Olga Wohlbrück
Der eiserne Ring
Olga Wohlbrück

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In der Wohnung der verwitweten Frau Geheimen Regierungsrat Delfert roch es nach warmem Haar und verbranntem Papier.

Dora und Ulrike huschten in weißen Nachtjacken und »Wickeln« aus ihrem gemeinschaftlichen Zimmer bald zur Mutter herein, die noch rasch eine weiße Spitzenkrause in ihr violettseidenes Kleid einnähte, bald über den ziemlich breiten Korridor in den dunklen Speisesaal, wo ein Tafeldecker und das Hausmädchen um den lang ausgezogenen Tisch bemüht waren.

Alles Familiensilber war aufgestellt worden – von dem Patenbecher der Mutter bis zur schönen Jardiniere, die die Eltern zu ihrem silbernen Hochzeitstag erhalten hatten und die jetzt, mit schwer duftenden Mimosenzweigen gefüllt, die Mitte der Tafel einnahm.

Die Schwestern verteilten die Kärtchen mit den Namen. Sie hatten mehr sorgenvolle als freudige Gesichter, und wenn das hüpfende Licht der Gasflamme über Ulrikes Züge huschte, die die Ältere war, sah man, daß sich eine tiefe und schmerzvolle Falte über der Nasenwurzel eingegraben hatte.

»Ich denke, nun ist bald alles in Ordnung,« sagte sie.

Sie sprach gedämpft, ein wenig klagend, wie jemand, der durch nichts von einem inneren Leid abgelenkt werden kann.

»Ich will jetzt Mama bei der Toilette helfen. Unterdessen machst du dich fertig, Dora. Es wäre immerhin möglich, daß er früher käme. Da muß jemand da sein, um ihn zu empfangen.«

Der Lohndiener und das Mädchen hatten das Zimmer verlassen. Die Schwestern standen einander gegenüber, rückten beide ganz mechanisch an den Bestecken, den Gläsern.

Sie waren beide groß und von jener irritierenden Ähnlichkeit, die keinen Gedanken an geistige Differenziertheit aufkommen läßt.

Wenn man zu einer von ihnen sprach, hatte man das Gefühl, es beiden gesagt zu haben. Das »ich« aus ihrem Munde klang beinahe anmaßend. Sie sagten auch meist »wir«.

Meinten mit diesem »wir« nicht nur sich selbst; sondern auch die Mutter, das Haus als Ganzes und sogar die weitverzweigte Delfertsche Familie, die in der Hierarchie des Beamtenstandes eine angesehene Stellung einnahm.

Eine kurze Zeit hindurch hatte Dora »ich« gesagt. Vier, fünf Monate lang, vor etwa neun Jahren. Es war in ihrer kurzen, ersten Brautzeit gewesen.

Eine tragische und abscheulich lächerliche Geschichte.

Die Tafel war gedeckt wie heute. Nur Maiglöckchen dufteten in der Jardiniere statt der gelben Blüten. Neben ihr saß ihr Verlobter, der bildhübsche Kavallerieleutnant von Redwitz. Kein Geld, aber allererste Familie und – Zukunft. Kriegsrat Delfert hatte sich bereit erklärt, die Kaution zu stellen. Die übrigen kinderlosen Familienmitglieder waren übereingekommen, die Wohnungseinrichtung zu schenken, und die Geheimrätin durfte daher an eine Ausstattung denken »wie für eine Prinzessin«.

Vierzehn Tage nach der Verlobung wurde der junge Offizier nach Südafrika abkommandiert. Liebesschwüre, Abschied, Liebesbriefe ...

Während eines Scharmützels trug er eine nicht ungefährliche Verwundung davon. Typhus kam dazu. Dora verzweifelte. Benahm sich gar nicht wie eine junge Dame aus feinem Hause. Die Geheimrätin sprach von »kalten Duschen«.

Man hatte kein Verständnis für heftige Gefühlsausbrüche im Delfertschen Hause. Und plötzlich die Nachricht: Redwitz mußte den Abschied nehmen. Dauernd untauglich.

Die Geheimrätin schrieb ihm, unter diesen Umständen wäre an eine Verbindung mit Dora nicht zu denken. Familienrücksichten ließen es nicht zu, daß Dora die soziale Leiter herunterstiege – die Frau eines Weinagenten oder Versicherungsbeamten würde. Es wäre sehr schmerzlich, aber er müßte begreifen. ...

Er begriff alles. Merkwürdig rasch und gründlich. Er gab Dora ihr Wort zurück in wenigen knappen Zeilen, die Dora nicht lesen konnte, weil sie an einem Nervenfieber danieder lag.

Ulrike pflegte die Schwester mit Aufopferung, begriff aber den Bruder nicht, der schmalbrüstig und blaß am Mittagstische saß und erklärte, auch als Weinreisender könne man ein anständiger Kerl sein, und er könne nicht begreifen, daß die Familie eher zwei Menschen unglücklich mache, als Vorurteile abzustreifen, die wirklich sinnlos wären in der heutigen Zeit.

Thomas war damals vierundzwanzig Jahre alt. Mit einem »du bist kindisch« ging die Mutter über seine Worte hinweg. Und schließlich kam auch wirklich alles ins rechte Gleis. Dora wurde gesund. Man sah sie wieder auf den Vereinsbällen, bei den Familiengesellschaften und an Abonnementsabenden mit Ulrike oder der Mutter im Schauspielhaus.

Eines Abends hatte sich Thomas, der die Schwestern abzuholen pflegte, verspätet, und die jungen Mädchen sahen sich ängstlich nach ihm um.

»Verzeihung ...«

Dora zuckte zusammen beim Klange der Stimme.

Ein Herr – offenbar ein Offizier in Zivil – hatte sie gestreift. Eine bildhübsche junge Person in kostbarem Seidenumhange schritt an seiner Seite und sah lachend zu ihm auf. Das Paar wartete ein paar Augenblicke unter dem Glasdach und stieg dann in ein elegantes Auto, hinter dessen geschliffenen Spiegelscheiben ein blühender Rosenstrauß unter dem rieselnden Lichte der elektrischen Birne leuchtete.

Dora war weiß geworden bis in die Lippen.

»War das nicht? ...

Ulrike stützte sie, selbst zitternd, verwirrt, in Angst um die Schwester.

»Möglich, Dora ... aber vielleicht nur eine Ähnlichkeit.«

Thomas kam gerade in diesem Augenblicke.

»Redwitz? Ja... ich glaube, er hat einen Onkel beerbt. Zwei Millionen sogar oder so was. An den alten Herrn hatte niemand gedacht.«

Die Geschwister fuhren mit der Elektrischen nach Hause. Thomas war mitten in seinem Assessorexamen und schweigsamer noch als sonst. Dora würgte ihr Schluchzen hinunter. Ulrike dachte an die Nacht, die ihr bevorstand ...

Selbst die Geheimrätin geriet aus der Fassung. Am nächsten Tage fand ein förmlicher Familienrat statt. Wie konnte man Redwitz wieder zurückgewinnen? Wenn Dora ihm schrieb? Wenn Thomas ihn besuchte?

Thomas schüttelte den Kopf. Man sollte doch ihn aus dem Spiele lassen! Ihm war das alles peinlich.

So beschloß Ulrike, zu schreiben ... als wüßte niemand etwas davon, und »weil Dora langsam zugrunde ging an dem nagenden Kummer ...«

Der Brief war bereits frankiert, als der Kriegsrat mit der Nachricht kam, die Erbschaft wäre ein Märchen. Redwitz hätte die Tochter eines großen Herrenschneiders »Unter den Linden« geheiratet und empfinge gelegentlich die Kunden seines Schwiegervaters...

Die Geheimrätin fand ein befreiendes Lachen, und Ulrike riß dem Mädchen schnell den Brief aus der Hand, den sie gerade zum Kasten tragen wollte. Dora sprach nicht mehr von Redwitz. Nur eine tiefe Falte blieb ihr zwischen den hellen Brauen und eine nervöse Gereiztheit, als fürchte sie jeden Augenblick, verhöhnt zu werden.

Wenn die Schwestern, gleich gekleidet, in ihrer vornehmen, blonden Schlankheit einen Saal betraten, dann wurden sie als Muster unberührter, keuscher Mädchenhaftigkeit hingestellt.

Dora – um einen Schatten rosiger, weicher und kleiner, machte Eroberungen, »von denen man sprach«. Aber obwohl sich die Geheimrätin und die Familie die größte Mühe gaben – eine Partie kam nie zustande.

Ulrike erkannte zuerst, woran es lag.

Sie sah zuerst den flimmernden Blick der Schwester, ihre feuchten, heißgeröteten Lippen, hörte zuerst das weiche, gurgelnde Lachen, die belegte Stimme, die Worte – zu hingebend für eine kurze Bekanntschaft, zu verheißend für einen koketten Flirt, und sie erschrak.

Erschrak, als hätte sie ein häßliches Mal an dem eignen Körper entdeckt.

Sie sprach mit der Mutter. Tastend, ganz vorsichtig.

Die Geheimrätin sah sie kühl und verwundert an.

»Es ist nicht Mode bei uns, liebe Ulrike, über derartige Dinge mit einem jungen Mädchen zu sprechen. Das sind Begriffsverwirrungen, die du deinen modernen Büchern verdankst.«

Und Ulrike hielt sich die Ohren zu, wenn Dora nachts in finsterer Stube von Liebe sprach, wie sie sie ersehnte, wie sie sie erwartete, von jedem, der ihr auch nur ein flüchtiges Kompliment über ihr Kleid gemacht hatte. ...

Ulrike wich keinen Schritt breit von ihr, zitterte vor jedem Balle, drängte sich als dritte in jedes Tete-a-tete, das die Schwester geschickt herbeizuführen verstand, stand hinter ihrem Stuhl, wenn sie Briefe schrieb und fing die Briefe auf, die ins Haus kamen. Abends packte sie sie in nasse Leintücher und zwang sie des Morgens zu stundenlangem Turnen in ungeheiztem Zimmer.

Sie hatte die müden, harten Züge einer Krankenpflegerin bekommen und ihre Arme die muskulöse Kraft einer Irrenwärterin.

Die Familie plante seit geraumer Zeit eine Ehe zwischen Ulrike und dem Kriegsgerichtsrat Hermann Delfert. Ulrike wußte davon. Und manchmal huschte es über ihre strengen, müden Züge wie ein ganz leiser Glücksstrahl, wie Hoffnung auf Ruhe. ...

Aber eines Nachts erwachte sie von einem heißen Atem, der über sie wehte, und als sie die Augen auftat, sah sie die phosphoreszierenden Blicke der Schwester, wie sie sich förmlich einbohrten in ihr Gesicht.

»Ist das wahr, Ulrike? Der Onkel ... der Kriegsgerichtsrat ... er soll dich heiraten? Warum gerade dich? Ihr werdet zusammenziehen? Ihr werdet Kinder haben? ... Ist das wahr? ...«

»Dora! ... Beruhige dich! ... Es ist ja noch nichts bestimmt!«

Ulrike faßte beschwörend beide Hände der Schwester:

»Wenn du mich lieb hast, Dora ...«

Aber Dora lachte kurz auf, und ihre Stimme klang wie gebrochenes Glas.

»Vor zwei Tagen, als du Migräne hattest, war ich bei Frau Doktor Kurtius, daß du's nur weißt. Ich wäre verlobt, habe ich ihr gesagt. Ob ich Kinder bekommen könnte? ... Nur angesehen hat sie mich, mit beiden Händen zum Fensterlicht hat sie mich gedreht und gesagt: Ein Dutzend, wenn sie wollen!«

Sie lachte hart und kurz auf und riß sich los, wie ein böser, kleiner Hund, als Ulrike sie zu Bett bringen wollte.

Und dann lagen sie beide mit weitgeöffneten Augen in ihren heißen Kissen, und am nächsten Morgen ging Ulrike mit schweren Schritten zum Kriegsgerichtsrat, den sie Onkel nannte, weil er auch ein Delfert war und um achtzehn Jahre älter als sie und die Schwester.

Er galt außerdem als Chef der Familie, war ausschlaggebend in allen Fragen und erzwang sich die höchste Autorität durch die Tadellosigkeit seines Lebens.

Sollte eine Delfert an ihrer Ehelosigkeit zugrunde gehen? Sollte sie hinter die vergitterte Zelle eines Sanatoriums kommen?

Vielleicht dachte der Kriegsgerichtsrat, daß Ulrike übertrieben hätte, als Dora ihm so ruhig, so mädchenhaft zurückhaltend ihr Jawort gab, das er sich wenige Tage später holte.

Die Anmut weiblicher Zärtlichkeit, mit der sie ihn umgab, ließ ihn völlig vergessen, daß er aus Familienrücksichten eine Delfert hatte »retten« wollen.

Ulrike beobachtete, wie er täglich schneller die zwei Treppen zu ihrer Wohnung heraufeilte, wie die Blumen, die er brachte, täglich gewählter waren in Farbe und Zusammenstellung, wie er selbst es war, der immer dringlicher die Veröffentlichung der Verlobung verlangte, als fürchtete er, es könne im letzten Augenblicke noch etwas dazwischen kommen.

Der Geheimrätin war es gleich, welche von ihren Töchtern den Kriegsgerichtsrat heiratete. Im stillen hatte sie immer noch gehofft, Dora würde eine glänzendere Partie machen, und es Ulrike beinahe verdacht, daß sie so eilig auf eigene Versorgung verzichtete; aber dann dachte sie wieder, daß es auch ihr selbst nur angenehm sein könnte, wenn sie eine Tochter zu persönlicher Bequemlichkeit behielt.

Sie wollte das Hausmädchen entlassen, Ulrike würde eine perfekte Kammerjungfer abgeben, eine famose Pflegerin bei Unpäßlichkeiten und Krankheit.

Man hatte all die Jahre doch sehr über die Verhältnisse gelebt und das kleine Kapital halb aufgebraucht, das der Regierungsrat den, Seinen hinterlassen hatte, um die Töchter sicherzustellen nach dem Tode der Mutter.

Die Geheimrätin rechnete nicht gerne, aber sie konnte sich der Tatsache nicht verschließen, daß ihrer Ältesten, wenn sie selbst erst die Augen zumachte und somit die Pension fortfiel, nicht mehr als sechshundert Mark jährliche Zinsen verblieben.

Sie baute allerdings darauf, daß Thomas ein wohlhabendes Mädchen heimführte. Wenn dann der Kriegsgerichtsrat und Thomas zusammenlegten, konnte Ulrike ganz gut durchkommen. Ein bißchen auf Almosen war ja jede vermögenslose Beamtentochter gestellt, aber das war immerhin weniger peinlich, als wenn sie plötzlich gezwungen wäre, einen Erwerb zu suchen.

Zur Lehrerin war sie ohnehin zu alt. Zweiunddreißig Jahre!

Wenn Dora erst verheiratet war, wollte Ulrike einen Krankenkursus durchmachen. Warum nicht? ...

Eine geübte Krankenpflegerin konnte man in der Familie immer gut brauchen. Diese fremden Schwestern waren durchaus keine Annehmlichkeit. Jede Familie hatte ihren dunklen Punkt... Wer konnte wissen, was man im Fieberwahn mal' sprach? Da war es, besser, es blieb in der Familie.

Die Geheimrätin dehnte sich ordentlich wohlig, wenn sie dachte, daß sie einst in Ulrikens starken Armen selig und in Frieden entschlummern würde. ...

Sie sah sehr stattlich aus, die Frau Geheimrat, als sie in ihrer violetten Seidenrobe aus dem Schlafzimmer rauschte und noch einen letzten prüfenden Blick auf die Tafel warf.

Für Repräsentation hatte sie immer Geschmack und Verständnis besessen.

»Gut so ... sehr nett.«

»Hermann ist mit Dora im Salon,« sagte Ulrike und streute eine Hand voll weißer und gelber Blüten über den hellen Brokatläufer.

In diesem Augenblicke läutete es, und das, Mädchen brachte einen Rohrpostbrief.

»Also, was sagst du, Ulrike?! Es ist eine unerhörte Rücksichtslosigkeit von Thomas! Er fühlt sich nicht wohl und kann nicht kommen!«

Die Geheimrätin zog mit zitternden Händen den schwarzen Spitzenschal fester um die Schultern.

»Eine unerhörte Rücksichtslosigkeit! Erstens hätte er telephonieren können ...«

Ulrike eilte an den Apparat, der im Korridor angebracht war.

Der Bruder wohnte in einer Pension in Moabit. Sie fand es selbst nicht sehr richtig, daß er schriftlich absagte – zur Verlobung seiner Schwester. Erregter, als es ihre Art war, telephonierte sie dem Mädchen, der Herr Amtsanwalt möchte unbedingt selbst an den Apparat kommen, unbedingt selbst! Und sie wartete mit fliegendem Atem und tausend Gedanken, die bald der voraussichtlichen Mißstimmung der Mutter, der gestörten Tischordnung und den pikierten Redensarten der älteren Herrschaften galten, die ja gar nicht ausbleiben konnten.

»Ja ... Ulrike ...«

Ihr fiel der schleppende Ton nicht auf. Sie ließ den Bruder gar nicht zu Worte kommen.

»Hör' mal, Thomas, wie kannst du nur! Ein Fest, das harmonisch verlaufen soll, zu dem die ganze Familie erwartet wird – und wegen einer kleinen Erkältung läßt du uns im Stiche! Mama ist außer sich! Der Konsistorialrat hat ohnehin eine Pike auf uns, weil du zu Neujahr keine Visite bei ihm gemacht hast. Und er soll doch die Tischrede halten. Ich bitte dich, Thomas, nimm dich zusammen! Wenn du dich beeilst, kannst du mit zehn Minuten Verspätung hier sein! Die Bouillon lasse ich dann im Salon servieren, bevor man zu Tisch geht. Du weißt, Professor Roth sieht immer auf die Uhr und wird ungemütlich, wenn man nicht militärisch pünktlich ist. Überdies mußt du seine Frau zur Tafel führen. Sie hat es sich förmlich ausbedungen. Es gibt die widerwärtigsten Verwicklungen, wenn du nicht kommst . ..«

Sie war ganz außer Atem. Außerdem klingelte es schon im Entree. Da war nicht viel Zeit zu verlieren.

»Mir ist wirklich gar nicht gut,« antwortete der Bruder, »und um neun muß ich schon auf dem Gerichte sein.«

Ulrike fiel ihm ins Wort:

»Na ja, also, es wird schon gehn! Mach' nur fix! Mit dem Auto bist du in zehn Minuten da. Zehn Minuten zum Ankleiden. ... Auf Wiedersehn... Schluß!«

Als sie in den Salon trat, wurde das Brautpaar umringt und beglückwünscht. Der Kriegsgerichtsrat hatte seinen sonst etwas borstigen Schnurrbart wohl den ganzen Tag in der Binde gehabt, so sanft sah er aus. Und Dora an seiner Seite, mit dem stark gewellten blonden Haar, den roten, frischen Lippen, den verschleierten blauen Augen, schmiegte sich an ihn, vertrauend, erwartungsvoll und dankbar.

Professor Roth zog Ulrike in den Erker:

»Sag' mal, Mädel, solltest du nicht eigentlich ... hm ... ich meine... es hieß doch, du würdest den Hermann heiraten!« ...

Ulrike lachte ziemlich natürlich:

»Ich, Onkel? Was fällt dir ein. Dora ist doch Hermanns alte Liebe.«

»So ... so. ... Na dann ist's ja gut. Mir war da einiges über Dora zu Ohren gekommen. ... So einen alten Praktikus, wie mich, führt man nicht hinters Licht. Also, Hand her, Mädel. Bist ein tapferer Kerl!«

Ulrike dirigierte die Bouillontassen in den Salon, und die Geheimrätin blickte alle zwei Minuten auf die Empireuhr, denn der Konsistorialrat sagte bereits zum drittenmal:

»Als Sohn des Hauses hätte Thomas die Verpflichtung gehabt, die Gäste mitzuempfangen.«

Der Amtsanwalt Dr. Thomas Delfert hatte nach dem telephonischen Gespräche mit seiner Schwester das unangenehme Gefühl eines gemaßregelten Schuljungen.

Er hüstelte, fuhr sich mit der hageren, weißen Hand über die Schläfe und fing an, Toilette zu machen.

Es nützte nichts, daß er sich seit zwei Jahren selbständig gemacht hatte. Die Familie hing immer am andern Ende der Telephonstrippe.

»Was machst du heute?« ... »Wo bist du morgen?« ... »Warum kamst du nicht gestern?«

Wenn er abgespannt und nervös vom Gerichte kam, hieß es gewiß: »Die Frau Geheimrat oder »das Fräulein Schwester haben angeläutet«.

Manchmal mußte er von Tisch aufstehen.

»Frau Geheimrat ist am Telephon.«

»Ich bin gerade bei Tisch, Mama ...«

»Ja, nur einen Augenblick, mein Junge. Denke dir, der Sanitätsrat war da. Ich soll jeden Morgen ein Glas Karlsbader Wasser trinken.«

»So ... ja, verzeih, Mama ... das Essen wird mir kalt.«

»Bitte, mein Kind, ich will nicht stören. Ich dachte nur, du hättest Interesse an dem Wohlbefinden deiner Mutter.«

»Aber gewiß, Mama, selbstverständlich...«

»Herr Doktor, der Fisch ist längst serviert,« sagte das Mädchen.

Thomas winkte ab. Augenblicklich hörte er einen Vortrag über die mütterliche Leber. Da die Mama sehr detailliert erzählte, konnte er auf die Weise auch um den Braten kommen. Leise hängte er ab. Um nachzukommen, würgte er den Fisch so schnell hinunter, daß ihm fast eine Gräte im Halse steckengeblieben wäre.

Eine Stunde später klingelte eine der Schwestern an: Mama wäre aufs höchste gekränkt. Wie konnte er denn nur abhängen?! Mama hätte sich erst eine halbe Stunde mit der Telephondame herumgezankt, weil sie nicht glauben wollte, daß Thomas so ungezogen gewesen wäre. Das beste wäre aber, er käme selbst, sich entschuldigen.

Er könnte nicht. Er hätte Akten durchzulesen.

Dora schmollte.

»Lächerlich, Thomas. Es ist ja zum Einschlafen dasselbe. Hundert Mark Strafe oder eine Woche Gefängnis. Du hast ja nicht einen einzigen interessanten Fall. Und ob der Angeklagte Schulze oder Müller heißt – darüber kannst du dich vor der Sitzung orientieren.«

Dora lachte gerne ins Telephon hinein.

»Wenn du kommst, ziehe ich mein neues hellblaues Kleid an. Dir zu Ehren. Für dich ganz allein, mein Herr Bruder ...«

Und er mußte unwillkürlich lächeln, dankte der Schwester die harmlose, kleine Koketterie, für die er so empfänglich war, und die bei fremden Frauen hervorzurufen seine Schüchternheit ihn hinderte.

»Ich werde mal sehen, Dora, grüß' Mama.«

Um vier Uhr brachte ihm der Gerichtsbote neue Akten. Die Gleichartigkeit der Fälle war eher eine Erschwerung als eine Erleichterung. Dazu kam seine peinliche Gewissenhaftigkeit, ein menschliches Mitleidsgefühl für den armen Teufel dort auf der Anklagebank, dem er rächendes Schicksal sein sollte.

Eigentlich hatte Thomas Delfert Philologe werden wollen. Aber die Familie hatte ihr Veto eingelegt.

Er sollte nur Jus studieren, der gute Thomas, wie es bei den Delferts Tradition war. Jede Generation mußte ihre zwei, drei Dr. Jur. aufweisen. Auch der Vater war Dr. Jur. gewesen.

Thomas hatte bei diesen Erörterungen geäußert, er wolle mit Menschen und nicht mit Aktenmaterial zu tun bekommen. Der Gedanke, im Bureaudienst sein Leben zu verbringen, war ihm unerträglich. Wenn er nicht Lehrer sein durfte, wollte er Rechtsanwalt werden.

Und abermals wurde er von allen Seiten gedrängt, diese Idee aufzugeben. Nur die Staatanwaltskarriere war der Delferts würdig. Ein Großonkel und ein Vetter mütterlicherseits waren sehr bedeutende Staatsanwälte gewesen. Die Delferts hatten von jeher dem Staate gedient. Rechtsanwälte waren eigentlich Frondeure. Sie brachten einen unerquicklichen, oppositionellen Geist in die Familie. Und überhaupt...

Er war zu jung damals, um gegen den Willen der Familie aufzukommen. Und wenn er später wie ein störrisches Pferd manchmal sein Sattelzeug abwerfen wollte, dann stellte sich die Familie um ihn herum und fing ihn mit dem Lasso hergebrachter Redensarten von Pflicht, Pietät und Sohnesliebe ...

Doras plötzliche Verlobung begriff er nicht, fand dieses changez-les-dames des Kriegsgerichtsrats, das so gar nicht im Einklang mit der sonstigen Bedächtigkeit der Familie stand – beinahe frivol. Hätte sich am liebsten von dem Feste ferngehalten.

Ulrikes brüske und bestimmte Art rüttelte ihn auf, beschämte ihn. Er wußte nicht, wieviel sie aufgegeben hatte. Er ahnte es nur. Und er fühlte, daß er diesen Mut nie besitzen würde...

Die Geheimrätin atmete auf, als sie die überschlanke, elegante Gestalt des Sohnes in den Salon treten sah.

Aber sie machte doch »ein Gesicht«. Denn es war unverantwortlich von Thomas, ihr an diesem Abend eine Aufregung bereitet zu haben. Auch der Konsistorialrat machte »ein Gesicht«.

Szenen gab es selten in der Familie. Aber dafür – »Gesichter«. Eine Skala von Gesichtern in meisterhaften Abstufungen. Konsistorialrat Delfert exzellierte darin. Jetzt war das vornehm-pikierte an der Reihe. Und die Geheimrätin verschärfte das ihre, indem sie etwas Vorwurfsvolles hineinmischte.

Thomas sprach in solchen Fällen mit »geschlossenen Augen«. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß nur in der Nichtbeachtung die Möglichkeit friedlichen Ausgangs einer gespannten Situation lag.

Er drückte freundlich die feste, fleischige Hand des Konsistorialrats und küßte die Mutter auf das silbergraue, modern frisierte Haar.

Jetzt kam der Kriegsgerichtsrat mit jugendlicher Lebhaftigkeit auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln, früher – ein beinahe gefürchteter Vormund – jetzt– ein Bräutigam, der um die Gunst der Familie seiner Braut warb.

»Ist mein Hermann nicht ein goldig schöner Mensch?« flüsterte Dora und hing sich in den, Arm ihres Verlobten ein.

Thomas lächelte ein wenig verlegen, wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Kriegsgerichtsrat diese naive Bewunderung aufnahm.

Dann kam Ulrike. Abgehetzt, mit roten Flecken auf den Wangen. Es war die höchste Zeit, daß man zu Tisch ging. Die Kochfrau lehnte jede Verantwortung ab für das Souper.

»Na, da bist du ja endlich!«

Sie drückte dem Bruder kaum die Hand, flüsterte ihm rasch zu:

»Du reichst Tante Roth den Arm,« und ging dann von einem zum andern, um ihm die Tischdamen zu nennen.

Frau Professor Roth war die Schwester des Kriegsgerichtsrats. Eine heitere, rundliche Frau, die sich in ihrer Familienanbetung durch die kaustischen Bemerkungen ihres Gatten zwar nicht beirren ließ, aber auch nicht vermochte, ihn selbst zu »delfertisieren«, wie er das nannte.

Seine Autorität als angesehener Arzt gab ihm übrigens eine gewisse Ausnahmestellung, die er gern und bewußt ausnützte.

Erst beim Braten wurde Ulrike ruhiger, hob ihr Glas, trank dem Bruder, dem sie gegenüber saß, zu.

Endlich schenkte der Lohndiener den Henckel trocken ein, und der Konsistorialrat drehte bedeutsam das dritte Brotkügelchen. Die Rede auf das Brautpaar stieg.

Es war die übliche Rede auf die Innigkeit der Familie Delfert, deren Bande durch diese Ehe noch fester wurden, die übliche Lobeshymne auf den Kriegsgerichtsrat.

»... Unser lieber Hermann, dessen treue Fürsorge für dieses Haus uns stets Bewunderung und Ehrfurcht einflößte, hat sich zum Lohne die köstlichste Blüte pflücken dürfen. Und so erfüllt uns am heutigen Tage nur Freude – ohne jede Befürchtung, wie sie sonst wohl angebracht, wenn ein fremdes Reis dem alten Baum aufgepfropft wird. Es sind Zweige eines Stammes, die sich zueinander neigen, genährt von gleichem Boden. Und darum dürfen wir vertrauensvoll in die Zukunft blicken, denn wir wissen alle, was auf diesem Boden gedeiht: Selbstverleugnung, Pflichtgefühl und Liebe ...«

So ging es ziemlich eine halbe Stunde weiter. Professor Roth und Thomas tauschten einen kurzen Blick aus.

Nach dem Souper faßte der Professor Thomas beim Frackrevers und brummte:

»Wir sind so begeistert von unserer Familie, daß wir nun schon zum viertenmal innerhalb der Familie heiraten und langsam dem Kretinismus entgegengehen.«

Thomas Delfert fuhr sich mit der nervösen, schlanken Hand über das sehr weiche, aber spärliche, hellbraune Haar und lächelte unsicher.

»Ja, ja, mein Junge – alles Zeichen der Entartung. Euer Konsistorialrat hat mich schon zweimal wegen seiner Hermine angekeilt, meinte – sie passe doch so gut zu meinem Hans. Na, ich hab' ihm schön heimgeleuchtet. Mit Naturwissenschaft kommt man bei ihm ja nicht durch, da bin ich ihm mit Zahlen gekommen. Hans, sagte ich, muß mindestens eine Frau mit einigen tausend Talern jährlich haben, damit er sich nicht so zu plagen braucht wie ich. Seitdem bin ich ein Rauhbein in seinen Augen.«

Der Professor fuhr sich durch seinen kurzen, harten Graubart, der seiner gedrungenen Gestalt etwas Gnomenhaftes gab und lachte lautlos in sich hinein. Dann hob er halb lachend, halb drohend den Finger:

»Junge, Junge ... ich fürchte beinahe, du bist outsider, wie ich. Na, macht nichts – Prost!«

Er trank ihm mit einem Glas Kognak zu, während Thomas dankend den Alkohol ablehnte.

»Hast recht, mein Junge, sei vorsichtig ...«

»Die degenerierten Organe, Onkel ...«

»Ja ... na! Unsere Dora sollte sich auch ein bißchen mäßigen.«

Doras Lachen, dieses entzückende, musikalische Lachen, drang immer lauter, immer häufiger durch das Stimmengewirr hindurch. Und dann hörte man nur noch Dora lachen und sprechen ... Sie schlug die Ecken des Teppichs zusammen. Sie wollte tanzen. Thomas mußte sich ans Klavier setzen und mit steifen Fingern immer wieder die zwei Walzer spielen, die er sich seit seinem fünfzehnten Jahr eingepaukt hatte.

Die noch jugendliche und sehr rundliche Frau Professor war gleich dabei. Sie tanzte auch für ihr Leben gern, arrangierte noch immer zwei Tanzkränzchen im Jahre, zu denen der Sohn seine Kollegen mitbringen mußte. Und flotter noch als ihre vier Töchter drehte sie sich im Kreise, maulte mit dem Sohne, der ihr das Vergnügen manchmal verdachte, während der Professor selbst mit philosophischer Ruhe den Moment abwartete, da seine Frau ächzend irgendwo in einen Sessel fiel und sich von dem Hausmädchen das Korsett aufschnüren ließ.

Dora war von hinreißender Laune. Die gemessene Festlichkeit, die sonst bei Familienversammlungen üblich war, durchbrach sie bis zur äußersten Grenze. Sie schlang beide Arme um den Hals des Kriegsgerichtsrat und verlangte, er solle so mit ihr tanzen.

Und es sah hilflos und lächerlich aus, als der korpulente Herr mit den kurzen Ärmchen und dem kurzen Atem sich wie ein Kreisel herumdrehte und nur ab und zu ein Wort fand:

»Dorchen ... genug ... Dorchen, ich kann nicht mehr ...«

Endlich blieb sie stehen. Lachend hielt sie ihm die halboffenen Lippen zum Kuß hin, und da er sich zu ihr herabbeugte, sehr verliebt und etwas verschämt, da haschte sie mit ihren weißen, spitzen Zähnen nach seinem Schnurrbart und hielt ihn fest und knabberte an den graublonden Borsten wie ein Eichhörnchen an einer Nuß.

»Dora ... sei vernünftig, Dora! ...«

Ulrike faßte das Handgelenk der Schwester, derb, mit der Absicht, ihr wehe zu tun, wenn sie nicht abließ von dem geschmacklos törichten Spiel.

Und Dora wurde nüchtern. Ganz plötzlich und mit einem leisen Unbehagen.

Der Professor und Thomas hatten die kleine Szene beobachtet.

Der alte Herr gab sich nicht die Mühe, sein ironisches Lächeln zu verbergen. Thomas aber wendete sich ab, verletzt und erschreckt.

Die Geheimrätin kam jetzt heran.

»Ist sie nicht reizend, unsere Dora? So viel Mutwillen hat sie sich bewahrt – wie ein Kind, nicht wahr?«

Sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen? War sie heroisch oder dumm?

»Ich würde euch raten, die Hochzeit recht bald zu machen,« meinte der Professor.

Die Geheimrätin kicherte hinter ihrem Fächer.

»Dafür sorgt schon Hermann. Er ist ja unsinnig verschossen. In drei, vier Wochen denke ich. Das Haus ist ja fertig und die Wäsche der ersten Aussteuer liegt unberührt in den Kisten. Noch einmal durchwaschen und plätten – und dann die paar Kostüme ... es ist wirklich ideal einfach.«

Thomas verabschiedete sich. Die Mutter hielt ihn kaum zurück. Sie war unzufrieden mit ihm, vermißte die Freude und Herzlichkeit. Nur Haltung konnte sie ihm nicht absprechen. Es war Delfertsche Würde an ihm, als er allen die Hand reichte, sein frühes Fortgehen mit seiner elenden Gesundheit entschuldigte und Dora in unterdrückter Bewegung die gelockerten blonden Haare aus dem erhitzten Gesicht strich.

Die Schwester legte ihre heiße Wange in seine kühle Hand, schmeichelnd, wie eine junge Katze.

»Du mußt mir sagen, welche Seife du gebrauchst, Thomas, deine Hände riechen so gut ... ach! ... So nach Blumen, nach weißen Rosen ...«

Ihre Nasenflügel vibrierten, ihre Lippen zuckten genüßlich, und sie wendete sich an den Kriegsgerichtsrat:

»Ich habe seine Seife so gern, und Wohlgerüche aller Art. Ich werde dir immer Parfüm auf dein Taschentuch träufeln ...«

Und der Kriegsgerichtsrat, der einst so gefürchtete Vormund, nickte selig.

»Gewiß, Dorchen, herzlich gerne ...«

Während Thomas im Vorzimmer seinen Mantel umnahm, glitt Ulrike herein.

»Danke, Thomas, daß du gekommen bist. So lief doch alles halbwegs glatt ab.«

»Wieso halbwegs? Bei uns ist doch immer alles ein Herz und eine Seele.«

Sie überhörte die leise Ironie, ließ sich erschöpft auf eine Truhe nieder, die unter den Mänteln fast verborgen schien.

Das grelle Gaslicht gab ihrem abgespannten Gesicht etwas Fahles, Leidendes, das ihm leid tat. Er streifte – korrekt wie immer – seine rehledernen Handschuhe über.

»Ihr seid in den letzten Jahren ordentlich auseinandergewachsen, Dora und du,« sagte er nachdenklich. »Früher wart ihr euch zum Verwechseln ähnlich, und jetzt – ich glaube, Ulrike, auch dein Haar ist nachgedunkelt. Dora ist noch immer hellblond – und du beinahe braun wie ich.«

»Ja ... ich hatte nicht viel Zeit, mein Haar zu pflegen.«

Er scherzte, hob das Kinn der Schwester zu sich empor.

»Na, das wird jetzt anders werden. Wenn Dora erst verheiratet ist, dann gehörst du mehr dir an.«

»Ja ... aber dann kommt erst Mama.«

»Natürlich, Mama.«

Er schloß den letzten Druckknopf. Aus dem Salon drangen die Töne einer Polka, die Mama spielte.

»Tante Roth war eigentlich pikiert, daß du sie nicht zum Tanzen aufgefordert hast.«

»Na! Also wenn ihr Hofetikette einführen wollt, dann sagt es vorher.«

Sie lenkte ab.

»Laß nur, es ist ja auch ganz egal.«

Sie gaben sich die Hand. Und plötzlich neigte sich Thomas Delfert über die Hand seiner Schwester und küßte sie.

Ulrike wurde rot. Die kleine Galanterie des Bruders machte sie ganz verlegen. Sie hatte ihm noch so manches sagen wollen. Aber jetzt war es vorbei damit. Nur seine Finger hielt sie fest.

»Wenn du erst verheiratet bist – dann wird alles gut,« sagte sie hastig.

Er aber schüttelte lächelnd den Kopf.

»Komische Manie habt ihr Frauen, alles zu verheiraten, was ledig herumläuft ...«

Er drückte ihr noch flüchtig und ein bißchen abgekühlt die Fingerspitzen. Dann ging er.

Seltsam, wie wohl ihm auf der Straße war. Als wäre ein schwerer Druck von ihm gewichen! Gewiß, er hatte ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Familie, aber wenn sie in pleno versammelt war, legte es sich ihm jedesmal wie ein Alp auf die Brust.

Immer war es so gewesen. Schon da er nach Tisch als Kind hereingerufen wurde, seinen Kratzfuß zu machen ...

Die Nachtluft war kühl, und der Professor sagte ihm öfter als ihm lieb war: »Mein Junge, hüte dich vor Erkältungen.« So gab er denn die Idee auf, noch irgendwo eine Tasse Tee zu trinken und zu Fuß nach Hause zu gehen.

Er mußte ja auch wirklich noch die Akten durchsehen zu morgen.

Und während er in der Elektrischen saß, die von der Maaßenstraße nach der Turmstraße führte, wo seine Pension lag, überdachte er die Fälle, in die er morgen wieder als Arm der Gerechtigkeit einzugreifen hatte.

Da war erst mal ein sechzehnjähriger Bengel, der seinem Vormunde zehn Mark gestohlen, um sich mit ein paar Kameraden in der Hasenheide zu amüsieren, dann ein Schlosserlehrling, der einem Gemüsehändler einen Sack Kartoffeln gestohlen, eine Radfahrerin, die versucht hatte, den sistierenden Beamten zu bestechen ...

Thomas Delfert lächelte. Der Fall kam gewiß in die Frühstückspause hinein. Beamtenbestechung! Das war schon eine Beratung von fünfzehn Minuten wert.

Und dann noch ein Baumeister, der einem seiner Arbeiter zwei Tage Lohn zurückgehalten und ihn mit Schlägen vom Bauplatze gejagt hatte ...

Er gähnte. Seine Lider senkten sich tief über seine Augen und an der Lessingstraße schlief er ein ... Gemüsehändler, Schlosserlehrling und Baumeister tanzten in seinem unruhigen Rüttelschlaf einen fröhlichen Reigen mit Dora, dem Kriegsgerichtsrat und dem Professor. Es war alles eine Familie, eine glückliche, friedliche Familie! ...

Am nächsten Morgen hatte Thomas Delfert wüste Kopfschmerzen, und der Vorsitzende sagte ihm bei der Begrüßung im Korridor:

»Mein lieber Assessor, Sie müßten etwas für sich tun. Sie sehen wirklich käsig aus. Strengen Sie sich heute nur nicht an. Die Fälle liegen klar auf der Hand und sind Ihrer milden Individualisierung gar nicht wert.«

»Weiter,« sagte der Vorsitzende zum Gerichtsdiener und legte den Finger quer über die Lippen, um das Gähnen zu unterdrücken.

»Bogatoff und Zeugen!« schrie der Gerichtsdiener in den Korridor hinaus.

Es dauerte eine Weile, ehe sich jemand meldete. Dann kamen zwei Schutzleute herein, ein gewöhnlicher Mann mit rundem, kurzgeschorenem Kopf, ein junger, sehr blonder und sehr eleganter Herr von vielleicht fünfundzwanzig Jahren und zum Schluß eine junge Dame in halblanger, schwarzer Krimmerjacke und einem tief ins Gesicht gedrückten Pelzbarett mit einem Reiher auf der linken Seite.

Der Gerichtsdiener bedeutete ihr, auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Der junge, blonde Herr wurde ganz blaß und prallte zurück, die Dame aber zuckte die Achseln und lächelte ironisch.

»Ich bitte, Borris, keine Geschichten,« murmelte sie ihm französisch zu, und als wäre sie im Salon und im Begriff, sich am Kamin in einem seidengepolsterten Sessel niederzulassen, so rückte sie sich in der Ecke der Anklagebank zurecht, öffnete ihren Mantel und ließ die kostbaren Spitzen ihres Jabots herausquellen.

Ein weicher und doch irritierender Duft verbreitete sich im Raume.

Delfert blickte auf. Und gleich darauf, ganz unwillkürlich, gab er die nachlässige Haltung auf, in der er gesessen, und machte eine unmerkliche Bewegung, durch die sich der Ärmel seiner Robe hinaufschob und ein Streifen seiner leuchtend weißen Manschette sichtbar wurde.

»Sie heißen? Wann und wo sind Sie geboren?« ... fragte der Vorsitzende, nachdem der Aufruf der Zeugen beendet war und alle den Saal verlassen hatten.

Lässig stand die Angeklagte auf. Sie war kaum über Mittelgröße. Ihre dunklen, grauen Augen mit den kurzen, schwarzen Wimpern glitten gleichmütig an der grauen Wand entlang, knapp über dem Haupte Thomas Delferts.

»Ich heiße Lyda Bogatoff, bin in Petersburg geboren, in Moskau erzogen. Mein Vater war eine Zeitlang Gehilfe des Finanzministers, starb vor sechs Jahren in seinem Bette. Meine Mutter ist eine geborene Gräfin Yssoff. Ich weiß nicht, ob sie wieder verheiratet ist. Ein Bruder von mir wurde im Vorjahr in Kiew gehenkt, ein Vetter vor sechs Monaten in Odessa. Mein Vormund starb vor zwei Jahren in Sibirien, während des Transports auf einem Karren. Ich bin ledig, dreiundzwanzig Jahre alt. Nicht vorbestraft. Ich bin nach Deutschland gekommen, weil ich mich weder für Politik noch für meine Familie interessiere. Ich wohne seit drei Monaten in Berlin, Pension Pfälzer in der Tauentzienstraße, mit meiner russischen Zofe, und besuche die Malschule von Professor Roden.«

Der Vorsitzende unterbrach mit keinem Worte diese fast über Gebühr lange und detaillierte Vorstellung. Das Organ der jungen Russin hatte den wundervollen Klang tiefer Glocken, und der fremdländische Akzent, das Singende der Aussprache gab ihren Worten einen seltsamen Reiz.

Sehr höflich sagte der Vorsitzende:

»Bitte, wollen Sie uns den Hergang der Angelegenheit erzählen.«

»Gerne. Ich habe mit Herrn Borris Ljubowski – den ich als Landsmann in der Malschule kennen gelernt habe – einen Radausflug gemacht, nach Saatwinkel. Die Chaussee ist ja fürchterlich! Ich radelte also auf dem Wege für Fußgänger. Das konnte wahrhaftig keinen Menschen genieren; denn es war nirgends jemand zu sehen. Da kam plötzlich so ein Kerl hinter einem Baum vor –«

»Wen meinen Sie?« unterbrach der Vorsitzende und zog die Brauen zusammen.

»Na, den Gendarm, natürlich.«

»Sie sprechen von einem Beamten in Ausübung seiner Berufspflicht,« rügte der Vorsitzende scharf.

Die junge Russin richtete ihre dunklen Augen verwundert auf Thomas Delfert und lächelte. Und so reizvoll, so vertrauensvoll und souverän war dieses Lächeln, daß er – ohne es selbst zu wissen – ebenfalls lächelte, ganz leise, als hätte ihr Mienenspiel das seine unbewußt ausgelöst.

Plötzlich wendete er sich ab, wie erschreckt über diese intime Verständigung mit einer »Angeklagten«. Lyda Bogatoff aber lächelte weiter und meinte sorglos:

»Bei uns nennt man alles so was ›Kerl‹.«

»Bitte weiter ...«

»Ja, weiter ... Ach verzeihen Sie, es ist so heiß hier.«

Ohne sich zu beeilen, ließ sie ihre Krimmerjacke auf die Bank gleiten, und stand nun da in einem englisch geschnittenen grünen Tailormade, das ihre kräftige und doch sehr mädchenhafte Gestalt wie ein Trikot verräterisch umspannte.

Und wieder trug eine Luftwelle denselben feinen, irritierenden Duft durch den Raum. Sie fuhr fort:

»Genau weiß ich nicht mehr. Der Kerl, Gendarm, meine ich, rief mich an. Ich glaubte, er wollte mich auf den Defekt meines Rades aufmerksam machen und sprang ab. Aber er verlangte meinen Namen und meine Adresse. Ich hätte sie ihm ja ruhig gegeben, aber mein junger Landsmann, Herr Ljubowski, mischte sich ein. Und der macht immer nur Dummheiten, das nennt er Kavalierspflicht. Er mischte sich also ein, sagte was von ›Teufel holen‹ oder so. Der Polizeimensch wurde grob und da platzte mir auch die Geduld. Ich warf ihm nun ein Goldstück zu und sagte, er solle mich zufrieden lassen. Da war aber auch schon ein zweiter Gendarm von irgendwoher gekommen, und weil sie beide furchtbar schnell und berlinerisch sprachen, verstand ich sie nicht und dachte nur, der zweite Kerl wollte vom ersten die Hälfte der zehn Mark haben. Gutmütig, wie ich bin, warf ich nun dem zweiten Menschen auch ein Zehnmarkstück hin und rief ihm zu: ›Da, friß!‹ Und weil in diesem Augenblick ein Mann vorbeifuhr in einem Korbwagen, rief ich ihn an, um ihn zu bitten, daß er uns von diesen ekelhaften Leuten befreit und ich könnte nicht mehr tun, als ihnen zwanzig Mark geben, das wäre meiner Meinung nach gerade genug, und wenn sie mehr wollten – dann wäre es Erpressung, weil ich eine schutzlose Dame sei. Denn der junge Mensch, mein Landsmann, das ist wirklich kein Schutz auf der Landstraße. Der ist nur im Salon zu brauchen für Fächertragen und so ...«

Der Vorsitzende selbst unterdrückte mühsam ein Lächeln, dann sagte er:

»Sie haben schließlich den Schutzleuten hundert Mark angeboten, wenn sie Sie losließen.«

»Natürlich! Aber, ich bitte Sie, Herr Präsident, ich kann mich doch nicht als Dame so behandeln lassen auf der Chaussee. So einsam der Weg war, aber schließlich hatten sich doch zwanzig bis dreißig Leute angesammelt. Es war ganz abscheulich! Ich hätte nicht hundert, ich hätte gern zweihundert Mark gegeben, um davonfahren zu können. Und ich habe den Mann aus dem Korbwagen sogar zum Zeugen genommen, daß ich das Geld wirklich zahlen will – damit mir die Kerls glauben. Mehr als fünfzig Mark hatte ich doch gar nicht bei mir! ...«

Sie hatte sich ganz warm gesprochen, das Barett war ihr leicht in den Nacken gerutscht und eine Welle rostbraunen Haares mit leuchtenden, kupferigen Reflexen fiel ihr über die schmale, sehr weiße Stirn, fast bis zu den sehr dunklen Brauen herab.

»Die Zeugen!« gebot der Vorsitzende.

Die junge Russin zuckte die Achseln, zog einen kleinen Taschenspiegel aus ihrer goldenen Tasche und steckte sich mit einer Lockennadel die losgelöste Haarwelle fest. Sie unterbrach ihre Beschäftigung auch nicht, als der erste Gendarm seine Aussagen machte.

Es verhielt sich ja im großen und ganzen alles so, wie die Angeklagte erzählt hatte. Nur der Gesichtspunkt war ein anderer.

Nach einer Viertelstunde kam noch ein Herr herein, mit Zwicker an einer goldenen Kette: der Rechtsanwalt. Er schien es unendlich eilig zu haben und sah in einem fort auf die Uhr.

Wenn seine Klientin mitten in eine Zeugenaussage hinein mit einem »zu dumm ist das« hineinplatzte, beschwichtigte er sie mit einer leisen und doch nachdrücklichen Bewegung. Schließlich wurde sie ungeduldig.

»Ach, ich bitte Sie, Herr Rechtsanwalt, ich weiß doch schließlich am besten, wie sich alles zugetragen hat, und ich habe Rußland nicht verlassen, um hier wieder einen Knebel in den Mund zu bekommen, wenn ich etwas sagen will. Formalitäten sind sehr schön; aber die Hauptsache ist doch der gesunde Menschenverstand.«

Sie schlüpfte wieder in ihre Jacke und drehte den Zeugen den Rücken, als ginge sie die ganze Sache weiter nichts an.

Es wurde noch hin und her gefragt, hin- und her geantwortet. Die Angeklagte saß mit über der Brust gekreuzten Armen, finster zusammengezogenen Brauen in ihrer Ecke und schlug mit dem Fuße den Takt auf dem Boden.

»Haben Sie noch etwas zu den Aussagen zu bemerken?« fragte der Vorsitzende, ein bißchen geärgert durch den zur Schau getragenen, fast impertinenten Gleichmut.

Die Russin antwortete nicht. Wie ein störrisches Kind verharrte sie in der gleichen Pose und nagte mit den Zähnen an der Oberlippe.

»Ich frage Sie, Fräulein Bogatoff, ob Sie etwas zu bemerken haben?« wiederholte der Vorsitzende gereizt.

Die Stimmung wurde ungemütlich.

»Gnädiges Fräulein,« mahnte der Rechtsanwalt.

»Nein,« mischte sich Thomas Delfert ein. Ganz instinktiv. Wie er immer instinktiv aufstand, wenn eine Dame sich vergeblich nach einem Platz in der Elektrischen umsah. »Es wäre doch wesentlich, zu erfahren, ob die Angeklagte einen annähernden Begriff hat von den Funktionen und Rechten eines deutschen Beamten, in diesem Falle – des Gendarmen.«

»Ich meine, das gehört ins Plädoyer des Rechtsanwalts,« unterbrach der Vorsitzende.

Unausstehlich, dieser Delfert! Komplizierte wieder ganz überflüssigerweise einen so einfachen Fall! ...

Die junge Russin aber blickte auf. Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Ein bißchen spöttisch, ein bißchen resigniert. Dann nickte sie lebhaft.

»Das ist die erste vernünftige Frage, mein Herr...«

Der Vorsitzende schlug mit zwei Fingern auf den Tisch, und krebsrot stieg es ihm zu Kopf.

»Ich muß sehr bitten. Sie werden sich eine Ordnungsstrafe zuziehen, Angeklagte.«

Sie tat, als hörte sie das nicht, stand wieder langsam auf, stützte sich mit dem Arm auf die Barriere, wie auf die Brüstung einer Loge.

»Was Ihre Beamten in Ihrem Lande für wichtige Personen sind – erfahre ich jetzt zum erstenmal. Bei uns machen wir nicht so viele Umstände. Drei Rubel ist die Taxe, wenn man was von so einem Kerl haben will, und ein Glas Schnaps allenfalls. Und dem Polizeileutnant geben wir zwanzig Rubel. Das ist der ganze Unterricht! Aber ich sehe schon, meine Heimat ist doch das freieste Land – wenn man keine Politik treibt. Ich bitte Sie, hier können Sie dem Kaiser im Reichstage Grobheiten sagen, und dürfen sich auf der Straße nicht schneuzen, wenn es dem Herrn Schutzmann nicht gefällt.«

»Sie haben keine Kritik an der bestehenden Ordnung zu üben, Angeklagte, das kommt Ihnen an dieser Stelle nicht zu.«

Der Vorsitzende wurde gallig.

»Ich will nur sagen: wir zu Hause – machen alles mit Geld ab. Und Geld anbieten, ist bei uns keine Beleidigung. In Deutschland macht man das vielleicht delikater, aber ich habe mir doch auf der Chaussee nicht überlegen können, wie man es hier macht.«

»Die Beweisführung ist geschlossen. Bitte.«

Und mit einer kurzen Bewegung forderte der Vorsitzende Delfert auf, zu resümieren und das Strafmaß festzusetzen.

Delfert begann. Es war mehr eine Verteidigung als eine Anklage. Und der Vorsitzende meinte – als er gleich darauf dem Rechtsanwalt das Wort erteilte – mit sarkastischem Lächeln:

»Der Herr Amtsanwalt hat Ihnen nicht viel zu sagen übriggelassen, ich bitte Sie daher, sich kurz zu fassen.«

Die beiden Plädoyers gipfelten darin, daß die Angeklagte als junge Ausländerin keinen Begriff von der Tragweite ihrer Handlungen hatte, wobei das Plädoyer des öffentlichen Anklägers bei weitem wärmer und länger war, als dasjenige des Verteidigers.

Endlich zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück.

Der Rechtsanwalt trat an seine Klientin heran:

»Sie bedürfen meiner wohl nicht mehr. Es wird schlimmstenfalls eine kleine Geldstrafe für Sie herauskommen. Im übrigen scheinen gnädiges Fräulein in Herrn Amtsanwalt Delfert den besten Verteidiger gefunden zu haben.«

Lyda Bogatoff lächelte und reichte dem Anwalt die Fingerspitzen.

»Sehr netter Mensch. Wie heißt er? Delfert? Ich werde ihn zu mir zum Tee bitten.«

»Nehmen Sie sich in acht! Noch eine Beamtenbestechung!«

Und wie ein Schauspieler sich einen Abgang macht, so verließ der Herr Verteidiger nach diesem Worte den Saal.

Der kleine Ljubowski trat vorsichtig auf den Zehenspitzen an die Barriere heran.

»Ach, Lyda Ivanovna, ich bin untröstlich! Diese Unannehmlichkeit – schrecklich!«

»Wachen Sie kein solches Schafsgesicht, Borris. Sie sehen kompromittierend ängstlich aus. Sie hätten als Mousselinfräulein auf die Welt kommen sollen, nicht als Mann. Schöner Kavalier – ich danke!«

Delfert trommelte mit dem Bleistift nervös auf dem Tisch. Worüber unterhielt sie sich jetzt mit diesem blonden Jüngling. Lächerlich wirkte er neben ihr! Ganz lächerlich. Und überhaupt war es unstatthaft, daß sich die Angeklagte mit dem Zeugen unterhielt. Gänzlich unstatthaft.

Er räusperte sich und warf einen verweisenden Blick auf den jungen Russen. Der schrak zusammen und tänzelte elegant zu seinem Platze zurück ...

Die Sonne schien hell und warm durch die hohen Fensterscheiben.

Delfert atmete schwer auf.

Jetzt hinausgehen. Durch den Tiergarten gehen, langsam, in der weichen Märzfrische ... und die tiefe Stimme hören, die wie eine Glocke klang ... und den wunderbaren Duft einatmen ... ganz nah ... und noch einmal das reizende Lächeln sehen, das die kurzen, festen Zähne freilegte und den Mund so eigen nach oben schürzte. Aber noch fünf Minuten, noch zehn bestenfalls – dann ging sie.

Und die Sonne würde verschwinden, und auf der Bank dort drüben einer jener vielen Bauschieber sitzen, mit dicker Goldkette und kurzen, fetten Händen.

Die Tür vom Beratungszimmer öffnete sich.

Schon! dachte Delfert.

Es fiel ihm nicht auf, daß die Herren heute länger noch als sonst ihre Frühstückspause ausgedehnt hatten. Der Vorsitzende war diesmal für »exemplarische« Strenge. Dreißig Mark hatte Delfert beantragt. Es war geradezu ein Hohn! Diese Liebenswürdigkeit Ausländern gegenüber müßte endlich mal ein Ende nehmen. In Anbetracht des Bildungsgrads der Angeklagten, in Anbetracht auch, daß dreißig Mark für die offenbar in glänzenden Verhältnissen lebende Russin keine Strafe bedeuteten – müßte auf eine Verdreifachung der beantragten Strafe erkannt werden.

Als der Vorsitzende das Urteil verkündete, zuckte Delfert unmerklich die Achseln. Die Angeklagte aber hielt ihren großen Muff, auf dem ein großer Veilchenstrauß angebracht war, vor den Mund und machte sehr ernste Augen. Auf die entlassende Gebärde des Vorsitzenden neigte sie ungemein graziös ihren hübschen Kopf und ging aus der Tür, die ihr junger Landsmann mit galanter Geste vor ihr aufhielt.

Eine Stunde später konnte Delfert seinen Talar ablegen.

Unruhe war in ihm und eine leise Trauer. Dabei schien es ihm, als schwebe in dem nüchternen Gange noch immer der seine, irritierende Duft von vorhin.

Langsam schritt er die Steintreppe hinunter, sah sich um in der weiten, gewölbten Vorhalle. Er traute kaum seinen Augen, als er die junge Russin erblickte, die einer Zeitungsfrau ein Mittagsblatt abkaufte. Er griff an den Hut. Sie nickte ihm zu, beinahe vertraulich.

»Wollen Sie mir helfen, Herr Staatsanwalt, die gute Frau kann mir meine zehn Mark nicht wechseln. Ich bitte ... ja?«

Er griff in seine Westentasche, holte ein Nickelstück heraus, drückte es der Frau in die Hand.

»Es ist mir eine Freude, gnädiges Fräulein.«

Sie hielt ihr Zeitungsblatt in der Hand und sah ihn lachend an.

»Danke schön. Und nun führen Sie mich noch zu einer Autohaltestelle. Ich kenne mich in der Gegend nicht aus. Den kleinen Ljubowski habe ich fortgeschickt, weil er mir auf die Nerven ging! Es ist schrecklich, wenn die Leute sich auf Landsmannschaftsrechte stützen, um sich aufzudrängen. Er ist ja ein ganz guter Junge, aber so ungeschickt! In der Malschule korrigiere ich immer seine Zeichnung, bevor der Professor kommt! Und da glaubt er aus Dankbarkeit den Kavalier spielen zu müssen. Er zeichnet furchtbar!«

Sie gingen Seite an Seite und die junge Russin plauderte, als wären sie alte Bekannte. Drei leere Autos waren vorübergekommen. Sie dachte nicht daran, einzusteigen.

Sie gingen immer geradeaus, und schließlich fragte sie:

»Wo sind wir denn eigentlich?«

Er mußte sich erst orientieren. Er war auch aufs Geratewohl gegangen. Immer geradeaus. Keine Frage nach ihrem Ziele durfte sie daran erinnern, daß sie ein Ziel hatte. Er wollte ihre Nähe ausgenießen.

»Wir sind in der Nähe des Tiergartens,« sagte er.

Es war nun wirklich so gekommen, wie er sich's ersehnt hatte. Sie gingen durch den Tiergarten und er hörte ihre Stimme, atmete den Duft ein, der von ihr ausging.

Am Brandenburger Tore blieb sie stehen.

»Ich habe schrecklichen Hunger! Aber ich glaube, in meiner Pension bekomme ich nichts Vernünftiges mehr.«

»Ich in meiner auch nicht,« meinte er stockend.

Sie sahen sich an und lachten.

»Wissen Sie was, Herr Delfert? Wir wollen hier irgendwo im Restaurant essen, oder vielleicht paßt sich das nicht?«

Er schwankte. Sollte er nein sagen und sich um das Glück einer Stunde bringen? Der Egoismus siegte. »Wer sollte Anstoß daran nehmen, gnädiges Fräulein?«

Sie nickte.

»Ich nehme keinen daran. Ich bin schrecklich selbständig. Wir sind alle so in Rußland. Ein junger Mann ist für uns nicht nur Hofmacher – er ist ein Mensch, mit dem wir menschlich verkehren, ohne dumme Liebesgedanken.«

»Dann stellen Sie aber an den Mann recht hohe Anforderungen, gnädiges Fräulein.«

Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Bitte, keine Komplimente. Ich mache mir wirklich nichts daraus. Sie waren mir gleich sehr sympathisch, gleich, wie ich Sie gesehen habe, und Menschen, die mir sympathisch sind, suche ich näher kennen zu lernen. Das ist alles. Ich habe ja auf keinen Menschen Rücksicht zu nehmen, Gott sei Dank!«

Sie gingen in eln Weinrestaurant am Potsdamer Platz, und Thomas Delfert bestellte das Essen.

»Ich kenne Ihren Geschmack nicht, gnädiges Fräulein.«

»Ach bitte, Herr Delfert, ganz einfach. Einen anständigen Rotwein, ein bißchen Kaviar oder Fisch, Braten und Dessert. Weiter nichts. Ich mache nie große Faxen.«

Thomas Delfert hatte immer nur mit seiner Familie soupiert, die erst auf die rechte Seite der Menukarte schielte, ehe sie bestellte, und ab und zu mit einem kleinen Mädchen, das glücklich war, wenn es zur Krebszeit eine doppelte Portion Krebse oder im Winter einen halben Hummer bekam. Für Wein hatte er selten über drei Mark die Flasche bezahlt, und dazu meist eine Flasche Mineralwasser genommen, aus Gesundheitsrücksichten – und Ökonomie.

Ein Menü für eine vornehme junge Dame zusammenzustellen, verursachte ihm nicht wenig Kopfzerbrechen. Er nahm den Wein viel zu schwer, den Braten viel zu ausgiebig, das Dessert viel zu schlagsahnensüß.

Und während er vor Erregung nicht essen konnte, nippte sein hübsches Gegenüber mehr aus Höflichkeit von dem Glas und ließ die Hälfte von allem, was er ihr auflegte, auf ihrem Teller.

Aber das merkte er nicht einmal.

»Es ist furchtbar drollig, daß wir hier zusammensitzen und essen, während Sie mich vor zwei Stunden noch Angeklagte genannt haben. Solche Kontraste liebe ich sehr. Überhaupt alle Kontraste. Ich habe Blick dafür. Auch daß Sie nicht zu Ihrem Berufe passen, habe ich gleich erkannt. Sie machen den Eindruck eines furchtbar guten Menschen, und dabei müssen alle Leute, die hinter der Barriere sitzen, sich vor Ihnen fürchten, wie kleine Kinder vor dem schwarzen Mann.«

»Wie sind Sie eine so gute Menschenkennerin geworden in Ihren jungen Jahren?«

Er kreuzte die Hände, und seine etwas schwermütigen, dunklen Augen folgten mit Entzücken dem lebhaften Spiel ihrer schlanken weißen Finger.

»Ach, lieber Herr Delfert, das ist eine lange Geschichte. Da müßte ich Ihnen von meiner Kindheit erzählen, meiner teuren Familie, meinen Gouvernanten, Lehrern, und diese Geschichte würde Ihnen vielleicht gar nicht gefallen. Nur so viel kann ich Ihnen sagen: Meine Eltern haben sich wenig um mich gekümmert, und ebensowenig um die Leute, die mich erzogen haben. Meine Mutter war eine große Dame und hatte gar keine Zeit für mich kleines Mädchen. Mein Vater aber war ein echter russischer Beamter, der seine Untergebenen anbrüllte und vor Höherstehenden kroch. In meinem Bruder, seinem Sohne, fand er seinen erbittertsten Feind. Nach vielen Kämpfen setzte ich es durch, das Gymnasium besuchen zu dürfen – und dort wurde in mir der erste Keim zur Kritik meiner Eltern gelegt. Aus Widerspruchsgeist gegen die Weiblichkeit meiner Mutter kleidete ich mich wie eine Vogelscheuche und schnitt mir mein Haar kurz ab. Es war sehr lächerlich. Aber durch diese äußerlichen Lächerlichkeiten versuchen wir in Rußland zuerst unsere Selbständigkeit zu markieren. Meine Eltern sah ich damals nie. Als ich mein erstes Ballkleid anprobierte, da bemerkte meine Mutter erst, daß ich eine Brille trug. Und als sie mein kurz abgeschnittenes Haar sah, bekam ich eine Ohrfeige. Meinen ersten Ball besuchte ich mit einer wohlfrisierten Perücke. Und auf diesem ersten Balle sollte ich einem älteren Herrn versprochen werden, der meinem Vater mehrfach sehr nützlich gewesen war. Es war ganz abscheulich, wie der dicke Mensch mit den vielen Orden um mich herumtanzte. Mein Vater ließ mich weiß Gott wieviel Champagner trinken, damit ich den Kopf verlöre und Ja sagte. Aber ich lachte nur immer. Und als der alte Mann anfing, mein Haar zu loben, da riß ich mir die Perücke vom Kopf und lachte ihn aus. Daraufhin schickten mich meine Eltern ein Jahr auf ein einsames Gut. Als ich nach Hause kam, da war mein Bruder auch seit Monaten auf und davon gegangen und machte im Volke Propaganda für die Freiheit. Er schrieb mir heimlich Briefe und suchte mich für die ›Heilige Sache‹ zu gewinnen. Einmal bestellte er mich zu sich; und während meine Eltern irgendwo zum Tee waren, fuhr ich heimlich zu meinem Bruder. Ich sagte ihm, wenn die ›Heilige Sache‹ so viel Schmutz und häßliche Frauen verlangte, dann wäre ich dafür nicht zu haben.

Mein Bruder komplimentierte mich ziemlich unsanft heraus und nannte mich eine Gans. Ein paar Wochen später, auf der Straße, grüßte er mich nicht, und ich bin überzeugt, daß er in aller Seelenruhe unser Haus mit Dynamit in die Luft gesprengt haben würde, wenn das revolutionäre Komitee es von ihm verlangt hätte. Bald darauf starb mein Vater, aus Schreck darüber, daß man seinen Bruder verhaftet und als dringend verdächtig nach Sibirien verschickt hatte. Ich blieb allein mit meiner Mutter, die eine sehr schöne Frau war, und der man die erwachsene Tochter nicht glauben wollte. Sie war zufrieden, als ich mich zwei Jahre nach dem Tode meines Vaters verlobte. Vierzehn Tage vor der Hochzeit fand ich beim Aufwachen einen Brief meiner Mutter, in dem sie mich bat, ihr zu verzeihen. Mein Bräutigam wäre von einer heftigen Leidenschaft zu ihr erfaßt worden ... und so weiter ... Es kamen natürlich Verwandte von allen Seiten, die mich gerne bei sich aufnehmen wollten. Aber ich hatte nun genug von der Familie. Und so reise ich seit drei Jahren herum, sehe mir die Welt an, und bleibe da, wo ich Menschen finde, die mir gefallen.«

»Sie wollen Malerin werden?«

Er fragte sie das, weil er den Boden zu verlieren fürchtete. Sie schien ihm etwas Ungreifbares und beinahe Unbegreifliches. Ein anständiges junges Mädchen, das in der Welt herumstrich wie ein Zigeuner. Das verwirrte alle seine Begriffe.

Und beinahe väterlich klang es, als er sagte:

»Auf die Dauer ist das doch unhaltbar, nicht wahr? Sie müssen irgendwo festen Fuß fassen, Familienanschluß finden.«

Er dachte an die Maaßenstraße. Er wollte sie einführen in seine Familie. Sie durfte nicht mehr schutzlos dastehen, durfte nicht mehr in Situationen kommen, wie es die heutige war. Ihr Temperament mochte ihr noch genug andere Streiche spielen.

In der Malschule – die Ungebundenheit des jungen Volkes. Sie war schön, reich.

Wie leicht konnte es geschehen, daß ihr jemand den Kopf verdrehte.

Und er merkte es nicht, daß sie lächelte, während er so väterlich sprach, und daß ihr Lächeln viel weiser und weltkluger war als seine Worte ...


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