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Ernst die Geschichten – ernster die Geschichte,
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Aus der Ferne tönte es wie das Rauschen einer gewaltigen Welle, das nicht enden wollte. Das Meer war es nicht, dessen ewige Sprache flüsternd zum Ohr der alten Frau am Giebelfenster drang. Es war das Geräusch des menschlichen Lebens in der großen Stadt, ein Widerschall der rastlos durcheinander sich bewegenden Arbeit, Vergnügungssucht, Not und Sünde. Durch die kalte klare Winterluft, zwischen dem schneebedeckten, weißen Boden der Straßen und Plätze und dem sternbesäeten dunklen Himmel rauschte der wunderbare Schall dieser Lebenswelle bis an das lauschende Ohr der einsamen alten Frau. Und an diesem Abend waren noch andere Klänge darein gemischt, ein Huschen hastender Schritte von vielen Hunderten, Tausenden, die noch den letzten Augenblick nutzten, Käufe zu besorgen für Liebesgaben, und darüberhin aus nächtig stiller Höhe die feierlich hallenden Töne unzähliger Glocken, die das Fest einläuteten – das Fest der göttlichen Liebe. Denn heute war Christabend, und die alte Frau hatte dabei ihre alten ernsten Gedanken. Das niedrige Fenster des Giebelstübchens nach dem Hofe hinaus hatte sie geöffnet, und eine schneidend kalte Luft drang mit all den seltsamen Geistern im großen Rauschen herein und fegte eine Wolke weißen Schnees vom Dache ins Zimmer. Was wollte der weiße Gast bei der alten Frau, auf deren schlichten Scheiteln lange schon der greise Bruder, der Schnee des Alters, eingekehrt war? Was wollten die Geister der großen Stadt bei der einsamen alten Frau, welche fern vom Gewühl des Lebens in der abgeschlossenen Stille wohl nur noch auf das sanfte Ende des eignen kleinen versiegenden Anteils an der großen Woge harrte? Oder gab es doch noch eine Beziehung, welche die alte Frau mit der rauschenden Welt dort draußen enger verknüpfte als der matte Pulsschlag ihres im Luftzug der Winterkälte schaudernden Greisenblutes? Weshalb hatte sie das kleine Fenster geöffnet und blickte hinaus in den weiten nächtigen Raum, gefüllt von der starrenden Masse übereinander sich türmender, hintereinander sich drängender Dächer, Giebel, Essen, Türme, auf denen allen der weiße Schnee lag, der auch mit ihren greisen Scheiteln spielte? Weshalb lauschte sie so aufmerksam nicht nur auf das Rauschen der großen Woge, sondern aufmerksamer noch auf die rufenden Klänge der Glocken, auf die feierliche Mahnung der Höhe, –ah heute Christabend sei – heiliger Abend – Abend ferner, kindlicher, jugendlicher, heller und warmer Erinnerungen?!
Die Erinnerung war's, die mit diesen Klängen hineinzog in das unter der großen Woge einsam und unbemerkt verebbende Leben der Greisin. Und die Woge ward ihr stumm, und nur die Glocken sprachen – aber eine andere Sprache, nicht die Sprache der Ewigkeit, der göttlichen Liebe – die Sprache einer längst verflossenen Welle, auf der ihre Jugend einst im heitersten, lachenden Liebestraum sich gewiegt. Und als am Christabend die Liebe wie eine Glocke in ihre junge Seele geklungen war, da – ach, ein flüchtiges Rot stieg in den blassen Wangen der Alten auf und erlosch wie ein letztes Christbaumlicht – die Erinnerung floh zurück vor der andringenden Woge der Welt in die erste helle Morgenstunde ihres Glückes, davor alles andere versank, was mit den kalten Geistern des Winterabends in ihre Einsamkeit hereingedrungen war. Sie hatte das Fenster wieder geschlossen, saß ganz still, die Hände im Schoß, den greisen Kopf gesenkt, bald nickend, bald schüttelnd, als sagte sie Ja oder Nein zu den Erscheinungen, die nun durch ihre träumende Seele zogen. Und da saß sie nicht mehr auf ihrem alten harten Sorgenstuhle im abenddunkeln Giebelstübchen der großen Stadt – nein, ein Wägelchen war's, ein lustig klapperndes Einspännerlein, das sie bergauf, bergab durch einen frischen Frühlingsmorgen, durch junggrünen Wald und tauglänzende Blumenwiesen führte, sie ganz allein mit ihrem Päcklein bunter Theatergarderobe, hinter dem alten, gebückten schläfrigen Kutscherchen, die junge Sängerin aus der süddeutschen Stadt, auf dem Wege in ein lustiges Abenteuer, dem ihr rosig helles Gesicht aus leuchtenden blauen Augen unter den goldrötlich wehenden Locken so recht aus reinem Herzensgrund entgegenlächelte. Oh – und da lag es ja schon, dort unten im freundlichen Tal, noch übersponnen vom leichten Morgennebel, das stattliche Dorf im Kranze der blühenden Bäume, dessen drollig zwiebelköpfiger Kirchturm dem heiter auflachenden jungen Mädchen eben den Morgengruß der achten Frühstunde zurief. Die wunderliche Nachtfahrt war vorbei, das abenteuerliche Ziel lockte aus munterer Nähe, und munter, hell, frisch wie der junge Tag selber schaute die liebliche kleine Künstlerin in ihre dort unten, dichter und dichter, vor ihr die Arme öffnende Zukunft hinein. Ein lustiges Abenteuer, nichts weiter! Ein wenig von jugendlichem Wagemut an den Locken herbeigezogen! Die Schauspieltruppe, die in der Stadt jenseit der Berge spielte, war im Begriffe, ihren Platz zu wechseln; was verschlug's da viel, wenn ein flinkes junges Mitglied für eine Nacht, einen Tag und wieder eine Nacht ohne Urlaub wie ein flüchtiges Böglein über die Hügel entfloh und der köstlichen Einladung folgte, ein harmloses Dorffest zu verschönen durch seine zwitschernde Mitwirkung bei der kleinen eifrigst betriebenen abendlichen Vorstellung von Spiel, Gesang und Tanz in dem Dorfschenkensaale: der gefeierte glänzende Stern der bäuerlichen Festgesellschaft: »Fräulein Babette Berger als Gast« – –
Ja, was war das?! Eine Ehrenpforte am Eingang des Dorfes? Eine richtige Ehrenpforte? Grünbelaubt, buntbebändert, hohe Masten zu beiden Seiten – nun, sie werden dem Festtage gelten – und die dazwischen an schwebender Girlande im Morgenwinde schwankende Pappentafel mit der Inschrift: »Willkommen in Kasperstedt!«, sie grüßt wohl freundlich alle die von der Nachbarschaft heranströmenden Gäste – ein schlichter Aufputz ländlichen Festeifers, der das junge Mädchen in seinem feierlich darunter hinrollenden Gefährt noch heiterer stimmte. Aber nun hüpfen und springen laut jubelnde, kreischende Kinder, immer mehr Kinder, immer ausgelassener bewegte, erregte Kinder dem Wägelchen entgegen, um das Wägelchen herum, schwingen Fähnlein, winken willkommen – ihr, ihr allein, dem kleinen Babettle – ein Lärmen, ein Toben, daß das schläfrige Kutscherlein erwacht und das scheue Rößlein sich in einen schier unnatürlichen Galopp setzt – bis vor die Tür der Schenke zum goldenen Lamm –: da ward der Zauber gewaltig, erhaben, da stund nicht nur der dicke Wirt mit seinem Ingesinde zum Empfang bereit, da war die ganze festliche Gesellschaft der freien Künstler dieses Tages, dieses Dorfes in ihren phantastisch zusammengeschneiderten Trachten versammelt, gruppiert, in glänzender Parade, den hohen Kömmling mit donnerndem Heilruf grüßend, ein Anblick, der die so unerwartet Überfeierte, die sich schon zum Verlassen des Gefährtes erhoben, fassungslos zurücksinken ließ auf ihren Sitz – doch nur für einen Augenblick, und der nächste war ihr Schicksal. Sie schnellt wieder empor – sie starrt wie entrückt – ihr Blick bleibt gefesselt von einer jugendlich schlanken Männergestalt, die eben aus der Gruppe hervortritt, tief dunkle, feurige, lachende Augen heften sich auf sie, über einer schönen hohen Stirn schütteln sich schwarz flatternde Locken, und eine Stimme beginnt zu tönen, eine herrliche, metallisch schmetternde helle Stimme, reinster Heldentenor, sie grüßt »die göttliche Muse«, die »Diva Barbarina« mit überschwenglich feierndem Sange. Die Diva Barbarina, das kleine Babettle – hört nichts weiter, nur diese Stimme, diese bezaubernde Stimme, welche Worte, welche Sprache – sie weiß es nicht, sie sieht auch nichts mehr als die tiefdunklen, feurigen, lachenden Augen; wer sie aus dem Wagen gehoben, sie merkt es nicht, wer sich ihr vorgestellt, sie ahnt es nicht – nur »Carlotto Carissimi« klingt ihr ins Ohr, süße italienische Laute – dann ist sie ins Goldene Lamm geleitet, dann findet sie sich in ihrem blumengeschmückten Zimmer, dann – ja dann ist sie mitten in ihrem Glückstag, mitten in ihrem Schicksal darin, und alle Stunden, alle Bilder dieses Tages sind verschwunden, nur Eines geblieben: Carlotto Carissimi, der junge schöne Sänger, der am nächsten Morgen früh – einem nebligen Morgen unfroh draußen, selig drinnen – sie wieder in das Wägelchen hebt und – das Wägelchen rollt zurück durchs Tal, über den Berg, in die Stadt, stundenlang, unendlich und allzuschnell, aber nicht das Babettle allein darin, sie sind zu zweien, Carlotto ihr zur Seite, – was ist geschehen?
Gar nicht so viel ist geschehen. »Heißen – Sie wirklich so?« hat das naive Mädel gefragt, und der schöne Jüngling hat gelacht – o wie gelacht, ein hinreißendes Lachen, so treuherzig und so spitzbübisch zugleich: »Der teutsche Gott soll mich bewahren! Maxe bin ich getauft, aus dem Geschlechte der Klumpfuß – der Ahnherr hat den Leibesschaden gehabt, aber der hat sich durch die Generationen ausgeglichen; Sie sehen, Divina, ich stehe auf geraden, festen Füßen und habe einen blendenden Bühnenschritt.« »Sie sind ein großer Künstler.« »Groß, ja! Künstler, ja! Großer Künstler, soll noch werden. Ein durchgebranntes Muttersöhnchen – Wanderkomödiant – Schmierengenie – aber mit Ihrer holden Hilfe auf dem besten Wege zur wohlsituierten Unsterblichkeit!« »Mit meiner Hilfe?« »Mit keiner andern, Diva Barbarina! Eine Beichte: ich habe Sie in H. gesehen, ich habe meinen Engel gesehen, ich habe auf Sie gerechnet, ich habe Ihre Einladung zu dieser Bauernhochzeit betrieben, die Glorie dieses Tages verdanken Sie Ihrem ergebensten Verehrer, er hofft auf Ihre holde Hilfe an der hohen Kunststätte, die Sie als einziger Stern erleuchten, hier sind Sie mein Werk, lassen Sie mich dort Ihr Merk sein!« Und lacht, lacht das hinreißende Lachen, halb treuherzig, halb spitzbübisch, – man muß mitlachen, man kann ihm nicht böse sein! Nein, nicht böse, nur zu gut! »Welch glücklicher Zufall! Unser Tenor ist durchgebrannt, der Direktor verzweifelt, braucht sofort Ersatz für L., wohin wir übersiedeln – ich nehme Sie mit, Carissimi, Sie werden unser Held, Carlotto!« – »Ihr Held, Ihr Knecht, Diva Babettle!« und küßt ihre kleine Hand, und die tiefdunklen feurigen Augen lachen. Am nächsten Morgen, dem nebligen Morgen, fahren die beiden jungen Sänger mitsammen im Wägelchen, mitsammen über den Berg nach H. – das neckisch lustige Dorfbild verschwindet.
»Saison in L.« Kaum noch Bild, alles nur klingende, singende Seligkeit, Carlotto und Barbarina, ein gefeiertes Künstlerpaar, ein anerkanntes Liebespärchen. Und aus dem großen Klingen und Singen dieser Tage lösen sich zwei schöne Nächte: das war gar bald im blühenden Wonnemond, ein warmer stiller Spätabend, Mondenschein, menschenleere Gasse – unter dem Fenster des Stübchens, das die Künstlerin bescheidentlich bewohnt, eine einzelne schlanke Männergestalt, ein Don Juan mit der Laute – das Auge der Jungfrau sieht ihn nicht, sie öffnet auch nicht das Fenster, sie ruht auf ihrem Lager und lauscht, lauscht und lacht vergnüglich vor sich hin; denn also lauten die treuherzig-spitzbübischen Worte des Ständchens, ihres Ständchens, ihres Sängers, ihres Liebsten:
Babettle, mei Göttle, mei' Engle, mei Schatz,
du liegst in dei'm Bettle und schläfst wie a Ratz.
Derweil darf i wandern in d' Nacht ganz allei',
du tramst von an Andern – wer mag das wohl sei'?
Heroben im Stüble, da lacht eins derzu:
»Gang schlaf'n, mei' Büble! Der Ander bist du!«
Sie hat das Fenster nicht geöffnet in dieser schönen Nacht. Aber gelauscht hat sie und vergnüglich vor sich hin gelacht. Und oft noch gelauscht und oft noch gelacht, und auch das Fenster geöffnet, und liebliche Worte sind hin und her geflogen, aus der Nacht in das Herz, aus dem Herzen in die Nacht. Und geflogen ist auch die Zeit. Herbst war's geworden, sie waren wieder in H., zur Wintersaison, sahen auch ihr Dörflein wieder und sangen und ließen sich feiern, beim Erntedankfest. Dann kam der erste Christabend heran. Der Christabend vor – ach, wie viel Zähren! Der Christabend – wie gestern! Nicht wie heute, ach nein! – aber wie gestern. Das junge Mädchen wartet auf ein Wort, das schönste Geschenk – er hat es zu vergeben – er gibt's nicht. Doch anderes gibt er, Schönes, Liebes, Beglückendes, und lacht dazu so strahlend, und sie kann ihm nicht böse sein. Für ein Nachtständchen ist's draußen allzukalt, aber warm in ihrem Herzen, als sie das goldene Herzlein an ihrem birgt, das er ihr auf ihr Gabentischlein gelegt mit einem Verslein, das ihr wohl viel gesagt hat, nur nicht das eine Wort – oder sollt' es das Wort sein, eingehüllt in einen süßen Reim, einen klingenden singenden Liebesseufzer? Sie nahm's, sie las und war glücklich, noch ganz rein glücklich am Christabend, als sie die Reime ihres lieben Spitzbuben las. O der Spitzbube – der liebe! – er hat sie ihr selbst in den Mund gelegt, sie war die Liebende, die Seufzende – und sie hörte ihn und war glücklich! –
Der Mondschein rührt mit goldner Hand
den Riegel am Fenster mein,
da schlüpfen in leisem Flug herein
die Kinder vom Traumesland.
Sie schwirr'n um mein Bett und flüstern dazu,
ich horche und höre sie kaum,
ihr Lied wird ein Bild, und das Bild ist mein Traum,
und der Traum und das Bild bist du!
Entflattert ist mir das lust'ge Gesind,
der Mond verbarg sein Licht.
O Liebe, des Traumlands lieblichstes Kind,
verlass, ach verlasse mich nicht!
»Nicht ganz in Form, lieber Sänger! Aber wie süß, wie lieb, wie schön, wie gut! Ja, so träum' ich, so lieb' ich, so möcht' ich singen – wie du – Mein Traum und mein Bild bist du!« – Und sie nestelt das Herzlein, das goldene, in ihr Mieder hinein: »Verlass', ach verlasse mich nicht!« – An diesem Christabend – war sie allein, – er –, nun er war der allbeliebte Held und Kumpan, er mußte – mußte die heilige Nacht in dem ersten Hotel der Stadt mit seinen Verehrern und Neidern, die keinen Christbaum halten, in mannhafter Weise feiern. Gewiß, er dachte an sie bei jedem Trunk und lachte treuherzig-spitzbübisch dazu, o sie sah, sie hörte ihn, und sie ließ ihr einsam Bäumchen, das sie sich selber gestiftet, langsam niederbrennen, träumte still wonnig ins letzte Lichtlein noch von ihrem Lager aus, erfaßte ihr goldenes Herzchen auf ihrem eigenen klopfenden Herzen und entschlummerte, etwas, ein klein wenig, in Tränen, und doch noch so glücklich: »O Liebe, des Traumlands lieblichstes Kind – verlass' –« Sie schlief und träumte von der Liebe. –
Im neuen Jahre nahm die Liebe von seiner Seite mehr und mehr den Charakter der Liebenswürdigkeit an, die ihm so gut stand, die er für jeden mit Grazie bereit hatte – sie wollte nichts merken, träumte wachend weiter, lachte nur weniger, je mehr er lachte, und so vergingen nebelhafte, kühle Wochen, bis ein neuer warmer Frühling sich leise atmen ließ – da, eines strahlenden Morgens – sie kann sein schneidendes Strahlen nie vergessen, sie sieht es noch hell und hart nach vier Jahrzehnten – da findet sie auf ihrem Lager, geschickt durchs nächtlich geöffnete Fenster geworfen, an ein Weidenkählein gebunden, wieder ein Blättlein, ein Verslein, sie kennt die Schrift, sie erkennt den Schreiber, seine Spitzbübigkeit, – seine Treuherzigkeit nimmer!
Lebwohl! Der Traum ist ausgeträumt.
Bleib' nicht im Nebel kleben!
Des Tages rasche Welle schäumt
und rauscht ins neue Leben.
Auf starken Armen trägt sie mich
und lehrt mich seine Weise.
Lebwohl, mein Kind, mach's auch wie ich!
Glückauf zu deiner Reise! –
Sie muß zur frühen Probe. Größte Erregung. Der Direktor wieder verzweifelt. Sein primo Tenore zum andern Mal ihm durchgebrannt! Ihm – der Bühne – der Stadt – dem Leben der armen kleinen Babette Berger! –
Es ist das Leben einer großen, berühmten Künstlerin geworden. Barbara Berger begeisterte, entflammte die Seelen, wo immer ihre Stimme erklang. Sie selber ward stolz und kalt. Ging stolz und kalt durch Jubel und Ruhm und lange reiche – leere Jahre. Eine schwere Krankheit ergreift sie, sie verliert viel zu früh ihre herrliche Stimme. Sie verschwindet aus der lauten Welt, wird vergessen – wie Carlotto Carissimi verschwand und vergessen ward – ein ganzes Schicksal scheint ausgelöscht – lebt sie denn noch? Was hat sie erlebt, wie hat sie gelebt? Sorgen, Not, Arbeit, Armut – keine bannenden Bilder mehr für eine greise Christnachterinnerung – bis die späte Lebenswelle sie in das Giebelstübchen getragen, zu der guten braven Kleinbürgerfamilie Burkard, da fand der gebrochene Stolz die Wärme der Liebe wieder. Da sah sie die Kinder aufwachsen, eins nach dem andern, gleichwie jetzt draußen in den Fenstern der andern Giebelstübchen kleiner Hofwohnungen nach und nach helle Lichtlein der bescheidenen Christbäume aufleuchten, während die strahlenden Prachtbäume jenseits stolz und kalt durch schwere Vorhänge sich vornehm der großen, noch immer belebten Straße entziehen. Vier Kinder, Anneliese die Älteste, das liebe blonde Mädchen – der alten Tante Babette herzenswarm sorgliche Pflegerin, ihr stilles, sanftes Weihnachtslicht – eh' das Jahr des Lebens ganz abklingt. »Nun werden sie bald bescheren« – flüsterte die Greisin am Fenster – »gleich wird der Vater klingeln, und sie singen »Stille Nacht« – die lieben Menschen, die guten Kinder – horch, singen sie schon? Nein, das klang anders, das drang durch die befrorenen Scheiben ihres Fensters von unten her, aus dem schneeweißen Hofe herauf – eine rauhe, gebrochene, gröhlende, aber noch schmetternde, freche Männerstimme – ein bettelnder Hofsänger heut in der Christnacht? Wunderlich! Widerlich! Aber sie öffnet doch ein wenig das Fenster, durch den Spalt dringt eisige Luft – und mit ihr die lautere, frechere Stimme, ja – Worte – Worte! Welche Worte? Hört sie denn recht? Gerade noch hört sie, glaubt zweifelnd, zitternd zu verstehen:
»Heroben im Stüble, da lacht eins derzu –
Gang schlafen – –«
»Ergebensten Dank, meine verehrten Herrschaften!« unterbricht sich schnarrend der unsichtbare Sänger – –. Es ist ihm wohl ein Almosen aus einem Hinterfenster herabgeworfen worden. Die Greisin aber erschaudernd, nicht vor der Kälte, eiseskalt schaudernd, zieht hastig das Fenster zu. Ist es denn möglich!? »Sein Ständchen – mein Ständchen! Hat er das Lied – mein Lied – verschenkt – an Bettler, an – oder er selbst – er selbst – wär' er es selber, der – –.« Sie reißt das Fenster wieder auf, weit auf – sie blickt hinunter in den tiefen Hof – es schneit nicht mehr, der Mond wirft aus weißen Wolkenfetzen grelle Strahlen, da hebt sich aus dem gleißenden Schnee eine dunkle Gestalt – der Sänger – groß, hager, etwas gebeugt, mantellos, zerlumpt, wenn sie recht sieht, sonst unerkennbar, doch von schauerlich banger Ahnung erkannt, – erkannt von schneidendem Weh, als er nun sein Danklied anstimmt:
»Der Mondschein rührt mit goldner Hand
den Riegel am Fenster mein –«
»Ergebensten Dank, meine verehrten –«
Das Fenster fliegt klirrend zu. Auf ihren Stuhl sinkt die Greisin zurück – sie bebt an allen Gliedern, die Hände preßt sie vor ihr tief geneigtes Antlitz – sie weint leise – lange. – »O Liebe, des Traumlands lieblichstes Kind, verlass', ach verlasse mich nicht!« Es durchschneidet ihr Herz. Er – er singt es – ihr! Weiß er nicht, wer ihn hier hört? Und er bettelt damit um Allerwelts-Almosenpfennige? Oder weiß er's? O schlimmer, schlimmer! Spitzbübischer! Er weiß es und glaubt mich damit zu rühren – um mein Almosen zu betteln! Furchtbar, wenn er das glauben kann! – Nein! Nein! Nein!« Hoch aufgerichtet steht sie, stolz und kalt – das Gemeine hat keinen Teil an ihr. Sie faßt sich an ihr Herz, sie fühlt das goldene Herzchen, sie zieht es hervor, sie blickt es nicht an, sie hält es fest in geschlossener Faust, die welke Hand mit der vollen Kraft der großen Künstlerin: »Ich wähnte viele Jahre, ich hätte überwunden. Ich hatte nicht überwunden. Heut hab' ich's gefühlt. Aber nun weiß ich: ich habe überwunden, ich bin fertig. Fort mit aller Vergangenheit, mit allem Trug und Traum.« – Eben greift sie zum Fensterriegel, das goldene Herz soll ihr Almosen sein – ihr Opfer und ihre Befreiung. Es ist nur noch des tiefen, kalten Hofes wert – da öffnet sich sacht die Tür zum Nebenzimmer. Anneliesens blonder Kopf schaut herein und ihre freundliche Stimme ruft: »Liebe Tante Babette, wo bleibst du? Gleich wird beschert! Komm', du mußt doch dabei sein, du gehörst doch zu uns!« Da erschallt auch des Vaters Klingel aus dem Nebenzimmer, und schon fühlt die Greisin eine weiche warme Hand, die sie sanft geleitet, und schon steht sie im hellen Lichterglanz des kleinen Christbaums unter der Kinderschar, deren strahlend lachende Augen sie grüßen. Die Mutter winkt leise mahnend, und sie stehen alle still im Halbkreis vor dem Gabentisch und stimmen eben an: »Stille Nacht« – O weh! Was ist das? Eine andere laute Klingel schrillt heftig darein, vom Hausflur her. »Ein Bettler – am Christabend?!« ruft ärgerlich der Vater. »Am Christabend, der arme Mensch« setzt mild die Mutter hinzu. »Anneliese, geh' hinaus, nimm den Korb mit, gib ihm von den Äpfeln, leg' auch ein paar Lebkuchen dazu, er soll auch sein Christkindl haben.« Und Anneliese geht, ein Wechselgespräch von Stimmen draußen, eine kurze Weile, dann kommt das gute Mädchen zurück, etwas erregt, wie es scheint, mit Staunen im Blick. »Wie komisch! Tante Babette, denk' dir nur! Der Mann – er sieht nicht gut aus, gar nicht gut – er verlangt durchaus dich zu sprechen – ein alter Freund – kaum zu glauben, aber er will, er muß dich sprechen, Tante Babette!« Die Greisin steht aufrecht, sie hat sich nicht gerührt, seit der Klingelschall sie wie ein Blitz durchfuhr: »Er – doch Er!« Damit war sie wie erstarrt, und nun spricht sie mit einer vornehmen Ruhe, laut und fest: »Anneliese, mein Kind, geh' wieder hinaus, sag' dem Manne, ich empfange keinen Besuch, ich sei beim Christkind zu Gast – und er – er wird mich niemals sprechen. Sag's ihm bestimmt – aber freundlich, hörst du? And hier, das gib ihm« – sie hat bisher das goldene Herzchen in der geschlossenen Hand gepreßt gehalten – »merk', wie er's annimmt, Herz oder Gold – er hat die Wahl. Aber mach's kurz, Anneliese, fürcht' dich nicht und sei freundlich, so wie du bist.« – Und Anneliese ging zum andern Male, erst ein wenig zaudernd, doch gehorsam und freundlich – ein neues Wechselgespräch draußen, lauter, heftiger, die rauhe Männerstimme übertönt die sanfte des Mädchens, dann ein häßliches Lachen, ein plumpes Poltern schwerer Schritte die Treppe hinab, und dabei ein Gesang, ein schauderhaft gröhlender Gesang: »Lebwohl, der Traum ist ausgeträumt –.« Man verstand die Worte nicht, aber Anneliese war wieder da, bleich im lieben Antlitz und sprach mit etwas bebender Stimme: »Er ist weg, Gott sei Dank!« Er war sehr grob, der Mann – der arme Mann, die Äpfel und die Lebkuchen hat er weggeworfen ›das labbrige Zeugs‹, und das Herzchen, das hat er erst verächtlich angeguckt, und dann hat er es in seine Tasche gesteckt: »Ist immerhin vergoldet, und ich habe heut noch keinen Tropfen in die Kehle gekriegt« – das war aber nicht wahr (Anneliese ganz empört und von Ekel durchschaudert leise) »ich hab's gespürt!« Der Vater unterbricht ungeduldig: »Nun aber die Bescherung!« und die Mutter: »Erst singen wir unser liebes schönes Lied zu Ende.« – Sie stehen wieder alle in geordneter Reihe, die Eltern, die Kinder und inmitten die alte Tante Babette, in die hellen Laute der Kinder mischt sich die gebrochene Stimme der alten Sängerin:
»Stille Nacht, heilige Nacht«.
Ihr Blick aber haftet fest und tief im Lichterglanz des Christbaums.
Das Lied ist gesungen und nicht mehr zu halten, stürmen die Kinder auf den Gabentisch zu, von Anneliesens sanfter Hand wird auch die Greisin hingezogen: »Hier, liebe Tante Babette, ist deine Ecke.« Sie haben ihr alle ihre kleinen Gaben gearbeitet, alle, der kleinste vierjährige Peppi hält ihr mit strahlendem Stolz in den blauen Kinderaugen einen großen roten Löwen aus Papier ausgeschnitten entgegen: »Das hab' ich gemacht für dich, Peppi ganz allein!« Unbewußt zärtlich streichelt ihre welke Hand den kleinen Wuschelkopf – ihr Blick sieht die Geschenke nicht, sieht nicht weiter, liegt nur immer noch fest und tief im Lichterglanz des Christbaums, ihre Lippen bewegen sich und Anneliese, dicht neben ihr den Arm um sie gelegt, vernimmt mit warmem Herzen die leisen Worte:
»Welch ein helles Licht schenkt uns das liebe Christkind
doch auch in die dunkelste Nacht!«
Begonnen um 1870, vollendet beim Eintritt in das 77. Lebensjahr am 13. November 1924.
(1921.)
Im sommerlichen Sonnenglanze liegen die reichen, reifenden Gefilde des fränkischen Landes. Zwischen sanften Hügeln zieht sich eine freundliche Dorfschaft den höheren Waldbergen zu. Von mäßiger Anhöhe blickt die helle Kirche mit schlankem Turm hinüber nach den ferne blauenden Linien des Rhöngebirges. Friedliche Stille überall; auch von den Wiesen her tönen nur einzelne trauliche Laute der fleißigen Heuer, die auf der sonnigen Weide verstreut ihre Wagen mit dem ersten kostbaren Erntegut füllen. Schweigsam hat ein Züglein der kleinen Zweigbahn soeben das bescheidene Bahngebäude vor dem Dorfeingang verlassen. Nur ein einsamer Wandersmann schreitet langsam von den Geleisen her dem Orte näher. Forschend blickt er um sich, als suche er etwas, wo doch nichts zu finden als eine schlichte, stille Dorfstraße, wie zahllose mehr in deutschen Landen. Freilich, dort gleich zur Seite – halb schon zerfallen scheint's, unbewohnt, oder unwohnlich doch, ein größeres Bauwerk aus älterer Zeit: konnte das einst das Herrnhaus, das »Schloß« gewesen sein? Zweifelnd, fast schaudernd, abgeschreckt vom Verfall, wandert der Einsame eilig daran vorbei, weiter die reinlichen Gehöfte entlang, die in freier Ordnung die breite Straße behaglich umgeben. Hier hatte tüchtiger Bauernsinn durch Geschlechter ein sicheres Heim sich geschaffen und bewahrt. Es fügt sich in die reine, blühende und wachsende Welt umher. Sie haben beide, Natur und Menschen, redlich und treu ihr Werk getan. Dem Wanderer wird es wohl ums Herz. In diesem gesunden Frieden des Daseins hatte vor Jahrhunderten sein Geschlecht gehaust: er war auf dem Wege die alte Stätte zu begrüßen, die niemals wieder einer der Seinen bisher betrat. Zur Kirche lenkt er seine Schritte auf lange ausgetretenen steinernen Stufen empor. Da steht nun der Urenkel vor der Pforte und entziffert die steife lateinische Inschrift, die den Namen des Ahnherrn als des frommen Erbauers dem Tage noch verrät. Zweihundert Jahre sind just vergangen – aber diese Kirche steht da so glau und hell, und als er die offene Tür durchschritten, auch das Innere, es glänzt ihm in sauberer Glätte, schmucklos, mit einem kühlen Anstand entgegen: blanke Fenster, weiße Wände, neu gebeiztes Gestühl – durchaus »renoviert«! Gewiß recht der Stolz einer wohlhabenden, sorglich auf die Würde ihres Gotteshauses bedachten Dorfgemeinde. Hier gab es keine Vergangenheit mehr – die liegt in den Grüften; aber auch keine Tafel gibt davon Kunde, daß Ahnherr und Ahnfrau, daß vier Geschlechter dort unten ruhen. Nur an der einen der leeren Langwände prunkt goldglänzig ein aufdringlich schwungvolles Barockgebilde: das hatte dereinst der letzte männliche Sproß seiner einzigen jungen Tochter gewidmet! So verklang mit üppigem Trauerpomp das lebenslustige Geschlecht, das seiner Scholle die rechte Treue nicht gehalten, das sein Erbe verwirtschaftet in übermütig genießendem Leichtsinn. Einem jüngeren, bescheideneren Zweig gehörte der Wanderer an, wackeren Menschen, die von Sohn zu Sohn mit redlicher Arbeit sich durchs Leben halfen. Bekümmert steigt er den Kirchhügel hinab: im wehmütig träumenden Lichte der allgemach sinkenden Sonne liegt die Dorfstraße vor ihm. Ein altes Männlein, die Pfeife im Munde, kommt ihm entgegen und grüßt mummelnd den Fremdling. Vertrauen weckt sein Aussehen im würdigen Grauhaar, mit dem versonnenen Greisenblick. Der Wanderer fragt nach dem Herrenhause. Auf jenes verwahrloste hohe Gebäude am Dorfeingang weist der Alte, und wunderbar! er nennt dabei dem Fragenden den Namen seines Geschlechtes. Der also lebte hier noch! Er bekennt sich als Sprößling dessen, der einst hier Schloß und Kirche gebaut. Der Alte nimmt die Pfeife aus dem Mund und wird gesprächig: »Ach, lieber Herr, das waren andere Zeiten! Da drüben da schaut's übel aus – verfallen –, verludert – eine Schande fürs ganze Dorf. Gehen Sie nur und sehen sich's an, Sie werden keine Freude daran haben. Es gibt keinen Adel mehr.« – »Und wer ist denn jetzt der Besitzer …« – »Ein gewisser Meier« – verächtlich spricht's der Alte und spuckt aus – »ja, Meier schreibt er sich, ein Geizkragen, ein Faulpelz, scheut die ehrliche Arbeit und läßt Haus und Hof verkommen. Das ist nicht nötig, Herr!« fährt er schier heftig auf: »nicht nötig!« Und unter den dichten weißen Brauen blitzen ihm scharf die lichtblauen Augen: »der Mensch hat es in seiner Hand, ob er sich oben hält oder unten liegt. Das ist meine Meinung, lieber Herr. Grüß Gott!« Die Pfeife steckt der Alte wieder in den zahnlosen Mund und geht still schmauchend weiter, der Kirche zu. Der Wanderer aber wendet sich in ernsten Gedanken nach dem Herrenhause. Nun betritt er den Hof. Wie sieht es da aus! Ein Paradies des Schmutzes! Wie lange schon mochte keine sorgende Hand hier Ordnung geschafft haben? Selbst die Türen der leeren Ställe hängen nur noch schief klaffend in den Angeln. Hier zeigen die Wände Lücken, dort ist das Holz verfault. Die tiefe Stille umher macht die Öde des Raumes noch öder, unheimlich, spukhaft. Aber mitten auf dem Elendshofe behaglich zusammen gerollt liegt ein einsamer Hund von zweifelhafter Rasse – jetzt hebt er schläfrig den braunen Kopf, aber er bellt nicht wachsam den Fremden an: freundlich trottet er heran, schmiegt sich schmeichelnd an die Beine des Mannes und springt an ihm vertraulich grüßend herauf. Diese arme Hundeseele ehrte den Enkel der uralten Herrschaft des Hofes! Stumm folgt er seinen Schritten zur Pforte des Hauses, über welcher noch das wuchtige Steinwappen mit weihevoller Inschrift sich stolz erhebt – bis zu dem Oberstock, dem die Zerstörung aus den hohlen Fenstern sieht. Die rostige Klingel gibt keinen Laut, aber die Tür ist unverschlossen; der fremde Gast tritt ein in eine weite Halle – sie wäre noch heute vornehm gewesen, wie sie es einstens war, doch sie spricht zu keinem Menschen mehr von ihrem alten Adel, leer und verschmutzt auch sie, gleich der schönen breiten Treppe, die nach oben führt, in die Wohngemächer der üppigen Ahnen. – Ist denn hier alles ausgestorben? Alles nur noch Staub und Moder? – Aus einer hinteren Tür lugt ein wüster Weiberkopf. Eine dürre Gestalt humpelt am Stock hervor, mit irre fragendem Blick, scheu, wortlos – Frau Meier? – Dem Wanderer stockt das Wort auf den Lippen. Er deutet nach der Treppe: Darf man die Wohngemächer sehen? »Alles zusammengestürzt« murmelt die Frau, wehleidig grimmig klingt es: »alles zusammengestürzt!« Sie öffnet eine Seitentür unten am Flur: ein düsteres Zimmer, kahl, unaufgeräumt, ein eisiges Unbehagen – auf der Schwelle steht die Frau am Stocke, leidend, schweigsam, eine traurige Wacht – und mit stummem Gruße verläßt der Enkel die Ahnenhalle. – Draußen vor der Pforte wartet der Hund. Er folgt ihm aus dem Hoftor. Eilig entflieht der Mann der unguten Stätte, dem kleinen Bahngebäude strebt er wieder zu. Der Hund folgt ihm dahin. Noch ist's eine Zeit, bis das Züglein kommt. Der Hund liegt geduldig zu Füßen des Wanderers. Der läßt in trübem Sinnen noch einmal das Erlebnis dieser Stunde an sich vorüberziehen: Vergangenheit! – Niedergang? – Nein: »das ist nicht nötig« Der Alte hat recht. – Nur – Untreue gegen seine Art, seine Pflicht wirkt Vergehen und Untergehen, Elend und Ende. – »Soll dies auch des Vaterlandes Schicksal sein?« – Sieh! Da weht das weiße Wölkchen wieder um den Hügel hervor. Das Züglein rollt hastiger talab heran. Der Wanderer sucht rasch einen Platz in der übervollen »Vierten«, und schon geht die Fahrt weiter durch abendliche Felder und Wiesen. Einen Blick noch vom Wagenfenster wirft der Scheidende zurück: der Hund steht vor der Tür des Bahngebäudes und schaut ihm freundlich wedelnd nach. »Ach ja –« seufzt der Mann, wie auch dies Bild verschwindet –: »Auf den Hund gekommen!« – – Aber da ziehen im Abendschein die fleißigen Heuer auf den Wiesen mit ihren vollen Wagen heiter nach heim: sie haben ihre Pflicht getan, sie haben ihrem Gute die Treue gehalten, sie haben die ewige Gabe der Natur durch ihrer Hände Fleiß aufs neue gewonnen, sie haben ein neues Leben geborgen – Deutschland lebt in ihrer Arbeit, in ihrer Ernte lebt es fort. – Nein, der Untergang ist nicht nötig; »der Mensch hat es in der Hand, ob er sich oben hält oder unten liegt«, wenn er einmal unten liegt, so kann er wieder empor, wenn er nur Treue hält. Das ist deutsche Art. Nichts Vergangenes ist vergangen, wenn es die Kraft vererbt, die Pflichten jeder Gegenwart tapfer zu erfüllen. Dann ist die Zukunft sicher. Und wir haben eine Zukunft – – –
Dämmerung sinkt auf das fränkische Land; über den waldigen Hügeln verglimmt die Abendglut: – das bedeutet für morgen einen schönen Tag! –
(1927.)
Es war hellstrahlender, sonnenwarmer, blühender Mai in der lieben Heimatwelt. Alles Lebende jauchzte ihm wonnigen Morgengruß zu. Die dürren Wiesen lachten wieder im jungen Grün, die Büsche und Bäume schlugen vor Freude aus, der Flieder öffnete seine schönen Augen, um zu schauen, welch ein Wunder geschehen sei. Der ganze liebliche Vögelchor stimmte seinen alten Kanon an: Finken und Meisen setzten zwitschernd ein; die große Sangesmeisterin Amsel aber brachte eine allerneuste Melodie mit, die den alten Kanon ganz unverschämt übertönte; bescheiden flötete die Nachtigall im buschigen Versteck, aber sie mochte noch so zart und heimlich bleiben wollen, die kleine Seele konnte nicht anders, ihre süße Stimme erhob sich zum selig siegenden Sehnsuchtssange des Lebens und der Liebe. Der unermüdliche Kuckuck hatte eben wieder seinen kargen Terzenruf begonnen, und junge und alte Menschenkinder fingen an zu zählen: ein – zwei – drei Jahr – o weh! Da verstummt er schon, aber es galt nicht dem nahen Tode sondern der Nachtigall, der Lebenskünderin, und aus dem frechen: »Guck! Guck!« ward ein achtungsvoll schweigendes: »Hört! Hört!« – Dies alles sang und klang und drang nun durcheinander und zauberte die Heimatwelt zum Wundergarten des hellstrahlenden, sonnenwarmen, blühenden Maien. Und darüber stand ruhig, groß und klar sie selber, die ewige Mutter Sonne, und freute sich ihres Werkes. Denn das war es, daran konnte keiner zweifeln, kein Lebendiger: sie alle, die diese holde Maienzeit genossen, auch wenn sie es nicht dachten, weil sie verschiedene Glaubensbekenntnisse im Kopfe hatten, sie verehrten in innerster Seele die Lebensspenderin Frau Sonne, Frau Liebe! –
Ganz tückisch unhörbaren Schrittes kamen in diesen Jubel hinein drei hagere Gestalten geschlichen. Woher kamen sie? Sie waren auf einmal da, standen mitten im Leben wie der leibhaftige Tod: bleiche starre Gesichter, die dicken Pelzmäntel wie mit Schnee bedeckt, die zottigen Kappen in die Stirnen gedrückt, daß man kaum die bösen Augen sah – aber man fühlte sie und erschauderte unter dem eisigen Blick. Ja, da waren sie, die uralten »Eismänner« aus dem versunkenen Schattenreiche des Winters. Gespenster am hellen Tage! Die Natur schrak jäh zurück, die Stimme versagte ihr, erbangend hielt sie den warmen Atem an, und kalte Winde fuhren darein, schlugen ihr ins Gesicht, in denen zischte es wie ein widerlich Gerann der fremden Gesellen. Und Mamertus schmälte: »Pfui über den faulen Zauber von Glanz und Glück!« Und Servatius gröhlte: »Still da, das abscheuliche Gedudel und Gefiedel!« Und Pankratius krächzte: »Trug und Lug all der krause Kram von Leben und Liebe!« Und alle drei grinsten höhnisch: »Was wollt ihr? Was bildet ihr euch ein? Hoho! Wir stehen im Kalender!« So schritten sie trotzig weiter durch die gebannte Natur, und wo sie hintraten, fiel auf das lachende Grün der grimme Frost – drei Tage lang – drei hundekalte Tage lang. – Da hatte Mutter Sonne genug von dem Spuk und warf mit einem machtvoll glühenden Lichtblick die drei gestrengen Herren im Nu aus ihrer schönen Maienwelt hinaus.
Die Eismänner waren gewesen, sie standen noch im Kalender, aber keiner dachte mehr an sie; denn rings blühte und jubelte wieder die ganze volle Wonne des unüberwindlichen Lebens, das ein Kind der Liebe ist. Der Kuckuck aber rief nun fröhlich sein »Guck! Guck!« und konnte garnicht aufhören, so daß die zählenden Toren, die nie aussterben, hundert Jahre alt wurden. Und die Nachtigall sang ihr allerschönstes Lied: »Seht! Seht! Seht! das Gute siegt! Das Gute siegt! Das Gute! Das Gute! Das Gute!« –
Was war das? Ein Märchen? Eine Fabel? Eine Phantasie? Vielmehr ein Bild, ein Mythenbild, und Mythenbilder sind keine Fabeleien und Spielereien; sie gehören zu den ernstesten Dingen im Bereiche der menschlichen Phantasie. Das Mythenbild schließt Weltenwesen und Menschenschicksal symbolisch ein, und was es schildert, ist ein Augenblick der ewigen Wiederkehr. Immer kehren die Eismänner wieder, aber immer wieder siegt die Sonne. Die Eismänner sind die Gewaltigen im Zeitlaufe der Welt; in der Sonne bricht die heilige Urmacht des Überweltlichen durch: sie ist das ewige Auge Gottes. Läßt die menschliche Seele sich nicht beirren durch die Tage, die ihr nicht gefallen, da die Eismänner herrschen, so dringt sie selber hindurch auf den Kern der Dinge und blickt in das Gottesauge, aus dem das Ewig-Gute zu ihr spricht. Das Verderbliche in der Zeit – und das Gütige aus der Ewigkeit – das ist eine höllische und eine himmlische Wahrheit, und beide faßt der mythische Geist in ein Bild. Aber es ist zu ernst, um Bild zu bleiben, daran künstlerischer Sinn sich erfreuen mag: auf den Kern kommt es an, woraus die Seele sich den Glauben an das Gute wiedergewinnt, den Glauben, der allein dessen Sieg bedeutet. Den Sieg im Weltall, empfunden als der Sieg in der Menschenseele! Davon singt Frau Sonne durch die zarte Kehle der Nachtigall. Denn das ist das Schöne am Ewig-Guten, daß es seine Verkünder auf Erden hat in den holden Tönen der singenden Seele, den Meistern der großen Kunst, die alle uns Märchen erzählen, so keine Märchen sind, und uns Bilder malen, so keine Bilder sind, und Phantasiestücke gestalten, welche die Wahrheit sind.
(1923.)
Vor dem dunklen Tannenwalde standen die Birken im ersten lichten Maiengrün. O die lieben Jüngferlein wußten recht wohl, wie hübsch ihre schlanke Lieblichkeit in den silberweißen Kleidern und dem goldig weichen Gelock von dem alten schwarzen Walde sich abhob; darum hatten sie sich dahingestellt und nahmen die reizendsten Stellungen und anmutigsten Gebärden an, als wollten sie just einen leicht schwebenden Morgentanz beginnen, den ernsten Herrschaften dahinten zur freundlichen Unterhaltung. Dabei schüttelten sie ihre losen Locken und lachten hell und lispelten gar süß mit ihren feinen, singenden Stimmen: »Pfingsten ist nah, Pfingsten ist da! Wir spüren's schon in allen Gliedern. Die Freude lacht in unseren jungen Herzen, und das Leben lockt uns zum Leben, zu den frohen Menschen, in die sonnige, blühende Welt hinaus. Tanzen möchten wir, o wie möchten wir tanzen, wenn wir nicht festgewachsen wären, um euch Alten hier schön zu tun! Aber wir sind doch dabei, überall dabei, wo die Menschen ihr Pfingsten feiern, wo sie singen und tanzen und tun, was sie lustig sind. Wir schmücken ihre Häuser, wir wehen wie die Fahnen der Freude vor ihren Türen, auf ihren Plätzen, wir geben gern, wie gern unser eigen goldnes Gelock her zum heiteren Opfer der Maienlust. Paßt auf, bald holen sie sich's am frühen Morgen des schönsten Festes, und wir geben es ihnen willig, denn wir sind gute Mädeln und machen den andern eine Freude mit unserer Schönheit; denn wir sind schöne Jungfern und in uns lebendig geworden ist der Geist der Pfingsten, der Geist der Lieblichkeit und der Freude, des Lebens und der Liebe. Lächle doch, alter Wald, wenn du nicht lachen kannst! Lächle doch, weil wir so schön und dir gut sind, und weil die Welt so schön ist, und die Menschen so fröhlich, und weil die Nacht und der Winter vorbei sind, und das Licht und der Mai sind wieder obenauf!«
Ja, sie hatten gut reden und lachen, die jungen Dinger. Was wußten sie vom Leben? Daß sie nur selber lebten, das war ihnen genug und war das Schönste. Sie kannten nichts Schöneres! Aber die alten Tannen wußten mehr, sie standen lange, so lange schon an ihrer Stelle und träumten, träumten alles, was sie wußten, und aus ihren Träumen murrten sie wie verdrossen, daß die lose Jugend sie necken wollte, und ihre hohen Häupter schüttelten sie leise hin und her, und es knarrte wunderlich in ihren dunklen Zweigen, aber die Stimmen waren scharf wie spitze Nadeln, als sie geheimnisvoll flüsterten: »Schweigt still, ihr leichtsinnig Volk, ihr kindischen Dirnen! Ihr meint, das Leben lebt sich so leicht wie ein Pfingsttag? War't ihr dabei, wie es geboren ward? Jawohl! Da wurden Lichter angezündet und Sterne angesteckt, als sollten sie ewig brennen und leuchten in der dunklen Winterwelt. Wir waren dabei! Wir haben die Weihnacht gefeiert. Wir haben die Lichter gehalten und die Sterne getragen. Wir wissen, daß alles vergänglich ist, und nur das Wissen bleibt, und wird ein ewig uraltes Träumen! Auch ihr seid vergänglich, eure Jugend wird alt, eure Weisheit vergeht, eure Locken fallen, euer Lachen verhallt, eure Menschen sterben, eure Pfingsten sind vorbei! Wir aber bleiben grün und sterben nicht! Und wenn uns die Menschen holen, ihr Fest zu feiern, dann leuchten wir wieder einmal, alle Jahre, durch die Jahrhunderte und sehen die törichten Menschlein als fröhliche Kinder und wissen, daß sie alle auch sterben müssen; und wir stehen immer noch hier im Walde und bleiben gerne und träumen von dem, was ewig ist! Das Wissen! Das Wissen!« –
»Das Wissen, das Wissen!« zischelten spottend die frechen Schönen und lachten was sie konnten. Aber was war denn das? In ihr Gelächter hinein drang von unten her, aus der Tiefe, ein schrilles Pfeifen! Ei, sieh einmal, da saß in dem grünen Graben am Rande zwischen den Tannen und Birken ein Häslein geduckt, und machte seine Männlein, erst vor den ehrwürdigen Tannen und dann erst vor den lachenden Birken: »Hi! Hi! Hi!« lachte das nun auch leise und strich putzig sein Bärtlein! »Was ihr wißt, was ihr lacht! Ihr wißt alle nichts. Ihr seid zum Lachen! Das sag' ich. Was könnt ihr denn? Sagt mal! Träumen könnt ihr, lachen könnt ihr, weiter nichts! Aber ich, ich kann was, das könnt ihr alle nicht!« »Was denn? Was denn?« fragten neugierig die Jüngferlein. Die Tannen schwiegen verächtlich. »Eier legen!« rief laut und stolz der Kleine im Graben! »Eier legen! Ich bin der Osterhas!« Da lachten die Jungfern nur noch mehr. Die Alten aber knurrten und murrten: »Die haben ihm die Menschen erst untergelegt. Und obendrein ist es gar nicht wahr!« »Nicht wahr? Nicht wahr?« pfiff der Osterhas nun ganz ergrimmt und schlug mit den Pfoten an seine Brust, daß es knallte. »Was hast du denn ausgebrütet?« frugen die Jungfern. Das war eine naseweise Frage, und der Osterhas hat auch keine Antwort gegeben. Er pfiff nur noch einmal, machte ein Männchen und sprang hinweg, hast du nicht gesehen – fort war er! »Er ist überhaupt gar nicht da!« murrten die weisen Tannen. »Er lebt gar nicht.« »Er ist ein Spukeding!« »Er hat auch nichts gelegt!« »Und nichts ausgebrütet!« »Ein Lügenbold.« »Ein Haselant.« »Laßt ihn laufen!« So schwirrte es durcheinander in den Birken, und die Locken flogen, so erregt waren sie, daß der Osterhas zu Pfingsten noch das große Wort haben sollte.
»Pfingsten! Pfingsten!« riefen sie mit einem Male alle zugleich. Denn nun kamen die Menschen, ihre Maien zu holen, junge Burschen und Mädeln, frühauf, lustig und lachend, wie die Birken selber, und sie sangen laut, während sie die grünen Locken rupften, und die Birkenjungfern hielten ganz still und sangen leise mit:
»Pfingsten ist kommen! Pfingsten ist da!
Schmücket das Haus mit Maien!
Lebenswunder der Wett geschah!
Dem wollen wir sie weihen!«
Und wie sie wieder abgezogen waren mit ihrer junggrünen Beute, und die Birken stumm, aber heiter ihren Schaden besahen, da waren die Tannen auch wieder in ihr Träumen versunken, und es raunte und rauschte feierlich aus ihrem dunklen Gezweig, wie ein uralt geheimes Erinnern:
»Christ ist geboren! Christ ist da!
Zündet die Weihnachtskerzen!
Liebeswunder der Welt geschah!
Das Licht erwacht in den Herzen!«
Denn in ihren Träumen wissen die Weisen mehr, als sie sagen können, und der Weihnachtstraum ist der unsagbar weiseste und schönste von allen! – »Das Licht erwacht in den Herzen!« Ja, und das Licht war erwacht in der ganzen schönen Welt. Die Pfingstsonne war aufgestiegen, hell und hoch, über Wald und Wiesen, und ihre Strahlen kosten die Birken, und ihr Schimmer lag segnend warm auf den schwarzen Häuptern der Tannen.
Licht überall, das klang und sang in die liebe, holde Maienwelt hinein:
»Licht ist ewig! Licht ist da!
An Weihnacht träumt es den Jüngsten!
Osterhas das Wunder sah!
Die Welt erlebt es an Pfingsten!«