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Wochen waren dahingegangen. Die vielen Tausende von Norddeutschen, die im Juli sich über München den Alpen zugewälzt, hatten sich ebenso über München wieder in ihr Flachland zurückgewälzt und den gebührenden Durchgangszoll in Gestalt mehrerer vertilgter Mass Hofbräubier entrichtet. Die Stadt bekam bereits wieder ihr fremdenreines Aussehen, was allerdings ihrem klassischen Dreck bei Regenwetter keinen Eintrag that. Im Hoftheater konnte man normale Vorstellungen zu normalen Preisen sehen – man sah sie jedoch lieber nicht, weil just der Anfang des Oktobers seine Ehre darein zu setzen schien, die Sünden des launischen Sommers wieder gut zu machen. Auch in den verschiedenen Hochschulen gähnten noch die leeren Bänke, obgleich das neue Semester offiziell seinen Anfang genommen hatte, und von den interessanten Herrschaften, welche der gewissenhafte Verfasser dieser Chronika dem freundlichen Leser und der schönen Leserin vorzustellen die Ehre hatte, war ausser Moritz Haiders thatkräftigen Töchtern, die ihr Geschäft nicht im Stiche lassen konnten, nur Dr. Reithmeyer in der Stadt.
Er hatte, da die wissenschaftliche Welt dringend einen neuen und unwiderleglichen Beweis für seine Fähigkeit, eine germanistische Professur auszuüben, verlangte, die Sommermonate dazu benutzt, ein bahnbrechendes Werk über Geheimrat von Goethes berühmten Meyer aus Westfalen zu schreiben. Bekanntlich äusserte Se. Excellenz am Sonntag den 15. Februar 1824 zu Eckermann, dass Herr Meyer aus Westfalen ein sehr hoffnungsvoller junger Mann sei und Gedichte gemacht habe, die sehr viel erwarten liessen. Er sei erst 18 Jahre alt und schon unglaublich weit. Diesen Herrn Meyer aus Westfalen wissenschaftlich festzustellen, war doch wirklich eine Aufgabe des edelsten Schweisses wert! Es gelang Dr. Josef Reithmeyer thatsächlich, ein fast vollständiges Verzeichnis sämtlicher, den besseren Ständen entsprossener und im Jahre 1806 in Westfalen geborener männlicher Meyer aufzustellen und aus diesen 27 Stück zu eruiren, welche notorisch Gedichte gemacht hatten. Es war ihm ferner gelungen 139 Gedichte, welche unzweifelhaft diesen 27 Meyerschen Federn entflossen waren, zusammenzubringen. Sie waren in seinem hochinteressanten Werke abgedruckt. Im zweiten, kritischen Teil seiner Schrift hatte er sich bemüht, diese 139 Dokumente unter dem Gesichtswinkel des Goetheschen Geschmacks vom Jahre 1824 zu betrachten und auf diese Weise den ächten Meyer aus Westfalen festzunageln. Er war durch diese Methode dazu gelangt, mit Nachdruck den Finger auf Karl Leberecht Gottwald Gneomar Meyer aus Haspe legen zu können. Von den weiteren Lebensschicksalen des Dichters war leider nichts weiter festzustellen, als dass er als Student in Bonn und im neunten Semester vom Delirium tremens dahingerafft worden war. Dr. Josef Reithmeyer knüpfte daran die geistvolle Bemerkung, dass gerade aus diesem Umstände der sicherste Beweis dafür erfliesse, dass sein Karl Leberecht Gottwald Gneomar Meyer wirklich der geniale Meyer aus Westfalen gewesen sei, denn, nach dem Rausche, in welchen den 18jährigen Jüngling die beglückende Anerkennung des Altmeisters versetzt haben musste, hätte er eben nicht mehr in die Nüchternheit des Alltags zurückkehren können. Der ordentliche Professor seines Faches an der Münchener Universität, dem der junge Privatdozent die Aushängebogen seines Werkes zur Ansicht überreicht hatte, beglückwünschte ihn aufs wärmste zu seiner ebenso fleissigen wie bedeutenden Leistung und stellte ihm in Aussicht, dass er seinen ganzen Einfluss aufbieten werde, um ihm die verdiente Professur zu verschaffen.
Da der gute Dr. Josef Reithmeyer sich somit sagen durfte, den soliden Grund zum festen Gebäude seiner bürgerlichen Existenz gelegt zu haben, so konnte ihn auch nichts mehr abhalten, seinen Herzenswunsch zur Ausführung zu bringen und die schöne Freundin Claire de Fries sich ehelich zu verbinden. Während er in Westfalen seine Studien machte, war sie bei ihren Eltern in Friesland gewesen und alsdann nach Zürich zurückgekehrt. Die Hochzeit hätte eigentlich schon vor Beginn des Wintersemesters und zwar in München stattfinden sollen; aber da einerseits die Beschaffung der nötigen Papiere längere Zeit in Anspruch nahm als vorauszusehen gewesen war und andererseits erst die Drucklegung des Werkes »Goethes Meyer aus Westfalen« abgewartet werden sollte, so waren sie übereingekommen, sich erst Ende Oktober in Zürich trauen zu lassen. Claire de Fries hatte darauf bestanden, dass die Heirat ihre Studien nicht unterbrechen dürfe, eine Bedingung, in die sich Dr. Reithmeyer seufzend ergeben hatte mit dem Hintergedanken, sie werde sich nach der Hochzeit schon eines Besseren besinnen. Im Grunde hatte sie es ja gar nicht nötig, als praktische Aerztin auf den Verdienst auszugehen, denn sie konnte von den Zinsen ihres Vermögens ganz anständig leben, und er bezog gleichfalls von seinem Vater eine Rente, bei der er sogar als Privatdozent allenfalls existieren konnte. Wenn sie also ihre beiderseitigen festen Einkünfte zusammenlegten, so konnten sie in bescheidener Behaglichkeit ganz gut mit einander hausen und brauchten sich nicht einmal um die Zukunft grosse Sorgen zu machen, denn, wie gesagt, Meyer aus Westfalen verbürgte die Professur und sein Verfasser durfte wohl noch mehrere gleich epochemachende Werke von sich erwarten, die ihm zugleich mit neuen akademischen Ehren auch die Mittel einbrächten, sich auf Nachkommenschaft einzulassen.
Es war merkwürdig, dass gerade diese Beiden sich gefunden hatten: Claire de Fries mit ihrer zähen Begeisterung für die Wissenschaft bei ihrem sonst so ausgesprochenem Phlegma und Josef Reithmeyer, der ausserhalb seiner Geschlechtssphäre ganz entschieden ein kleiner Philister war. Ihre statuarische Schönheit vermochte ohne besondere leidenschaftliche Anstrengung sein ganz regelrechtes Denken und Fühlen in Unordnung zu bringen. Er hatte in solch unordentlichen Momenten Gedichte gemacht, die sogar schöner waren, als die des berühmten Meyer aus Westfalen, und diese Gedichte hatten die Züricher Studentin mit ihrer nüchternen norddeutschen Verstandesklarheit so wohlig umschmeichelt, dass sie ohne Zögern den stürmischen Verfasser mit ihrer Gunst beglückt hatte, ohne vorausgegangene Seelenkämpfe, nur aus warmem Pflichtgefühl heraus. Sie war weit davon entfernt, in ihm die Erfüllung einer romantischen Sehnsucht oder die Verkörperung ihres Ideals von Männlichkeit zu sehen. Die Sehnsucht nach dem Manne hatte sie überhaupt niemals gequält und ihr Ideal war es, als Weib ein tüchtiger Arzt zu werden. Alles, was rein weiblich in ihrem Wesen war, fühlte sich befriedigt durch das Bewusstsein einen Menschen zu beglücken, und darum allein hielt sie in Treue fest an dem ersten Geliebten, für den sie bei ihren eifrigen Studien Zeit gefunden hatte.
Am 26. Oktober 11 Uhr vormittags sollte die Hochzeit stattfinden. Die lieben Freunde, welche der feierlichen Handlung als Eideshelfer von beiden Seiten beiwohnen sollten, waren erst im Laufe des 25. in Zürich angekommen. Arnulf Rau und Gemahlin, die sich sowieso schon seit Wochen in der Schweiz aufgehalten hatten, waren in einem vornehmen Hotel abgestiegen und hatten am Abend die schöne Braut bei sich zu Gaste gesehen. Auch Fräulein Echdeler, die liebenswürdige Vorsitzende des Vereins zur Evolution der femininen Psyche, war im Laufe dieses Tages von Karlsruhe her eingetroffen, wo eine Zusammenkunft einiger hervorragender Führerinnen der Frauenbewegung stattgefunden hatte. Frau Stummer und das von ihr unzertrennliche Fräulein Wiesbeck weilten sowieso für den Winter in Zürich, wo die letztere imatrikuliert, die erstere als Hörerin bei der Universität eingeschrieben war. Der Bräutigam selbst traf erst am Abend, begleitet von Fräulein Hildegard Haider, die die Leitung des Geschäftes für einige Tage ihrer Schwester anvertraut hatte, und eines alten Couleurbruders, des Referendars Kuno Kulicke ein. Josef Reithmeyer war nämlich zwei Semester lang in Strassburg Burschenschafter gewesen und als solcher Leibfuchs des besagten Kuno Kulicke, welcher inzwischen zwar einem bedauerlichen Stumpfsinn ver- und durch das Assessorexamen zweimal durchgefallen war, im übrigen aber durch seine unentwegte Anhänglichkeit so viel seelische Schönheit enthüllt hatte, dass selbst der ästhetisch veranlagte jüngere Freund über seine sonstigen kleinen körperlichen, moralischen und intellektuellen Defekte hinwegzusehen sich veranlasst sah. Diese drei Herrschaften stiegen in einem Hotel ab, welches weniger durch Vornehmheit prunkte als durch massige Preise sich empfahl. Es war entschieden ein feiner, sympathischer Zug von Doktor Reithmeyer, dass er sich erst im letzten Augenblick an den Ort der feierlichen Handlung zu begeben vermochte – es widerstrebte seinem Zartgefühl, vor der Hochzeit längere Zeit mit der Geliebten zusammen zu sein, welche ihn nunmehr in ihrer Eigenschaft als Braut ein Recht auf Schutz ihrer Tugend zu besitzen schien. Er hatte ihr trotzdem noch am Abend seiner Ankunft einen Besuch in Cylinder, schwarzem Gehrock und reinem Hemdkragen abgestattet und, da er sie nicht zu Hause traf, ganz förmlich seine Karte dagelassen.
Das Hochzeitsmahl sollte schlicht bürgerlich um 1 Uhr in einem besseren Restaurant stattfinden, in welchem Doktor Reithmeyer in den ersten Zeiten seines Züricher Aufenthalts eine Kellnerin poussiert hatte. Die ästhetische Grundstimmung im Wesen dieses vortrefflichen jungen Gelehrten hätte sich verletzt gefühlt durch die Wahl eines Festlokales, zu dem nicht die geringsten seelischen Beziehungen vorhanden waren.
Am Morgen des sechsundzwanzigsten herrschte ein abscheuliches kaltes nasses Hundewetter. Der Wind, der den Schnürlregen in kompakten Schwaden über den See hertrieb, schien sich vorher auf den Eisfeldern der Alpen gehörig abgekühlt zu haben. Und als etwas nach 10 Uhr der Bräutigam mit seinen Beiständen Box und Kuno sich auf den Weg machten, um die holde Braut abzuholen, zitierte der erstere unter seinem Regenschirm seufzend die Anfangszeilen eines Gedichtes von Ernst von Wolzogen, das kürzlich im »Simplizissimus« erschienen war:
»Plantschepitsch-Spagatlregen, Schokolad auf allen Wegen.« |
Die beiden Herren hatten ihre Lackstiefel in Galoschen geborgen und ihre Hosen hoch hinauf gekrämpt, Box ihren Sammtrock so weit als es der Anstand irgend erlaubte, aufgeschürzt. Die drei Herrschaften waren nicht wenig erstaunt, ihre schöne Freundin nicht daheim zu finden.
»Ja, mein Gott, wo kann sie denn bloss stecken?« rief Box ziemlich sittlich entrüstet. »Eine Braut braucht doch mindestens eine Stunde zur Toilette – und gar Claire mit ihrer Langsamkeit!«
»Hellig Krütz, uns Fräule thut heirate?« rief die dicke kleine Wirtin, ihre Aeuglein vor Erstaunen weit aufreissend.
»Jawohl, um 11 Uhr ist die Trauung angesagt. Hat sie Ihnen denn gar keine Mitteilung davon gemacht?« fragte Doktor Reithmeyer nervös.
»Noi, nix, koi Sterbenswörtli. S'ischt fort wie alli Tag ins Hoschpital. Von erer Hochzit häts nix verrate. Herrgöttli, Herrgöttli sall ischt a Frauvolk!«
Der Bräutigam starrte ratlos Boxen, und Box nicht minder ratlos Herrn Kuno Kulicke an, und der Herr Referendar seinerseits suchte mit ernstem, starren Blick einen Halt an dem ungeheuren Busen der kleinen Wirtsfrau. Die drei Herrschaften standen also schweigsam, verraten und verkauft im Korridor, über dessen geölten Fussboden drei trübselige Bächlein, von den drei Schirmspitzen ausgehend, sich ein Gefälle suchten – als es klingelte und Fräulein Echdeler, Frau Stummer und Fräulein Wiesbeck erschienen. Auch diese drei Damen zeigten sich einigermassen erstaunt, die Braut eine Stunde vor der Trauung noch nicht daheim zu treffen, obgleich sie darauf vorbereitet waren, dass Claire de Fries keineswegs geneigt sei, die Zeremonie zur gesetzlichen Anerkennung ihres freien Liebesbundes besonders feierlich oder gar sentimental zu nehmen. Fräulein Wiesbeck erbot sich, auf Kosten des Bräutigams eine Droschke zu nehmen und nach dem pathologischen Institut, beziehungsweise, wenn sie dort nicht zu finden war, nach der Universitäts-Frauenklinik zu fahren. Es wurde dann verabredet, dass sie die Braut, sobald sie ihrer habhaft geworden wäre, veranlassen sollte sofort mit ihr zurückzukehren, Festkleidung anzulegen und dann alsbald in dem Restaurant, wo der Hochzeitsschmaus stattfinden sollte und das zufällig nicht weit vom Standesamt gelegen war, zu den übrigen zu stossen. Die ganze kleine Gesellschaft pilgerte darauf zu Fuss nach dem Restaurant und liess sich in dem allgemeinen Gastzimmer nieder.
»Ungemütliches Lokal,« sagte Fräulein Echdeler frostig zusammenschauernd – und sie hatte recht. Der hohe orangegelb getünchte Raum war von altem Speise-,> Bier- und Tabaksdunst erfüllt, da man wohl bei dem Regenwetter die morgendliche Lüftung unterlassen hatte. Die Wände glänzten speckig und der feuchte Niederschlag von Staub und Rauch hatte sie mit einem dichten Netzwerk schmutziger Rillen überzogen. Auch an den hohen Fensterscheiben lief der Regen noch immer grau gefärbt herunter, obwohl er schon stundenlang an der Schmutzkruste sich abgemüht hatte. Zwei grosse, entsetzlich gleichgültige Oelbilder und mehrere hohe Wandspiegel vermochten ebensowenig wie die geflickten roten Plüschsophas und die bunten Tischdecken den Eindruck vornehmer Behaglichkeit vorzutäuschen.
Man hatte sich Bier und einen kleinen Imbiss bestellt, und als die Kellnerin das Getränk brachte, fragte sie Dr. Reithmeyer, ob sie wisse, was aus dem Lisli geworden sei. Das unsympatische Mädchen hatte keine Ahnung, die Dame am Büffet wusste auch nichts; es herrschte hier überhaupt seit einem Jahr ein anderer Wirt, wodurch die schwache seelische Beziehung, die Dr. Reithmeyer zu diesem Lokal hingezogen hatte, auch an Boden verlor. Dr. Reithmeyer konnte es der ganzen kleinen Gesellschaft am Gesicht ablesen, wie sehr sie seine Wahl missbilligte und darum fühlte er sich verpflichtet, eine entschuldigende Erklärung abzugeben.
»Ja, ich finde das Lokal heute auch nicht hervorragend gemütlich,« wandte er sich an Fräulein Echdeler. »Aber was soll man machen? Ich habe hier mal eine Kellnerin poussiert – sie hiess Lisli – und dann lernte ich ja gleich Claire kennen und machte Gedichte. Auf diese Weise kam ich nicht dazu, mir intimere Kenntnisse auf dem Gebiet des Wirtshauswesens zu erwerben.«
Durch mehr oder minder trübsäliges Lächeln und langsames Kopfschütteln nahmen die Anwesenden von dieser Erklärung Akt. Darauf fühlte Kuno Kulicke die Verpflichtung, dem drohenden Hereinbruch eines rettungslosen Stumpfsinns dadurch vorzubeugen, dass er sich gestattete, Hildegard Haider einen Halben vorzukommen. Box besass aber nicht das richtige Verständnis für diese Ehrenbezeugung, denn sie sagte nicht einmal »Prosit!«, obwohl Herr Kulicke in seiner weitgehenden Galanterie sogar die Löffelung ausgeschlossen hatte. Und als Dr. Reithmeyer ihm milde anriet, die öde Commentreiterei in Damengesellschaft doch lieber zu unterlassen, hiess ihn der ehemalige Leibbursch tiefgekränkt in die Kanne steigen.
»Eins ist eins, zwei ist zwei, drei ist . . .!« Dr. Reithmeyer that ihm den Gefallen und spann bis es ihm geschenkt wurde, worauf er sich den Bart wischte und ganz vernehmlich »Kindskopf!« sagte.
»Meine Herrschaften, Sie haben gehört, mein Leibfuchs hat mich Kindskopf genannt! Kindskopf ist touche, Kindskopf geht noch über Schafskopf! Seppl-Fuchs, wann gehen wir los?«
Da Reithmeyer nur lächelnd die Achseln zuckte, fühlte sich Box veranlasst, den gekränkten Referendar zu beruhigen, indem sie ihm zu bedenken gab, dass einem Hochzeiter doch Kindsköpfe sehr nahe lägen.
Nach dieser witzigen Anstrengung erfolgte eine kleine Pause, welche alsdann von Frau Stummer mit den Worten unterbrochen wurde: »Meine Herrschaften, wenn Sie fortfahren, sich derartig anzuöden, so werde ich mich veranlasst sehen, in einer nahegelegenen Konditorei eine Schokolade zu trinken.«
Und der Bräutigam grollte: »Es scheint das allgemeine Bestreben zu sein, sich selbst und mir den Appetit zu verderben. Es ist doch im höchsten Grade rücksichtslos von Claire, uns hier sitzen zu lassen! An ihrem Hochzeitstag schwelgt sie vielleicht in einer Sektion, während wir hier Bratwürste essen müssen. Ich wünschte, ich wäre Lisli treu geblieben, dann wäre ich sicher heute schon wieder geschieden – während ich so nicht einmal zu meiner wohlverdienten Hochzeit komme!«
Fräulein Echdeler und Frau Stummer lachten so gedämpft, wie es der Eigenart des Lokals entsprach und Kuno Kulicke trank Frau Stummer seine zweite Blume zu und intonierte, nachdem er sich durch einen gehörigen Schluck gestärkt hatte, den schönen Rundgesang: »Lisli, die soll leben, soll leben, soll leben – Lisli lebe hoch!« und dann wandte er sich an seine Nachbarin Box und sang noch diskreter die vierte Strophe:
»Auch in Leipzig an der Pleiss' Giebt es gute Gose, Sieht sie auch so gelblichweiss, Schmeckt wie Wein und Sauce. Schwester, Ihr Herzliebster heisst?« |
»Kuno,« erklärte Box schmachtend.
»Chorus, tutti!« kommandierte der alte Bursch auflebend. »Kuno, der soll leben, soll leben . . .«
Aber es sang niemand mit und da gab er peinlich berührt den Versuch, Stimmung zu machen, auf. Es vergingen nicht fünf Minuten, ohne dass einer der Anwesenden nach der Uhr schaute. Es war nun zehn Minuten vor elf. Der Regen hatte nachgelassen, die Sonne war durch das dichte Gewölk gebrochen und einige Strahlen waren sogar durch die reingewaschenen Scheiben in das orangegelbe Wartezimmer der Hochzeitsgesellschaft gedrungen. Dieser pompöse Moment wäre so günstig gewesen zur Vornahme der heiligen Handlung – aber die Braut liess immer noch auf sich warten. Die Anwandlung von Galgenhumor bei dein Bräutigam war auch schon wieder verschwunden und eine nervöse Ungeduld hatte ihn gepackt, die ihn nicht mehr ruhig auf seinem Stuhle sitzen liess. Er lief auf die Strasse hinaus, barhäuptig und ohne Schonung seiner Lackstiefeln. Wagen auf Wagen rollte vorüber – keiner hielt vor dem Restaurant. Da ging er wieder hinein und liess sich das »Journal amüsant« geben. Aus Achtung vor seinem Schmerz griffen auch die Uebrigen zu den Zeitungen und versteckten ihre Gesichter dahinter. Niemand sprach ein Wort. Kuno hüllte sich in Rauchwolken und trank ein drittes Glas Bier dazu. Von Zeit zu Zeit raschelte das Papier beim Umwenden der Blätter und das Spülmädchen klapperte mit den Kaffeetassen, die sie am Büffet aufstellte, sonst aber war es ängstlich still, wie im Vorzimmer eines Zahnarztes.
Es war ein viertel über elf, als Doktor Reithmeyer wütend das »Journal amüsant« zusammenrollte und auf den Tisch warf, dass es knallte. »Wenn sie nicht will, dann heiraten wir eben nicht,« knirschte er. »Aber dann ist's auch aus mit uns. Ich habe keine Lust, mich zum Gespött der Menschheit zu machen.«
Da schlug Kuno Kulicke mit gleicher Vehemenz den »Wiener Floh« auf den Tisch und sprach: »Nee, weisst Du, Freundchen, es ist aber auch doll! Dein Fräulein Braut ist doch akademische Bürgerin, scheint aber nicht den leisesten Begriff vom Komment zu haben. Ich beantrage, sie in den grossen B. V. zu erklären.«
In diesem Augenblicke ging die Thür auf und herein stürzte atemlos Fräulein Wiesbeck. Die ganze Gesellschaft sprang auf und eilte ihr entgegen.
»Ist sie da?« riefen alle wie aus einem Munde.
»Ja wohl,« keuchte Fräulein Wiesbeck, »unten im Wagen sitzt sie.«
»Angezogen?« fragte Box.
»Nein, so wie sie gerade war; aber das macht nichts, sie sieht ganz anständig aus und heute früh hat sie so wie so reine Wäsche angezogen, sagt sie. Sie hatte eine Operation in der Frauenklinik, die sie unmöglich versäumen konnte, fabelhaft interessant. – Na, nu kommt nur fix, sonst ist der Standesbeamte fort.«
Da man schon gezahlt hatte, verursachte der Aufbruch keine Verzögerung. Dr. Reithmeyer sprang in die Droschke, den Ueberzieher auf dem Arm, die Galloschen in der Hand und setzte sich neben Claire de Fries. Box und der Referendar Kuno klemmten sich auf den schmalen Rücksitz, da sie als Zeugen mit dabei sein mussten. Die übrigen drei Damen gingen zu Fuss hinterher, da just keine Droschke in der Nähe war.
Box und Claire begrüssten sich herzlich und Dr. Reithmeyer stellte der Braut seinen Freund Kulicke vor; er selbst vermied es, sie anzuschauen und reichte ihr nicht einmal die Hand.
»Na!? – sag mir doch wenigstens ordentlich guten Tag!« begann Claire, nachdem sie zwei Minuten lang schweigend dahingerasselt waren. Und sie schmiegte sich an ihn und schob ihren Arm durch den seinen. »Es war ja unartig von mir, Euch so lange warten zu lassen, aber an unserem Hochzeitstage brauchst Du doch nicht gleich das Brummen anzufangen. Du darfst nicht vergessen, dass ich ein halbes Jahr vor dem Examen stehe. Die Operationskurse sind jetzt für mich von der allerhöchsten Wichtigkeit; heiraten kann man schliesslich alle Tage, aber eine Ovariotomie wegen 7 Pfund schweren multiloculärem Myxoidcystoms ovarii dextri bei uterus bicornis mit Gravidität des linken Horns – das ist schon eine minder häufige Sache! – Ich sage Dir, der Professor hat heute wieder mit einer Eleganz gearbeitet – es war entzückend! Ich musste die Narkose der Patientin beaufsichtigen; darum konnte ich natürlich nicht fort, ehe sie wieder zum Bewusstsein gekommen war. Sie wird jedenfalls sterben – aber die Operation ist glänzend gelungen. Ich sage Dir, die Accuratesse, mit der unser Professor einen Bauch aufschlitzt und die Gedärmchen so nett beiseite packt wie ein Charcutier, der die Wurstwaren in seiner Auslage arrangiert, das ist wirklich himmlisch!«
»Hör' auf, mir wird übel!« rief der Bräutigam, verzweifelt die Hände ringend. »Ich wette, Du hast heute noch mit keinem Gedanken an die Bedeutung dieses Tages gedacht!'
»Offen gestanden, nein,« erwiderte sie ganz ruhig. »Vor einer solchen Operation darf man sich nicht zerstreuen.«
Der Wagen rasselte entsetzlich über das Granitpflaster und Dr. Reithmeyer schrie laut, indem er seinen Freund Kuno dabei aufs Knie schlug: »Hast Dus gehört, Kuno? Heiraten nennt sie eine Zerstreuung!«
Der befrackte Referendar machte ein Gesicht, so erstaunt wie ein Frosch, der zum erstenmal ein Krokodil sieht. Er hatte zwar schon bei der Hochzeit zweier Schwestern und mehrerer Cousinen assistiert, aber so etwas war ihm denn doch noch nicht vorgekommen! Und dabei war diese Braut, die mit dem Behagen einer Stierkampf-begeisterten Spanierin in der Erinnerung an solche blutige Metzelei schwelgte, eine schöne Blondine von zarter Ueppigkeit, ein Weib, wie geschaffen zur Liebe! Kuno starrte das Phänomen an wie hypnotisiert; Box dagegen amüsierte sich ungeheuer. Dies war ein Triumph der Emanzipation, der sie als Mitweib mit Stolz erfüllte. Es musste diesem Männervolk endlich einmal deutlich zum Bewusstsein gebracht werden, dass es die höheren Interessen nicht in Erbpacht genommen habe.
Der Wagen hielt vor dem Standesamt. Box sprang zuerst hinaus, Kuno Kulicke folgte ihr schwerfällig nach und spannte seinen Regenschirm auf, um die Braut zu beschirmen, denn es hatte inzwischen wieder fröhlich zu giessen begonnen. Der Bräutigam entstieg als letzter dem Wagen und zahlte, während die drei Andern schleunigst in das Gebäude flüchteten. Im Vorzimmer des Amtslokals erwarteten Arnulf Rau und Gattin bereits seit einer Stunde die Hochzeitsgesellschaft und die Herzlichkeit, mit der sonst ein Brautpaar an so bedeutungsvoller Stätte begrüsst zu werden pflegt, litt merklich unter der nervösen Aufregung, die sich der Herrschaften während jener kleinen Ewigkeit bemächtigt hatte. Der Standesbeamte war schon zweimal im Vorzimmer erschienen, zum Heimgehen bereit und hatte sich nur auf dringendes Zureden des schönen Arnulf zu weiterem Warten bewegen lassen. Der Kanzleidiener war sofort hineingegangen, um zu melden, dass die Herrschaften endlich zur Stelle seien und man konnte es deutlich im Vorzimmer hören, wie der Herr Civilstandsbeamte drinnen mit einem nationalen Fluch anordnete, dass sich die »chaibi G'sell-schaft« sofort hereinscheren sollte.
Ohne die Ankunft der drei Damen, die ja auch nicht unbedingt dabei vonnöten waren, abzuwarten, betrat nunmehr das Brautpaar, von den beiden Zeugen und den zwei weiteren Freunden begleitet, das Amtszimmer. Der Beamte, ein dicker, kleiner Herr mit einer Platte, in einen engen Frack gezwängt, stand bereits hinter seinem Tische und fixierte das Brautpaar grimmig durch seine goldene Brille. »Es schint dene Herrschafte nüt grad' sölli zu pressiere mit dem heilige Ehestand,« empfing er sie ungnädig. »Sind Sie sich, wenn ich frage darf, jetze über Ihr Vorhabe einig worden oder nüt?«
»Es war meine Schuld, Herr Civilstandsbeamter,« sagte Claire de Fries in ihren lieblichsten Tönen, indem sie sich artig gegen den Beamten verbeugte. »Ich musste einer Operation in der Universitäts-Frauenklinik assistieren, die ich unmöglich versäumen durfte. Es handelte sich um eine Ovariotomie wegen multiloculären Myxoidcystoms des rechten Ovariums, und denken Sie sich, welche Rarität! als Nebenbefund noch ein uterus bicornis bei . . . .«
Doktor Reithmeyer zupfte seine Braut am Aermel und flüsterte ihr zu: »Aber Claire, das gehört doch wirklich nicht zur Sache!«
»Sind Sie die Braut?« fragte der Beamte, den wenig festlichen Anzug der schönen Dame einigermassen erstaunt musternd. Sie hatte nämlich über ihrem Gewände einen Gummiregenmantel und auf dem Kopfe einen Matrosenhut von Lackleder, der gleichfalls für das Regenwetter eingerichtet war.
Sie bejahte die Frage und bat um die Erlaubnis, den Mantel ablegen zu dürfen, da es etwas warm in dem Lokal sei.
»Bemühet Se sich doch nüt unnötig, Jungfer,« rief der Beamte ungeduldig. »In fünf Minuten is schon alles g'schehn.«
»Muss ich die Handschuhe ausziehen?« fragte Claire wiederum.
»Oh du Herrgöttli, weshalb denn?«
»Ich dachte wegen dem Ringewechseln.«
»Hie wird nüt g'wechslet, hie wird numme unterschriwwe! 's ander' isch dem Herr Pfarrer si Sach.«
»Oh, wir lassen uns natürlich nicht kirchlich trauen!« rief Claire beinahe entrüstet.
Der kleine, dicke Herr, dem vor Hunger schon der Magen knurrte, umsomehr, da er wusste, dass es heute seine Leibspeise Bölewäihe gab, war mit seiner Geduld am Ende. »Das gaht mich nüt a'n!« fuhr er auf. »Minetwegen chönnen Sie sich bi de Kaffere traue la'n! Sie hän überhaupt numme mit »Ja« oder »Nein« zu antworte.«
Nun ergriff Josef Reithmeyer seine Braut energisch bei der Hand und stellte sich mit ihr vor den grünen Tisch. Der Beamte las ihnen im eiligsten Tempo das Aktenstück vor, welches die Beurkundung ihrer Aufnahme in den ehrsamen Stand der Eheleute enthielt und richtete dann ohne jeglichen Aufwand von Pathos die Schicksalsfrage an sie: »Und wenn Ihr einander went, so gebet einander die rechte Hand und sprechet ein deutliches, vernehmliches Ja.«
Doktor Reithmeyer stiess sein Ja in leicht gerührter Aufregung hastig hervor, während Claire ihrer Zustimmung durch eine ganz kleine Variante einen humoristisch-ironischen Beigeschmack gab; sie sagte nämlich nicht einfach Ja, sondern – nach einem ganz kurzen Zögern – gutmütig lächelnd: »Na ja.«
Sodann wurde ihnen das Dokument zur Unterschrift vorgelegt und nachdem die Braut ihre volle Firma: Claire Reithmeyer, geborene de Fries, cand. med., in stolzen, steilen Zügen darunter gesetzt hatte, waren sie nun also richtig Mann und Frau. Die Echdeler, die Stummer und die Wiesbeck kamen gerade während des Unterschreibens atemlos, mit triefenden Regenschirmen hereingestürzt und wurden von dem Beamten wegen Verunreinigung des Amtslokales scharf angefahren. Darauf zog sich der bürgerliche Hüter des heiligen Ehestandes durch eine zweite Thüre schleunigst zurück und das junge Ehepaar nahm die Händedrücke der lieben Freunde entgegen. Ein Schreiber händigte dem Bräutigam das Verehelichungszeugnis aus und dieser entrichtete die Gebühren, womit dann die erhebende Feierlichkeit endgiltig ausgestanden war. Die ganze kleine Hochzeitsgesellschaft verfügte sich nunmehr auf die Strasse in den noch immer strömenden Regen hinaus. Kuno Kulicke besorgte drei Droschken; die Raus und Fräulein Echdeler besetzten die eine, – die jungen Leute, d. h. die Stummer, die Wiesbeck, Box und Kuno die zweite und in der dritten liess man das Ehepaar allein fahren.
Ein wenig zaghaft legte Dr. Reithmeyer, als er sich endlich mit seiner Gattin allein sah, den Arm um ihre Hüfte und drückte zärtlich gerührt ihre Hände, ohne ein Wort dabei zu sprechen.
Freundlich lächelnd blickte sie ihm ins Gesicht und dann gab sie ihm einen herzlichen Kuss. »Guten Morgen, lieber Freund!« sagte sie lustig: »Das hatten wir ganz vergessen. Na, wie geht's Dir eigentlich? Bist Du mir auch noch ein bischen gut?«
»Ach, Du!« rief er zärtlich und drückte sie an sich: »Verdient hast Du's eigentlich nicht.«
Sie schwiegen beide und gaben sich nur durch öfteres gelindes Pressen der ineinander liegenden Hände zu verstehen, dass sie es einander gut meinten. Erst kurz vor ihrem Ziel brach er das träumerische Schweigen, indem er ihr zuflüsterte: »Sag mir, Claire, bist Du glücklich?«
»Ach ja,« gab sie mit strahlenden Augen zurück: »Morgen darf ich zum erstenmal selbständig eine Naht machen!«
»Du bist ein grässliches Frauenzimmer!« lachte er halb ärgerlich, halb belustigt.
Und sie zauste ihm zärtlich den Bart und sagte: »Teurer Seppl, daran musst Du Dich gewöhnen: erst die Wissenschaft und dann das Vergnügen. Du hast ja meine Bedingungen gekannt. Jetzt habe ich übrigens schrecklichen Hunger.«
Der Wagen hielt. Der galante Referendar stand schon mit dem aufgespannten Regenschirm bereit, denn die übrige Gesellschaft war vorausgefahren und bereits in dem reservierten Hinterzimmer des Restaurants versammelt. Nun die Frau Doktor Reithmeyer ihren grässlichen Lackhut und den Gummimantel abgelegt hatte, sah sie auch trotz ihres sehr einfachen Anzuges – es war ein glatt anliegendes, dunkelgrünes Tuchkleid mit gestärktem Kragen und Manschetten – recht nett und anständig aus. Da ausser Frau Arnulf Rau, die eine elegante, seidene Visitentoilette trug, keine der Damen besondere Anstrengungen gemacht hatte, so fiel auch die Einfachheit der jungen Gattin nicht weiter als unpassend auf. Von den Herren war nur der korrekte Referendar im Frack erschienen, während Dr. Reithmeyer einen ganz neuen, sehr langen schwarzen Gehrock, und Arnulf Rau »full dress jacket«, jenes elegante Kleidungsstück, welches man auf deutsch widersinnigerweise »Smoking« zu nennen pflegt, angelegt hatte. Die Tafel war sauber und anständig gedeckt, wenngleich ohne jeden Prunk. Der Zahlkellner und das unsympathische Mädchen bedienten. Es gab Krebssuppe, Forellen, getrüffelte Poularden, eine süsse Speise und Eis. Zur süssen Speise erschien der Champagner – immerhin eine bessere Marke, wenn auch nicht Pommery. Er traf bereits auf eine heiter angeregte Stimmung. Man erwartete selbstverständlich eine Festrede von Arnulf Rau; umsomehr, als die meisten Tischgenossen durch Andeutungen seiner Gattin wussten, dass er bereits wohlvorbereitet in Zürich angekommen sei. Es war daher keine geringe Ueberraschung, als plötzlich der Bräutigam selbst, den niemand jemals als Redner kenner gelernt hatte, an sein Glas klopfte. Er stand mit so verlegener Miene da, dass alle mit mitleidvoller Fassung einem kleinen Unglücksfall entgegensahen. Er ersuchte die Bedienung mit leiser Stimme, sich zurückzuziehen, und dann begann er, zunächst etwas ängstlich, bald aber mit vollerem, freierem Tone folgende Strophen frei aus dem Gedächtnis herzusagen:
»Willkommen ruf ich Euch, Ihr lieben Gäste! Für Eure Freundschaft sag ich schlichten Dank. Ihr kommt zu einem wunderlichen Feste, Zu einer Hochzeit ohne Sang und Klang. Und dennoch, mein' ich, soll uns armen Seelen Die rechte Weihe heut mit nichten fehlen. Hierher lasst unsre Kirche uns verpflanzen, Es hat den Giftzahn ungezählter Tanten Wir waren reif schon für des Himmels Strafe, Und wie ich meine Hände bebend breite Seid Ihr uns Priester, gebt uns Euren Segen, |
Er hatte die beiden letzten Strophen in tiefer Bewegung gesprochen und nur mit grösster Mühe Thränen der Rührung zurückgehalten. Seine Rechte ruhte immer noch auf der schönen Claire goldenem Haar als er geendet hatte. Und nun wandte sie unter dem leichten Druck seiner Hand den Kopf ihm zu und sie blickten einander innig in die feuchtschimmernden Augen. Da richtete sich die junge Gattin empor und streckte mit einer ganz unbewusst anmutigen Bewegung die Arme dem Geliebten entgegen. Sie zog ihn an sich und küsste ihn auf den Mund. Das erschien so einfach und natürlich und wirkte doch in seiner schlichten Lieblichkeit ergreifend wie eine heilige Handlung an geweihtem Orte. Alle kamen sie mit den Gläsern in der Hand und stiessen schweigend und gerührt mit den Neuvermählten an.
Dann durften der Kellner und das unsympathische Mädchen wieder herein und das Eis auftragen. Arnulf Rau löffelte mit gerunzelter Stirn winzige Klümpchen davon hinein. Reithmeyer hatte ihm in seinen Versen einiges vorweg genommen, was er selbst in seiner Rede sagen gewollt, und nun musste er in Gedanken eiligst umkomponieren. Aber sobald die Bedienung hinaus war, erhob er sich feierlich und klopfte an sein Glas. Alle legten sich in ihre Stühle zurück wie im Theater, wenn der Vorhang aufgeht, denn von Arnulf Rau hatte man sicher eine interessante Rede zu gewärtigen.
Und er sprach:
»Meine lieben Freunde und Freundinnen!
In trostloser Nüchternheit haben wir ein bürgerliches Rechtsgeschäft vollziehen gesehen, und Regenströme aus blaugrauem Himmel haben alle Schönheit, die wir uns von diesem Festtag erwarteten, zu ersäufen versucht – da ist unser lieber Freund Josef Reithmeyer sich selbst und uns allen zu Hilfe gekommen und hat den Glanz seiner Verse als helle Hochzeitsfackel über unsere trauliche Versammlung leuchten lassen. Und das ist eben das Bedeutsame an dieser schlichten Feier, dass sie ihre Schönheit und ihre Weihe aus eigener Kraft bestreitet, ohne jede Anleihe bei der Kirche, die doch dem Einzelschicksal gleichgiltig gegenübersteht, noch bei der Sitte der Gesellschaft, die mit ihrem fest normierten Prunk und Trubel das Bündnis echter Liebe, ebenso umjubelt wie das schmachvollste Kaufgeschäft, das Mann und Weib aneinander verhandelt. Unser Freund Josef Reithmeyer und unsere Freundin Claire de Fries haben sich selbst den Segen erteilt – und sie haben ein Recht zu dieser stolzen Handlung. Sie sind beide Freigewordene, sich bewusst, dass sie vor sich selbst verantwortlich sind für ihr Thun und Lassen. Sie haben sich geprüft, ehe sie sich gebunden, und ihre Liebe hat sich als echt bewährt. Wenn sie von heute an erst diese Liebe eine Ehe nennen, so dürfen sie die feste Zuversicht hegen, dass sich diese Ehe als eine wahre Ehe erproben werde, die darum unlösbar ist, weil in ihr die Seelen immer fester mit einander verwachsen in gegenseitigem Verstehen und Verzeihen. Das Letztere möchte ich als die Hauptsache bezeichnen, denn Menschen untereinander haben sich immer etwas zu verzeihen, weil niemals zwei Willen dauernd denselben Weg mitsammen gehen können. Aber, meine Freunde, ich will Euch nicht von der Liebe predigen – die Liebe ist die beste, von der man am wenigsten Worte macht – etwas anderes liegt mir am Herzen: Diese Hochzeit gewinnt für mich, der ich das Wort von dem dritten Geschlecht in die Welt geworfen habe, eine symptomatische Bedeutung. Unsere liebe Freundin Claire wird gewiss von den Toten, die sie Gott sei Dank begraben hat, d. h. von ihrer lieben Familie und allen anderen lieben Familien in der Heerde der noch Unerweckten, für eine Emanzipierte angesehen, für ein Weib also, das die Scham ihres Geschlechtes von sich gethan und keck in die Welt hinausgezogen ist, um Seite an Seite mit dem Manne um ihre Existenz zu ringen, ja noch mehr, um sich frei auszuleben jenseits der Schranken, die die Sitte um ihr Geschlecht gezogen hat. Gehört sie etwa jenem Geschlecht an, das ich verkündet habe? Ist sie ein Menschending, nicht Fisch noch Fleisch, dessen Gehirn seine Funktion ausübt in der Richtung auf ein zu bestehendes Staatsexamen in der Medizin? Ihr Frauen, die Ihr stolz seid auf das, was Eure Schwester schon geleistet hat im harten Kampfe um die Bethätigung ihres freien Willens, Ihr werdet vielleicht sagen, sie sei ein Ueberweib, das die Schwächen ihrer Natur und die demütige Sehnsucht nach dem Schutze des Mannes bereits überwunden habe; ich aber sage Euch als Mann – und jeder Mann, der sie kennt, wird mit mir das Gleiche sagen: – sie ist kein Mannweib und kein Dingweib, sondern einfach Weib, unzweifelhaft zweites Geschlecht. Ihr Wesen atmet den charme, das Parfüm des Weibes und ihr wäre es nicht gegeben ohne Liebe durchs Leben zu gehen. Sie soll uns beweisen, dass man ganz Weib und dennoch freier Mensch sein kann, hingebende Geliebte dem Manne ihrer Wahl und doch ihr eigenes Geistesleben lebend und ihren selbständigen Beruf erfüllend.
Auch unser Freund Josef Reithmeyer wird es mir nicht übel nehmen, wenn ich zu seinen Gunsten kein neues Geschlecht kreiere, ja ihn nicht einmal zu den Uebermenschen zähle. Lieber Sepperl, Du bist sogar ein ganz gewöhnlicher Mann. Du hast dem Staate Deine Dienste gewidmet als Führer reiferer Knaben zu den Quellen der Schönheit und Erkenntnis in unserer Litteratur. Du hast immer redlich Deine Pflicht gethan und nichts Grenzenloses erstrebt. Aber Du hast immer den Mut Deiner Ueberzeugung bethätigt und das hat Dich aus der Heerde herausgehoben und zu einem Eigenen gestempelt. Und das Tiefste Deines Wesens, Deine stärkste Potenz hast Du in Deiner Liebe hervorgekehrt. Wir wissen alle, dass Du innerlich freier bist als Du es nach aussen scheinen darfst, und dass Du Dich nur unter die Formel der Sitte beugst aus äusseren Gründen und weil diese Formel dem Wesen Deiner Liebe doch nimmer schaden kann. Das beste, was man darum eurer jungen Ehe für die Zukunft wünschen kann ist, dass sie immer so gut wie wild bleiben möge. Und wenn Du erst Professor bist und Miene machst in die Zahmheit einzulenken, dann möge Frau Claire erst recht wild werden, um Dir einen heilsamen Schrecken einzujagen. Man behauptet ja, dass die echten Weiber der Natur noch viel näher ständen als wir und ein ewig ungebändigt wildes Erbteil in sich verborgen trügen.
Was ich Euch aber ganz besonders an diesem bedeutungsvollen Tage zurufen möchte, das ist dieses: vergesst nicht, dass Ihr berufen seid durch Euer Beispiel siegreich anzukämpfen gegen jenes wirkliche dritte Geschlecht, dessen Existenz ich Euch nachgewiesen habe, gegen verwässerte Mannesseelen in reizlosen Weiberhüllen, die ihren dummen Stolz darein setzen, die heilige Sehnsucht in sich ertötet zu haben, die ihre Pflichten gegen die Natur verhöhnen, indem sie schwärmen von ihrem Rechte in der Kultur mitzubauen. Arme Seelen im Fegfeuer, für die niemand betet – das ist das dritte Geschlecht, welches unsere sozialen Missverhältnisse und ungesunden Emanzipationsbestrebungen grossziehen. Ihr beiden Lieben aber sollt den in der Irre tappenden da draussen beweisen, dass man ganz Geschlechtswesen und dennoch ganz freier, moderner Mensch sein kann. Herr Dr. phil. und Frau Dr. med., thut Euch in Liebe zusammen und zeugt kräftige Buben und Mädeln, nähret sie gemeinsam mit der Speise Eures Wissens und Eurer Erfahrung und gebt ihnen die gleichen Waffen zum Kampf gegen die Dummheit und die Gewohnheit in die Hände. An der frohen Kraft der Knaben möge der Mut der Mädchen erstarken und der rohe Fauststolz der Knaben an dem Zartsinn der Mädchen sich brechen. –
So werdet Ihr ein Geschlecht von freien Menschen erziehen, das sich aber dennoch seiner zweierlei Art nicht schämt und keinen lächerlichen Kriegsfall macht aus der Etiquettenfrage des Vortritts der Hose vor dem Unterrock. Sepp und Claire, meine Geliebten, ich grüsse Euch als die Stammeltern eines neuen und herrlichen Geschlechtes! In diesem Sinne: Hipp, hipp, hipp, Hurrah!«
Der Toast wurde mit Jubel aufgenommen und Arnulf Rau zu seiner glänzenden Beredsamkeit beglückwünscht. Lachen und Scherzen und ernsthafte Debatte über die angeschlagenen Fragen wogten laut durcheinander. Fröhlicher Lärm, erhitzte Gesichter, Gläserklingen und blaue Tabakswolken, das war das Ende dieses denkwürdigen Hochzeitsmahles.
Mitten im ärgsten Lärm begehrte Kuno Kulicke von seiner Nachbarin Box zu wissen, ob es denn nicht angebracht und nötig sei einen Toast auf die Damen auszubringen worauf er zu seiner Verblüffung den Bescheid erhielt, dass es hier überhaupt keine Damen, sondern nur Männer und Frauen gäbe. Nachdem Kuno Kulicke abermals eine kleine Weile überlegt hatte, machte er Box darauf aufmerksam, dass noch mit keinem Worte der gottgeliebten Eltern und Schwiegereltern gedacht worden sei. Sein offizielles Gewissen liess ihm eben keine Ruhe. Aber Box sah eine Blamage für den guten Referendar und eine Störung der Stimmung voraus, wenn sie ihn seinem Dämon folgen liesse und deshalb erhob sie sich lieber selber und brachte mit wenigen Worten ein Hoch aus auf den Boten aus der andern Welt, der es nicht verschmäht hatte den Frieden seiner geordneten Anschauungen zu verlassen, um dem Freunde beizustehen gegen die verdächtige Gesellschaft, in der er sich bewegte, ein Hoch auf den liebenswürdigen und unentwegten Herrn Referendar Kuno Kulicke!
Der also Gefeierte kam leider nicht mehr dazu, das Wort zur Replik zu ergreifen, denn es erfolgte nun bald der allgemeine Aufbruch. Man ging in ein Cafe und am Abend besuchte man gemeinsam ein besseres Konzert, um den schönen Tag harmonisch ausklingen zu lassen. Arnulf Rau engagierte alsdann den immer noch aufrechten Referendar zu einer nächtlichen Weinreise, während die Damen in ihre verschiedenen Losamente zurückkehrten.
Beim Nachhauseweg blieb Dr. Reithmeyer absichtlich mit Claire zurück, um sie endlich einmal für ein paar Minuten unter vier Augen zu geniessen. »Lass mich mit Dir gehen heute,« bat er.
»Um Gotteswillen!« rief sie ganz entsetzt: »was fällt Dir denn ein?«
»Ja, warum denn nicht? Ich bin doch jetzt Dein Mann!«
»Eben darum! Früher, wie wir zusammen wohnten, das war ganz etwas anderes, aber jetzt kann ich doch unmöglich des Nachts einen Herrn mitbringen. Ich müsste mich ja zu Tode schämen!«
»Aber Deine Wirtin weiss doch, dass wir verheiratet sind«, beharrte er.
Doch sie liess sich von ihrer Weigerung nicht abbringen. Schweigend ging sie eine Zeit lang neben ihm her. Dann sprach sie, zärtlich seinen Arm drückend: »Weisst Du was, wenn morgen schönes Wetter ist, dann fahren wir mit dem Dampfschiff irgendwo hin – nachmittags natürlich, denn vormittags muss ich in die Klinik – und dann gehen wir in den Wald, wo's ganz einsam ist und . . .«
»Und werden vom Flurschützen aufgeschrieben. Ich danke schön!« rief er komisch verzweifelt.
Und sie antwortete: »Ach, weisst Du, das wäre immer noch besser, als wie das Schmunzeln und Blinzeln meiner Wirtin über sich ergehen zu lassen. Ihr Männer habt eben kein Zartgefühl.«
Auch alle seine Versuche, die junge Gattin zu einer kleinen Hochzeitsreise, sei sie auch nur auf zwei oder drei Tage, zu überreden, waren erfolglos. Sie versprach, in den Weihnachtsferien nach München zu kommen und sein Junggesellenheim auf vierzehn Tage durch ihre Gegenwart zu verschönern, aber im übrigen wollte sie bis nach dem Examen Gattin in absentia bleiben.
Am andern Tage trat Doktor Reithmeyer dennoch seine Hochzeitsreise an, aber nicht mit der angetrauten Gattin, sondern mit Hildegard Haider, die die paar Feiertage, die sie sich vergönnen durfte, zu einer kleinen Schweizerreise ausnutzen wollte. Er hatte Clairen garnicht wiedergesehen, denn er mochte die Qual, der er sich nicht gewachsen fühlte, nicht unnötig verlängern.
Box tröstete den Aufgeregten so gut sie es vermochte: er solle doch Respekt haben vor der grossartigen Energie seiner Frau.
»Ich will aber keinen Respekt, ich will Liebe haben!« knirschte er grimmig.
Box zuckte die Achseln: »Der Festredner von gestern hat Recht gehabt: Sie sind ein ganz gewöhnlicher Mann!«