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Traumbilder nah'n von See und Land,
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Aus der Lebensgeschichte eines Deutschen, der wie ein Engländer aussah.
Einem Traume nacherzählt.
(1923.)
Jeremias Drumdoodle galt sein Leben lang für einen Engländer, denn er sah ganz so aus. Quite english, indeed! Seine Mutter war eine Walliserin, sein Großvater ein Schotte, und seine Urgroßmutter kam aus Virginia U. S. A. und hatte nach Cuckfield, Sussex, geheiratet. So ging die Sage, und darum sah Jeremias Drumdoodle wie ein Engländer aus. Er war aber in Kuhstedt an der Hamme geboren. Sein Vater – versteht sich: Pflegevater! denn er sah ja wie ein Engländer aus – quite english, You know – sein Vater also hieß zeitlebens Gottlieb August Schultze, und in Kuhstedt an der Hamme kannte ihn jedermann als ehrsamen Schuhflicker. Daher hieß auch Jeremias Drumdoodle kurzweg Fritze Schultze. So etwa bis in sein zwölftes Lebensjahr. Da kam der Onkel Bob. Das war seiner Mutter Bruder, ein weitgereister Mann im baumwollenen Strumpfgeschäft. Kam just aus England zurück, fand sofort heraus, daß der kleine Fritz ganz wie ein Engländer aussah – quite english, I assure You! –, und weil der Bub eine außerordentliche Geschicklichkeit für ein herzzerreißendes Spiel auf der Maultrommel bewies, nannte ihn Onkel Bob, der aus England kam, neckischer Weise »Jeremias Drumdoodle«.
Dabei blieb es. In der Kinderstube und auf der Schule. Für Kuhstedt an der Hamme war »Jeremias Drumdoodle« etwas derart Eindrucksvolles, daß der simple Fritz Schultze sich dagegen nicht halten konnte. Und Onkel Bob versicherte seinem aussichtsvollen Neffen, der wie ein Engländer aussah, und so herzzerreißend schön auf der Maultrommel blies: Cuckfield, Sussex, sei viel, viel feiner als Kuhstedt an der Hamme; denn er selber, der Onkel Bob, hatte sich daselbst längere Zeit aufgehalten – er verschwieg, ob der baumwollenen Strümpfe halber oder aus anderen Gründen. Onkel Bob war ein weitgereister Mann und daher ein großer Fabulierer. Wenn little Jeremias seine Maultrommel blies, blies ihm uncle Bob dazu die Ohren voll von der Urgroßmutter aus Virginia U. S. A., vom grandfather Lachlan Mac-Daudle aus Schottland und von der fabelhaften Mutter Walliserin, – obwohl sie eine geborene Müller war, aus Wohlbüttel an der Drente, und in der Nebenstube saß und Vater Schultzen seine Hosen flickte. Die jugendliche Phantasie eines Jeremias Drumdoodle, der wie ein Engländer aussah, übersah die eigene Mutter in Kuhstedt an der Hamme über Cuckfield, Sussex, und wie es der fabulierende Strumpfonkel so wunderbar familiär zu bevölkern wußte. Little Jeremias fühlte sich englisch bis in die Knochen. –
Kein Wunder, daß der Urenkel so erlauchter Vorfahren ihren Spuren folgte und, sobald er flügge geworden, wenn auch nicht aus Virginia U. S. A., so doch von Kuhstedt an der Hamme nach Cuckfield, Sussex, England, auswanderte. Als Maultrommler. Denn viel mehr hatte der begabte Kuhstedter Jüngling nicht gelernt; nur daß er von Kind auf ein recht gewandtes hannöversches Platt zu sprechen wußte. Und »Hannoverian«, das gilt bekanntlich in England als das feinste Deutsch. Auch in Cuckfield, Sussex, wo es Mister Jeremias Drumdoodle mit feierlichen Eiden beschwor. So ward er in der Heimat seiner Ahnen beglaubigter teacher, Präzeptor und Professor der deutschen Sprache, blies dazu auf der Maultrommel – ooh, very, lovely! Isn't it? – und sah noch immer wie ein Engländer aus, sogar in England. Daß Cuckfield, Sussex, viel, viel feiner sei als Kuhstedt an der Hamme beschwor er zwar nicht mehr, dagegen rühmte er laut die »hohe Schule«, wo er sein unerhört reines Deutsch gelernt, weit über Cambridge und Oxford zusammengenommen; was ihm sein Ansehen bei den Honoratioren und seine Stellung in Cuckfield gekostet haben würde, hätte Jeremias Drumdoodle nicht wie ein Engländer ausgesehen, dem jeder Spleen gestattet war, auch wenn er sich dadurch zum stadtbekannten Narren machte. –
Eine ihm entsprechende Närrin fand er trotzdem nicht, und er wäre ein einsamer Solobläser auf der Maultrommel geblieben, wenn nicht mit der Zeit eine liebe »Nichte sich bei ihm eingefunden hätte, Miß Edith Pepperfly, welche ihren Stammbaum zurückführte auf uncle Bob – »my dear grandfather – you know!« – ja, » grandfather« sagte sie – von der Zeit her, da der baumwollene Strumpfreisende und große Fabulierer aus unbekannten Gründen in Cuckfield, Sussex, geweilt, – worüber weitere Akten, Dokumente und Testate fehlen. Miß Edith Pepperfly nahm sich ihres zwar jüngeren, aber doch bereits alternden Onkels Jeremias mit rührender Selbstlosigkeit an, weil sie sonst auf der weiten Welt und in Sussex insbesondere nichts zu tun hatte und der nicht unbegründeten Meinung sein mochte, daß ein Onkel von 50 eine Nichte von 60 immerhin noch – – aber das war eine Täuschung! Jeremias Drumdoodle starb mit 55, und Miß Edith mit 70! –
Miß Edith Pepperfly hatte aber in den hoffnungsvollen fünf Jahren ihres onkeligen Haushaltes ein Tagebuch – »my virginal diary« – geführt, darin sie mit gewissenhafter Andacht eingetragen, was alles ihr dear uncle, wenn er nicht Maultrommel blies, ihr von seinem merkwürdigen Leben und seinen noch merkwürdigeren Vorfahren erzählt, nicht so sehr aus der Stadtchronik von Kuhstedt an der Hamme, als aus dem Fabelstrumpfgebiete des uncle Bob, Cuckfield, Sussex. Dies interessante Quellenwerk hinterließ Miß Edith Pepperfly, als sie siebenzigjährig den Schauplatz ihrer Untätigkeit als geschätzte Armenpfründnerin verließ, ihrer treuen Busenfreundin Miß Leila Chatterbox. Selbige Jungfrau besaß einen leibhaftigen »cousin« in London, einen überaus findigen Antiquar, als welcher denn auch einmal von seiner Spürnase bis nach Cuckfield, Sussex, geleitet ward, wo ihn die Existenz einer lieben Base ehrwürdigen Alters höchlichst und freudigst überraschte, doch aber nicht so sehr fesselte, als wie das von ihr mit inbrünstiger Heimlichkeit ihm anvertraute »diary« der Miß Edith Pepperfly mit den absonderlichen Reminiszenzen und Aphorismen des seligen Misters Jeremias Drumdoodle. Mister Nathanael T. Sniffleby, antiquary, übergab das wertvolle Manuskript seinem Freunde Mister Augustus Pennyworth, welcher damals die vielgelesene und allgemein beliebte Zeitschrift »The weekly Lier« redigierte, worin dann in der Tat, unter der Rubrik »The provincial Punch«, die biographischen und genealogischen Kundgebungen des Fritze Schultze aus Kuhstedt an der Hamme, genannt Jeremias Drumdoodle, an das Licht und in den Londoner Nebel getreten sind: die Mutter Walliserin, der Großvater Lachlan, die Urgroßmutter aus Virginia U. S. A. – der Maultrommel und des reinen Hannöversch nicht zu vergessen! Es ist anzunehmen, daß diese Mitteilungen im vereinigten Königreiche berechtigtes Aufsehen erregten: – denn so etwas kommt nicht alle Tage vor, sagte Onkel Bob. Man suchte mit Eifer und Rührung in Cuckfield, Sussex, nach der letzten Ruhestätte des berühmten Mitbürgers – und fand sie nicht! – Fand sie nicht! – Ooh, what a pity! is n't it? – Wie war das möglich?! – –
Es ist erschütternd – extremly touching, indeed! – Die liebe Nichte hatte die bis in die Knochen englischen Überreste des Genies von Cuckfield irgendwo an der Kirchhofsmauer vor den Augen der Nachwelt verbergen lassen; der Grabhügel war versunken, und das Denkmal – ein Denkmal? – Well, Miß Leila Chatterbox, eine zartfühlende Seele wie nur eine im vereinigten Königreiche, fand es »quite shoking«, daß ihrer edlen Edith Nachruf befleckt bleiben sollte durch den Vorwurf der Unpietät gegen einen geliebten Anverwandten und beinahe – nun ja, Miß Leila wußte Bescheid! – Und sie war am Ende die Erbin der Seligen; aber ihre Mittel waren beschränkt, wie ihr Herz weit – sie konnte sich keinen Marmelstein leisten, nur ein dünnes Brettlein aus echtem Sussexer Tannenholz, worauf sie mit zitternder Hand und schwarzer Trauerfarbe den unsterblichen Namen »Jeremias Drumdoodle« – hatte schreiben wollen – –. Aber auf dem Brettlein war kein Raum für die volle Klangfülle und Wortpracht; so stand darauf, an jener Stelle, wo mutmaßlich der Grabhügel des Unvergeßlichen einst gesunken sein mochte, nur das für eine späte Nachwelt geheimnisvolle:
» Drum doodle«.
In Sussex regnet es ebensoviel wie in Lincolnshire, und es regnete, regnete, regnete jahrelang auch auf das Grabbrettlein des armen Jeremias, also daß für die nächste Generation von der ganzen Größe seines Namens nur noch das« doodle»zu lesen blieb. Da aber doch nun einmal die Berühmtheit seines Mitbürgers aus dem Weekly Lier bis nach Cuckfield gedrungen war, so hängte sich die nachlebende Stadtlegende und Volkssage nunmehr an den immerhin noch wohlklingenden Namen Doodle. Doodle schlechtweg, Doodle however – der blieb die Zelebrität von Cuckfield, Sussex. – Aber der Regen regnete und regnete weiter, wie in Lincolnshire, und auch von der knappen Schönheit des verehrten Namens Doodle fand eine neue heranwachsende Jugend nichts übrig als die mysteriöse Dreizahl der blassen Buchstaben D – O – L. –
Dol? Wer war Dol? – Die Volkssage und die Stadtlegende spannen weiter, und es erschien in der lebhaften und poetischen Phantasie jungfräulicher Cuckfielderinnen das süße Bild eines armen kleinen Mädels – blondlockig und blauäugig – von sechzehn, höchstens siebzehn Jahren, Dolly – »little Dol«. Ooh – man wußte genau, es konnte gar nicht anders sein: little Dol war an gebrochenem Herzen gestorben, sechzehn-, höchstens siebzehnjährig, nachdem ein elender, ehrvergessener »lover« – obendrein aus »Germany« – ihr die Treue gebrochen – arme süße kleine Dol! Wie manche Träne des Mitgefühls ist wohl aus schönen Augen mit den Regentropfen des grauen Himmels von Sussex vermischt auf die Stelle geflossen, wo das Grab eingesunken war, die Schrift verblaßte, das Brettlein vermoderte – die Sage wußte Bescheid und wies dem trauernden Gedanken den Weg:
»Pour sweat little Dol!« – –
Also sagt und singt noch heute das Volk in Cuckfield, Sussex, und Jeremias Drumdoodle, der hienieden wie ein Engländer aussah, bläst in den Gefilden hoher Ahnen die Maultrommel dazu. –
»Ooh, dear me, it was a dream! Quite german indeed, isn't it?«
Einem Traum nacherzählt.
(1924.)
Prinzeßchen hatte zum Geburtstag eine Puppe bekommen. Aber was für eine Puppe! Sie stand auf dem Gipfel der modernen Mechanik, ein technisches Wunderkind. Daß sie »Papa« und »Mama« in einer Weise sagen konnte, die beides beinahe unterscheiden ließ, war das Wenigste. Sie konnte sogar weinen, wenn man ihr an bestimmter Stelle das nötige Tränenwasser einfüllte. Aber der Höhepunkt, der sie über alle Puppen ihrer Zeit erhob, war – wenn sie »Strom« bekam, d. h. an eine elektrische Leitung angeschlossen ward. Was dann geschah, welche Bewegungen, gleich bewundernswert an Grazie und Kühnheit, sie alsdann auszuführen vermochte, das läßt sich nicht beschreiben. Nur freilich, von der Stelle sich entfernen, weiter als der Leitungsdraht reichte, das konnte sie nicht, – sie mußte ja doch den »Strom« bekommen. Aber sie war ein Kunstwerk ersten Ranges und durfte nur Prinzeßchens Puppe sein. Die fürstlichen Eltern, soweit sie Gefühlswallungen zu zeigen sich erlaubten, waren entzückt, und auch Prinzeßchen selber bestaunte eine Weile, was der Strom bewirken konnte, bis dem lebhaften Kinde die technische Abhängigkeit klar ward, die es ihm versagte, das reizende Puppenwesen mütterlich-menschlich auf den Arm zu nehmen, an die kleine Brust zu drücken und dahin zu tragen, wohin es dem Mütterlein gefiel. Da löste Prinzeßchen rasch entschlossen den Kontakt und lief mit dem stromlosen Kindchen glückselig in den Park, ohne erst Mademoiselle oder gar die Frau Oberhofmeisterin zu fragen. Dies lag weder in ihrem fürstlichen Geblüt noch in ihrem natürlichen Temperament. Sie liebte den weiten Park viel mehr als das enge Schloß und hüpfte am liebsten auf verborgenen Wegen bis an den See, in welchen sich das dunkle Gewässer des Schloßgrabens ergoß, und der »unendlich tief« sein sollte. Prinzeßchen graute sich nicht im geringsten davor, was ihr als abschreckende Vorstellung immer wieder einzuprägen versucht ward: daß dieser geheimnisvolle See nichts Lebendiges wieder hergab, wegen seiner unendlichen Tiefe, – in Wahrheit aber, was viel schrecklicher, weil er einen sumpfigen Grund besaß, der alles erbarmungslos verschluckte, was ihn nur berührte. Prinzeßchen zeigte ihre strombefreite Puppe ihrem geliebten See und überzeugt, daß sie das Wohlgefallen der kleinen Mutter teilen müsse, weilte sie meist mit ihr an der romantischen Stelle, wo der Graben sich in den See verlor, wenn sie oft genug im Schlosse vergeblich gesucht ward, selbst, wenn die Tischglocke schon geläutet hatte. –
Während Prinzeßchen so ihre Tage draußen am See verträumte, lebte auch ihr fürstliches Elternpaar drinnen in den alten Mauern des Ahnenschlosses wie im Traum ein weltfremdes Leben nach strenger Erbsitte, still und fein, ohne Ahnung der Wandlungen und Ereignisse, welche sich unter dem Einflüsse des rücksichtslosen Zeitgeistes auch in der kleinen Residenzstadt jenseits des Schloßgrabens draußen vollzogen hatten. Von den »revolutionären Strömungen« in ihrer gänzlich unpolitischen Bevölkerung wußte niemand etwas, außer Mademoiselle aus der französischen Schweiz; – sie wußte mehr als gut war und hatte ihre wohlgepflegte Hand mit im falschen Spiele der einseitigen Entzweiung zwischen Volk und Schloß. Wie Prinzeßchen ihre Puppe, hatte Mademoiselle ihre Politik, aber die hing fest am Kontakt und bewegte sich nach dem »Strome«! Ihre geschickt hetzerische Tätigkeit, mit dem ganzen Temperamente der Französin, brachte die Empörung der Volksseele wider nie zuvor bemerkte Schäden und Leiden zum berüchtigten Siedepunkt. Eines früh dämmernden Herbstnachmittags – die fürstliche Herrschaft saß noch an der Mittagstafel im Spiegelsaal – brach die »Revolution« in Durchlauchtringen aus und los! – Schreckensbleich erschien zuerst der Hofkutscher ungerufen auf der Schwelle des Saales und wagte dem Hofmarschall durch den Spiegel einen ungehörigen Wink zu geben, den dieser gestrenge Herr nur mit einem vernichtenden Zornblick, gleichfalls durch den Spiegel, erwiderte. Prinzeßchen hätte sonst gewiß eine vorlaute Bemerkung gemacht, aber die kleine Durchlaucht maulte just, weil sie, schon wieder einmal zu spät gekommen, ihre Puppe nicht mit an die Tafel hatte bringen dürfen. So verging noch einige Zeit im weiteren wohlgesitteten Geflüster der arglosen hohen Gesellschaft; Mademoiselle hatte Urlaub, und der diensttuende Kammerherr, von Wildenberg, war unfaßlicher Weise nicht erschienen. Jetzt aber – jetzt erschien er und schnitt jeden verdienten Vorwurf kurz ab mit dem einen Worte: »Revolution!« – Die Gesellschaft verstand nicht – was ist das? – was soll das heißen. »Revolution«? – »Eine wilderregte Arbeiterschar rückt bereits mit lauten Forderungen und Drohungen bewaffnet gegen das Schloß!« – »Ja, dürfen sie denn das?« stammelte die fassungslose Oberhofmeisterin mit einem abgrundtief staunenden Blick auf die Herrschaften. »Habe ich denn schlecht regiert?« Dies rührende Wort fand endlich der stramm aufrecht stehende Fürst. »Was wollen die Leute denn?« fragte die rasch gefaßte Fürstin. »Das wissen sie selber nicht, Durchlaucht, aber sie wollen einmal was!« Prinzeßchen lachte, das gefiel ihr, und flugs wollte sie auch was: heimlich entschlüpfen, ihre Puppe holen – – da tobte der Haufe der Aufrührer schon über die alte Zugbrücke, die in verrosteten Ketten unbeweglich niederhing, gegen das Schloßportal zu, gröhlende Männer, kreischende Weiber, donnernde Faustschläge, Axtschläge, Stöße, Krachen – – Johann, der Kutscher, stand wieder auf der Schwelle: »Der Jagdwagen ist eingespannt, durchlauchtigste Herrschaft!« Von Wildenberg rief »Bravo«: er hatte auf eigene Gefahr den Befehl gegeben – und: »Nur rasch aus der hinteren Hofpforte durch den Park!« – Die Durchlauchten verstanden: es war das Beste, das Einzige! Der furchtbare Lärm der eindringenden Bande ließ ihnen keine Wahl. Die Lüster im Saal verloschen, Fackelschein von außen leuchtete unheimlich der raschen Flucht. Prinzeßchen ward mitgerissen. Fort! Fort! – –
Der leichte Wagen rollt lautlos aus dem Schloßhof in den dunkeln Park hinein. Zwischen dem Fürstenpaar sitzt Prinzeßchen, die hohen Chargen auf dem Rücksitz, von Wildenberg neben Johann auf dem Bock. Nun folgen sich die Ereignisse Schlag auf Schlag. »Meine Puppe!« schreit Prinzeßchen laut auf – im Nu aus dem Wagen – verschwunden im Dunkeln – – die Herrschaften, die Chargen, in Entsetzen erstarrt – dann ein einziger Schreckensruf: »Ingeborg!« – »Prinzeßchen!« – Von Wildenberg hört's, springt vom Bock des ungehemmt weiter rollenden Wagens – dem flüchtigen Kinde nach, zurück ins Schloß – in das tobende, lärmende, greulich entweihte Schloß! – Schon hausen die Eindringlinge, betäubt vom Erfolg, zerstörend, plündernd, wie die Rasenden in den vornehmen Räumen, schon stürmen sie die goldene Treppe hinauf in den öden Speisesaal, schon fliegen zerschmettert Scherben der Spiegel, der edlen Gefäße umher – eine Fackel zündet die Vorhänge, Flammen schlagen auf –: da steht Prinzeßchen mit der Puppe in der Tür des Nebengemaches, grell beleuchtet, – Prinzeßchen! – der Liebling des Volkes – das bannende Ziel der blinden Wut! – Ein Augenblick! – Von Wildenberg stürzt in den Saal, von Wildenberg erblickt das Prinzeßchen allein vor der wilden Menge, von Wildenberg verliert die Besonnenheit und feuert seinen Revolver blindlings ab. Ein Wutschrei – ein Schuß aus dem Haufen – von Wildenberg liegt auf den Boden gestreckt. Prinzeßchen flüchtet ins Nebengemach, die Puppe fest im Arm, schwingt sie sich aufs Fenster, es fliegt auf – ein Sprung – – drunten fließt der schwarze Graben – er fließt in den See, den unendlich tiefen See! Der gibt kein Lebendiges wieder heraus. –
Die »Revolution« war mit dem Schreckensaugenblick gebrochen. Die Fürsten kehrten zurück. Mademoiselle blieb verschwunden, von Wildenberg genas. Und – Prinzeßchen?! – – Nur ein jämmerlich zerstörtes Kunstwerk fand inan am nächsten Morgen vom Strom ans Ufer gespült, dort, wo der Graben in den See sich verliert: Prinzeßchens Puppe. – -
(1902.)
Es gibt wunderbare Träume, und bisweilen, sagt man, treffen sogar die wunderbarsten ein, wenn auch etwas anders. Heute will ich einen solchen erzählen, der nicht eingetroffen ist, oder doch ganz anders. Aber ob eingetroffen oder nicht: er ist mir in der Erinnerung eines Vierteljahrhunderts ein unvergeßliches Erlebnis geblieben, wovon ich noch heute traumgetreu erzählen kann.
Ich war auf meinem Ahnenschloß – aber eigentlich ist es gar kein Ahnenschloß gewesen, dies alte Herrenhaus, das über die Unstrut und die goldene Aue weg nach dem sagenhaften Kyffhäuser blickt. Unsere Familie hat wohl Schlösser besessen, nur haben sie nie die Geduld gehabt, für uns Ahnenschlösser zu werden. Immer aber haben Ahnenbilder an ihren Wänden gehangen, also hat es immer Ahnfrauen darin gegeben, und von Einer habe ich zu erzählen, die mich im Traume besucht hat.
Schon vor den Augen von uns Kindern hat ihr Bild an der Wand des »Ahnensaals« gehangen, in reicher Tracht und vollem Schmuck, ein wunderliches dunkles Stiefmütterchen über der weißen Stirn im hellblonden Haar. Wie ich schon in meinen »Lebensbildern« erzählt habe: wir Kinder bildeten uns bei diesem Stiefmütterchen einen Zauber ein. Das machte uns das Bild noch geheimnisvoller, und die Ahnfrau erst recht. Dazu hieß sie »Sibylle«! Daß sie vor 300 Jahren eine Freiin von Schrottenbach gewesen, war uns gleichgültig: aber – Sibylle! Konnte eine Ahnfrau schöner und unheimlicher heißen? Die liebe gute Sibylle, von der ihr treuer Gatte Hans Paul nach ihrem frühen Tode so herzlich brave Verse gesungen hatte, wie:
»Dein Sti – ern die Vernunft und Bscheidenheit umbfingen,
die Perlein göttlichs Worts in deinen Ohren hingen. –
Die Keuschheit war dein Rock, die Reinlichkeit dein Gwand,
darinnen man nicht sah ein Makel, Fleck und Schand'!«
Und eben diese liebe gute Frau Sibylle aus meiner Kinderzeit besuchte mich nach vierzig Jahren im Traume. –
Ich war im Ahnensaal, unter ihrem Bilde, aber nicht allein, ich sah mich in einer festlichen Gesellschaft unserer Familie, und dem Bilde gegenüber fand die Trauung eines jungen weiß umschleierten Richtleins statt. Unser alter greiser Dorfpfarrer vollzog die heilige Handlung vor einem zum Altar umgewandelten Tische, auf dem zwei Lichter brannten, welche allein den dämmerigen Saal spärlich, aber feierlich erhellten. Der gute alte Pfarrer sprach lange, lange, in seinem uns wohlbekannten Thüringer Dialekt und knackte gewiß dabei mit der Nase, wie er zum Vergnügen der Kinder stäts getan – aber im Traume hörte ich ihn nicht knacken, nur reden und reden, – mir wurde ganz dumm und müde im Kopf. Denn man kann im Traum auch müde werden. Und wie ich nun so benommen mitten unter den Andern stand, war mir's mit einem Male, als öffnete sich leise, leise die Tür zum Nebenraum, und seltsam: es war eine lange dunkle Galerie, die auf den Saal zuführte, und durch welche sich eben jetzt ein feiner Strahl wie von Mondlicht sanft heran und zum Saale hereinschlich, gerade auf das Bild der Ahnfrau zu. Doch als ich mich danach umwandle, was sah ich in dem bleichen Schimmer? Der Rahmen war leer! Wohin war die Ahnfrau geschwunden? Und da erlosch der Strahl, dafür aber zog es wie ein kühler Lufthauch die Galerie entlang, ein Hauch, der mir eine nahende Schattengestalt vortäuschen wollte, – und unwillkürlich flüsterte ich meinem Nachbar zu: »die Ahnfrau!« Der zuckte nur lächelnd die Achseln: »ach was, heute spuken keine Ahnfrauen mehr!« – und der alte Pfarrer kam noch immer nicht zum Amen. Jetzt stieg ein anderes Bild in mir auf, eine wunderliche, märchenhafte Erscheinung: wo nun die Galerie, durch welche die Ahnfrau heranschwebte, war einst ein Laubengang gewesen – ja, und war's nicht eben wieder der Laubengang, der selbe lange, dunkle Laubengang im Park, den ich als Kind nur mit leisem Bangen zu betreten wagte, und wenn ich mich weiter hinein getraute, dann erwartete ich jeden Augenblick die Ahnfrau mir aus der fernen düstern Tiefe her im langen weißen Gewände entgegenschweben zu sehen – –. Und da schwebte sie eben wahrhaftig hier in den Saal hinein, unsichtbar wohl, doch fühlbar, mit jedem Schritt ihres Nahens fühlbarer! Der kühle Hauch – schon streift er mich, daß ich erschauern muß – und da – ja, da fiel mir plötzlich ein: »Man begrüßt doch eine Ahnfrau in seinem Schlosse!« und dabei neigte ich mich nieder, wo ich die Geisterhand der unsichtbaren Schattengestalt vermutete, um sie voll Ehrfurcht zu küssen. Im selben Augenblick fühlte ich den kühlen Hauch ganz leise, ganz zart auf meiner Stirn: die Ahnfrau hatte mich geküßt. Und da sprach der Pfarrer sein Amen. Ein jäher Schreck – der Traumschleier wehte davor zurück – es war wie im Halbwachen, daß ich noch traumbefangen der Hochzeitgesellschaft zurief: »Die Ahnfrau hat sich gezeigt! Dem Schlosse droht ein Unheil! Rasch auf und davon!« – –
Sie mußten mit einem Male alle daran geglaubt haben, daß Ahnfrauen noch spuken können und Unheil anzeigen. Kurz, als ich wieder vom Schlaf ergriffen in den Traum zurücksank, fand ich mich mit einem meiner Vettern allein in einem Abteil des Schnellzuges, der durch die Nacht dahinraste, und draußen vor dem Fenster jagte die dunkle Landschaft mit fliehenden Schattenbildern gespenstig vorbei. Wir waren beide recht müde und schlafbedürftig – im Schlafe –, zogen den Fenstervorhang zu und dämpften das Licht der Deckenlampe ab, streckten uns auf den Polsterbänken des Wagens aus und wollten entschlummern; aber eine seltsame Unruhe hielt uns wach. Auch mein nüchterner Vetter war von ihr gepackt, wälzte sich stöhnend hin und her – endlich riß er sich auf mit dem bänglich unterdrückten Rufe: »Es ist noch Einer mit uns hier im Raum!« Vom gleichen unheimlichen Gefühl durchschauert enthüllte ich rasch das Licht, zog den Vorhang zurück: Niemand war im Abteil außer uns beiden. Wir waren allein wie zuvor und draußen jagte wie zuvor die Landschaft durch die Nacht, durch welche wir fuhren. Es war ja alles ganz natürlich, gar kein Wunder, kein Grund zum Grausen – und doch wußten wir im selben Augenblick ganz sicher: »Jetzt ist das Schloß dahin, es ist abgebrannt, die Ahnfrau hat es uns angezeigt!« Und mit dieser schreckensvollen Gewißheit wachte ich völlig auf. Mein Traum war zu Ende. –
Das Schloß ist nicht abgebrannt. Aber doch ist es für uns dahin; es mußte verkauft werden, weil die Familie »abgebrannt« war, und ob es auch in beste, pietätvoll waltende Hände kam, – der Verlust brennt mir heut noch schmerzlich in der Seele. – Es ist dahin, aber die Ahnfrau ist noch da, ist mit mir gezogen, ist hier! Wenn ich mich umwende, dann schaue ich ihr gerade ins Gesicht, in die freundlichen braunen Augen, auf das hellblonde Haar, und ich sehe das Stiefmütterchen, das gezauberte, über der weißen Stirn. – Wunderbarer Traum, wunderbarere Wirklichkeit! Die Ahnfrau hat schon einmal an einer Bayreuther Wand gehangen, vor mehr als 200 Jahren war's, in der Wohnung ihres Sohnes Hans Paul, des markgräflichen Konsistorialdirektors in Bayreuth. Wo mag diese Wand gestanden haben? Ob sie noch heute steht? Es ist nicht festzustellen gewesen. Und wo wird die Ahnfrau einst nach meinem Tode ihre Ruhestatt finden? Wo und welchen Enkeln wird sie dann erscheinen? – Gute liebe alte Frau Sibylle! Es war doch schön, daß du mich einmal noch im Traume besucht hast. Es war ein wunderbarer Traum! –
(1922.)
Es gibt noch andere Ahnenbilder und Ahnfrauen in meinem Hause, von denen sich etwas sagen ließe, wenn man ins Erinnern und Erzählen gerät. Wenige Schritte von der guten Frau Sibylle, nur eben zur Tür hinaus auf den Treppenflur: da hängt die anmutige Frau, Eleonore, die Giengerin, ihre Schwiegertochter, neben ihrem stattlichen Ehegemahl, jenem Hans Paul, dem Zweiten seines Namens, und wenn sie nur etwas seitwärts nach rechts blicken könnten (was sie nicht können, weil Ahnenbilder bekanntlich ihren Enkeln immer und überall gerade in die Augen schauen!), so würden sie über die Bäume des Nachbargartens von »Wahnfried« die Doppeltürme der Stadtkirche von Bayreuth gewahren, wo sie beide seit mehr als zweihundert Jahren begraben liegen. – Eleonore ist meine Ur-Ur-Ur-Großmutter. Von ihr führen merkwürdige Linien ab- und aufwärts. Zu ihrem Sohne Hans Christof, dem Herrn auf Bauerbach und Mühlfeld im Meiningischen, wurzelt das ganze Geheimnis der vielbefragten »Verwandtschaft mit Schiller«. Darüber habe ich einmal, zwanzig Jahre nach dem Traume von der Ahnfrau, den folgenden kleinen heiteren Aufsatz geschrieben:
Unzählige Male schon ist wohl ein jeder von uns »Wolzogens« nach seiner »berühmten« Verwandtschaft mit Schiller befragt worden. Die meisten werden wahrscheinlich falsch geantwortet haben, wenige richtig. Verstanden hat es noch kein Frager und Hörer, weder das Richtige noch das Falsche. Ich werde wieder einmal gefragt, etwa zum siebzigsten Male in meinen 74 Jahren. Gut denn! Spaßeshalber, zum allgemeinen Besten – noch einmal, richtig! – Es ist nämlich ungeheuer einfach – nämlich zweifach. Also:
Erstens: Schillers Gattin Charlotte war – bekanntlich! – ein Fräulein von Lengefeld. Dieses Fräulein von Lengefeld war die Enkelin einer Freiin von Wolzogen. Diese Freiin von Wolzogen war die Schwester meines Urgroßvaters, also meine Urgroßtante. Ihre Enkelin, Frau Charlotte von Schiller, war demnach meine Tante. –
(Ungeheuer einfach, nicht? – Aber nun:)
Zweitens: Der Frau Charlotte von Schiller ältere Schwester Karoline war – bekanntlich! – auch ein Fräulein von Lengefeld. Dieses Fräulein von Lengefeld heiratete in zweiter Ehe ihren Onkel Wilhelm von Wolzogen, meines Urgroßvaters ältesten Sohn. Meine Tante Karoline von Lengefeld ward also meine Großtante Karoline von Wolzogen. –
(Daß diese Karoline Schillers Schwägerin war, verwandelte die einfache Geschichte in die ewige Frage: »Wie sind Sie eigentlich mit Schiller verwandt?«)
Übrigens ist an der ganzen Geschichte doch eigentlich mein Ur-Ur-Großvater Hans Christof schuld. – Gerechter Himmel, auch der noch? – Ja, natürlich! Denn sein Blut rollte zweifellos in den Adern der Kinder Schillers – also auch seiner jüngsten Tochter, der Freifrau Emilie von Gleichen-Rußwurm, rollt also auch in denen ihres Enkels Alexander, des bekannten Schriftstellers unserer Tage – gleichwie in denen des Schreibers dieser endlich-unendlich aufklärenden Zeilen.
P.S. Scherzfrage: Wenn Schiller mein Onkel ist, wessen Großonkel bin ich? –«
Auch Urgroßmutter Henriette, geborene Marschalk von Ostheim, Hans Christofs Schwiegertochter, die Beschützerin Schillers in Bauerbach, mit ihrem Lottchen, für welche der junge Dichter vor seinen beiden anderen Lotten (Kolb und Lengefeld) schwärmte, nebst Großohm Wilhelm und Tante-Großtante Karoline, sie grüßen mich von meiner Wand, und es ist mir ein lieber Traum mir vorzustellen, daß sie alle auch schon Goethen und Schiller in Weimar gegrüßt, – falls sie nicht etwa in Bauerbach gehangen haben. Aber man gönne mir den lieben Traum; und es gibt noch mehr dergleichen! –
Steigen wir nun eine Treppe tiefer; auf dem Absatz einander gegenüber blicken sich unsere ältesten Ahnenbilder an: Pankraz von Windischgrätz, einst Führer des protestantischen Adels in Österreich, und Felizitas, seine Gemahlin, eine geborene Ungnad von Sonneck. Sie sind die Urgroßeltern der Ahnfrau Eleonore gewesen, also meine blutechten Ahnen, Felizitas meine zweifellose Ahnfrau. Sie ist auffallend hübsch und sieht meiner jüngsten Schwester fabelhaft ähnlich. Fabelhaft? Blut hat einen weiten Spielraum; was sind ihm vier Jahrhunderte?! Aber diese Blutspur führt noch rückwärts weiter ins 16. Säkulum: »Ungnad von Sonneck«! Wer die wunderbare Erzählung Henry Thodes vom »Ring des Frangipani« gelesen hat, der entsinnt sich wohl, daß die herrliche Frau Apollonia, die dem wilden Condottiere jenen seltsam verlorenen und wiedergefundenen Ring mit der Inschrift » mit wylen dyn eygen« schenkte, eine Tochter Anna Maria gehabt hat. Keine Frangipani, Gott sei Dank, sondern aus Apollonias erster Ehe mit dem Herrn Julian von Lodron, welchem Kaiser Max, der letzte Ritter, im Jahre 1503 seine Geliebte zur Frau gab. Unberührt bleibe die Ehre meiner edlen Ahnfrau! Denn das war auch sie, Apollonia, – ja, auch das ist einer meiner schönen Träume! Anna Maria, ihre Tochter, ward im Jahre 1521 die Gattin des Andreas Ungnad von Sonneck. Es fehlt mir zwar ein Zwischenglied, aber so viel ist doch zu vermuten erlaubt, daß Felizitas, deren Mann Pankraz 1598 starb, die Enkelin der Anna Maria, also Urenkelin der Apollonia war. Thode will ihr Abbild entdeckt haben in der Muttergottes auf einem Altargemälde in der Kirche von Obervellach (Kärnthen), einer Stiftung der Anna Maria zum Andenken ihrer Mutter, anno 1520. Wer im Entdecken gewandt ist, mag auch hier eine Ähnlichkeit finden mit dem Bilde auf meiner Treppe; zum wenigsten ist es der selbe zarte, weiche, blonde weibliche Typus, den man sich bei seinen Ahnfrauen wohlgefallen läßt, aber in jenen grimmen Zeiten so selten antrifft. Leider sind gerade die beiden Schönen, Eleonore und Felizitas, bisher noch nie dem freundlichen Vorbilde der guten Frau Sibylle gefolgt, mir im Traume zu erscheinen. Vielleicht kommen sie doch noch einmal aus ihren Bildern – sie werden den späten Enkel »im Bilde« finden; das glaube ich heute plaudernder Weise bewiesen zu haben, – und damit genug von den Ahnenbildern! –
»Das ist ein weites Feld« würde der alte Fontane sagen, der rüstige Wandersmann, der mich, weiß der liebe märkische Himmel, über Neu-Ruppin noch stracks zu meinem berühmten Großvater Schinkel führen will! Und da hängen gleich wieder sechs oder sieben – bescheiden kleinere, bürgerliche – Ahnenbilder an meinen Wänden, darunter mein feines Urgroßmütterlein » Suzette Jacqueline Janson« – Französische Kolonie – Fontane (französisch auszusprechen!) – ja, es ist ein weites Feld, und doch ein immer wieder sich schließender Kreis, zahllose Kreise. So rollt die Welthistorie durch unsere Familiengeschichten und spiegelt sich in unsern Ahnenbildern: gegenwärtige Traumbilder der Vergangenheit! –
Berliner Bilder aus dem Traumleben.
1928.
»Die Hölle selbst hat ihre Rechte«; warum soll nicht auch der Traum seine Regeln haben? Man sollte es nicht glauben, aber es ist doch so. Eine Grundregel des Traumlebens ist die Wiederholung, und dabei ist das Merkwürdige: der Traum wiederholt nicht etwa nur einen Anblick oder Vorgang des wirklichen Lebens, er spiegelt sich selber wider und wiederholt diese Selbstbespiegelung mit einem eitlen Vergnügen. Eine seiner beliebtesten Wiederholungen, wenn er mir seinen Nachtbesuch macht, ist »Wien«. Er nennt es mir so und besteht darauf, daß es Wien ist: immer dieselben bestimmten Gassen und Plätze, Kirchen und Paläste, ich kenne sie seit langen Jahren schon ganz genau – aber im wirklichen Wien gibt es dergleichen nicht: es ist mein Traum-Wien. Und regelmäßig heftet sich eine kleine dumme Handlung an diese Stätte: ich verirre mich, und zur Benutzung eines Fiakers fehlt mir das österreichische Geld. Nie ist so etwas vorgekommen, aber im Traum-Wien ist es halt die »Regel«. – Anders in Berlin! Da kehren mir seit früher Kinderzeit stäts die gleichen vier Stätten wieder, und diese bringen mich nicht wie die Wiener in Verlegenheit, sondern sie haben durchaus etwas Unheimliches. Auch dort hat sich niemals etwas von der Art ereignet, weder vor dem ersten Traum, noch nachher als Erfüllung einer warnenden Vorahnung. Die Stätten an sich sind dem Kinde kaum näher bekanntgeworden; es hat wohl die eine oder andere einmal flüchtig gesehen, im vollen Sinne: flüchtig, denn es muß doch unheimlich berührt worden sein. Nun führt sie der Traum durch acht Jahrzehnte des Lebens mir immer wieder als unheimliche Stätten vor, und zwar nur als Stätten, ohne eine bestimmte Handlung. Es läßt sich keine Geschichte davon erzählen; so hätte ich sie am Ende gar nicht erwähnen sollen. Was geht der sonderbare Spuk irgend jemanden an, außer mir? Und doch: das Geheimnisvolle des Traumlebens ist in jedem Fall beachtenswert. Es sind Rätsel, die nicht zu lösen sind und auch gar nicht gelöst sein wollen. Ja, was wäre die Welt überhaupt ohne das Geheimnisvolle? Bestände sie ganz und gar aus dem Aufgeklärten, sie hätte an Wert arg verloren! Das Geheimnisvolle hat einen unendlichen Horizont; das Aufgeklärte bleibt eingeschlossen im engen Hirn. Laßt mich noch ein wenig in der geheimnisvollen Traumwelt und erlaubt mir davon zu reden! –
Also Berlin! Das helle, rationalistische, »aufgeklärte« Berlin! Gespensterlos, trotz weißer Frau und E. T. A. Hoffmann. Schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es so, und »ausgerechnet«, wie es heute so kapitalistisch treffend heißt, ist mein Traum-Berlin unheimlich. Seine vier Stätten sind wirklich vorhanden, wirkliches Berlin – und doch! Was hat der unbedeutende kleine Punkt in der Kurstraße, etwa wo die Kreuzstraße abzweigt, Unheimliches an sich? Der Knabe kannte von der ganzen Straße eigentlich nur den Anfang, das alte Fürstenhaus, wo er beim Direktor Bonell 1860 zum Werderschen Gymnasium angemeldet wurde, und daneben Gsellius Antiquariat, wo die Schulbücher zu kaufen waren. Ist er zufällig auch einmal schon weiter hineingeraten, hat ihn, der sonst nur im lichten, breitstraßigen, vornehmen Berlin der Linden-Gegend sich bewegte, das engere Gassenleben des alten Werders etwa fremdartig spukhaft bedrängt, so daß er ängstlich hindurcheilte und erst auf dem Spittelmarkt wieder aufatmete? Ich weiß es nicht, nur der Traum weiß es. Soviel weiß ich, daß ich heute auf dem Spittelmarkt nicht aufatme! Am liebsten möchte man sich aus dem wüst lärmenden Weltstadtgetriebe des Leipziger-Straßen-Zuges als armer gehetzter Landstreicher unter den schützenden Mantel der heiligen Gertraud auf ihrer nahen Brücke flüchten. Das sind die Unheimlichkeiten der Moderne. Das Historische aber hat damals wohl nicht mein Kindergemüt berührt. Siebzehntes Jahrhundert, der nachbarliche Raules-Hof, Raule, der Admiral des Großen Kurfürsten, das wirkte nicht mit in der Kurstraße. Auch Litfaß nicht, dicht dabei in der Adlerstraße, dessen erste »Säulen« ja doch in meine Kinderzeit hineinragen. Alles dies habe ich erst später erfahren; in die Kurstraße, an die unheimliche Stätte, bin ich bewußt nicht mehr gekommen, habe sie vielleicht sogar gemieden, hatte genug von ihr im Traum. Aber der hatte doch wenigstens einen gewissen Charakter, was der zweiten Stätte völlig abging; ich begreife nicht, warum sie sich im Traum-Berlin so wichtig macht?!
Wenn man vom Gendarmenmarkt hinter dem Schauspielhause in die Taubenstraße einbiegt, kommt man in die Mauerstraße. Eine ganz uninteressante Gegend; ich habe dort nie etwas zu suchen gehabt. Im Traum kam ich oft dahin, aber nie ans Ende. Unterwegs wird mirs bänglich: »Lieber umkehren!« Die Mauerstraße wird nicht erreicht. Was hat sie denn so Unheimliches? Heinrich von Kleist hat einmal dort gewohnt; doch davon wußte ich nichts, den lernte ich erst viel später, 1868, auf der Schweriner Bühne kennen und lieben. Der Prinz von Homburg stand mir so fern wie der kurfürstliche Admiral Raule. Ich bin auch ganz gleichgültig kühl durch die Mauerstraße gegangen, Jahrzehnte ohne Gefahr und Spuk; aber der Traum hielt unentwegt daran fest: »Lieber umkehren in der Taubenstraße!« – Ähnlich gleichgültig ist mir der sogenannte Goldfischteich im Tiergarten, an der Charlottenburger Chaussee. Der Traum findet ihn unheimlich, als wenn es ein einsamer Waldsee wäre, ein Hertha-See – aber es steht eine Venus daran. Oder stand sie? Der Fortschritt unserer Zeit hat ja auch die Statuen fortschreiten lassen! In meiner Knabenzeit stand die Venus da, und die konnte für mich, den in der Bauakademie unter Antiken aufgewachsenen Schinkel-Enkel, nichts Unheimliches haben. Ich hatte sie nur nicht besonders gern, und am Goldfischteich, meinte ich, brauchte sie sich nicht gerade so prahlerisch hinzustellen, wenn sie mir die Spukgeister des Platzes doch nicht mit ihrer kalten Schönheit verscheuchen konnte! – Ob das Kind etwas von einem Selbstmörder gehört hatte, der sich unter venerischem Einfluß in dem trüben Wasser ertränkte? Jedenfalls hatte ich im Traum vor dem Wasser eine Scheu. Einmal verbreitete es sich über die ganze Strecke des Tiergartens, so daß ich es durchwaten mußte. Ein Angsttraum, wie er ja häufig ist, der als Wassertraum sogar eine üble Bedeutung haben soll. Schön wird er erst, wenn er zum richtigen Schwimmtraum wird, und noch schöner ist der Fliegetraum. Da vermutet man wohl mit Recht physische Ursachen im Träumer. Aber gerade darin liegt das Geheimnisvolle. Der Traum, dieser sonderbarste, talentvollste Künstler, gestaltet eine ganze Geschichte daraufhin, daß die Katastrophe im Wasser oder in der Luft eintritt. Ja, wie denn? Wie vereint sich das mit der physischen Ursache? Ist der Traum so zeitlos, daß er die Wirkung schon vor der Ursache in Betracht zieht? Oder ist er so feinfühlig, daß er die Ursache schon früher empfindet als der Träumer, der sie erst in der Katastrophe verspürt?
Der Berliner Tiergarten birgt aber noch eine andere unheimliche Stelle, eine höchst unheimliche, auch ganz grundlos unheimliche – aber der Traum muß es ja besser wissen. Sie liegt auf der Gegenseite, da, wo die Tiergartenstraße in die Stülerstraße übergeht. Eine Venus steht nicht da, aber der alte Fontane ist in der Nähe; der gefällt mir mehr. In dieser Gegend hat es früher einen wunderlichen kurzen Laubengang am Rande des Tiergartens gegeben; noch früher wird er wohl länger gewesen sein, ein Überbleibsel französierender Gartenarchitektur. Als Kind habe ich mich vor dem kleinen Streckchen wohl etwas düster eingeschlossenen Ganges richtig »gegrault«, und dabei ist es geblieben. Wie ich so weit hinausgekommen bin, ahne ich nicht mehr. In den fünfziger Jahren war es eine Landpartie! Vielleicht hatte die stolze Hofkutsche der Tochter von Charlotte von Kalb, der Hofdame der alten »Tante Wilhelm«, welche meine – d. h. die Hofdame – Tante war, mich bis dahin mitgenommen, und da wurde dann ein kleiner Wandel gemacht. Naturgenuß von damals! Jedenfalls war ich froh, als ich wieder in der Hofkutsche saß und »mich fühlte«! Der Traum bestrafte Feigheit und Eitelkeit, indem er mich bis in späte Zeiten in den unheimlichen Laubengang zurückführte. Ich bin wirklich nie mehr hindurchgegangen, und als ich ihn kürzlich als mutiger Greis wieder aufsuchen wollte – war er nicht mehr zu finden. Auch fortgeschritten – worden? Nun war erst eigentlich alles wie ein Traum. Nur neugierig bin ich, ob ich zuguterletzt noch einmal von ihm träumen werde, und ob er dann auch noch unheimlich sein wird? Das liegt im Rechte des Traumes. Ich kenne die Regel nicht. Am Ende ist es nur eine Ausnahme. Wer kennt sich jemals aus in den »unheimlichen Stätten«?! –