Ernst von Wolzogen
Das dritte Geschlecht
Ernst von Wolzogen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fräulein Hildegard Haider erwachte am andern Morgen spät. Martha musste sie wecken, was eigentlich gar nie vorkam. Sie hatte abscheuliche Kopfschmerzen infolge des ungenügenden Schlafes und auch wohl ihrer alkoholfreien Bowle, von der sie in der Aufregung mehr genossen hatte, als irgend einer ihrer Gäste. Sie verzehrte ihr Frühstück in denkbarst schlechter Laune und wechselte kaum drei Worte mit ihrer Schwester. Erst auf dem Wege zum Geschäft brach Martha das peinliche Schweigen, indem sie sie fragte, ob sie etwa jetzt durch schlechte Behandlung dafür bestraft werden sollte, dass sie einen Mann gefunden habe, der seiner Liebe zu ihr ein grosses Opfer zu bringen bereit sei.

»Steckt Dir der Nagel wirklich so fest im Kopf?« entgegnete Box unwirsch. »Ich dachte, Du würdest die dumme Geschichte schon verschlafen haben.«

»Ich kann garnicht finden, dass die Geschichte so dumm ist,« begehrte Martha trotzig auf: »Seine Frau versteht ihn nicht und wir wären für einander geboren, sagt er.«

»Ach was, Quatsch!« schnitt ihr Box die Rede ab. »Von solchen Redensarten fliessen verliebte Männer immer gleich über – aber versuchs nur ihn beim Wort zu nehmen, dann wirst Dus erleben, wie er zurückzoppt! Uebrigens ist das garnicht wahr: seine Frau versteht ihn ausgezeichnet – es giebt gar keinen Menschen auf der Welt, der ihn besser versteht, was steckt denn so Bedeutendes hinter seinen geschwollenen Reden? Alles, was die Andern schaffen ist seiner Meinung nach Dreck und Kaff, und wenn man ihn so reden hört, sollte man meinen, er wäre der einzige Mensch der Gegenwart, der was von Litteratur und Kunst versteht. Was aber schafft er denn selber? Alle Jahre ein paar schön geschriebene Aufsätze und hie und da einmal ein Stück, das kein Mensch aufführt oder eine Novelle, die so langweilig ist, dass sie kein Mensch lesen kann. Seine Frau ist im Grunde viel gescheidter, wenn sie auch nicht so schöne Worte machen kann. Sie durchschaut ihn vollständig, aber sie versteht es, ihn bei der Einbildung zu erhalten, dass sie bewundernd zu ihm aufschaute, denn dann ist er zufrieden und sie hat ihre Ruhe und ausserdem einen schönen Mann und ein bequemes Leben. Nee, mein Engel, Dein Arnulf Rau ist ein schöner Mann und ein reicher Mann, aber sonst nichts, und wenn er nicht reich wäre, hätte er mit seiner Weisheit schon längst verhungern können. Männer wie den giebts unter den Litteraten und Künstlern dutzendweise, und von denen, die von Haus aus Geld haben sind 99 Prozent seinesgleichen. Die Sorte kann nichts, als dem Herrgott die Tage abstehlen und ihre nächste Umgebung quälen. Ausserdem sauft er.«

»Das ist nicht wahr. Pfui! Nein, das ist abscheulich von Dir!« Martha war nahe daran in Thränen auszubrechen, aber sie genierte sich doch vor den Leuten auf der Strasse und biss die Zähne aufeinander. Erst nach einer langen Weile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie wieder reden konnte. »Du hast ja keine Ahnung, was ein starker Mann vertragen kann,« sagte sie mit einem bedeutungsvollen Aufschlag ihrer schönen, weichen Augen. »Wenn er jetzt wirklich ein wenig mehr trinkt als gewöhnlich, so thut er das sicher nur, um seinen Schmerz zu betäuben.«

»Nu!« erwiderte Box ironisch und diese kurze Silbe schien ihr eine genügend deutliche Meinungsäusserung, denn sie sprach kein Wort mehr bis sie ins Geschäft kamen.

Der Laden wurde aufgethan, die Korrespondenz durchgesehen und der junge Mann empfing seine Weisungen für die Börse, denn die Inhaberinnen der Firma Moritz Haiders Töchter durften die heiligen Hallen nicht selbst betreten und waren darauf angewiesen, draussen vor der Thür stehend, durch ihren Kommis sich über die Vorgänge drin berichten und ihre Aufträge ausführen zu lassen. Die Tagesbeschäftigung ging ihren gewöhnlichen Gang. Martha besorgte die Korrespondenz und Hildegard vertiefte sich in das Hauptbuch. Aber die Zahlenreihen darin gewannen heute für sie keinen Sinn. Sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders. Diese albernen Liebesgeschichten – dass man das Zeug nicht mit einem leichten Ruck aus dem Gehirn loswerden konnte! Zu dumm! Und ausserdem das ärgerliche Bewusstsein, dass sie sich gestern mit ihrer frivolen Renommage eine Blösse vor ihren Freundinnen gegeben hatte. Es war aber auch zu kränkend gewesen, diese ironischen Bemerkungen der de Fries, dieser allgemeine Zweifel an der Möglichkeit, dass sie, Hildegard Haider, die doch schon die schwierigsten Unternehmungen glatt durchgeführt hatte, im Stande sei, einen Mann in sich verliebt zu machen. An der Sache selbst lag ihr nicht so viel – sie brauchte keinen Mann, Gottbewahre! – aber bloss, um diesen Frauenzimmern zu zeigen, dass sie das Mannsvolk besser kannte und dass eine Frau wirklich bloss zu wollen brauchte, um bei dem sogenannten starken Geschlecht alles durchzusetzen, bloss darum hätte sie sich gern die Unbequemlichkeit aufgeladen, auch einmal eine Rolle in der grossen Liebesfarce zu übernehmen. Sie wollte garnicht weiter davon sprechen, ganz stillschweigend wollte sie ein geeignetes Objekt beim Kragen kriegen und so lange beuteln, bis es Blödsinn stammelnd zu ihren Füssen läge. Sie malte sich ihren Triumph in glühenden Farben aus und sah den ganzen Kriegsplan klar vor sich; es fehlte nur eine Kleinigkeit: das geeignete Objekt! Herrgott! sie kannte doch Männer genug. Verheiratete und unverheiratete Geschäftsfreunde. Aber mit den ersteren anbandeln war unklug, denn dadurch konnte sie den soliden Ruf der Firma schädigen und die Unverheirateten würden zu leicht auf den Köder gehen, denn sie würden sie als eine gute Partie betrachten und etwaige Liebesschwüre würden dann nicht ihrer Person, sondern ihrem Conto bei der Reichsbank gelten. Ja, wenn sie einen erwischen könnte, der garnicht wusste, dass sie Bankier sei, dem sie nur als wohlgewachsenes, fesches Mädchen in reiferen Jahren in den Weg lief.

Es kam eine Kunde mit der Anfrage, ob es opportun sei, jetzt gewisse Papiere zu verkaufen. Ohne sich lange zu besinnen, verneinte sie die Frage und behauptete, diese Papiere stiegen demnächst unbedingt.

Kaum war der Herr draussen, so fiel ihr ein, dass sie erst kürzlich aus guter Quelle gehört hatte, dass das betreffende Unternehmen vor dem Ruin stehe. Ihr geschäftliches Gewissen erwachte und sie setzte sich hin, um den Kunden brieflich eines besseren zu belehren, aber es wurde ihr so schwer ihre Gedanken zu konzentrieren, dass sie zu den wenigen Zeilen eine halbe Stunde brauchte. Die Kopfschmerzen waren auch zu arg. Da warf sie die Feder hin und erklärte der Schwester, dass sie heute unmöglich weiter arbeiten könne und sie bitten müsse, allein das Nötige zu besorgen.

Martha wehrte sich dagegen, denn nach all den freundlichen Eröffnungen, die Box ihr eben erst gemacht hatte, verfügte sie auch über keinen klaren Kopf.

»Das ist mir ganz egal! Und wenn ich gleich die Bude zumachen muss – ich kann heute nicht und mag heute nicht.« Damit verliess Box den Laden. Sie eilte heim, hing ihren Rock an den Nagel, stülpte die Sportsmütze auf den Kopf und dann setzte sie sich auf das Rad und machte, dass sie aus der Stadt hinauskam. Sie hatte in der Eile sogar vergessen Schampus mitzunehmen. Wenn der wüsste, dass sie ohne ihn spazieren fuhr – das würde er ihr nie verzeihen!

Einen Augenblick dachte sie an den Hund – aber nein, lieber garnicht denken! Auf dem Rad kann man nicht denken, das ist einer der Hauptzüge dieses idealen Beförderungsmittels. Sie fuhr der Isar entlang nach Thalkirchen und dann schob sie das Rad den Berg hinauf und fuhr weiter über die Villenkolonie Ludwigshöhe nach Grosshesselohe zu. Es war ein herrlicher Tag, ein bischen heiss zwar und der Weg nicht zum besten, denn die Sonne hatte die während des letzten Regens tief eingefurchten Geleise zu harten Krusten aufgetrocknet und da hiess es Obacht geben; aber es war so still und friedlich draussen, der Himmel so klar und die Luft waldwürzig und rein und . . . das Beste blieb doch die Unmöglichkeit zu denken.

Wie wäre es denn, wenn sie den Doktor Reithmeyer aufs Korn nähme? Das wäre ein Triumph sondergleichen gewesen. Er behauptete zwar seine Claire zu lieben, er wollte sie sogar heiraten, aber schliesslich bestand das Verhältnis doch schon zwei Jahre und er war auch bloss ein Mann. Wahrhaftig, ein guter Gedanke! Aber kaum gedacht – lag sie auch schon neben ihrem Rade im Strassengraben. Das Hinterrad hatte sich in eine schmale, harte Furche verfangen und da hatte es sie einfach zur Seite hinausgeworfen. Der rechte Griff der Lenkstange hatte ihr einen herben Puff gegen die Schulter versetzt und das Pedal war derartig gegen ihre Wade geschlagen, dass nicht nur eine schmerzhafte Beule, sondern auch ein böses Loch im Strumpf der Erfolg davon war.

»Himmelherrgottsakra!« fluchte Fräulein Hildegard halblaut, indem sie mit der einen Hand nach der Schulter, mit der andern nach dem Bein griff. Dann gab sie dem Rad einen wütenden Stoss mit dem Fusse und setzte sich aufrecht an den Strassenrand, um sich die Situation klar zu machen. Das Unglück war gerade in dem ansteigenden Hohlwege zwischen Ludwigshöhe und der Eisenbahnbrücke von Grosshesselohe geschehen. Zu ärgerlich! Fräulein Hildegard hatte nicht einmal eine Stecknadel bei sich, um das Loch im Strumpf notdürftig zusammenzuhalten, und die beiden Beulen schmerzten. Ausserdem war sie von dem scharfen Tempo ganz in Schweiss und ausser Atem. Sie schob das Rad den sanften Abhang zur rechten Seite des Weges hinauf zwischen die Bäume, wo es von der Strasse aus nicht zu sehen war, und dann suchte sie sich ein bequemes Plätzchen zum Ausruhen. Hier waren Ameisen, dort zuviel Gestrüpp, hier Steine, dort Giftpilze, da schien die Sonne zu sehr durch – überall fehlte etwas zur Vollkommenheit und sie musste sich schon an die fünfzig Schritt von der Strasse entfernen, bevor sie ein geeignetes Ruheplätzchen gefunden zu haben glaubte. Aber was leuchtete denn da Blankes zwischen den Stämmen? Sieh' da! ein Herrenrad und ein Damenrad friedlich an einander gelehnt. Geräuschlos schlich Box einige Schritte weiter vor und dann blieb sie lauschend stehen. Sie hatte Stimmen gehört, aber sie konnte nichts verstehen. Sie wagte sich noch ein wenig weiter vor bis an den Rand eines kleinen Abhangs. Da war eine kleine Lichtung um eine muldenförmige Einsenkung herum und ihr gegenüber auf blumenbewachsenem, sanften Hange gewahrte sie nun auch die Besitzer der beiden schmucken Maschinen. Sie sass im Grase, den Schoss voll Blumen und wand einen Kranz, und er lag vor ihr, schaute ihr zu und streichelte zärtlich ihre Beine, die in grauseidenen Strümpfen steckten. Es war wirklich ein wunderhübsches Bild – und Box duckte sich lautlos hinter den nächsten Busch, um das Pärchen nicht zu stören. Schade, dass sie nicht hören konnte, was er zu ihr sagte! Sie konnte nur von ihrem Gesicht ablesen, dass es sehr hübsche, erbauliche Dinge sein mussten, denn sie schaute so glückselig drein und fuhr ihm von Zeit zu Zeit zausend durch das Haar und mahnte mit weniger Ernst als Anmut: »Nicht doch, Du! Ach lass doch das! Wer wird so was sagen! – Aber ein lieber Kerl bist Du doch!«

Und nun war sie mit dem Kranz fertig, nahm ihren Strohhut ab und drückte ihn sich auf das reiche, aschblonde Haar. »Bin ich hübsch?« rief sie lustig, indem sie die übriggebliebenen Blüten von ihrem Schosse klopfte. Da warf er sich herum, legte den Kopf auf ihre Kniee und streckte die Arme rückwärts nach ihr aus. Er that eine Frage so leise, dass Box sie wieder nicht hören konnte, aber die Antwort der hellen, klaren Frauenstimme verstand sie: »Gewiss habe ich Dich lieb – sehr lieb sogar, Du musst nur nicht . . .« Aber er liess sie nicht mehr sagen, denn er hatte ihren Kopf zu sich heruntergezogen und verschloss ihr den Mund mit Küssen. Und dann warf er sich wieder herum und umschlang sie so heftig, dass das zierliche Figürchen fast unter seiner grossen Gestalt verschwand. Und auf einmal rollten sie gar alle beide, die Verschlingung lösend, den Abhang hinunter, und dann schalt sie ihn und lachte doch dabei, und er lachte auch, und sie klopften sich gegenseitig die trockenen Nadeln von den Kleidern und setzten ihre Kopfbedeckungen wieder auf. Das schöne Kränzlein war zerrissen und zerdrückt, und er hatte sein Taschenmesser verloren.

»Siehst Du!« sagte sie, »das ist die Strafe, weil Du nicht artig warst. Habe ich Dir nicht gesagt: wie Brüderchen und Schwesterchen?« Und dann küsste er sie wieder und sie ihn auch, und dann fanden sie schliesslich doch das Taschenmesser und spazierten langsam zu ihren Rädern zurück, er mit dem Arm um ihre Taille, sie mit dem Arm um seine Schultern.

Ganz nachdenklich blieb Fräulein Hildegard Haider in ihrem Versteck zurück. Nun hatte sie es einmal mit eigenen Augen gesehen, wie diese berühmte Liebe sich ausnahm. Hm, hm, eigentlich doch wunderhübsch! Jedenfalls reichlich so nett, wie es in thörichten Reimereien geschildert zu werden pflegt. Sie hätte zu gerne gewusst, was für eine Art Leute die beiden da waren; der Herr war ihr sogar bekannt vorgekommen, sie hatte nur leider sein Gesicht nicht ordentlich sehen können. Und sie sprang auf die Füsse. Die Beulen und das Loch im Strumpf waren vergessen – sie musste den beiden nach, sie musste sehen, was weiter daraus wurde, sie musste lernen, wie man sich anstellt, wenn man verliebt ist. Heute noch, an diesem schönen Sommertage, musste sie das lernen!

Sie schob ihre Maschine auf die Strasse zurück und bemerkte erst, als sie aufsteigen wollte, dass die Lenkstange sich durch den Fall verschoben hatte. Während sie sich mit der Werkzeugtasche zu thun machte, um den passenden Schraubenzieher herauszusuchen, kam ein Radler des Weges daher, sprang dicht vor ihr ab und sagte, artig seine Kappe lüftend:

»Oh, gnädiges Fräulein haben Malheur gehabt! Darf ich Ihnen vielleicht meine Dienste anbieten?«

Box machte einige ablehnende Redensarten, denn es gehörte zu ihren zahlreichen Prinzipien, sich sogenannte Ritterdienste nicht gefallen zu lassen; aber der junge Mann liess sich dadurch nicht abhalten, den Schaden zu untersuchen. Er nahm ihr einfach das Werkzeug aus der Hand und stellte ihr das Gubernal wieder richtig ein. Er gab unaufgefordert sein Urteil ab über die Beschaffenheit ihrer Maschine und war sogar so neugierig, wissen zu wollen, ob sie sich bei dem Falle keinen Schaden gethan habe.

Box hätte diese Manier eigentlich aufdringlich finden müssen; dieser junge Herr hatte jedoch etwas so liebenswürdig Ungeniertes in seinem Wesen, dass sie ihm nicht böse sein konnte. Und lächelnd zeigte sie ihm das Loch im Strumpfe.

»Ah, famos!« rief er heiter: »da kann ich helfen.« Er entnahm seiner Tasche ein kleines Lederetui, welches einige Medikamente, Heftpflaster, Verband- und etwas Nähzeug enthielt. »Sehen Sie, Gnädigste,« sagte er: »dieses Necessaire schleppe ich nun schon mit mir herum solange ich radle und noch niemals habe ich davon Gebrauch gemacht. Ich segne Ihren Unglücksfall. Wenn Sie gestatten wollen, erprobe ich meine mangelhaften Nadelkünste an Ihrem geehrten Strumpfe.«

Box konnte nicht umhin, diesen jungen Herrn sehr nett zu finden. Sie zierte sich nicht lange, denn sie war eben grässliche Dilettantin in solchen Dingen, sondern setzte sich auf den Rand der Strassenböschung, während er am Abhang vor ihr hinkniete und mit Nadel und Zwirn – es war allerdings weisser Zwirn – das grosse Dreieck in dem schwarzen Gewebe ihres Strumpfes notdürftig befestigte. Sie erklärte seine Leistung für unter den obwaltenden Umständen immerhin recht befriedigend.

»Oh, bitte, Gnädigste, ich werde sie noch etwas verbessern,« rief er und zog eine Füllfeder aus der Brusttasche und schwärzte geschickt den weissen Faden mit Tinte. »So!« rief er befriedigt ob seines guten Einfalls. »Jetzt müssen Sie gestehen, ich habe meine Sache bezaubernd schön gemacht.«

»Ich werde Sie in Bekanntenkreisen gern weiter empfehlen, mein Herr,« versetzte sie vergnügt und nahm die dargebotene Hand zur Hilfe beim Aufstehen an. Sie hatte sich in ihrem Leben noch von keinem Manne auf die Beine helfen lassen – aber dieser da war wirklich sehr nett! Und sie fand ihn sogar hübsch, obwohl eigentlich nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er war ziemlich klein, anscheinend genau von ihrer Grösse, aber kräftig gebaut und gut gewachsen, was sein geschmackvoller, flotter Sportanzug gebührend hervorhob. Sein Gesicht zeigte einen gutmütigen und dabei doch intelligenten Ausdruck. Die Augen waren etwas zu klein und farblos, die Nase etwas zu flach und die Lippen etwas zu schmal, der Bart fehlte vorläufig noch; dafür war aber das braune Haupthaar hübsch gekraust und die Ohren auffallend klein und zierlich, ebenso wie auch die Hände und Füsse. Der Teint war etwas blass und wies recht zahlreiche kleine Defekte auf – aber, du lieber Gott, welcher junge Mann hat keine Wimmerln! Fräulein Hildegard Haider hätte Gift darauf genommen, dass auch Julias Romeo Wimmerln hatte, obschon Shakespeare nichts davon erwähnt.

Nein, so ein unverschämtes Glück! Hier hatte sie ja das gesuchte Objekt für ihr vorhabendes Experiment: Dieser Jüngling musste daran glauben! Wer er nur sein mochte? Offenbar aus einem guten Haus und weit her, denn er sprach mit einem interessanten, fremdartigen Accent. Und er kannte sie sicherlich ebensowenig wie sie ihn – das war auch von Wichtigkeit.

»Wenn gnädiges Fräulein noch weiter zu fahren beabsichtigen, gestatten mir vielleicht mich anzuschliessen?« fragte der junge Mann artig, als sie sich anschickte, ihre Maschine zu besteigen.

»O bitte, das heisst, ich . . .« Box zögerte ein Weilchen. Jetzt wusste sie wirklich nicht recht, was das deutsche junge Mädchen in solchem Falle zu thun gehalten sei. Eine leichte Reizung durch sanften Widerstand war wohl angebracht, aber Box wusste nicht, in welche Form sie diesen sanften Widerstand kleiden sollte. Sie fühlte, dass sie vor Verlegenheit errötete. Himmel, sie konnte erröten! Und vor Freude über diese Entdeckung platzte sie heraus: »Na, denn mal los! Kommen Sie mit nach Grünwald?«

»Aber mit grösstem Vergnügen, Gnädigste! Wohin Sie befehlen.«

Sie fuhren los bis zur Staatsbahnstation und dann schoben sie ihre Räder über die Eisenbahnbrücke, von der aus man den bekannten prachtvollen Blick über München und das Isarthal hat. In der Mitte der Brücke machten sie Halt und betrachteten das herrliche Landschaftsbild.

»O, wie gut,« sagte der junge Mann: »dass ich nicht allein über diese Brücke zu gehen brauche. Der Gedanke, hier herunter zu springen, hat etwas süss Verlockendes für mich. Die Farbe dieses Wassers ist wie Milch in einem grünen Glas. Ein Bad in Milch – ungemein poetische Vorstellung, finden Sie nicht? Und dann ausserdem ein Saltomortale so gewissermassen im Angesicht der ganzen grossen Stadt und dennoch in sonniger Einsamkeit! Das hat etwas diskret Sensationelles. Man würde sich zwei- bis dreimal unterwegs überschlagen und der Luftdruck hätte einen bereits getötet, bevor man den Wasserspiegel erreichte. Suicide elegant! Finden Sie nicht?«

Jetzt will er sich interessant machen, fühlte sie; aber sie sagte nur: »Famose Idee! Aber gelt, Sie behalten sich die Ausführung für später vor?«

»Wer weiss?« erwiderte er mit einem zweideutigen Achselzucken. »Mein Gott, was ist das Leben wert? Mein Leben, ich bitte Sie! Dieses ist nicht die erste Brücke, auf der ich in solchen Gedanken stehe und nicht das erste Eisenbahngeleise, das mich reizt, mich quer hinüber zu legen. Ich bin vierundzwanzig Jahre – mein Gott, ja: aber es giebt Vaterländer, in denen die männliche Jugend nicht gedeiht. Gestatten Sie übrigens, dass ich mich vorstelle!« Er griff in seine Brusttasche, entnahm ihr ein zierliches Täschchen von grünem Maroquinleder, auf das ein Namenszug mit einer Krone in Gold aufgelegt war und überreichte ihr seine Visitenkarte:

Le Baron Raoul de Kerkhove, docteur en philosophie.

»Ah, Sie sind Franzose? oder vielleicht Belgier – aus Flandern, dem Namen nach?« fragte Fräulein Hildegard neugierig.

»Nein, pardon, ich bin Balte – refugié!« versetzte er, indem er mit seinem elegischen Blick ihr Auge suchte, als wollte er sagen: vermagst Du nun meinen Schmerz zu ermessen?

Und sie darauf mit einem etwas verunglückten Versuch eines niedlichen Knixes: »Und ich heisse Hildegard – Schneider. Ich bin hier zu Besuch bei meiner Tante.«

»Bei einer Tante? Oh!« echote er.

»Thut Ihnen das leid?«

»Gewissermassen, ja,« lächelte er fein. »Es giebt so unangenehme Tanten.«

»Die meinige geht noch an,« sagte Box lustig.

»Es scheint so, da sie Ihnen erlaubt allein auszufahren.«

»Erlaubt? Ach das ist reizend!«

»Ah! Sie scheinen eine selbständige Natur zu sein, Gnädigste.«

»Ja; einigermassen schon, das darf ich wohl sagen,« schmunzelte Box.

Er sah sie an und seufzte komisch.

»Thut Ihnen das auch leid?« fragte sie.

»Oh nein – im Gegenteil! Die selbständigen Frauen sind so selten – und wir brauchen sie so notwendig!«

»Warum seufzen sie dann aber?«

»Habe ich geseufzt? Oh, nur über das Leben im allgemeinen – es hat soviel Schönes!«

»Nu allemal! Dös glaubst! Zum Beispiel schöne Sommertage, schöne Aussichten, schöne Radelwege . . .«

»Ja, und an Wegrändern sitzen schöne junge Damen mit schönen Löchern in den Strümpfen.«

»Ein süsser, junger Mann!« fand Box und dann schlug sie vor, weiter zu fahren. Selbstverständlich wählten sie den Waldweg, wie alle vernünftigen Radler; denn dort ist es verboten. Sie fuhr voraus, um das Tempo anzugeben, und er folgte ihr in geringem Abstand. Lautlos glitten die Gummireifen auf dem glatten Nadelteppich des Fussweges dahin und von Zeit zu Zeit sprangen die blanken Maschinen fröhlich wie junge Böcklein über die Baumwurzeln, die sich dicken, trägen Schlangen gleich über den Weg legten. Fräulein Hildegard Haider war so vergnügt, als hätte sie eben ein Telegramm erhalten mit der Nachricht, dass ihre Türkenlose auf 76¾ emporgeschnellt seien – ach Gott bewahre, noch viel, viel vergnügter! Und ihre Kopfschmerzen waren ganz und gar verschwunden. Dieser nette, angenehme, junge Mann! Und so intressant! Baron, refugié, Balte, Weltschmerz, docteur en philosophie! – Sie hätte ein solches Glück nicht für möglich gehalten. Wie der sich wohl benehmen würde, wenn sie ihn auf dem Rückwege in jene versteckte Blumenmulde hineinlockte? Jedenfalls wollte sie auch damit beginnen, sich ein Kränzlein zu winden. Sie war doch am Ende nicht schon verliebt in den jungen Mann? I, Gott bewahre! Es war sehr wahrscheinlich, dass sie ihn morgen schon für einen ziemlichen Affen hielt; aber für den Augenblick war er gerade recht so – er konnte garnicht besser sein.

Es war gegen 11 Uhr, als sie in Grünwald anlangten. Sie kehrten in der Schlosswirtschaft ein und suchten nach einem hübschen, schattigen Platze, als sie plötzlich eines zweiten Radlerpärchens ansichtig wurden. Halloh! Das waren ja die Leutchen aus der Blumenmulde. Natürlich! Der braungewürfelte grosse Herr und die reizende Blondine in der weissen Battistblouse und den grauen Tuchhöschen und grauen, seidenen Strümpfen. Nein, war das Mädchen hübsch! Diese graziöse Knabenfigur und dieses feine Köpfchen mit dem reichen, aschblonden Haar! Und wie gut ihr der einfache Anzug stand! Mit wie ungesuchtem Chic das alles sass, von dem Strohhut mit dem weissen Schleier bis hinunter zu den schwarzen Spangenschuhen! Box vergass ganz ihren Kavalier und verwandte, am Eingang der Veranda stehend, keinen Blick von der reizenden Erscheinung.

Jetzt stiess die Dame ihren Begleiter an und der Braungewürfelte wendete sich um nach den Störenfrieden.

»Herrgott! Das ist ja . . .« Natürlich war er's! Sie hatte ja auch schon geschäftlich mit ihm zu thun gehabt, wenn er auch nicht zu ihren näheren Bekannten gehört hatte – er war es ganz bestimmt, Herr Franz Xaver Pirngruber, der bekannte Genremaler.

Ei, ei, ei! dachte Box; denn Herr Franz Xaver Pirngruber war ein Mann von gegen vierzig Jahren und sozusagen in gesegneten Umständen, denn er verkaufte nicht nur seine Bilder gut, sondern hatte auch eine reiche, stattliche Frau und sechs bildschöne Kinder, um die sich alle Photographen Münchens rauften.

»Na warte,« dachte Box: »Dir jage ich jetzt einen Schrecken ein!« Und sie trat ohne weiteres an den Tisch des glücklichen Pärchens und streckte dem Braungewürfelten ihre kräftige Hand entgegen.

»Herr Pirngruber – ja, grüss' Sie Gott! No, dös is gscheit! Haben Sie sich auch amal rausg'macht ? Recht hab'n's! an so einem schönen Tag darf man net im Atelier sitzen. Wie geht's denn daheim? Frau Gemahlin wohl und munter? Habe lange nicht die Ehre gehabt.«

So schwätzte sie drauf los und es war dem liebenswürdig offenen Gesicht des Herrn Pirngruber unschwer anzusehen, dass er sie am liebsten mit einem kräftigen »Hol dich der Deixel!« begrüsst hätte: aber da er immerhin ein gebildeter Mensch war, so sagte er nur: »Dank schön! dank schön! Passiert! Meine Frau ist übrigens im Bad. Wissens, um diese Zeit des Jahres verspürt sie immer ein dringendes Bedürfnis nach einer Badereise. Ich hab leider zu viel zu thun, wissens. No, und Sie haben sich auch amal losg'macht, Fräul'n Haider?«

»Schneider!« raunte sie ihm rasch erschrocken zu. Und da Herr Pirngruber ein sehr erstauntes Gesicht machte, fügte sie erklärend hinzu: »Bitt' schön, nichts verraten, ich heiss' Schneider!«

Herr Pirngruber sah den jungen Mann unschlüssig im Hintergrunde stehen und begriff. Er lächelte bedeutsam und sagte, mit einer Handbewegung auf seine schöne Begleiterin deutend: »Gestatten Sie mir vorzustellen : meine Nichte, Frau von Robiceck – Fräulein Schneider.«

Die Damen verneigten sich artig gegeneinander und dann winkte Box ihren jungen Mann herbei und stellte ihn gleichfalls vor: »Mein Cousin, Herr Baron Raoul de Kerkhove, docteur en Philosophie.«

Allgemeine Verbeugung – vier schöne Seelen hatten sich verstanden.

Herr Pirngruber und Frau von Robiceck – hoho! Robiceck! Die hiess geradesogut Robiceck wie Box Schneider hiess. – Die beiden waren also bereits beschäftigt etliche Paar Weisswürstchen mit Senf und ein Bier dazu zu vertilgen, und Box wollte doch nicht so boshaft sein, sie in ihrem Idyll zu stören. Sie machte also ein paar angemessene Redensarten und nahm dann mit ihrem Kavalier an einem ziemlich entfernten Tische Platz, um sich ebenfalls dem Genüsse von Weisswürstchen hinzugeben. Diese fein empfundene Spezialität der Münchener Charcutierkunst scheint im Verein mit dem leichten braunen Bier eine besonders nervenberuhigende Wirkung auszuüben. Harmonisch gestimmte Seelen wie z. B. Dreiquartl-Privatiers, königliche Hartschiere und bayrische Landtagsabgeordnete geben der Weisswurst vor der Auster den Vorzug – warum sollten nicht auch glücklich Liebende sich ihren milden Reizen hingeben? Box bestellte also ebenfalls Weisswürstl mit Bier.

Die Unterhaltung zwischen den Beiden wollte nicht recht in Fluss kommen, denn der Baron Raoul de Kerkhove war plötzlich wie auf den Mund gefallen. Hildegard bemerkte, dass er öfter als gerade natürlich und verzeihlich war, zu dem andern Pärchen hinüberschielte, besonders wenn er den Bierkrug zum Munde führte. Er glaubte wahrscheinlich, sie bemerke es da nicht. An dem andern Tische war die Unterhaltung übrigens auch nicht besonders lebhaft und die beiden Herrschaften verzehrten ihren Imbiss mit offenbarer Ungeduld. Man genierte sich also gegenseitig. Schon nach etwa zehn Minuten erhob sich der Meister Franz Xaver Pirngruber mit seiner schönen Begleiterin und im Vorbeigehen grüsste er das Fräulein Schneider artig und sagte: »Also auf Wiedersehen, seltens Fräul'n Schneider! Wir gehen noch a bissel im Wald spazieren. Bitt schön, lassen Sie sich nur net stören in Ihrer Gemütlichkeit. Hab' die Ehre!«

Die liebliche Dame neigte nur leicht das feine Köpfchen, dann sprangen die Beiden leichtfüssig den steilen Weg zum Fluss hinunter.

Sobald sie ausser Hörweite waren, erkundigte sich der Baron sehr eifrig, wer die Herrschaften seien.

»Ach, kennen Sie Franz Xaver Pirngruber nicht?« rief Box. »Er ist doch einer unserer beliebtesten Genremaler. Sie haben gewiss schon etwas von ihm gesehen – so g'spassige Bauernszenen und dergleichen.«

»O ja, ich glaube mich zu erinnern,« versetzte der Baron gleichgiltig. »Und wer ist diese entzückende junge Dame – Frau von Robiceck, wenn ich recht gehört habe?«

»Hm, ja – von Robiceck habe ich auch verstanden,« erwiderte Box, die schwarzen Brauen hochziehend. »Vermutlich ein Modell – sie ist ja so gut gewachsen.«

»Ein Modell?! Oh, Sie scherzen wohl, Gnädigste!« rief der junge Mann fast entrüstet. »Diese exquisite Zierlichkeit, diese vornehme Grazie – oh, unmöglich!«

Box zuckte die Achseln. »Unmöglich ist auf diesem Gebiete nichts; aber es giebt ja auch nichtberufsmässige Modelle.«

Der junge Herr schwieg nachdenklich. Er quetschte ein Weisswürstchen durch die Zähne, dann legte er die leere Haut mit einer Grimasse auf den Teller zurück und bemerkte: »Dies ist doch mehr ein Genuss für den Einheimischen.« Und da seine Gefährtin hierauf nichts zu erwidern wusste, so trank er einen grossen Schluck Bier und bat alsdann um die Erlaubnis, sich eine Cigarette anstecken zu dürfen. Er holte ein sehr schönes Etui von Tulasilber, innen vergoldet, hervor und bot Fräulein Schneider dasselbe zuerst an. Sie nahm eine Cigarette und beide begannen zu rauchen. Nachdenklich schaute der Baron den grauen Ringen nach, die er kunstvoll von sich stiess und machte alsdann die weitere Bemerkung: »Es muss doch manchmal sehr schön sein Maler zu sein.«

»So, finden Sie?« rief Box ärgerlich aus. »Meiner Empfindung nach ist das Malen eine ziemlich fade Beschäftigung. Es kommt für mich gleich nach dem Angeln. Aber entschuldigen Sie, wenn Sie nicht malen, was thun Sie denn dann hier in München? Die Fremden, die hierher kommen, malen doch eigentlich alle.«

»Ich habe leider gar kein Talent,« versetzte der junge Mann elegisch. »Ueberhaupt für keine Kunst. Ich bin mit den Vorstudien zu einem grösseren soziologischen Werke beschäftigt, und dann bereite ich mich auch zu einer Weltreise vor. Ich muss nur noch den Ausgang eines Prozesses abwarten von dem es abhängt, ob ich zwei Millionen Rubel mehr oder weniger besitzen werde. Ich muss mich inzwischen mit einer kleinen Rente von zehntausend Rubel durchschlagen.«

»Na, das ist doch für einen jungen Herrn sehr nett, dächte ich,« sagte Box.

»Oh, es muss eben gehen. Ich habe hier eine kleine möblierte Wohnung von vier Zimmern in der Schellingstrasse, aber nicht einmal einen Diener. Ich reite sogar geliehene Pferde! Das ist mir gerade nicht an der Wiege gesungen worden, das dürfen Sie mir glauben: aber mein Vater starb in Sibirien – Sie verstehen – der Staat hat den grössten Teil seiner Güter eingezogen. Es besteht aber jetzt begründete Hoffnung, dass meine Familie den Prozess gewinnt. Ich warte hier nur das Ergebnis ab.«

Box nahm spielend die Tuladose in die Hand und sagte einige bewundernde Worte darüber.

»Oh,« versetzte er mit einem bedeutungsvollen Aufblitzen seiner grauen Augen: »Der Metallwert ist ja nicht bedeutend, aber es ist doch ein kostbares Kleinod für mich: ein Geschenk von meinem Onkel, Fürst Krapotkin.«

»Ach, doch nicht dem berühmten Nihilistenführer?«

»Allerdings.« Er lächelte seltsam. »Bitte, verraten Sie mich nicht. Die Polizei in Ihrem Lande hat soviel Zeit, sich mit harmlosen Ausländern zu beschäftigen.«

»Herrjeh! Da sind sie wohl auch so was?« rief Box mit lebhafter Spannung.

»Ich, meine Gnädigste?« lächelte er fein. »Ich sagte Ihnen ja, ich bin Balte und mein Vater starb in Sibirien! Im übrigen habe ich – Philosophie studiert.«

»Gott, o Gott, was für ein unheimlicher junger Mann Sie sind!« flüsterte Box lustig. »Sie haben ja so viele Taschen und so viele schöne Etuis darin, tragen Sie nicht vielleicht auch eine goldene Tabatiere mit Dynamit bei sich?«

»Gnädigste, es giebt Dinge, über die man nicht spotten darf,« sagte er ernst.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel das Vaterland und die Liebe.«

»Essen Sie Ihre letzte Weisswurst nimmer?« fragte Box etwas unvermittelt. »Dann gestatten Sie vielleicht, dass ich diesen scheusslichen Dackel damit glücklich mache.« Sie warf die Wurst einem trägen, schwarzen Ungeheuer von Hund zu, das auf krummen Dackelbeinen die Schande seiner Ahnen herumtrug, welche augenscheinlich niemals Sinn für Rasse besessen hatten. Alsdann rief sie die Kellnerin, beglich ihre kleine Zeche – dass der Baron das für sie thue, duldete sie durchaus nicht – und dann sprang sie endlich auf und sagte heiter: »Also, Herr Baron, wenn's Ihnen recht ist, gehen wir auch noch ein bissel im Wald spazieren und reden von der Liebe.«

Und genau wie die kleine niedliche Frau von Robiceck vorhin, sprang sie den steilen Weg zum Fluss hinunter und ihr Kavalier hinter ihr drein. Sie bog bald vom Wege ab und begann an dem steilen Abhang im Schatten der herrlichen Buchen und Eichen Blumen zu suchen. Er half ihr dabei, wie ein braver Bruder einer älteren Schwester zu helfen pflegt und erzählte dabei allerlei von seiner Kindheit auf den grossartigen Familiengütern in Livland, von seinen wissenschaftlichen Studien und von seiner geplanten Weltreise. Das war alles sehr interessant, aber wenn er mit einer jungen Dame Blume pflückt, sollte einem gebildeten jungen Mann doch etwas anderes zu sagen einfallen! Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre – Donnerwetter! Aber er war wohl doch noch ein wenig zu jung: vermutlich brauchte er Aufmunterung. - Sie hatte nun einen ungefügen Strauss zusammengerauft, sie war schon ganz heiss von dem vielen Bücken, und da warf sie sich ins dichte Moos und begann einen Kranz zu flechten. Aber es wollte ihr nicht recht glücken; es war zu lange her, dass sie Kränze geflochten hatte.

Raoul de Kerkhove sass vor ihr im grünen Moose und rauchte eine Cigarette nach der andern. Er machte absolut keine Miene, ihr die Schienbeine zu streicheln. Sie hätte es ihm auch nicht raten wollen, denn so wie sie sich kannte, wäre sie ihm saugrob gekommen. Aber versuchen hätte er es doch wenigstens können! Statt dessen dozierte er ihr jetzt gar über die Ethik des Kapitalismus etwas vor und setzte ihr auseinander, dass die Wurzel alles Uebels in der Welt die Zinsen seien, » Solange Geld ohne Arbeit noch Geld erzeugt,« schloss er seinen Vortrag: »werden Gerechtigkeit und Zufriedenheit nicht bei uns einkehren.«

»Aber was wollen Sie denn?« erwiderte Box gereizt: »Das ist doch in der ganzen Natur so, dass Gleiches Gleiches erzeugt und zwar auch ohne viel Arbeit.«

»Aber Geld ist doch kein Organismus, Gnädigste!« sagte er mit einer schwachen Bemühung, ihren Witz zu belächeln.

»Geld ist kein Organismus?« rief sie. »Na, ich danke, und was für ein komplizierter! Sie haben ja keine Ahnung!«

O weh, das war dumm gewesen! Er sollte ja nicht merken, wie intim sie mit Geldsachen zu thun hatte, und sie lenkte rasch wieder ein, ehe er noch etwas sagen konnte, indem sie ihn darauf aufmerksam machte, dass sie doch sehr weit vom Thema abgekommen seien.

»Von welchem Thema?« fragte er etwas blöde.

»Herrgott, von der Liebe!« erwiderte sie ungeduldig und – da – das Kränzlein war schon wieder zerrissen. Sie hielt das grössere Stück gegen ihre Stirn und sagte so kokett wie sie im Stande war: »Finden Sie, dass mir das stehen würde?«

Er war eben dabei, sich die fünfte Cigarette an dem Rest der vierten anzustecken, schielte mit einem Auge zu ihr hinüber und äusserte ganz trocken: »Nein, ich glaube nicht.«

»So?« sagte Box geärgert. »Was würden Sie mir denn auf den Kopf setzen, wenn Sie das Bestreben hätten mich hübsch zu machen?«

Er sann ein Weilchen nach, dann rief er plötzlich strahlend: »Oh, ich weiss; einen Cylinder!«

»Einen Cylinder?«

»Jawohl. Hoch zu Ross, in einem langen schleppenden Reitkleide und einen spiegelblanken Cylinder auf dem Kopf – so denke ich mir Sie famos!«

Box war nur mässig befriedigt. Sie warf ihren verunglückten Kranz fort und streckte sich lang auf dem Rücken aus.

»Ach geben Sie mir auch noch eine Cigarette,« sagte sie. »Ich finde es hier riesig behaglich. Hier möchte ich träumen, stundenlang!«

Er wollte ein Zündholz in Brand setzen, aber sie hielt ihn davon ab, weil leicht ein Waldbrand hätte entstehen könnte. Es würde polizeilich davor gewarnt, brennende Streichhölzer fortzuwerfen. »Geben Sie mir von Ihrem Feuer,« sagte sie mit zarter Betonung und sie nahm die Cigarette zwischen die Zähne und lächelte ihn an. Sie konnte das riskieren, da sie sehr schöne weisse Zähne hatte.

Und wenn er nun einigermassen talentvoll war, so beugte er sich mit der Cigarette zwischen den Lippen über sie, schaute ihr tief in die Augen und küsste sie alsdann, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Aber dieser unglückselige junge Baron schien wirklich nur Strümpfe stopfen zu können. Er hielt ihr seine Cigarette mit den Fingern hin, mit ausgestrecktem Arm, möglichst von weitem. Und, als ihre Papyros dampfte, schaute er wieder weg und heftete den Blick auf ihre naturledernen Kneippsandalen.

Kneippsandalen gehörten zu ihren siebenundzwanzig Prinzipien – aber schön waren sie nicht.

»Lieben Sie die russischen Mädchen?« erkundigte sich Box nach längerem Schweigen mit massigem Eifer.

»Oh, ich leide mit ihnen!« erwiderte der junge Mann.

»Sie sollen aber doch so weich in den Gelenken sein,« beharrte Box.

»Ja, besonders in den Gelenken der Seele,« pointierte er fein. »Sie lassen sich biegen zum Bösen wie zum Guten, und wenn sie lieben, tragen sie keine Korsetten.«

»Ach das ist ja riesig intressant!« rief Box, nun wirklich lebhaft werdend.

»Ich meine das natürlich bildlich, Gnädigste,« sagte der junge Mann, höflich zurechtweisend. »Hier zu Lande kommen mir die Damen immer geschnürt vor, geistig meine ich – und sie fühlen sich steif an, auch wenn sie gar keine Knochen haben.«

»Na, ich aber nicht!« rief Box, indem sie sich mit einem gewissen Stolz reckte.

»Jawohl, mein Fräulein, Sie haben Knochen!« bestätigte der junge Mann mit ruhigem Ernst.

Auch hiervon war Box nicht ganz befriedigt.

Raoul de Kerkhove sass da und rauchte, sann und lauschte. Plötzlich hob er den rechten Zeigefinger: »Horchen Sie!«

»Was ist denn? Das ist ein Buchfink,« sagte sie.

»Ach, den Vogel meine ich nicht! Hören Sie doch diese Stimme! Das muss die kleine reizende Frau von Robiceck sein.«

»Nu wenn schon !« sagte Box und schlug mit ihrer Mütze nach einer Fliege, die hartnäckig um sie herumsummte.

»Ach gehen wir doch einmal hin und sehen, was sie treiben!«

»Na, wissen Sie,« lächelte Box boshaft: »ich würde an Ihrer Stelle nicht zu dicht rangehen.«

Aber Raoul de Kerkhove war schon auf den Füssen und strebte der Richtung zu, aus welcher das süsse, silberne Lachen herzuklingen schien. Box blieb nichts übrig als ihm nachzugehen. Etwa fünfzig Schritte weiter und sie wurden des Braungewürfelten und der weissen Blouse zwischen den silbergrauen Buchenstämmen ansichtig und dann sahen sie wie Franz Xaver, der liebenswürdige Meister des humoristischen Pinsels, die sogenannte Nichte in seinen Armen in die Höhe hob, so dass sie den untersten Ast einer grossen Buche erreichen konnte, und dann schwang sich das zierliche Persönchen geschickt hinauf und kletterte geschmeidig wie eine Katze von Ast zu Ast.

»Das ist eine gute Idee!« sagte Box. »Das mach' ich auch. Sie brauchen mir garnicht einmal zu helfen, Herr Baron.« Und nach kurzem Suchen hatte sie einen Baum gefunden, der sich ohne besondere Schwierigkeiten erklimmen liess. Sie kam thatsächlich ohne Hilfe auf den ersten Ast hinauf und von da gings keck weiter, immer höher und höher. Oh, turnen und klettern, das konnte sie! Und als sie ganz oben, dicht unter dem Wipfel angekommen war, da schaute sie triumphierend nach ihrem jungen Freunde aus.

Der stand unten, wendete ihr den Rücken zu und starrte hinüber nach der anderen Buche, wo die kleine niedliche Frau von Robiceck aus dem dichten Grün heraus ihr süsses, silbernes Lachen erschallen liess.

»Ekel!« dachte Box: »Dich hab' ich überschätzt!« Und dann kletterte sie wieder herunter und wusste, dass sie erhitzt und zerkratzt und garnicht vorteilhaft aussehe.

»Bravo! bravo!« sagte Raoul de Kerkhove. »Ich habe noch nie eine Dame sich zu solchen Höhen versteigen sehen.«

Das sollte ein Witz sein, aber Box fand es garnicht komisch. Sie erklärte mit Bestimmtheit, dass sie nun heim müsse und dass sie es ihm überlassen wollte, in der Gesellschaft der kleinen niedlichen Frau von Robiceck noch länger zu verweilen.

»Oh,« sagte er nur und stieg gesenkten Hauptes hinter ihr drein zur Wirtschaft empor. Als sie bei ihren Rädern standen, griff er auf einmal nach ihrer Hand und sagte warm und liebenswürdig: »Sind Sie mir böse, Gnädigste? Ich habe Sie, bei Gott, nicht kränken wollen.«

Jetzt glaubte er wohl gar, sie sei eifersüchtig. Und sie beeilte sich ihm zu versichern, dass sie garnicht böse sei. Da führte er ihre Hand an die Lippen und küsste sie. Er war doch ein guter Junge – und sehr wohlerzogen. Dann bestiegen sie ihre Maschinen und radelten im flottesten Tempo heimwärts.

An diesem Tage liebten sie nicht weiter – – aber sie verabredeten sich für den folgenden Abend nach den Blumensälen.


 << zurück weiter >>