzimmerballaden (hier überspringen wir eine oder zwei Stufen) auf unzählbare Hündchen, Matten und Deckchen und porzellanenen Zierrat – so verfiel das Heim, das jetzt allerhöchste Bedeutung erlangt hatte, einer vollständigen Verwandlung.

An der Außenseite des Hauses – das war eine weitere Folge der Feuchtigkeit – wuchs Efeu in unvergleichlicher Üppigkeit. Häuser, die aus nacktem Stein gewesen waren, wurden unter grüner Fülle begraben. In keinem Garten, mochte seine ursprüngliche Anlage von noch so strenger Regelmäßigkeit sein, fehlte ein Gebüsch, eine kleine Wildnis, ein Labyrinth. Das Licht, das in die Schlafkammern eindrang, wo Kinder zur Welt kamen, war natürlich von einem verfinsterten Grün; das Licht, das in die Wohnzimmer eindrang, wo erwachsene Männer und Frauen lebten, kam durch Vorhänge von braunem und purpurnem Plüsch. Aber der Wandel machte nicht bei den äußeren Dingen Halt. Die Feuchte schlug nach innen. Die Menschen spürten das Frösteln in den Herzen, die Feuchte in den Hirnen. Im verzweifelten Bemühen, den Gefühlen wieder so etwas wie Wärme zu geben, versuchte man sein Heil nacheinander bei diesem und jenem. Liebe, Geburt und Tod wurden in alle möglichen hübschen Redensarten wie in Windeln eingewickelt. Die Entfremdung der Geschlechter wurde immer größer. Kein offenes und ehrliches Gespräch durfte mehr geführt werden. Auf beiden Seiten wurde emsig umschrieben, umgangen, Heimlichkeit getrieben. Und wenn draußen Efeu und Immergrün im feuchten Boden hemmungslos wucherten –: genau dieselbe Fruchtbarkeit machte sich drinnen in den Häusern breit. Das Leben der Durchschnittsfrau war eine regelmäßige Folge von Niederkünften. Mit neunzehn Jahren heiratete sie und hatte es, wenn sie dreißig war, auf fünfzehn oder achtzehn Kinder gebracht; denn an Zwillingsgeburten war Überfluß. So entstand das Britische Imperium; und solchermaßen – denn der Feuchte kann man nicht Einhalt tun; sie dringt in das Tintenfaß genauso ein wie ins Holzwerk – blähten und bauschten sich die Sätze, vervielfachten sich die Adjektive, wurden lyrische Gedichte zu Epen; und nichtige Witzigkeiten, die Aufsätzchen von einer Spalte Länge gewesen waren, wurden nun zu Enzyklopädien von zehn oder zwanzig Bänden. Aber Eusebius Chubb soll uns bezeugen, welchen Einfluß dies alles auf den Geist eines feinfühligen Mannes hatte, der nichts tun konnte, um der Sache Einhalt zu gebieten.

Im letzten Teil seiner Lebenserinnerungen finden wir eine Stelle, wo er schildert, wie er eines Morgens, nachdem er fünfunddreißig Folioseiten ›über nichts und gar nichts‹ geschrieben hatte, den Deckel seines Tintenfasses zuschraubte und einen Gang in den Garten unternahm. Alsbald fand er sich rings von Gebüsch umdrängt. Zahllose Blätter raschelten und funkelten ihm zu Häupten. ›Es war mir‹, schreibt er, ›als zermalmte ich eine weitere Million von Blättern unter meinen Füßen.‹ Dicker Rauch schwelte von einem Freudenfeuer, das am Ende des Gartens brannte. Er dachte: ›Kein Feuer der Welt darf hoffen, jemals diese ungeheure, diese beklemmende Anhäufung pflanzlichen Lebens verzehren zu können.‹ Wohin er blickte, wuchs und wucherte es. Gurken ›krochen durch das Gras auf seine Füße los‹. Riesige Blumenkohlköpfe türmten sich und schwollen, bis es seiner wildgewordenen Phantasie vorkam, als wollten sie es wahrhaftig mit den Ulmen aufnehmen. Hennen legten ununterbrochen Eier von unbenennbarer Farbe. Hier dachte Eusebius Chubb mit einem Seufzer an seine eigene Fruchtbarkeit und an Jane, sein armes Weib, das eben jetzt drinnen in den Wehen des fünfzehnten Kindbettes lag: wie konnte er da, so fragte er sich, den Hühnern einen Vorwurf machen? Er blickt zum Himmel empor. Verkündete nicht der Himmel selbst – oder vielmehr die riesige Giebelseite des Himmels, die wir mit diesem Namen benennen –, daß die himmlische Hierarchie diesem Treiben zustimmte, ja nachdrücklich dazu aufforderte? Denn da oben wälzten und tummelten sich jahrein, jahraus die Wolken – wie Wale, dachte er, oder nein: wie Elefanten, ach nein, es half nichts – es gab kein Entrinnen vor dem Gleichnis, mit dem tausend Morgen luftigen Gebiets auf ihn eindrangen: der ganze Himmel, wie er sich da so über den Britischen Inseln dehnte, war nichts anderes als ein ungeheures Federbett; und die unterschiedslose Fruchtbarkeit des Gartens, des Schlafzimmers und der Hühnerstange war da oben treulich nachgeahmt. Er ging ins Haus, schrieb die obenerwähnte Stelle und legte den Kopf in einen Gasofen; als sie ihn fanden, waren, wie man so sagt, ›Wiederbelebungsversuche erfolglos‹.

Während sich all dies überall in England begab, sperrte Orlando sich in ihrem Hause in Blackfriars ab und redete sich ein, das Klima wäre noch das gleiche wie früher und man könnte noch immer reden, wie einem der Schnabel gewachsen war, und ganz nach Lust und Laune Kniehosen oder Röcke tragen. Aber da half nun alles nicht – auch sie mußte schließlich wohl oder übel anerkennen, daß die Zeiten sich geändert hatten. Eines Nachmittags – es war zu Beginn des Jahrhunderts – fuhr sie in ihrer alten Polsterkutsche durch St. James' Park, als einer jener Sonnenstrahlen, die gelegentlich, wenn auch nicht oft, den Weg zur Erde zu finden vermochten, sich durch die Wolken kämpfte und sie im Durchdringen auf wunderliche Art mit den Farben des Regenbogens sprenkelte. Für einen Menschen, der an die klaren und gleichmäßigen Himmelsfärbungen des achtzehnten Jahrhunderts gewöhnt war, sah das seltsam aus – so seltsam, daß Orlando ihr Fenster herunterließ, um hinaufzublicken. Die floh- und flamingofarbenen Wolken erweckten in ihr den Gedanken an sterbende Delphine in den Meeren Ioniens – einen Gedanken voll süßer und beklemmender Trauer; woraus ersichtlich ist, daß die tückische Feuchte auch ihr bereits unvermerkt aufs Gemüt geschlagen war. Nun aber kam eine Überraschung. Als der Sonnenstrahl die Erde traf, sah es aus, als erzeuge er – oder auch: als mache er sichtbar – eine Pyramide, oder eine Hekatombe, oder ein Siegeszeichen (denn das Ding hatte auch wiederum etwas vom Aussehen einer Festtafel) – jedenfalls: eine Anhäufung von wild zusammengewürfelten Gegenständen der verschiedensten Art, holterdiepolter zu einem gewaltigen Haufen getürmt, dort, wo jetzt das Standbild der Königin Victoria steht. Um ein mächtiges, mit durchbrochenem Gitterwerk und Blumenornamenten verziertes goldenes Kreuz waren Witwengewänder und Brautschleier geschlungen; aber damit nicht genug der wuchernden Auswüchse: sie sah Kristallpaläste, Korbwiegen, Soldatenhelme, Gedenkkränze, Backenbärte, Hochzeitskuchen, Kanonen, Weihnachtsbäume, Teleskope, ausgestorbene Untiere, Erdkugeln, Landkarten, Elefanten und mathematische Instrumente – der ganze Kram wie ein riesiges Wappenschild zur Rechten gestützt von einer weiblichen Gestalt in wallenden, weißen Gewändern, zur Linken von einem stattlichen Herrn in Gehrock und ›Schwammbeutelhosen‹. Der sinnwidrig angehäufte Plunder, das Nebeneinander von ganz Bekleidetem und halb Verhülltem, der aufdringliche Prunk der Farben und ihr streifenmusterartiges Nebeneinander flößten Orlando den tiefsten Widerwillen ein. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas so ganz und gar Schamloses, Abscheuliches und Riesenhaftes gesehen. Es war ja vielleicht nur ein Trugbild der Sonne oder der wassergesättigten Luft; ja, das mußte es sein: beim ersten Windstoß würde es verschwinden: und doch, als sie daran vorüberfuhr, sah es aus, als würde es in alle Ewigkeit dauern. Und sie fühlte, in die Ecke der Kutsche zurücksinkend: nichts auf Erden, weder Wind noch Regen, weder Sonne noch Donner konnten je diesen grellen Pomp zerstören. Nur die Nasen würden Flecken bekommen und die Trompeten rosten; aber bleiben würden sie, nach Osten, Westen, Süden und Norden weisend, ewig. Sie blickte zurück, als ihre Kutsche in rascher Fahrt den Constitution Hill nahm. Ja, da stand es, mild glänzend in einem Lichte, das – Orlando zog die Uhr aus der Tasche – natürlich das Licht eines Mittags Punkt zwölf Uhr war. Kein anderes konnte so prosaisch sein, so nüchtern, so unzugänglich für jegliche Andeutung von Dämmerung oder Sonnenuntergang, so überzeugend mit dem Anschein ewiger Dauer ausgestattet. Sie war entschlossen, nicht wieder hinzusehen. Schon fühlte sie, wie die Ströme ihres Blutes träge zu fließen begannen. Aber damit nicht genug des Seltsamen: ein Erröten, lebhaft und sonderbar, breitete sich über ihre Wangen, als sie am Buckingham Palace vorüberfuhr und ihre Blicke durch eine höhere Macht gewaltsam auf ihre Knie niedergelenkt wurden. Plötzlich sah sie mit einem erschreckten Zusammenzucken, daß sie schwarze Kniehosen trug. Ihr Erröten währte, bis sie ihr Landhaus erreicht hatte – eine Tatsache, die man, so hoffen wir, für einen sicheren Beweis ihrer Keuschheit nehmen wird, wenn man bedenkt, eine wie lange Zeit vier Pferde brauchen, um dreißig Meilen im Trabe zurückzulegen.

Sobald sie angelangt war, tat sie, was ihre Natur nun vor allem anderen gebieterisch verlangte: sie hüllte sich, so gut es gehen wollte, in eine damastene Steppdecke, die sie hastig von ihrem Bett riß. Der Witwe Bartholomew (die der guten alten Grimsditch im Haushälterinnenamte gefolgt war) sagte sie zur Erklärung, es fröstelte sie.

»Das geht uns allen so, M'lady«, sagte die Witwe und holte einen Seufzer tief aus der Brust hervor. »Die Wände schwitzen«, sagte sie mit einer wunderlichen, klagenden Genugtuung; und richtig: sie brauchte nur die Hand auf die Eichentäfelung zu legen, um einen Abdruck aller Finger zu hinterlassen. Der Efeu war so üppig gewachsen, daß er viele Fenster nun völlig versperrte. In der Küche war es so finster, daß man einen Kessel kaum von einem Durchschlag unterscheiden konnte. Eine arme schwarze Katze war irrtümlich für ein Stück Kohle gehalten und ins Feuer geschaufelt worden. Die meisten Mägde trugen schon jetzt, im August, drei oder vier rotflanellene Unterröcke.

»Aber ist es denn wahr, M'lady«, fragte die gute Frau und sackte förmlich in sich zusammen, so daß sich das goldene Kruzifix auf ihrem Busen hob, »daß die Königin – Gott segne sie! – das trägt, was die Leute eine – eine –« die gute Frau zögerte und wurde rot.

»– Krinoline nennen«, half Orlando ein (denn das Wort war auch bis nach Blackfriars gedrungen). Mrs. Bartholomew nickte. Schon rollten die Tränen ihr die Wangen hinab, aber sie lächelte im Weinen. Denn sie weinte mit Lust. Waren sie nicht allesamt schwache Frauen? und trugen Krinolinen, um so die Tatsache besser verhehlen zu können; die große Tatsache; die einzige Tatsache; die nichtsdestoweniger beklagenswerte Tatsache; die jede züchtige Frau nach besten Kräften leugnete, bis weiteres Leugnen unmöglich geworden war – die Tatsache, daß sie im Begriffe stand, ein Kind zu gebären? in Wahrheit: fünfzehn oder zwanzig Kinder zu gebären; so daß eine züchtige Frau den größten Teil ihres Lebens damit verbrachte, das zu leugnen, was wenigstens einmal im Jahr ja doch offenbar wurde.

»Ich hab die Röstsemmelns in'er Bibliothek warmgestellt«, sagte Mrs. Bartholomew und wischte ihre Tränen ab.

So setzte sich denn Orlando, in eine damastene Bettdecke gehüllt, hinter eine Schüssel mit Röstsemmeln.

»Ich hab die Röstsemmelns in'er Bibliothek warmgestellt.« Orlando äffte den schrecklichen Satz von der Londoner Gasse in Mrs. Bartholomews verfeinerter volkstümlicher Sprechweise nach, indessen sie ihren Tee trank (nein, wie sie das sanfte Getränk verabscheute!). In diesem Zimmer, diesem selben Zimmer hatte, sie entsann sich genau, Königin Elisabeth breitbeinig vor dem Kamin gestanden, einen Bierkrug in der Hand, den sie plötzlich auf den Tisch geschmettert hatte, weil Lord Burghley taktloserweise den Imperativ statt des Konjunktivs gebrauchte. »Kleiner Mann, kleiner Mann«, – Orlando hörte deutlich ihre Stimme – »sagt man ›müssen‹ zu seiner Königin? Gehört sich das?« Und der Bierkrug sauste auf den Tisch nieder. Richtig, da war noch die Stelle zu sehen.

Aber als Orlando, vom bloßen Gedanken an die große Königin gebieterisch getrieben, aufsprang, brachte die Bettdecke sie ins Straucheln, und mit einem Fluch fiel sie in den Lehnstuhl zurück. Morgen würde sie sich nun also zwanzig Ellen schwarzen Bombasin für einen Rock kaufen müssen oder womöglich noch mehr. Und dann (hier wurde sie rot) würde sie eine Krinoline kaufen müssen, und dann (hier wurde sie rot) eine Korbwiege, und dann noch eine Krinoline und so weiter – das Erröten kam und ging, von züchtiger Scham immer wieder hervorgerufen, auf die lieblichste Art, die sich erdenken läßt. Es war, als hauche der Geist der Zeit bald heiß, bald kalt ihre Wangen an. Und wenn der Geist der Zeit dabei ein bißchen außer der üblichen Reihenfolge hauchte, indem das Erröten über die Krinoline eher kam als das Erröten über den Mann, so möge Orlandos zwiespältige Lage (sogar ihr Geschlecht war ja noch strittig) und das unregelmäßige Leben, das sie früher geführt hatte, dafür zur Entschuldigung dienen.

Schließlich erlangte die Farbe ihrer Wangen die Stetigkeit zurück, und es sah aus. als ob der Geist der Zeit – wenn er wirklich im Spiel war – sich eine Zeitlang schlafen gelegt habe. Nun tastete Orlando in den Ausschnitt ihres Hemds, als wollte sie ein Medaillon oder eine Reliquie verlorener Liebe hervorholen, und zog zwar nichts dergleichen hervor, wohl aber eine Papierrolle, befleckt von Meerwasser, befleckt von Blut, befleckt von Reisestaub – das Manuskript ihres Gedichts ›Der Eichbaum‹. Sie hatte es nun seit so vielen Jahren und in so vielen Fährnissen mit sich umhergetragen, daß viele von den Seiten voller Flecke, andere zerrissen waren; und die Schreibpapiernot der Zeit bei den Zigeunern hatte sie gezwungen, kreuz und quer, durch die Zeilen und über die Ränder zu schreiben und auszustreichen, bis das Manuskript wie ein höchst gewissenhaft ausgeführtes Stück Stopfarbeit aussah. Sie blätterte zur ersten Seite zurück und las das Datum, geschrieben in ihrer eigenen Jungenhandschrift: 1586. Seit nicht viel weniger als dreihundert Jahren arbeitete sie nun schon daran. Es war an der Zeit, ein Ende zu machen. Indessen sie die Seiten umwandte und blätterte und las und Stellen übersprang und wieder las, mußte sie denken, wie wenig sie sich doch in allen diesen Jahren verändert hatte. Sie war ein schwermütiger Knabe gewesen, voll Liebe für den Tod, wie Knaben nun einmal sind; und dann war sie verliebt und überschwenglich gewesen; und dann war sie munter und spottlustig gewesen; und zuweilen hatte sie sich in Prosa versucht, und zuweilen hatte sie sich im Drama versucht. Und in allen diesen Wandlungen war sie doch, so dachte sie nun, im Grunde die gleiche geblieben. Sie hatte dieselbe zum Grübeln und Sinnen neigende Art behalten, dieselbe Liebe zu Tieren und zur Natur, dieselbe Leidenschaft fürs Land und die Schönheit der Jahreszeiten.

›Schließlich und endlich‹, dachte sie, stand auf und ging ans Fenster, ›hat nichts sich geändert. Das Haus, der Garten sind ganz genau, wie sie waren. Nicht ein Stuhl ist von der Stelle gerückt, nicht ein Stück Geschmeide verkauft worden. Da sind die gleichen Spazierwege, die gleichen Rasenplätze, die gleichen Bäume, derselbe Teich und im Teich, möchte ich behaupten, derselbe Karpfen. Gewiß, auf dem Thron sitzt Königin Victoria und nicht Königin Elisabeth, aber was für einen Unterschied – –?‹

Kaum hatte dieser Gedanke Gestalt angenommen, als auch schon, wie zur tadelnden Zurechtweisung, die Tür weit aufgerissen wurde und Basket, der Butler, hereinmarschierte, gefolgt von Bartholomew, der Haushälterin, um das Teegeschirr abzuräumen. Orlando, die gerade die Feder in die Tinte getaucht hatte, um eine Betrachtung über die ewige Dauer aller Dinge niederzuschreiben, sah sich zu ihrem Ärger durch einen Klecks gehindert, der sich rings um ihre Feder ausbreitete und mäandrische Schnörkel bildete. Sie meinte, der Fehler müßte wohl an der Feder liegen; wahrscheinlich war sie gespalten oder unsauber. Sie tauchte abermals ein. Der Klecks wuchs. Sie versuchte ihren Satz zu Ende zu bringen; aber kein Wort floß aus der Feder. Nun machte sie sich daran, den Klecks mit Flügeln und Backenbart zu verzieren, bis er ein rundköpfiges Untier geworden war, so etwa ein Mittelding zwischen Fledermaus und australischem Beuteltier. Dagegen stellte es sich als unmöglich heraus, Verse zu schreiben, solange Basket und Bartholomew im Zimmer waren. Kaum hatte sie »unmöglich« gesagt, als zu ihrem Erstaunen und ihrer Bestürzung die Feder Bögen und Karakolen zu machen begann, mit der flüssigsten Geläufigkeit, die sich denken läßt. Und die Seite wurde in der säuberlichsten Kursivschrift mit dem fadesten Vers vollgeschrieben, den Orlando je in ihrem Leben gelesen hatte:

›Ich bin ja nur ein wertloses Glied
in der schweren Kette des Lebens,
doch sprach ich so manch ein Seherwort –
oh, sag nicht, ich sprach es vergebens!

Wird nicht die einsame junge Maid,
deren Tränen im Mondlicht blinken,
da um den fernen Geliebten sie weint,
leis sagen – –‹

Dies schrieb sie, ohne abzusetzen, nieder, während Bartholomew und Basket sich seufzend und brummend im Zimmer zu schaffen machten, das Feuer versorgten, das Röstbrot wegräumten. Wieder tauchte sie die Feder ein, und schon ging es los – –

›Sie war so anders: Jenes sanfte Rot,
das einst die Wange wie ein Mantel deckte,
der rosenfarbnen Wolke gleich, die abends
den Himmel milde glühend überhängt,
verblichen war es ganz; doch brannte oft
ein hell Erröten auf, die Grabesfackel – –‹

– hier aber spritzte sie mit einer jähen Bewegung die Tinte über die Seite und überschwemmte sie mit einem Klecks, der sie – hoffentlich! – für immer den Augen der Menschen entziehen würde. Sie war ganz und gar zitternde Erregung, ganz und gar siedende Scham. Es konnte nichts Widerwärtigeres geben, als fühlen zu müssen, wie die Tinte so durch eine unfreiwillige Eingebung in Sturzbächen aus der Feder getrieben wurde. Was war mit ihr geschehen? War die Feuchtigkeit schuld, oder Bartholomew, oder was sonst? fragte sie. Aber das Zimmer war leer. Niemand antwortete ihr – wenn sie nicht etwa das Tropfen des Regens im Efeu als Antwort nehmen wollte.

Als sie so am Fenster stand, kam ihr zum Bewußtsein, daß sie am ganzen Körper ein prickelndes Summen und Schwingen spürte, als bestünde sie aus tausend Saiten, auf denen ein Lufthauch oder suchende Finger Tonleitern spielten. Bald summte es prickelnd in den Zehen; bald im Rückenmark. In den Schenkelknochen vollzogen sich die seltsamsten Dinge. Sie meinte zu fühlen, wie sich die Haare aufrichteten. In den Armen sang und schwirrte es, wie es etwa zwanzig Jahre später in den Telegraphendrähten singen und schwirren würde. Aber diese ganze Unruhe schien sich schließlich in den Händen zu sammeln; und dann in einer Hand, und dann in einem Finger dieser Hand; und zu guter Letzt zog es sich auf so engen Raum zusammen, daß es um den Mittelfinger der linken Hand einen Ring kribbelnder Reizempfindung bildete. Und als sie ihn hob, um zu sehen, was dies aufgeregte Treiben verursachte, sah sie – nichts; nichts als den großen, einzeln gefaßten Smaragd, den Königin Elisabeth ihr gegeben hatte. Und war denn das nicht genug? fragte sie. Er war von reinstem Wasser. Er war mindestens zehntausend Pfund wert. Auf höchst sonderbare Art (aber hier ist zu bedenken, daß wir es mit einer der dunkelsten Kundgebungen der menschlichen Seele zu tun haben) schien das Gekribbel zu antworten: ›Nein, das ist nicht genug!‹; und zudem schien es nun seinerseits Antwort zu heischen, als wollte es fragen – ja, was sollte es bedeuten, dies Gefühl einer Lücke, dies sonderbare Empfinden, daß da etwas fehle? – bis die arme Orlando sich des Mittelfingers an ihrer linken Hand wahrhaftig zu schämen begann, ohne im mindesten zu wissen, warum eigentlich. In diesem Augenblick kam Bartholomew herein, um zu fragen, welches Kleid sie fürs Dinner herauslegen sollte; und Orlando, deren Sinne mit großer Beschleunigung arbeiteten, warf sogleich einen Blick auf Bartholomews linke Hand und bemerkte sogleich, was sie nie zuvor wahrgenommen hatte: einen dicken Ring von einem ziemlich unangenehmen Gelb, der den vierten Finger dort umschloß, wo ihr eigener leer war.

»Laß mich mal deinen Ring sehen, Bartholomew«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihn zu nehmen.

Hier führte Bartholomew sich auf, als hätte ein Wegelagerer sie meuchlings in die Brust gestochen. Sie trat einen oder zwei Schritte zurück, ballte die Hand zur Faust und schleuderte sie von sich hinweg, mit einer Bewegung, die etwas unsagbar Erhabenes hatte. »Nein«, sagte sie mit beherzter Würde: Mylady möge ihn sich ansehen, wenn Mylady das wollte, aber ihren Ring abnehmen nein, dazu könnte sie nicht der Erzbischof und nicht der Papst und nicht Königin Victoria auf ihrem Thron zwingen. Ihr Thomas hätte ihn ihr vor fünfundzwanzig Jahren, sechs Monaten und drei Wochen auf den Finger gesteckt; sie hätte damit geschlafen; damit gearbeitet; sich damit gewaschen; damit gebetet; und sie beabsichtige, sich damit begraben zu lassen. Auch sagte sie – wenigstens meinte Orlando das ihren Worten zu entnehmen, wenn auch ihre Stimme durch die Gemütsbewegung stark beeinträchtigt war –, daß ihr je nach dem Glanz ihres Eheringes ihr Rang unter den Engeln würde angewiesen werden, und dieser Glanz würde auf ewig erblinden, wenn sie ihn auch nur für eine Sekunde aus ihrer Obhut ließe.

»Hilf Himmel«, sagte Orlando, während sie am Fenster stand und die Tauben bei ihrem losen Treiben beobachtete, »in was für einer Welt leben wir! Wahrhaftig, in was für einer Welt!« Denn sie fand sich in diesen schwierigen Zusammenhängen nicht mehr zurecht. Es kam ihr jetzt vor, als wäre die ganze Welt mit goldenen Ringen besteckt. Sie ging hinein und setzte sich zum Dinner. Überall Trauringe; eine Überschwemmung mit Trauringen. Sie ging zur Kirche. Überall Trauringe. Sie fuhr aus. Trauringe aus Gold oder Tombak, dünne, dicke, platte, glatte – matt glänzten sie an jeder Hand. Ringe füllten die Juwelierläden, aber nicht die künstlichen Steine und Diamanten, wie sie Orlando in Erinnerung hatte, sondern schlichte Reifen ohne jeglichen Stein. Gleichzeitig begann sie eine neue Gewohnheit an dem Stadtvolk zu beobachten. In den alten Tagen ertappte man oft genug einen Burschen, der sich unter einer Hagedornhecke mit einem Mädchen vergnügte. Orlando hatte auf manches Paar scherzend ihre Peitsche niederschwippen lassen und war lachend vorübergefahren. Nun war alles anders geworden. Unlöslich verkettet, schlichen und schlenderten die Paare mitten auf der Straße einher. Des Mädchens rechte Hand war unweigerlich in die linke des Mannes gelegt, und seine Finger umschlossen fest die ihren. Oft rührten sie sich erst, wenn die Nasen der Pferde sie stießen, und auch dann verließen sie zwar die Mitte der Straße, aber sie taten es schwerfällig und sozusagen in einem Stück. Orlando konnte da nur vermuten, daß am Menschengeschlecht eine neue Entdeckung gemacht worden sei; daß irgendwer sie zusammengeklebt hatte, Paar auf Paar; aber wer das getan hatte und wann, davon hatte sie keine Ahnung. Von der Natur schien es nicht gefügt worden zu sein. Sie sah die Tauben an und die Kaninchen und die Elchhunde und fand kein Anzeichen dafür, daß die Natur ihre Gewohnheiten geändert oder ausgebessert hätte – seit der Zeit der Königin Elisabeth wenigstens nicht. Zwischen den Tieren gab es, soviel sie sehen konnte, keine unlösliche Bindung; hatte also am Ende Königin Victoria diesen Wandel bewirkt? oder Lord Melbourne? Ging auf sie die große Entdeckung ›Ehe‹ zurück? Aber die Königin, so sagte sich Orlando sinnend, sollte eine Vorliebe für Hunde haben, und von Lord Melbourne hatte sie sagen hören, er hätte eine Vorliebe für Frauen. Es war seltsam – es war abstoßend; ja, wahrhaftig, es war in dieser unlösbaren Verkettung der Leiber etwas, das ihr Gefühl für Schicklichkeit und gesundheitliche Sauberkeit verletzte. Indessen waren ihre Grübeleien von einem solchen Kribbeln und schwirrenden Summen in dem erkrankten Finger begleitet, daß sie kaum ihre Gedanken im Zügel halten konnte. Sie schmachteten und äugelten wie Dienstmädchenphantasien. Orlando errötete vor Scham. Da gab es keinen anderen Ausweg: sie mußte sich auch einen von diesen scheußlichen Reifen kaufen und ihn tragen, wie alle ihn trugen. Das also tat sie und ließ ihn, von Scham überwältigt, im Schatten eines Vorhangs über ihren Finger gleiten; aber es nützte nichts. Das Kribbeln dauerte an, heftiger und entrüsteter denn je. In der Nacht darauf tat sie kein Auge zu. Als sie am anderen Morgen die Feder zur Hand nahm, um zu schreiben, ging es so: entweder sie brachte überhaupt keinen Gedanken zusammen, und die Feder weinte einen schwarzen Tränenklecks nach dem anderen; oder aber, was noch ärger war, die Feder legte im Paßgang los und ließ honigsüße Worte über frühen Tod und allgemeines Verderben dahinfließen – und das war schlimmer, als überhaupt nicht denken zu können. Denn es hatte doch den Anschein (ihr Fall bewies es), daß wir nicht mit den Fingern, sondern mit der ganzen Person schreiben. Der Nerv, der die Feder lenkt, schlängelt sich um jede Faser, windet sich durchs Herz, durchdringt die Leber. Wenn auch der Sitz des Ärgernisses die linke Hand zu sein schien, so fühlte Orlando doch, daß sie durch und durch vergiftet war; und sie sah sich schließlich gezwungen, in der äußersten Verzweiflung das letzte Mittel ins Auge zu fassen, nämlich: sich dem Geist der Zeit gänzlich und demütig zu unterwerfen und einen Ehemann zu nehmen.

Daß ihr dies gegen die Natur ging, haben wir deutlich genug dargelegt. Als der Großherzog davonfuhr und das Rollen seiner Wagenräder erstarb, drängte sich ihr der Ruf auf die Lippen: »Leben! Ein Liebhaber!« – nicht etwa: »Leben! Ein Ehemann!«; und von diesem Trachten getrieben, war sie zur Stadt gefahren und hatte sich in der ›Welt‹ umgetan, wie im vorigen Kapitel geschildert wurde. Der Geist der Zeit aber ist von so unzähmbarer Gewalt, daß er jeden, der sich gegen ihn zu stemmen versucht, weit wirksamer zu Boden schlägt als die Fügsamen, die auf seinen Wegen wandeln. Orlando hatte sich mit wesensbedingter Neigung in den Geist des Elisabethanischen Zeitalters, in den Geist der Restaurationszeit, in den Geist des achtzehnten Jahrhunderts gefügt und deshalb den Wandel von einem Zeitalter zum anderen kaum wahrgenommen. Gegen den Geist des neunzehnten Jahrhunderts aber empfand sie die allerheftigste Abneigung, und deshalb nahm er sie und brach ihren Widerstand, und ihre Niederlage kam ihr zum Bewußtsein wie nie zuvor. Denn wahrscheinlich ist es so, daß der Geist eines Menschen seinen Platz in der Zeit hat, die ihm bestimmt ist; manche sind für dieses Zeitalter geboren, manche für jenes; und nun Orlando zum Weib gereift war (sie war ja jetzt ein- oder zweiunddreißig Jahre alt), waren die Linien ihres Wesens festgelegt, und es war unerträglich, wenn sie aus der Richtung gebogen werden sollten.

So stand sie denn in düsterer Stimmung am Fenster des Salons (der ehemaligen Bibliothek; Bartholomew hatte sie umgetauft), niedergezogen vom Gewicht der Krinoline, zu der sie sich gehorsam bequemt hatte. Nie im Leben hatte sie ein so schweres Gewand von so unansehnlicher Farbe getragen. Keines hatte sie je so in ihren Bewegungen gehindert. Nun konnte sie nicht mehr freiweg mit ihren Hunden durch den Garten schreiten, nicht mehr leichtfüßig den Hügelweg hinaneilen und sich unter den Eichbaum werfen. Ihre Röcke fegten feuchte Blätter und Stroh zusammen. Der Federhut schwankte bedrohlich im Wind. Die dünnen Schuhe waren rasch durchnäßt und in Schlammklumpen verwandelt. Ihre Muskeln hatten die Geschmeidigkeit verloren. Sie fürchtete sich nervös vor hinter der Täfelung versteckten Räubern und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Angst vor Gespenstern auf den Korridoren. Alles dies brachte sie Schritt für Schritt dahin, daß sie bereit war, sich der neuentdeckten Weisheit zu unterwerfen (mochte nun Königin Victoria oder sonstwer sie herausgefunden haben): daß jeder Mensch, Mann und Frau, mit einem anderen Menschen durch Schicksalsbestimmung verknüpft ist, und daß sie einander stützen, ›bis der Tod sie scheidet‹. Es würde, fühlte sie, eine rechte Wohltat sein, sich anlehnen zu können; sich niederzusetzen; ja, sich niederzulegen; nie, nie, nie wieder aufzustehen. Dermaßen richtete der Geist der Zeit sie zu, sie, die einst so stolz gewesen war; und als sie beim allmählichen Abstieg auf der Leiter des Gefühls in diesem tiefgelegenen und ungewohnten Seelenquartier angelangt war, da sänftigte sich dieses summende Kribbeln und Zerren, das mit so peinlicher Frage Antwort heischte, zu den süßesten Melodien, bis es war, als zupften Engel mit weißen Fingern die Saiten einer Harfe, und sie fühlte sich ganz und gar durchklungen von einer himmlischen Harmonie.

Auf wen aber konnte sie sich stützen? Sie rief die Frage in den wilden Herbstwind. Denn es war nun Oktober – und naß wie üblich. Auf den Großherzog nicht: der hatte eine sehr erlauchte Dame geheiratet und jagte nun schon seit so manchem Jahr in Rumänien Hasen; auf Mr. M. nicht: der war katholisch geworden; auf den Marquis de C. nicht: der nähte jetzt Säcke in Botany Bay; auf Lord O. auch nicht: den hatten schon vor langer Zeit die Fische gefressen. Alle ihre alten Freunde waren dahin, der eine auf die, der andere auf jene Art, und die Nells und Kits aus der Drury Lane – so sehr sie ihnen gewogen war, man konnte sich doch wohl kaum auf sie stützen. »Auf wen«, so fragte sie und blickte zu den stürmisch treibenden Wolken empor (sie kniete mit gefalteten Händen auf der Fensterbank, und sie sah aus wie die Verkörperung schutzflehender Weiblichkeit), »kann ich mich stützen?« Die Worte formten sich ganz von selbst, die Hände falteten sich ganz von selbst, ohne daß ihr Wille etwas dazu tat, gerade wie die Feder ohne ihr Zutun geschrieben hatte. Es war nicht Orlando, die da sprach, sondern der Geist der Zeit. Aber wer es auch sein mochte – niemand gab Antwort. Nur die Krähen tummelten sich kreuz und quer in den violetten Herbstwolken. Der Regen hatte schließlich doch aufgehört, und am Himmel war ein Regenbogenschimmer, der sie dazu verlockte, ihren Federhut aufzusetzen und die kleinen verschnürten Schuhe anzuziehen und vor dem Dinner durch den Park zu streifen.

›Jedes Geschöpf hat seinen Gefährten, nur ich bin allein‹, grübelte sie, als sie sich traurig über den Hof schleppte. Zum Beispiel die Krähen; ja, sogar Canute und Pippin – mochten ihre Bündnisse auch vergänglich sein, es hatte doch anscheinend jedes heute abend seinen Partner. ›Ich hingegen, ich, die Herrin von alledem‹, dachte Orlando und blickte im Vorübergehen auf die zahllosen mit Wappenschilden geschmückten Fenster der Halle, ›bin einsam, bin ohne Gefährten, bin allein.‹

Solche Gedanken waren ihr noch nie zuvor in den Kopf gekommen. Nun drückten sie sie mit unentrinnbarer Gewalt nieder. Anstatt sich das Gittertor selbst aufzustoßen, klopfte sie mit der behandschuhten Hand den Pförtner heraus und ließ es sich von ihm öffnen. Man muß sich auf irgendeinen Menschen stützen, dachte sie, und wenn es auch nur ein Pförtner ist; und am liebsten wäre sie dageblieben und hätte ihm geholfen, über einem Kübel mit glühenden Kohlen sein Fleisch zu rösten, aber sie war zu schüchtern, ihn darum zu bitten. So wagte sie sich denn allein in den Park hinaus, mit unsicheren Schritten zuerst und voll Besorgnis, von Wilddieben oder Wildhütern oder auch nur Botenjungen gesehen zu werden, die sich darüber wunderten, daß eine vornehme Dame ohne Begleitung ausging.

Bei jedem Schritt schaute sie unruhig spähend umher, ob vielleicht gar hinter einem Stechginsterbusch sich irgendein Mannsbild verbarg oder eine Kuh die Hörner senkte, um sie aufzuspießen. Aber sie sah nichts als die Krähen, die am Himmel flatterten. Eine von ihnen ließ eine stahlblaue Feder ins Heidekraut fallen. Orlando liebte Wildvogelfedern. Als Junge hatte sie sie gesammelt. Sie hob sie auf und steckte sie sich an den Hut. Der frische Wind fachte ihre Lebensgeister ein wenig wieder an. Die Krähen wirbelten und kreisten über ihr, Feder auf Feder fiel schimmernd durch die purpurne Luft hernieder, und sie folgte ihnen, indessen ihr langer Mantel hinter ihr dreinflatterte, über das Heideland, den Hügel hinan. Seit Jahren war sie nicht so weit hinausgekommen. Sechs Federn hatte sie aus dem Grase aufgehoben und sie durch die Fingerspitzen gezogen und an die Lippen gedrückt, um ihre weiche, schimmernde Glätte zu spüren, als sie plötzlich auf dem Hügelhang einen silbernen Teich glänzen sah, geheimnisvoll wie der See, in den Sir Bedivere König Arthurs Schwert schleuderte. Eine einzelne Feder schaukelte durch die Luft herab und fiel mitten in den Teich. Da nun wurde sie von einem seltsamen Rauschgefühl ergriffen. Es war eine phantastische Vorstellung: so, als folgte sie den Vögeln bis an den Rand der Welt und würfe sich auf den mit Feuchte vollgesogenen Rasen und tränke Vergessen, während über ihr das heisere Gelächter der Krähen tönte. Sie beschleunigte den Schritt; sie lief; sie strauchelte; die zähen Wurzeln des Heidekrauts rissen sie zu Boden. Ihr Fußknöchel war verletzt. Sie konnte nicht aufstehen. Aber da lag sie nun und war zufrieden. Sie atmete den Duft des Gagelstrauches und des Süßspiers. Sie hörte das heisere Gelächter der Krähen. »Ich habe meinen Gefährten gefunden«, murmelte sie. »Die Heide ist es. Ich bin der Natur anverlobt«, flüsterte sie und gab sich entzückt der kalten Umarmung des Grases hin, während sie, von ihrem Mantel umhüllt, in der Erdsenke am Teich lag. »Hier will ich liegen.« (Eine Feder fiel auf ihre Stirn.) »Ich habe einen grüneren Lorbeer gefunden, als ihn der Lorbeerbaum trägt. Meine Stirn wird nun immer kühl sein. Wilde Vögel schenken mir ihre Federn – – Eule und Nachtschwalbe. Ich werde wilde Träume träumen. Meine Hände werden keinen Ehering tragen«, fuhr sie fort und streifte den Ring vom Finger. »Die Wurzeln sollen sie umschlingen. Ah!« seufzte sie und drängte den Kopf wollüstig in das feuchte Kissen, »ich habe viele Menschenalter lang das Glück gesucht und es nicht gefunden; den Ruhm gesucht und ihn missen müssen; die Liebe gesucht und sie nie erfahren; das Leben – – und siehe! der Tod ist besser. Ich habe viele Menschen gekannt, Männer und Frauen«, fuhr sie fort, »aber keinen von ihnen habe ich verstanden. Da ist es doch besser, ich liege hier in Frieden und habe nur den Himmel über mir – wie es mir der Zigeuner vor Jahren gesagt hat. Das war in der Türkei.« Und sie blickte geradenwegs hinauf in den erstaunlichen goldenen Schaum, zu dem die Wolken sich verquirlt hatten: und sah im nächsten Augenblick einen Pfad darin und sah Kamele, einzeln schreitend, eines hinter dem anderen, in der felsigen Wüste inmitten von Wolken roten Staubs; und dann, als die Kamele vorüber waren, sah sie droben nur noch Berge, sehr hoch und voll von Schluchten und mit felsigen Zinnen, und sie meinte die Glocken der Ziegen auf den Paßwegen läuten zu hören, und in den Felsenfalten waren Felder von Iris und Enzian. So wandelte sich der Himmel, und ihre Augen wanderten allmählich immer tiefer und tiefer, bis sie auf der regenverdunkelten Erde ankamen und den großen Höcker der South Downs erblickten, der sich in einer einzigen Wellenlinie an der Küste dahinzog; und dort, wo das Land aufhörte, war das Meer, das Meer mit segelnden Schiffen; und sie meinte von weit draußen her einen Kanonenschuß dröhnen zu hören und dachte zuerst: ›Das ist die Armada‹, und dann: ›Nein, es ist Nelson‹, und dann fiel ihr ein, daß diese Kriege vorüber und die Fahrzeuge da draußen fleißige Handelsschiffe waren; und die Segel auf dem gewundenen Fluß gehörten zu Vergnügungsbooten. Sie sah nun auch weidendes Vieh da und dort über die dunklen Felder verstreut, Schafe und Kühe, und sie sah in den Bauernhäusern da und dort Lichter aufblinken und Laternen sich zwischen den Tieren hin und her bewegen, wo der Schafhirt seine Runde machte und der Kuhhirt; und dann erloschen die Lichter, und die Sterne gingen auf und waren funkelnde Wirrnis am Himmel. Orlando war am Einschlafen, mit den feuchten Federn auf dem Gesicht, das Ohr an die Erde gepreßt, als sie tief drinnen einen Hammer auf einen Amboß schlagen hörte – oder war es ein schlagendes Herz? Tick-tack, tick-tack, so hämmerte es, so schlug es auf den Amboß – oder so schlug das Herz, tief in der Mitte der Erde; bis sie, lauschend, zu der Ansicht kam, daß der Ton sich zum Hufschlag eines Pferdes wandelte; eins, zwei, drei, vier zählte sie: dann hörte sie ein Stolpern: dann, als es näher und näher kam, konnte sie das Knacken eines Zweiges und das saugende Platschen des Morastes unter seinen Hufen hören. Das Pferd hatte sie fast erreicht. Sie setzte sich auf. Turmhaft aufragend gegen den gelbgeschlitzten Himmel, an dem der Morgen heraufdämmerte, saß ein Mann auf dem Rücken des Pferdes. Die Regenpfeifer hoben und senkten sich rings um ihn im Flug. Er erschrak. Das Pferd blieb stehen.

»Madam«, rief der Mann und sprang zur Erde, »Sie sind verletzt?!«

»Ich bin tot, Sir«, antwortete sie.

 

Wenige Minuten darauf verlobten sie sich.

 

Am anderen Morgen, als sie beim Frühstück saßen, sagte er ihr seinen Namen. Er hieß Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, Esquire.

»Ich wußte es!« sagte sie, denn es war etwas Romantisches und Ritterliches, Leidenschaftliches, Schwermütiges und doch Entschlossenes an ihm, das zu dem wilden, schwarzgefiederten Namen paßte – einem Namen, der in ihrer Phantasie den stahlblauen Glanz der Krähenschwingen, das heisere Lachen ihres Krächzens, das schlangenhaft sich windende Niederfallen ihrer Federn in einen silbernen Teich hatte – und noch tausend andere Dinge, die wir in aller Kürze schildern werden.

»Ich heiße Orlando«, sagte sie. Er hatte das vermutet. Denn – so erklärte er –: wenn man ein Schiff mit vollen Segeln, sonnenüberglänzt, von den südlichen Seen her über das Mittelländische Meer daherfliegen sieht, so sagt man alsbald: ›Orlando!‹

Denn es war so: Sie hatten, wie es immer zwischen Liebenden geschieht, in höchstens zwei Sekunden alles irgendwie Bedeutsame übereinander erahnt, so kurz ihre Bekanntschaft auch erst war; und nun blieb nur noch übrig, so unbedeutende Einzelheiten nachzutragen, wie zum Beispiel: ihre Namen; wo sie wohnten; und ob sie Bettler oder vermögende Leute waren. Er hätte ein Schloß auf den Hebriden, sagte er, aber es wäre eine Ruine. Weiße Tölpel – damit waren Meervögel gemeint – vergnügten sich im Festsaal. Er wäre Soldat und Seemann gewesen und hätte den Fernen Osten erforscht. Nun wäre er auf dem Wege nach Falmouth, um an Bord seiner Brigg zu gehen, aber der Wind wäre abgefallen, und er könnte nur bei Südwestbrise auslaufen. Orlando blickte hastig aus dem Fenster des Frühstückszimmers zu dem güldenen Leoparden auf der Wetterfahne hinauf. Gott sei Dank! wies sein Schwanz gerade nach Osten und stand still wie ein Fels. »Oh, Shel, verlaß mich nicht!« rief sie. »Ich bin schrecklich in dich verliebt.« Kaum waren die Worte ihrem Munde entflohen, als ein schauerlicher Argwohn sich gleichzeitig in beider Gehirne stürzte.

»Du bist eine Frau, Shel!« rief sie.

»Du bist ein Mann, Orlando!« rief er.

Nie hat es, seitdem die Welt steht, einen solchen Auftritt der Entrüstung und des Gegenbeweises gegeben. Als er vorüber war und sie wieder auf ihren Stühlen saßen, fragte sie ihn, was er da vorhin von der Südwestbrise geredet hätte? und wohin er wollte?

»Nach Kap Hoorn«, sagte er kurz und wurde rot. (Denn der Mann muß genausogut erröten wie die Frau, nur bei erheblich anderen Anlässen.) Und erst nach langem Drängen und starkem Einsatz eigener Entschlußkraft vermochte sie aus seinen Worten zu entnehmen, daß er sein Leben an das verzweifeltste und großartigste aller Abenteuer setzte – nämlich die Reise rund um Kap Hoorn, dem Sturm gerade entgegen. Masten waren über Bord geschlagen worden; Segel in Fetzen gerissen (sie mußte dieses Eingeständnis förmlich aus ihm herauszerren). Zuweilen war das Schiff untergegangen, und er war als einzig Überlebender mit einem Stück Schiffszwieback auf einer Planke übriggeblieben.

»Das ist ja so ziemlich alles, was ein rechter Kerl heutzutage tun kann«, sagte er einfältig und füllte sich gehäufte Löffel voll Erdbeermarmelade auf den Teller. Da hatte sie eine Vision: sie sah diesen Jungen (denn mehr war er ja kaum), Pfefferminzpastillen lutschend, die er leidenschaftlich liebte, indessen die Masten krachten und die Sterne tanzten und taumelten, kurze Befehle brüllen, dieses zu kappen und jenes über Bord zu werfen. Das trieb ihr die Tränen in die Augen: Tränen, das fühlte sie, von edlerer Würze, als sie sie je zuvor geweint hatte. ›Ich bin eine Frau‹, dachte sie, ›ich bin doch wohl eine richtige Frau.‹ Sie dankte Bonthrop aus tiefstem Herzen dafür, daß er ihr dieses seltene und unerwartete Entzücken geschenkt hatte. Wäre ihr linker Fuß nicht lahm gewesen, so hätte sie sich auf sein Knie gesetzt.

»Shel, Liebster«, fing sie wieder an, »sage mir – –« und so redeten sie zwei Stunden oder noch länger, vielleicht über Kap Hoorn, vielleicht auch nicht über Kap Hoorn. und es käme wirklich wenig dabei heraus, wenn wir aufschreiben wollten, was sie sagten, denn sie kannten einander so gut, daß sie alles sagen konnten, und das kommt auf dasselbe heraus, als wenn man gar nichts sagt – oder über ganz dumme, prosaische Dinge redet, zum Beispiel: wie man einen Pfannkuchen bäckt oder wo in London man die besten Stiefel kauft – Dinge, die ohne Glanz sind, löst man sie aus ihrer Fassung heraus, darin sie jedoch unzweifelhaft in erstaunlicher Schönheit glänzen. Denn die weise Sparsamkeit der Natur hat es so eingerichtet, daß der Geist der Jetztzeit der Sprache fast ganz entraten kann: die landläufigsten Ausdrucksmittel genügen, ja es geht schließlich sogar ganz ohne Ausdrucksmittel; daher ist die alltäglichste Unterhaltung oft von höchstem poetischem Reiz, und gerade diese kann man nicht aufzeichnen. Aus diesem Grunde lassen wir hier einen großen weißen Raum, den der Leser als Anzeichen dafür zu nehmen hat, daß dieser Raum bis zum Bersten angefüllt ist.

 

Nach etlichen weiteren Tagen solchen Gesprächs fing Shel gerade an:

»Orlando, Liebste …«, als draußen Schritte schlurften und der Butler Basket mit der Meldung eintrat, es wären zwei Polizeibeamte unten mit einem Auftrag der Königin.

»Sollen raufkommen«, sagte Shelmerdine kurz, als stünde er auf seinem Quarterdeck, und er stellte sich unwillkürlich, die Hände auf dem Rücken, vor den Kamin. Zwei Beamte in flaschengrünen Uniformen, Knüppel im Gürtel, traten ein und standen stramm. Nach Erledigung der Formalitäten überreichten sie Orlando zu eigenen Händen, wie es ihr Auftrag war, eine Rechtsurkunde von sehr eindrucksvoll aussehender Beschaffenheit, wenn man nach den Klecksen Siegelwachs, den Bändern, den eidlichen Versicherungen und den Unterschriften urteilen wollte; denn alles dies zeugte von höchster Wichtigkeit.

Orlando überflog das Schriftstück und las dann, mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Zeilen fahrend, die folgenden Tatsachen vor, die den Kern des Schriftstückes bildeten:

»Die Prozesse sind entschieden, einige zu meinen Gunsten, zum Beispiel … andere nicht. Die in der Türkei geschlossene Ehe ist für null und nichtig erklärt (ich war nämlich Gesandter in Konstantinopel, Shel«, fügte sie erklärend hinzu). »Die Kinder gelten als unehelich geboren (es wurde nämlich behauptet, ich hätte drei Söhne von Pepita, einer spanischen Tänzerin). Also sind sie auch nicht erbberechtigt. Das freut mich. – Geschlecht? Was steht da vom Geschlecht? Mein Geschlecht«, las sie mit einiger Feierlichkeit vor, »steht nun unanfechtbar und über jeden Schatten eines Zweifels erhaben fest, und es ist (was hab ich dir gerade eben gesagt, Shel?) weiblich. Die Beschlagnahme der Güter wird aufgehoben, und sie fallen von jetzt ab und in alle Ewigkeit meinen männlichen Leibeserben als unveräußerliches Erblehen zu, oder, für den Fall, daß ich unverehelicht bleibe …«, aber hier packte sie die Ungeduld über diesen amtlichen Wortschwall, und sie sagte: »– – aber ich werde ja nicht unverehelicht bleiben, und an Leibeserben wird es auch nicht fehlen; da können wir uns den Rest schenken.« Hierauf setzte sie ihre Unterschrift neben die Lord Palmerstons und gelangte mit diesem Augenblick in den uneingeschränkten Besitz ihrer Titel, ihres Hauses und ihres Vermögens – welch letzteres allerdings durch die ungeheuren Kosten der Prozesse so zusammengeschrumpft war, daß sie nun zwar wieder höchst erlauchten Ranges, aber auch ganz und gar verarmt war.

Als die Nachricht von dem Ausgang des Prozesses bekannt wurde (und das Gerücht flog viel rascher als der telegraphische Funke, der heute an seine Stelle getreten ist), geriet die ganze Stadt in einen Freudentaumel. [Pferde wurden an Wagen gespannt, nur um sie auszuführen. Leere Kutschen und Landauer fuhren unaufhörlich die Hauptstraße auf und ab. Vom ›Stier‹ wurden Reden gehalten. Vom ›Hirsch‹ erfolgten Gegenreden. Die Stadt war festlich beleuchtet. Goldene Schatzkästchen wurden fest und sicher in Glaskästen verschlossen. Münzen wurden recht gründlich blankgewetzt. Krankenhäuser wurden errichtet. Ratten- und Sperlingsklubs ins Leben gerufen. Zu Dutzenden wurden auf dem Marktplatz in effigie Türkinnen verbrannt, desgleichen viele Bauernjungen, denen ein Schild aus dem Mund hing, worauf geschrieben stand: ›Ich bin ein gemeiner Betrüger und Erpresser.‹ Bald schon sah man die cremefarbenen Ponys der Königin die Straße herauftraben mit der Einladung, daß Orlando noch am selben Abend im Schlosse speisen und schlafen solle. Ihr Tisch war, wie schon bei einem früheren Anlaß, völlig unter Einladungen begraben: von der Gräfin von R., Lady Q., Lady Palmerston, der Marquise von P., Mrs. W. E. Gladstone und anderen Damen, die um die Ehre ihrer Gesellschaft baten und an alte Beziehungen zwischen den beiderseitigen Familien erinnerten. Und so weiter.] Das alles steht, wie es sich gehört, in eckigen Klammern, genau wie oben, aus dem guten Grund, weil es sich dabei um ein völlig belangloses Einschiebsel in Orlandos Leben handelt. Sie übersprang das alles denn auch, um im Text weiter voranzukommen. Denn während auf dem Marktplatz die Freudenfeuer lohten, war Orlando in den dunklen Wäldern – ganz allein mit Shelmerdine. Das Wetter war so schön, daß die Bäume ihre Zweige regungslos emporstreckten, und wenn ein Blatt fiel, so fiel es, rot und golden getupft, so langsam herab, daß man es eine halbe Stunde lang flattern und sinken sah, bis es schließlich auf Orlandos Füßen liegenblieb.

»Erzähl mir doch, Mar«, fing sie dann wohl an (und hier müssen wir eine Erläuterung einschalten: Wenn sie ihn mit der ersten Silbe seines Namens nannte, so war sie in träumerischer, verliebter, hingebender Stimmung, häuslich, ein wenig schlaff: so, als wäre es Abend, aber noch nicht Zeit zum Umkleiden, würzig duftende Holzscheite brennten im Kamin, und draußen wäre es ein wenig feucht, gerade genug, daß die Blätter schimmerten, aber in den Azaleen sang vielleicht doch eine Nachtigall, und auf fernen Bauernhöfen bellten zwei oder drei Hunde, ein Hahn krähte – all das, so möge der Leser sich vorstellen, lag im Klang ihrer Stimme) – »erzähl mir doch von Kap Hoorn, Mar.« Dann stellte Shelmerdine am Boden aus Zweigen und dürren Blättern und ein paar leeren Schneckenhäusern ein Modell Kap Hoorns her.

»Hier ist Norden«, sagte er. »Da ist Süden. Aus dieser Richtung hier kommt der Wind. Die Brigg segelt in genau westlicher Richtung; wir haben gerade den gebrochenen Besanbaum niedergeholt – ja, und siehst du, hier wo ich das Grasbüschel hingelegt habe, kommt die Brigg in die Strömung – die Strömung, die du eingezeichnet siehst – wo ist die Karte, Bootsmann? Und der Kompaß? Aha, ja, danke – hier, wo das Schneckenhaus liegt. Die Strömung faßt sie steuerbord, und deshalb müssen wir den Klüverbaum zutakeln, sonst werden wir nach backbord abgetrieben – backbord, siehst du, hier, wo das Buchenblatt liegt – das ist nämlich so, Liebste – –« und so redete er immer weiter, und sie lauschte auf jedes Wort und deutete alles richtig. Das will sagen: sie sah, ohne daß er es ihr zu schildern brauchte, die phosphoreszierenden Wellen; hörte die Eiszapfen in den Wanten klirren; sah ihn beim Sturm auf die Mastspitze klettern; droben über die Bestimmung des Menschen nachdenken; wieder herunterkommen; einen Whisky mit Soda trinken; an Land gehen; in die Netze einer Negerin fallen; es mit der Reue kriegen; die Sache gründlich bedenken; Pascal lesen; den Entschluß fassen, philosophische Bücher zu schreiben; einen Affen kaufen; über den wahren Sinn des Lebens streiten; sich dann doch für Kap Hoorn entscheiden; und so fort. Alles dies und noch tausend andere Dinge hörte sie aus seinen Worten heraus; und wenn er ihr erzählt hatte, daß der Vorrat an Schiffszwieback zu Ende ging, und sie dann antwortete: »Ja, Negerinnen haben etwas Verführerisches, nicht?« – so war er überrascht und entzückt, wie gut sie verstanden hatte, was er meinte.

»Bist du auch sicher, daß du kein Mann bist?« forschte er ängstlich, und von ihr klang es zurück:

»Wie ist es nur möglich, daß du keine Frau bist?« – und dann mußten sie beiderseits unverzüglich den Beweis erbringen. Denn sie waren beide so überrascht, wie schnell sie einander ganz und gar verstanden hatten, und es war eine so wunderbare Entdeckung, daß eine Frau so großzügig und offenherzig sein konnte wie ein Mann und ein Mann so unerfahren und gleichzeitig so gescheit wie eine Frau –: da mußte man augenblicklich die Probe aufs Exempel machen.

So also redeten sie miteinander – oder vielmehr: verstanden sie einander; denn das ist die Hauptkunst des Gesprächs in einer Zeit, in der Worte sich im Vergleich mit Gedanken und Vorstellungen täglich als so unzulänglich erweisen, daß man sagen muß: ›Der Schiffszwieback geht zu Ende‹, wenn man schildern möchte, wie man eine Negerin im Dunkeln geküßt hat; nachdem man gerade Bischof Berkeleys philosophische Schriften zum zehnten Male gelesen hat. (Und daraus kann man schließen, daß nur der zu vollkommener Meisterschaft gelangte Beherrscher des Stils die Wahrheit aussagen kann; findet man aber einmal einen kunstlosen Schriftsteller, der mit wenigen Worten auskommt, so darf man ohne den Schatten eines Zweifels folgern, daß der arme Mann lügt.)

So also redeten sie; und dann, wenn ihre Füße hübsch mit herbstbunten Blättern zugedeckt waren, stand Orlando auf, schlenderte einsam davon in den Wald hinein und ließ Bonthrop allein inmitten seiner Schneckenhausabbildungen von Kap Hoorn sitzen. »Bonthrop«, sagte sie dann, »ich gehe jetzt weg«; und hier muß der Leser sich klarmachen, daß diese Anrede mit dem zweiten Namen ›Bonthrop‹ ihren besonderen Sinn hatte. Sie sollte bedeuten, daß sie in einsiedlerischer Stimmung war, daß sie sich als Sandkorn in einer Wüste empfand (und Bonthrop als das zweite Sandkorn) und daß sie nur den einen Wunsch hatte: dem Tod allein gegenüberzutreten. Denn wir Menschen sterben täglich – wir sterben am Tisch beim Essen oder, wie Orlando, draußen im herbstlichen Wald; und indessen die Freudenfeuer lohten und Lady Palmerston oder Lady Derby sie allabendlich zum Dinner einluden, überkam sie das Verlangen nach dem Tod, und wenn sie sagte ›Bonthrop‹, so bedeutete das in Wahrheit ›ich bin tot‹; so schwebte sie (wie ein Gespenst, könnte man sagen) zwischen den geisterblassen Buchenbäumen dahin und ruderte auf solche Art weit hinaus aufs Meer der Einsamkeit, nicht anders, als wäre das bißchen Geflacker irdischen Lärmens und Treibens vorüber, und der Weg stünde ihr nun offen, wohin sie wollte. Alles dies möge der Leser im Klange ihrer Stimme hören, wenn sie ›Bonthrop‹ sagte; und er möge, um den Sinn des Wortes noch heller zu beleuchten, sich ferner vorstellen, was das Wort für Bonthrop selbst geheimnisvoll bedeutete: nämlich Trennung und Vereinsamung und ein (körperloses) Hin- und Herschreiten auf dem Deck seiner Brigg in unmeßbar tiefen Meeren.

Nach ein paar Stunden des Totseins geschah es dann, daß ein Häher »Shelmerdine!« schrie: dann bückte sie sich, pflückte eine herbstliche Krokusblüte, die manchen Menschen genau dieses Wort bedeutet, und steckte sie zusammen mit der Häherfeder, die blauglänzend durch das Buchengeäst herabgetaumelt kam, in den Ausschnitt ihres Kleides. »Shelmerdine!« rief sie, und der laute Ruf flog hierhin und dorthin durch den Wald und traf schließlich ihn, der im Gras saß und Seekarten aus Schneckenhäusern verfertigte. Er sah sie, er hörte, wie sie zu ihm kam mit dem Krokus und der Häherfeder an der Brust, und er rief »Orlando!« Dies nun wiederum bedeutete (und hier muß der Leser sich vergegenwärtigen, daß, wenn helleuchtende Farben wie Blau und Gelb sich vor unseren Augen mischen, etwas davon auf unsere Gedanken abfärbt) – bedeutete zunächst, daß das Farnkraut sich neigte und schwankte, als bahne sich etwas den Weg durch das Gebüsch; dann stellte sich heraus, daß dieses Etwas ein Schiff mit vollen Segeln war: es hob sich und schwankte ein wenig traumverloren daher, als hätte es für seine Reise ein ganzes Jahr aus lauter Sommertagen zur Verfügung; so hielt das Schiff auf ihn zu, hierhin und dorthin sich hebend und senkend, prachtvoll und lässig, und erklimmt jenen Wellenberg und sinkt hinab in jenes Wellental: und so ist es plötzlich über dir (der du in einer kleinen Nußschale von Boot sitzest und zu ihm emporblickst), und alle seine Segel zittern und zucken und sieh, nun fallen sie alle herab und liegen, ein Leinwandhaufen, auf Deck – – und so ließ sich nun Orlando neben ihm ins Gras fallen.

Acht oder neun Tage hatten sie mit solchem Treiben verbracht; am zehnten aber (es war der 26. Oktober) lag Orlando im Farnkraut, während Shelmerdine Shelley rezitierte, dessen sämtliche Werke er auswendig wußte: als ein Blatt, das zu Anfang langsam genug aus einer Baumkrone herniedergefallen war, eilig über Orlandos Füße hüpfte. Ein zweites folgte, ein drittes. Orlando erschauerte und wurde blaß. Der Wind war da. Shelmerdine – aber hier wäre es wohl angemessen, sich des Namen Bonthrop zu bedienen – sprang auf die Füße.

»Der Wind!« rief er.

Alle beide rannten sie durch die Wälder, und der Wind bewarf sie mit Blättern; rannten in den großen Hof und durch den großen Hof und durch die kleinen Höfe, vorüber an erschreckten Dienstboten, die ihre Besen und Schmorpfannen im Stiche ließen, um ihnen zu folgen; rannten, bis sie die Kapelle erreichten. Dort wurden, so rasch es gehen wollte, ein paar verstreute Leuchter angezündet; hier klopfte einer säubernd eine Sitzbank ab, dort schneuzte ein anderer ein Licht. Glocken wurden geläutet, Leute zusammengeholt. Schließlich war auch Mr. Dupper zur Stelle, kämpfte mit den Enden seiner weißen Binde und wollte wissen, wo sein Gebetbuch wäre. Und sie steckten ihm Königin Marias Gebetbuch in die Hand, und er suchte hastig blätternd darin umher und sagte: »Marmaduke Bonthrop Shelmerdine und Lady Orlando, kniet nieder!« Und sie knieten nieder, und bald waren ihre Gestalten im Licht und bald waren sie im Dunkeln, je nachdem Helligkeit und Schatten in raschem Vorüberfliegen durch die bunten Scheiben drangen; und zahllose Türen fielen dröhnend ins Schloß, und es klang ein Lärm, als würde auf Messinggeschirr geschlagen, und dazwischen spielte die Orgel, bald mit lautem Donner, bald leise murrend, und Mr. Dupper, der nun ein sehr alter Mann geworden war, versuchte mit seiner Stimme den Aufruhr zu übertönen und vermochte es nicht: und dann war alles einen Herzschlag lang still, und ein einzelnes Wort – vielleicht war vom ›Rachen des Todes‹ die Rede – klang klar und deutlich durch den Raum; und die ganze Dienerschaft des Gutes, Harken und Peitschen noch in den Händen, drängte herein, um zuzuhören, und die einen sangen laut und die anderen beteten, und nun schleuderte der Wind einen Vogel gegen das Fenster, und dann krachte ein Donnerschlag, so daß niemand das Wort ›Gehorsam‹ vernahm – und auch den Ring sah niemand von Hand zu Hand gehen, außer daß es vielleicht flüchtig golden aufblitzte. Und alles war Bewegung und wirres Durcheinander. Auf standen sie, indessen die Orgel dröhnte und die Blitze spielten und der Regen strömte, und Lady Orlando, den Ehering am Finger, trat in ihrem dünnen Kleid auf den Hof hinaus und hielt den schwankenden Steigbügel, denn das Pferd stand, den Schaum noch auf den Flanken, gesattelt und gezäumt fertig da, um von ihrem Gatten bestiegen zu werden; und er schwang sich mit einem Satz in den Sattel, und das Pferd schoß mit einem Sprung davon, und Orlando stand da und schrie: »Marmaduke Bonthrop Shelmerdine!« und er antwortete: »Orlando!« – und die Worte flogen auf und kreisten zwischen den Glockentürmen wie wilde Falken und stiegen höher und höher, weiter und weiter, schneller und schneller, bis sie barsten und als ein Schauer von Scherben zur Erde fielen; und Orlando ging ins Haus.


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