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Was erlebt ward, wird erzählt,
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(1927.)
Bevor mein Vater das Ideal seines Lebens, die Theaterleitung in Schwerin, erreichen durfte, war er Regierungsrat in Breslau, aber nicht ohne starken künstlerischen Einschlag. Mit seinem hübschen Bariton, seiner italienischen Stimmschulung und seinem guten Humor war er ein beliebter Sänger in privaten Kreisen, aber auch, wenn nicht Mitbegründer, doch eifrigstes Mitglied des Breslauer »musikalischen Zirkels«, der auch Konzerte gab. Protektor dieser regen Dilettantenschar war Rudolf von Keudell, der bekannte hochmusikalische Freund Bismarcks und auch meines Vaters, damals auch an der Breslauer Regierung, später deutscher Botschafter am italienischen Hofe, wo sich dann ein internationaler »musikalischer Zirkel« um ihn bildete.
Unter den Breslauer Zirkelkünstlern ragte in jedem Sinn ein Herr von Fabeck hervor, ein junger, schlanker Offizier, der besonders mit Löwe'sche Balladen glänzte: dann stellte er sich, ohne Noten, stramm militärisch, aber die Hände auf dem Rücken, vor das Publikum und schmetterte mit einer stahlhellen Tenorstimme und jugendlich forschem Ausdruck in den Saal hinein: »Herr Heinrich saß am Vogelherd –«! Da lernte ich, ein grüner Tertianer des Elisabeth-Gymnasiums und eifriger kleiner Zirkelzaungast, Löwe für mein Lebtag lieben. Ich habe immer Glück mit ihm gehabt; denn mein zweiter Löwe-Sänger war kein Geringerer als Richard Wagner, der uns mit unbeschreiblichem Ausdruck »Edward«, »Elvershöh« und »Walpurgisnacht« sang, und mein dritter Meister Eugen Gura mit seinen unvergeßlichen Balladen-Abenden in der Berliner Philharmonie, wo »Prinz Eugen«, »Archibald Douglas«, »Der Nöck« und das »Hochzeitslied« eine nie zu ersättigende Begeisterung weckten und mir Kunsteindrücke hinterließen, die zu den schönsten meines Lebens gehören. Aber die Löwengeburt fand für mich damals im Breslauer Zirkel statt; das war in den ersten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Ebenso lebhaft vor mir steht aber noch eine andere Zirkelerinnerung. Der liebenswürdige Protektor Keudell führte die Kunst gelegentlich auch in die Natur. Da ging es dann im lustig belebten Kahn auf der Oder nach einem netten Uferdörfchen Pirscham, wo unter fröhlichen Gesängen bis in den späten Abend hinein eine ergiebige Maibowle vertilgt ward – auch daran wurde ich kleiner »Peppo«, wie mein Vater sagte, freundlich beteiligt und zeigte wenigstens das Talent, etwas vertragen zu können! Das Schönste war die Heimfahrt unter dem Sternenhimmel sanft hingleitend auf dem breiten, mondschimmernden Strom, – und da drängt sich in mein stimmungsvolles Erinnerungsbild eine nicht gerade zum Zirkel gehörige belustigende Gruppe, die zur edlen Kunst einen äußerst natürlichen Untergrund lieferte. Wie sie in unseren Sängerkahn geraten war, Dionysos unter die Apollopriester, das mag Silenos wissen. Wahrscheinlich hatte der menschenfreundliche Keudell der derben schlesischen »Frau aus dem Volke« ein Transportmittel einzuräumen für gut befunden, und das war es auch und sehr nötig! Denn da saß nun das brave Weib mitten unter uns, und auf ihrem Schoß ruhte hingegossen die lange Gestalt ihres schwerberauschten Ehegatten, dem sie ab und zu mit harten Knöcheln an die Stirn pochte – was ohne Erfolg war, aber für uns ergreifend von dem im liebevollsten Tone wiederholt geäußerten Koseworte: »Du Ääs'tel!« begleitet ward. Und oben schienen Mond und Sterne, unten rauschte sanft der Strom, und Herrn von Fabecks helle Stimme rief in die Nacht hinaus: »Unzählige selige Leute! So ging es und geht es noch heute!«
Da war der Zirkel auf der Höhe seines Lebens, doch schon drohte ihm ein fast vernichtender Schlag. Bismarck berief feinen Freund Keudell zu sich ins Ministerium nach Berlin, und beinahe wäre mein Vater mitgenommen worden – glücklicherweise blieb er für Schwerin gerettet, was auch ich noch sehr zu schätzen gelernt habe! So konnte er seinem scheidenden Freund auf einem feierlichen Abschiedsfest des Zirkels noch den letzten Liebesgruß mit auf den hohen Meg geben. Er sang ihm auf die Melodie der »Register-Arie« des Leporello mit seinem prächtigen humoristischen Ausdruck überaus wirkungsvoll die Verse, welche er – »mit meiner Hilfe« – Vater und Sohn als poetenbrüderliches Dioskurenpaar, zusammengeschmiedet hatte. Es macht vielleicht Spaß – mir wenigstens! – dieses einzigartige Opus der völligen Vergessenheit entrissen zu sehen. Es lautete also:
Festversammlung! Es verläßt unsre Kreise
heut ein Mann, der mit rastlosem Fleiße
uns gereicht musikalische Speise –
wenn's gefällig, so höret mich an:
mehr erzähl' ich vom trefflichen Mann!
Aus der Lebensgeschichte ergibt sich:
in Berlin gab Konzerte er siebzig,
dann bewundert
hat Potsdam einhundert,
aber in Breslau –
aber in Breslau gab's hundert und drei,
ja, hundert drei!
Ich war dabei!
Alle, alle Komponisten,
ob sie Juden oder Christen,
selber auch den alten Haydn,
spielt er samt den Bächen beiden,
Schubert, Chopin, Mozart, Weber, Mendelssohn und Beethovén,
alle spielt er, ach, so schön!
Mit Magnifica
à quatre
mains gar oft gespielet hat er,
auch accompagnieret lange
Fräulein Rieger zum Gesänge
und begleitet immer stracks
Herrn von Fabeck und Frau Sachs.
Alles hat der Mann gekonnt:
zauberhaft war sein Belmont!
Lieder hat er komponieret,
voller Würde auch taktieret,
Solo sang er und im Chore,
Half im Baß und im Tenore.
Partitur las er im Minter,
auf Partie'n im Sommer sinnt er:
hin nach Pirscham steuert Keudell,
sorget dort für volle Seidel
und für Kaffee, guten Kaffee,
sehr viel Kaffee, ja, für Kaffee,
Kaffee, Kaffee, Kaffee, Kaffee –
für volle Seidel
und auch für Kaffee
sorgte Keudell! –
– – – – –
Vater war er unsrem Kreise,
doch er muß nun auf die Reise,
wird entrückt zu höheren Sphären
nimmermehr uns wiederkehren!
Aus ist hier sein Musizieren,
Quartettieren, Dirigieren,
nimmer wird er uns nach Pirscham führen!
Armer Zirkel, wirst es spüren,
was es heißet Witwe sein!
Hüll' in Trauer tief dich ein!
Einmal noch die Gläser fülle,
ihm den Abschiedstrunk zu weih'n:
stille – stille – stille – stille –
uns ist weh,
ach, so weh,
ja, gar weh:
denn wir sagen ihm Ade!
(1927.)
Das Klavierspiel erlernte ich mit etwa 10 Jahren nach der Schindelmeißer'schen Methode auf einer Klaviatur von Pappe! Man kann sich denken, wie ersprießlich dies war für die Ausbildung des Gehörs und des Anschlags! Später bekam ich freilich einen Musikprofessor, der war nicht von Pappe, aber starrer »Klassiker«, dem die damals aufkommende »Zukunftsmusik« für eine Ausgeburt der Hölle galt. Meine Schulpflichten geboten diesem Unterricht baldigen Schluß, und nun verfiel ich rettungslos den teuflischen Mächten des »Tannhäuser« und des »Lohengrin«. Das trieb mich wieder an das Klavier. Meine Technik war – pappern, aber ich las flott vom Blatt, und mein « Blatt » waren die Wagnerischen Klavierauszüge. Mein Vater, obwohl ein scharfer Gegner der neuen Musik, gönnte mir das seltsame Vergnügen, aber aus Mitleid, nicht so sehr mit mir verlorenem Kinde meiner Zeit, als mit seinem guten Flügel, stiftete er mir ein altes Harmonium. Das stammte aus dem Irrenhause! Von den Irren genügend abgespielt, ward es um ein Billiges losgeschlagen, war also das Losschlagen gewöhnt, und was konnte vorzüglicher passen zu dem »Irrsinn« meiner Zukunftsmusik? In Rücksicht auf meinen Schindelmeißer'schen Anschlag ward es auf mein außer Gehörweite liegendes Dachstübchen gestellt. Da tobte sich nun mein junger Enthusiasmus ungehemmt aus, und nur mein kleiner Bruder Ernst, musikalischer als ich, war mein trotzdem hochbegeistertes Publikum. Was am Fingersatz mangelte – und das war sehr viel! – das mußte die Fußtechnik an den Pedalen ersehen. An Höhepunkten der Wonne rissen dann gewöhnlich die »Strippen«, und um die Orgie nicht zu unterbrechen, wurden kurz entschlossen die Schnüre der Fenstervorhänge abgeschnitten und mit den Pedalen »verknüppert«; so ging die Kunstleistung herrlich weiter – bis zum nächsten Höhepunkt. Ja, das waren schöne Zeiten! Als dann das eigene Leben mich dem Dachstübchen entführte, verlor ich das Harmonium aus dem Gesicht. Den »Ring« eignete ich mir auf einem Pianino an – nicht dem historischen, worauf Liszt mir später die Dante-Symphonie vorgespielt hat! –, aber seit ich das Festspielorchester gehört, habe ich 20 Jahre lang keine Taste angerührt. Mein altes Harmonium hätte die Ehre unter Liszts Fingern nicht ertragen – und es zog den Feuertod vor. Als gänzlich unbrauchbar war es in einem Winkel des Schweriner Hoftheaters abgestellt worden und ist mit dessen Brande zugrunde gegangen. Friede seiner Asche! Vom ganzen Theater, das mein Vater leitete, ist nur noch in meinem Besitz der Schlüssel zur Intendantenloge übrig, die mir dereinst die Pforte erschloß zu so vielen schönen und bedeutenden Kunsteindrücken, nicht zum wenigsten zu den musterhaften Opernaufführungen, die mich völlig zum »Wagnerianer« machten. Trotz Pappe und Professor!
(1927.)
Davon habe ich schon in meinen »Lebensbildern« (Regensburg, bei Bosse) erzählt; aber die Erinnerung lebt so stark in mir, daß ich wohl gern noch ausführlicher darüber sprechen mag.
Es war in Berlin am 7. April 1870, die zweite Aufführung des neuesten Wagnerwerkes, unmittelbar nach der ersten, und noch tobte der organisierte Widerstand mit voller Kraft. Soviel stand schon fest: »Die Oper ist ausgepfiffen worden!« Das hatte Herr Krause vorausgesehen.
Wer war Herr Krause? Jeder gute Berliner kannte das mit Recht beliebte, altbewährte Mitglied der Hofoper aus der »klassischen« Zeit, und ich hatte schon 14 Jahre vorher für seinen »Papageno« geschwärmt und ihm das Vogelfängerlied in hellem Kindersopran nachgeträllert. Die »Zauberflöte« war mein erster Theaterbesuch gewesen; und es war immerhin eine hübsche Strecke Weges bis zu meinen ersten »Meistersingern«. Da hätte ich meinen alten Liebling als »Beckmesser« Wiedersehen sollen, aber – Herr Krause hatte »vorausgesehen«, hatte die Rolle einfach zurückgeschickt: »Solche Musik kann ich nicht lernen!« Selbst gegen die eiserne Disziplin seines Chefs, des Herrn von Hülsen, hielt er gesinnungstüchtig stand, der zwar selber ein erklärter Wagnergegner war und den »Revolutionär« von 1849 nicht bei sich empfangen wollte, doch aber als loyaler Beamter seines Königs streng auf anständige Aufführungen, selbst Wagners, am Hoftheater sah. Daß sie auch »verständig« seien, lag nicht in seiner Macht; sie konnten eben nur dem Verständnis ihrer Zeit entsprechen.
Wer damals in seiner begeisterungsfähigen Jugend für die Werke Wagners zu schwärmen begann, der hatte noch nie wirklich »das Werk« erlebt, mochte »Tannhäuser« oder »Lohengrin« auf dem Zettel stehen. Musikalische und romantische Werkstücke nur wirkten unmittelbar. Später gestand man sich wohl: es war das blitzende Auge des Genies, »das selbst durch die Lügengestalt leuchtend strahlte zu mir!«
Aber wer ahnte damals etwas von einer Brünnhilde Richard Wagners! Man wußte nur von einer, die war von Kapellmeister Dorn komponiert, saß zu Pferde und hieß Johanna Wagner. Ich habe sie 1858 als »Orpheus« bewundert und war durchaus Gluckianer, ehe ich »Wagnerianer« ward. Was ein Solcher heute in Bayreuther Aufführungen erlebt, – könnte er es neben solch eine anständige Wagner-Oper der 50er und 60er Jahre stellen, er dürfte an Hamlet denken: »Apoll bei einem Satyr!«
Immerhin, das Berliner Satyrspiel hatte gerade damals, 1870, bedeutende, schier apollinische Vorzüge. Unter der Hülsenschen Disziplin wirkte ein ausgezeichnetes Personal: Betz und Mallinger waren 1868 bei den ersten Münchner »Meistersingern« unter Wagners eigener Anleitung Sachs und Evchen gewesen, die geniale Marianne Brandt stand für die Magdalene ein, und Walther Stolzing war Albert Niemann! Das hätte für die Berliner von vornherein genügen müssen.
Leider war Niemann nicht Walther Stolzing! Der liebe Junker lag dem großen Heldenspieler nicht, er stand ihm nur: in seiner ritterlichen Gestalt war er »von Stolzing, Walther aus Frankenland«, aber im Grunde schien ihm die Rolle – offen gestanden – etwas gleichgültig zu sein. Es fehlten ihm die großen Momente. Aus Liebe zu seinem Meister suchte er wohl sie zu dessen Bestem hineinzubringen. Die erste Stelle, die nach einer Nummer aussah und als solche dem Publikum gefallen konnte: »Am stillen Herd« benutzte er zur Entfesselung des ersten Beifalls, indem er mit herausfordernder Geste an die Rampe vortrat und sein: »Da lernt' ich auch das Singen!« seinen lieben Berlinern prächtig ins Ohr schmetterte. Niemann, der das Singen gelernt hatte! »Spontan« brach der Beifall los. Darüber hinaus kam es nicht an jenem verlorenen Abend.
Auch der kühne Versuch, das noch gänzlich unvolkstümliche Werk zu »popularisieren«, scheint unbeachtet geblieben zu sein; ich habe es aber deutlich gehört, daß Walther Stolzing dem David zurief: »Wohl zu 'nem Paar recht guter Stiebeln!« Das wäre doch recht 'was für die Berliner gewesen! Sie haben leider auch das nicht verstanden.
Das Orchester war durchweg vorlaut; es führte das große Wort, weil es sich in der Hand eines guten Dirigenten befand, der Wagnerfreund war: Karl Eckert. Das war was anderes als wie die Dorn und Taubert, welche unglücklicherweise zu jener Zeit in ihrer Art tüchtige Kapellmeister waren, als gerade ein Richard Wagner zu komponieren beginnen mußte – und sie »verstanden gar nichts davon!« Trotzdem war auch der vortreffliche Eckert noch kein Wagnerdirigent im Sinne der späteren, ersten meisterlich geschulten Bayreuther »Assistenten«: Richter, Mottl, Fischer, Seidl. Von einem heiteren, zartgewobenen Spiel war nichts zu merken; die behäbigen Meistersinger traten wie erzgepanzert einher.
In der orchestralen Hochflut ging unter, was etwa von Drama auf der Bühne zu erscheinen versuchte. Die bestellte Clique – Negativ von Claque – aus dem »Olymp« hätte sich die Mühe sparen können. Nun lobte beides vereint, Höhe und Tiefe, auf das Opferlamm des Abends, den unglücklichen Merker ein, als seine traurige Gestalt erschien, um sein Ständchen anzustimmen. Herr Krause hatte es vorausgesehen. And Herr Basse war von der Vorsehung nicht zum »Beckmesser« bestimmt. Es war ein trostloser Kampf. Das Publikum mußte meinen, das Pfeifen und Zischen, das hier von obenher losbrach und bis durch die wüst auseinanderfallende Raufszene anhielt, sei die gerechte Vox populi über ein Werk, welches ihm selber unverständlich blieb.
Doch nein! »Schließlich wurde es doch noch ganz nett!« äußerte sich ein bekannter Musikfreund beim Hinausgehen unter dem opernhaft anheimelnden Eindruck der Festwiese von Berlin an der Pegnitz oder Nürnberg an der Spree, wie die Mädel von Potsdam – wollte sagen: von Fürth – angegondelt kamen und Ballett tanzten. (Das Berliner Ballett war berühmt. In Wien hatte man dafür einen echten »Wiener Walzer« vom k. k. Hofballettkompositeur eingeschoben und dies auf dem Zettel der « Premiere » auch gebührend vermerkt. Der Wiener Walzer ist berühmt!)
»Ganz nett!« Mein Eindruck war ein anderer gewesen; das sollte mir immer klarer werden. Bei all dem Skandal war ich – im Stillen – »Wagnerianer« geworden und bin's seither geblieben. Ich hatte das Auge blitzen sehen, hatte den deutschen Lebensstrom gefühlt, der wie unterirdisch durch das Werk ging, so daß ich mich empörte über die Feindseligkeit, die ich unwillkürlich in dem widrigen Lärm verspürte. Ich gab dem nur nicht so drastischen Ausdruck wie ein baumlanger Vetter, der sich im Augenblick des wildesten Tobens, als es gerade recht wenig schön klang, steilaufgereckt in unserem dritten Rang erhob und in die Tiefe zum Publikum hinunterbrüllte: »Das ist sehr schön, aber die Geister verstehen es nicht!« Die armen Geister, sie konnten es nicht – beim besten Willen nicht – und den halten sie nicht einmal!
Das war am 7. April 1870. Ich habe später die Neugeburt der »Meistersinger« in Bayreuth 1888 erlebt und auch ihre Wiedergeburt dort 1924, aber immer bin ich der ersten Berliner dankbar geblieben, die mich zum »Wagnerianer« machte. Nun find die »Meistersinger« schon ein Lieblingswerk der dritten Generation. Das hatte Herr Krause nicht vorausgesehen! –
Ein Reiseerinnerungsbild (1925).
Ich habe seit dreizehn Jahren den innigen Munsch gehegt, einmal im Leben den Rosengarten wieder zu sehen. Ach, was waren das für dreizehn Jahre! Was haben sie mir, was haben sie uns Deutschen allen an Erlebnissen, Erleidnissen, Verlusten, Trauer und Not gebracht! Wie hat sich alles, alles seitdem verwandelt! Nur der Rosengarten steht noch. Und meine Sehnsucht darnach ist geblieben. Sie hat noch einen tieferen Grund. Der mag meine jüngste Altersfahrt zuletzt entschuldigen. Urheimatsgefühl! Unser Geschlecht stammt nach der Überlieferung aus Tirol, von jenseits des Brenners. Es hat mich nach meiner Ahnen Heimat gezogen, »einmal noch im Leben », den Achtzigen nahe! Dagegen hält kein »Brennero« stand. Nein, der steht nicht so fest wie der Rosengarten. Ich habe ihn »genommen« und er hat mich durchgelassen. Und nicht nur mich allein. Das Alter hatte eine Jugend bei sich, die sollte auch einmal den Rosengarten schauen …
Etwas hinter Waidbruck, nicht weit also von Walthers Vogelweidhof, da stand auf der halben Höhe oberhalb des rauschenden Eisack ein altes Schlößlein, etwas dürftig, ein grauer Giebel mit zwei Türmen zur Seite. Wir flogen im Schnellzug vorbei. Wie ich, dürfte Gobineau gefühlt haben, als er, auf dem felsigen Nordstrand Norwegens stehend, ausrief: »Hier stand meine Burg, hier bin ich daheim!« Und nun gelangten wir, immer am herrlichen, strudelnden Eisack entlang, auf dem Wege des Berners und des Staufers nach unserer ersten Rast, nach Brixen. Ja, nach Brixen, durchaus nicht nach »Bressanone«, wie die Münchener Fahrkarte meinte. Nach Tirol, unter Tiroler, recht mitten hinein. Im »Elefanten«, wo »man gewohnt haben muß«, wenn man Brixen besucht, haben wir nicht gewohnt, der war überlastet. Wir gerieten durch enge Winkelgäßchen und trauliche Laubenstraßen in den »Goldenen Adler«. » Aquila d'oro«? – nein » Adlerbrücke« heißt die Jahrhundert alte Steinbrücke über den vorüberbrausenden Eisack nach der ehrwürdigen Gaststätte, diesem echten Stück Tirol, seit vielen Geschlechtsfolgen im Besitze der selben eingeborenen Familie, deren gedunkelte Ahnenbilder treu verehrt im Saale hängen. Ein heimeliger, wohl versorgter und versorgender Aufenthalt, etwas abgelegen vom Hauptverkehr, aber warm zu empfehlen für den Deutschen, der Alttirol in Brixen sucht.
Wir verließen die Gewölbe des »Adlers« mit dankbarem Gefühl als den freundlichsten Vorhof für unser lockendes Ziel: Bozen.
Dieses hielt uns nur wenige Stunden fest, genug, um zu sehen, daß Meister Walther noch auf seinem alten Stammplatz vor dem »Greifen« stand, ganz unbekümmert, daß der nun »Griffone« heißen soll. Ein erster guter Tirolerschluck im »Torggelhaus« und hinauf ging es auf der Zahnradbahn an den üppigen Weingeländen von S. Magdalena vorüber, wo die roten Trauben süß und glühend unter den grünen Laubgängen hingen, nach »Sopra Bolzano«! Von der aufsteigenden Bahn aus gesehen, steht alles schief: das ganze wundervolle Land, Villen, Kirchlein, Weinlauben, Erdpyramiden! Alles schief! – Oben auf der freien Höhe – da war Oberbozen: Maria Himmelfahrt, Maria im Schnee und da – der Rosengarten, wahrhaftig der Rosengarten – und der stand gerade, gerade wie vor dreizehn Zähren! Dem war nichts geschehen, ihm so wenig wie dem trotzigen Schlern zur Linken und dem stattlichen Latemar zur Rechten, seit Dietrich sich aus Laurins Zauberbanden befreit hatte. Heil Dietrich! Heil deinen Getreuen! Laß uns deine Getreuen sein und bleiben, König Dietrich! Du hast Laurin gebändigt, die Rabenschlacht geschlagen, Rom getrotzt und dein unsterbliches Grabdenkmal in Ravenna errichtet. Heil dir, Dietrich! Starke Winde umwehen uns, die strahlende Sonne bricht aus den Wolken über den Zackengipfeln hervor und bleibt uns treu, unwandelbar treu durch fünf köstliche Tage. O, es war doch schön und gut, daß wir uns gleich auf diese selige Höhe, so ganz ins Freie, weit über allen Nöten und Fragen der Tiefe, begaben!
Auch hier waren wir in Germanien, waren ja im altgeweihten Gebiet der deutschen Sage. Heldenluft weht von den Gipfeln der Berge, weht uns an und gibt frische Kraft, weiten Atem, freien Blick, was der Deutsche so not hat. Ja, auch hier ist Deutschland. Und kehren wir zurück von diesen Höhengefühlen in die umgebende Wirklichkeit, in unser vortreffliches »Hotel Friedl«, immer mit der herrlichen Aussicht auf die leuchtende Alpenwelt. Auch hier nur Deutsche, gute Deutsche, besonders Norddeutsche, von der Nähe der gotischen See. Und man muß sagen: Deutschland machte hier »eine gute Figur«. Tirol hatte sich nicht zu schämen. Und dazu sollen wir doch nach Südtirol kommen, um den Stammesbrüdern gute Deutsche zu zeigen. Recht viele sollen nur kommen! – Ein einziger Mangel: Schade, daß es nur fünf Tage sein durften. Aber die Erinnerung an all das Schöne, Große, Reine, das wir im Wandern dort oben zwischen dem Bozener Tal und dem Dolomitengebirge in uns mitgenommen haben, behält die unmeßbare Dauer eines erhebenden großen Erlebens. Beschreiben läßt es sich nicht, aber wir sagen getrost: »Geht hin und erlebt es! Es schadet eurem Deutschtum wahrlich nicht! Und die Tiroler freuen sich darüber.« –
Hinabwärts, wieder durch die schiefe Welt bis auf den Waltherplatz, aber nicht in den »Griffone«! An die Höhe gewöhnt, bezogen wir den vierten Stock im »Stadthotel« und blickten noch am warmen Abend tief hinunter auf den wimmelnden Platz. Da sollten wir zuguterletzt doch noch etwas echt Italienisches erleben. Italienische Musik – Italien ist ja doch berühmt durch seine »Musikalität« – und das war ein »Theater«! Der Platz »wimmelte« in der Tat, wie Ameisen huschten die Menschen da unten durcheinander und drängten und sammelten sich einem einzigen Punkte zu. Lauter Tiroler. Und da ging es los. Die Musik einer italienischen Militärkapelle. Wir trauten unseren deutschen Ohren nicht. Sie bliesen schauerlich falsch! Hatte der italienische Militarismus die italienische Musik so verstimmt? Aber die Tiroler Ameisen lauschten dichtgedrängt. Es klang übel, aber es war doch etwas darin, das war ganz echt: ein hastiges Drauflosgehen, das am Ende jeder Phrase einen schwungvoll prasselnden Akzent in die laue Abendluft hinaufwarf. Eine theatralische Geste! Plötzlich sahen wir die Ameisenschar in Bewegung geraten. Die ganze Masse strömt vom Mittelpunkte ab, wimmelt einer anderen Stelle des Platzes zu. Da spricht einer, ein Volksredner. Und zugleich flammen daneben Reklamefilme auf. Die Musik war mitten in ihrer Geste abgebrochen. Nimmt sie diese Nichtachtung ihrer Zuhörer nicht übel? Zieht sie nicht entrüstet ab, das italienische Militär, von den Tirolern beleidigt? Bewahre! Der Redner hat geendigt, die Ameisen drehen allesamt wieder um, wimmeln zur Kapelle zurück, der Strom staut sich wieder und die Musik seht bei dem Tone wieder ein, womit sie abgebrochen hatte, wirft wieder ihre prasselnden Schlußattacken in die Luft und marschiert dann in munterem Zuge mit falschklingendem Spiel vom Waltherplatze ab.
Es war eine Komödie und zeitigte noch einen komischen Gedanken. Macht es die schöne italienische Sprache denn anders als die Musik? Auch hier die schwungvolle Geste der Schlußsilben, die sich so dankbar reimen lassen. »Amore« – wie wunderbar klangvoll das austönt! Aber besinnt euch einmal auf euer eigenes deutsches Sprachgefühl. Ist dies süßschmelzende » amore« etwas anderes, als wenn wir Deutsche so recht gefühlsinnig sagen wollten: » Liebäh!« Wo bleibt die bedeutende Wurzel des Wortes? Wo der Sinn der Sprache? Es ist nur Klang, schöner Klang. Die Knochen der Wortgestalt werden erweicht, abgeschliffen bis zur Unkenntlichkeit. » Inno« – wißt ihr, was »inno« ist? Wer ahnt darin den edlen griechischen »hymnos«? Und in Schemanns prächtigem deutschen Werk über Cherubini wird unter anderem eine alte italienische Oper genannt: »Pimmalione«. Was bedeutet dies Gebimmel? Es tönt eben so schön aus, wie »amore«. Aber »Pimmal«? Man sucht, man sinnt! Ihr Götter von Hellas: es ist Pygmalion! Ist das nicht zum Steinerweichen? Doch halt mit dem Spaß und Wortspiel! Vergessen wir darüber nicht die Sprache Dante's! An die »Göttliche Komödie« dachten wir allerdings gerade nicht, als wir uns zum letztenmal auf Südtiroler Boden schlafen legten, weder an die Hölle noch an das Fegefeuer, nur höchstens an das Paradies, das verlassene Paradies dort oben hinter »Mariä Himmelfahrt«!
Zurück über den Brenner – uns bleibt er der »Brenner« – durch das deutsch-tiroler Innsbruck, über dessen vornehme Straßen der Schatten des hohen Karwendel hineinlastet, auf der herrlichen Bergbahn, mit dem Rückblick in das aus dem Frühnebel sich leuchtend entschleiernde Inntal, ins große deutsche Karwendelgebiet hinein, zu Füßen der Schroffen das traulich sonnige Mittenwald – so gelangten wir an den lieben, alten Walchensee, zu den lieben, alten Freunden. Wieder im Bayerland, im deutschen Vaterland! Da gab es zu erzählen! »Und der Faschismus?« – »Wir haben gar nichts gemerkt!« Das war 1925! Jetzt schaut es wohl anders aus und springt in die deutschen Augen, daß sie tränen und glühen. O weh, da gab es dann doch wohl noch zuguterletzt einen Stich in das leichtfertige Reisebummlergewissen: »Gar nichts gemerkt! Von all den völkischen Leiden nichts gemerkt! Nur so hindurchgeflogen und genossen!?« Aber doch, wir haben ja wohl auch etwas gemerkt. Nicht das Schlechte, aber das Gute, und das ist das Wichtigste. Die Tiroler haben wir gemerkt: die gute, gesunde, starke Stammesart der Südtiroler zwischen dem deutschen Brenner und dem welschen Trentino. Die welsche Schlauheit und Gewalt packt sie freilich am Schopf und Kopf. Sie fängt schon in der Schule an. Die nächste Generation soll nichts mehr wissen von deutscher Sprache, die übernächste weiß schon nichts mehr vom Deutschtum. So denkt der Politiker. –
Aber es kommt nicht nur auf das Wissen und Nichtwissen an; hier handelt es sich um Sein oder Nichtsein. Vor allem und durch alles: Bleibt Tiroler, ihr Tiroler! Wahrt eure Art, laßt sie euch nicht durch noch größere Gewalt verfremden, vermischen, verderben! Wenn sich einmal die großen politischen Weltverhältnisse wandeln – und sie wandeln sich sicherlich – und wenn ihr euch dann noch als blutechte deutsche Tiroler in die neue Geschichte hineinstellen könnt, dann habt ihr gesiegt, auch wenn ihr nicht eine Büchse an die Mange gelegt habt, und Italien, eines Besseren belehrt, uns politisch verbrüdert ist! Das gilt nicht nur für Tirol, das gilt auch für Deutschland, erst recht für Deutschland. Deutsche Brüder und Bruderdeutsche insgesamt, alles was noch deutsch ist: »Gedenke, daß du Deutscher bleibst!« Mit vollem Bewußtsein und mit allen Kräften hütet den Bestand eurer Art, das ist: den deutschen Geist! Hütet ihn vor jeder Verfremdung! Darin liegt das Heil unserer Zukunft, unserer Geschichte, unserer Kultur. Nur darauf kommt es an. Diese Überzeugung gestärkt mit nach Hause zu bringen, das ist fürwahr kein übles Erträgnis einer Herbstfahrt des Deutschen nach Südtirol.