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Thomas Delfert war an diesem Abend nicht gleich nach Hause gegangen, so viel Arbeit ihn dort auch erwartete. Gegen seine Gewohnheit hatte er ein Restaurant aufgesucht.
Er traf ein paar Kollegen. Bekannte Richter. Man fragte ihn: Sie sind wohl krank, lieber Delfert ... passen Sie auf ... tun Sie ein bißchen was für sich.
Das war ihm peinlich, als hätte er einen zerfetzten Rock am Leibe oder durchwetzte Stiefelsohlen. Er nahm einen Wagen, fuhr in den Tiergarten. Ganz langsam. Nur um Luft zu schöpfen. Plötzlich fiel ihm ein – es war Polterabend in der Maaßenstraße. Man hatte ihn dazu gebeten, aber er hatte sich mit Arbeit entschuldigt, hatte versprochen, erst gegen zehn Uhr, nach dem Abendbrot, zu kommen.
Der Delfertsche Polterabend war eigentlich ein stilles, letztes Beisammensein, wie die Geheimrätin sagte. Man aß gute, kalte Küche, trank Burgunder, und der Konsistorialrat oder sonst der älteste Verwandte hielt eine Rede. Das war fein und – nicht kostspielig. Alle Delferts hatten rechnen müssen, und auch der Kriegsgerichtsrat war kein Krösus.
Um elf Uhr ging man auseinander, um frisch zu sein für den großen Tag. So war es bei der Hochzeit der Geheimrätin gewesen, die eine geborene Delfert war, so auch bei der Hochzeit des Konsistorialrats.
Als Thomas eintrat, pichelte der Professor behaglich seinen Burgunder und erzählte gerade von einer Operation. Die Geheimrätin thronte sehr majestätisch an der Spitze der ausgezogenen Tafel.
Sie war sehr zufrieden mit dem guten Hermann. Das Hochzeitsessen sollte in einem kleinen, feinen Hotel stattfinden, statt wie sonst in der Wohnung der Braut. Gegen diese Neuerung, die ihrer Bequemlichkeit Rechnung trug, hatte die Geheimrätin nichts einzuwenden gehabt. Sie fuhr ihm auch ein paarmal lächelnd über den Arm.
»Diese große Ausgabe werden wir dir schon in deiner Wirtschaft herausholen, nicht wahr, Riekchen?«
Ulrike nickte und sah nach, ob noch Wein in der Flasche war.
»Natürlich, Mama.«
Die Frau Konsistorialrat meinte:
»Wir haben es uns auch überlegt, Hermann. Es kommt noch am billigsten, wenn du Ulrike mit der Mama bei dir hast.«
Die Frau Professor sagte:
»Freilich. Wenn Ulrike nicht wäre – zöge die Mama ja doch zu euch. Nun, und wo dreie satt werden, wird's auch der vierte.«
Dorchen saß in einem roten Kleide, daß ihr zu weit geworden war, stumm und blaß neben ihrem Bräutigam. Sie beteiligte sich nicht am Gespräche, lächelte dem Kriegsgerichtsrat nur matt zu, wenn er ihre Hand verstohlen an seine Lippen zog.
Man fand ihre Haltung bräutlich – tadellos. Die Geheimrätin verstand sich eben brillant auf die Erziehung. Im Salon lachte die Jugend und hinter der angelehnten Tür schwenkte Konsistorialrats Primaner des Professors blonde Grete nach einem ganz leise gepfiffenen Walzer.
Thomas zog Ulrike abseits.
»Du ... Dora gefällt mir nicht.«
Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Warum denn ... alle finden sie reizend jetzt. So ruhig und würdig.«
»Zu ruhig!«
Beinahe ärgerlich antwortete die Schwester:
»Sie ist nicht mehr in dem Alter, wo sie immer nur herumtollen kann, wie ein Irrwisch. Wir danken Gott, daß sie vernünftig geworden ist.«
Dieser gute Thomas war der Familie schon so entfremdet, daß er gar keine richtige Schätzung mehr hatte für das Ehrbare und bürgerlich Korrekte. Aber da er ihr begütigend mit der Hand über die Wange strich, erschrak sie.
»Du hast Fieber, Thomas, weißt du das?«
»So ... Ja ... möglich ... mir ist auch nicht ganz gut ... Ich werde nach Hause gehen.«
»Immer drückst du dich,« sagte Ulrike unzufrieden.
Er versuchte zu lächeln.
»Wenn ich aber krank bin ...«
Sie schüttelte den Kopf, streifte ihn mit einem unsicheren, dunklen Blicke.
»Krank bist du. Aber anders, als du meinst ...«
Sie wurde abgerufen, und so ließ sie ihn stehen, in peinlicher, ärgerlicher Verwirrung. Die Mama sagte gerade:
»Es ist so angenehm, daß Hermann weder einen neuen Salon, noch ein neues Speisezimmer zu kaufen braucht. Unsere Möbel sind ja vorzüglich erhalten.«
»Es ist viel heimischer mit den alten Möbeln,« stimmte Frau Konsistorialrat bei.
»Und auch für die Kinder ist es erzieherisch,« meinte die Frau Professor, »die Kinder lernen es, Möbel und Tradition zu respektieren.«
»Es fördert zweifellos die Pietätsgefühle,« bestätigte der Konsistorialrat.
Thomas war es, als senkte sich plötzlich die Decke des mütterlichen Speisezimmers auf ihn herab. Das machten seine wüsten Kopfschmerzen. Die bekam er immer, wenn die Familie beisammen war. Merkwürdig war das!
Er drückte sich wirklich. Auf der Treppe kam ihm jemand nach, und als er sich umsah, war es Dora, die ihm mit einer Kerze leuchtete.
»Lieb von dir. Danke schön. Aber ich hätte auch so gefunden.«
Er wendete sich um, faßte ihr blasses Gesicht zwischen beide Hände.
»Nun, Dorchen?«
Sie fühlte die Sorge heraus aus seiner Stimme, eine ungewohnte Wärme. Ihre schlanke, seine Gestalt neigte sich zu ihm herab, mit der Stirn fiel sie auf seine Schulter.
»Na ... na ... Dorchen, liebes ... was ist denn? Morgen geht's in die weite Welt hinaus ... freust du dich denn nicht?«
Er versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
»Auf die Reise freue ich mich ...«
Er wollte sagen: Und dann auf das eigne Heim, was? Aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. Er fühlte es: als eine grausame Ironie wäre es ihr erschienen. Plötzlich löschte sie das Licht aus, der Leuchter fiel klirrend gegen die Rampe. Mit beiden Armen umschlang sie des Bruders Hals:
»Werde du glücklich, Thomas, hörst du! Grüß' sie von mir ... hörst du. Sie hat dich lieb ...«
Ehe er recht zur Besinnung kam, war sie die Treppe hinaufgejagt. Er hörte das Zuschlagen der Wohnungstür, und als er sich über das Gesicht fuhr, war seine Hand naß von ihren Tränen. – – –