Olga Wohlbrück
Der eiserne Ring
Olga Wohlbrück

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In den letzten Tagen vor Doras Hochzeit wuchs die Verstimmung gegen Thomas ins Ungeheuerliche. Durch Dora hatte die Geheimrätin erfahren, daß die Dame, in deren Gesellschaft Mitglieder der Familie ihn öfter gesehen hatten, eine russische Malerin war. Genauere telephonische Erkundigung beantwortete Thomas knapp, mit einem erregten Unterton leidenschaftlicher Abwehr, der neu war an ihm.

Doras Bericht bestätigte nur die bisherigen Gerüchte. Thomas fühlte, er hatte den günstigen Augenblick verpaßt, seine Damen um eine freundliche Aufnahme der Fremden zu bitten. Lyda war in den Augen der Delferts nicht das junge Mädchen, dem man den Schutz des Familienanschlusses gewährt. Sie war eine »Feindin«, die »Person«, die man sich fernhalten mußte, wann man auf Anstand hielt.

Aber man begriff jetzt auch, daß Thomas sich der Familie fernhielt. Das war auch Anstandspflicht.

Sogar der Konsistorialrat meinte, daß es Zeiten geben könnte, da ein junger Mann sich austoben müßte, und das beste wäre dann, ihn – für eine Weile natürlich – sich selbst zu überlassen. Unterdessen hielt die Familie eifrig Umschau nach einem Mädchen aus guter Familie mit entsprechender Mitgift. Denn die Delfertsche Ehepsychologie gipfelte in dem Satze: »Nichts bereitet einen Mann besser für die Ehe vor als ein Erlebnis mit einer Person.«

Und »Person« war für die Delferts alles, was sich außerhalb der engsten Grenzen familiärer Enge bewegte.

»Große Gefühle« wurden im Delfertschen Hause von jeher in das Reich der Romane verwiesen. Die Liebe durfte die Temperatur Reaumur 26 nicht übersteigen, wenn sie nicht als krankhaft bezeichnet werden sollte.

Wenn nun Thomas mit dem Geständnis einer plötzlichen Leidenschaft herausgerückt wäre – die Geheimrätin hätte sich in Grund und Boden geschämt.

Thomas fühlte nur zu gut, daß er für seine erwachende Liebe kein Verständnis bei den Seinigen finden konnte.

»Werfen Sie den ganzen Krempel zusammen,« sagte Lyda eines Tages in ihrem Atelier. »Sie passen nicht zu Ihrem Beruf, und Sie passen nicht zu Ihrer Familie. Wenn die armen Leutchen, denen Ihr Titel einen solchen Schrecken einflößt, wüßten, was ihr Herr Staatsanwalt für ein kleiner Junge seiner Familie gegenüber ist ...«

Sie warf die angerauchte Zigarette in großem Bogen in eine japanische Schale und umschloß ihr hochgeschlagenes Knie mit beiden Händen.

»Sehen Sie sich doch im Spiegel an, Thomas. Sie sind krank. Vor jedem großen Prozeß gehen Sie wie ein Nachtwandler herum, mit eiskalten Händen und entsetzten Augen. Das geht doch nicht so weiter. Wenn Sie für irgendein elendes Subjekt fünf Jahre Gefängnis beantragen sollen – dann schlafen Sie drei Nächte nicht.«

Sehr gerade richtete Thomas Delfert sich auf.

»Ich tue nichts, was ich nicht mit meinem Gewissen verantworten könnte.«

Lyda sprang auf, und ihr herrliches rostbraunes Haar fiel in kupfernen Wellen um ihr Gesicht mit den zornblitzenden Augen.

»Ich weiß nicht, wie Ihr preußisches Gewissen aussieht. Ihr menschliches Gewissen ist jedenfalls ganz anders. Und an diesem Konflikt gehen Sie zugrunde. Das ist dumm – das ist abscheulich – das leide ich nicht.«

Er ließ sich in dem hohen, geschnitzten Lehnsessel nieder, der vor dem Kamin stand, auf dem kostbaren Perserteppich, der fast die Hälfte des großen Atelierbodens bedeckte. Er versuchte zu lächeln, haschte zaghaft nach der Hand des jungen Mädchens.

»Sie sind ein Kind, Lyda. Sie kennen das Leben nicht. Sie malen Bilder, weil es Ihnen Spaß macht.«

»Das glauben Sie so ...«

»Und weil Sie Begabung dafür haben,« fügte er rasch hinzu. »Aber es ist doch nichts Zwingendes. Sie könnten heute ebensogut etwas anderes machen ... ohne daß Ihr Lebensaufbau darunter zusammenbräche. Sie sind unabhängig, Sie sind reich ... Ich, Lyda ... ich habe nichts als meine Familie. Ich habe Opfer, die meine Mutter sich auferlegt, abzutragen. Wenn ich heute meinen Beruf aufgebe, dann ...« Er würgte an dem Worte: »Dann müßte ich betteln ... jawohl, bei meiner Familie herumbetteln – daß sie mir die Mittel vorstreckt, deren ich zu einem Wechsel meiner Karriere bedürfte.«

Die junge Russin tauchte ihre Pinsel in einen mit Terpentin gefüllten Topf, und ihre feinen, dunklen Brauen zogen sich fast schmerzlich zusammen.

»Ich würde Ihnen diese Mittel gern vorstrecken, Sie brauchten gar nicht zu betteln ...«

Er stand auf.

»Das geht doch etwas zu weit, Fräulein Bogatoff!«

Sein Ton war so eisig, daß ein leichter Schreck sie durchfuhr. Ein bißchen kleinlaut murmelte sie;

»Nun habe ich natürlich wieder etwas Schreckliches gesagt! Bei Ihnen darf man ja nie reden, wie man denkt.«

Das Hausmädchen rollte den Teetisch herein.

»Wollen Sie denn jetzt schon gehen?« rief Lyda mit großen, entsetzten Augen, als er nach seinem Hut griff.

»Ich habe zu arbeiten, gnädiges Fräulein. Das vergesse ich manchmal in Ihrer Gesellschaft.«

Durch die hohen Atelierfenster brachen die roten Strahlen der untergehenden Sonne, übergossen das Gesicht des jungen Mädchens wie mit Purpur.

»Sie wollen nicht mehr zu mir kommen? ...« stammelte sie.

»Doch, gnädiges Fräulein, ich stehe Ihnen immer zur Verfügung, wenn Sie mich brauchen ... immer!«

Sie fühlte das Erzwungene seiner Kälte, hielt seine Hand fest, sah ihm bittend in die Augen.

»Und ich brauche Sie doch auch immer, Thomas. Das wissen Sie ...«

Sie entwand ihm den Hut, zog ihn sanft zurück bis zum geschnitzten Stuhl, setzte sich ihm gegenüber, auf einen Schemel, schlug die Hände vors Gesicht.

»Ich brauche Sie wirklich ... Thomas ... wirklich! ...«

Er sah, wie die Röte ihr bis unter die Haarwurzeln stieg, wie alles an ihr zitterte vor Erregung.

»Was ist Ihnen, Lyda ... Sie können auf mich rechnen ... mein Wort darauf.«

»Ja ... Also hören Sie ... wenn Sie mir helfen wollen – dann müssen Sie mich heiraten ...«

Sie sagte es ganz ernst und sehr ruhig, obwohl sie über und über rot war.

Sehr verwirrt antwortete Thomas Delfert:

»Ich verstehe nicht, Lyda ...«

Im Grunde war er abgekühlt. Dieses nackte Sichantragen ging ihm wider alles Gefühl, löschte sein eignes Empfinden plötzlich aus. Eine kalte Neugierde trat an Stelle seiner Anteilnahme.

Sie blickte an ihm vorbei, sagte hastig:

»Ich könnte Ihnen Briefe zeigen. Sie würden sie nicht verstehen. Es sind russische Briefe. Meine Mutter verlangt meine Rückkehr. Ich darf meine Kunst nicht mehr ausüben, ich soll nach Hause kommen ... was sie als mein Zuhause betrachtet – weiß ich nicht. Ich soll einen Herrn heiraten, den ich nicht kenne. Und wenn ich mich nicht füge, soll ich unter Kuratel gestellt werden. Und was das bei uns heißt – weiß ich. Dann ist mein Vermögen einfach verloren. Der kleine Ljubowski war hier, als ich den letzten Brief bekam. Ich erzählte ihm alles in meiner Angst. Er sagte mir, daß es nur ein Mittel gäbe: ich müßte heiraten. Ganz schnell. Nach England fahren und heiraten. Das ist ein beliebtes Mittel bei uns. Oft die einzige Möglichkeit, uns selbständig zu machen. Er erklärte sich auch sofort bereit, mir seinen Namen zu geben. Es ist nur eine Formsache, natürlich. Eine Liebenswürdigkeit. Es ist – wie soll ich Ihnen sagen – es ist, als stützte man eine Dame, wenn sie aus dem Wagen steigt. Aber ich stütze mich nicht gern auf irgend jemand.«

Sie lachte kurz und nervös auf, während große Tränen ihr über die Wangen rollten.

Thomas Delfert atmete schwer. Ihm war, als machte das Schicksal sich einen Spaß mit ihm. Diese russische Romantik wollte ihm, dem preußischen Beamten, nicht einleuchten. Das gab es doch nicht in unserer nüchternen Zeit, das sagte sie doch alles nur so, um ihm ihr Geld aufzudrängen, um seine Empörung zu beschwichtigen, die ihn gepackt hatte, als sie ihm zumutete, sich Geld von ihr zu borgen. Ein Delfert Geld borgen – von einem jungen Mädchen ...

Sie fuhr fort, ganz leise und wie schuldbewußt:

»Das muß alles sehr schnell vor sich gehen. Man hat mir nur vierzehn Tage Frist gegeben. Meine Mutter hat Beziehungen. Damit macht man bei uns das Ungeheuerlichste in kürzester Zeit ...

Es war Abend geworden, und die laue Sommerluft wehte zum offenen kleinen Fenster der Glaswand herein. Brachte den Duft blühender Linden ins Atelier und das laute, letzte Gezwitscher der Vögel.

»In vierzehn Tagen – wie Sie sich das denken!«

Ein kalter, ironischer Ton lag in seinen Worten. Er war doch kein dummer Junge. Solchen Unsinn durfte sie ihm nicht einreden.

Sie senkte den Kopf tief auf die Brust und strich mit den feinen, weißen Händen über ihr dunkles Libertykleid.

»Es ist komisch,« sagte sie langsam, mit schwerer Zunge – »alles, was jenseits der Landesgrenzen liegt, erscheint immer unwahr oder zum mindesten abenteuerlich.«

Auch mit der Familie geht es ähnlich, dachte Thomas Delfert: was außerhalb ihrer Gewöhnung liegt, das lehnt sie ab – von vornherein, mit Mißtrauen oder Verachtung.

Man konnte eben nicht heraus aus seiner Haut. So schnell nicht ...

»In vierzehn Tagen läßt sich auch mit den besten Beziehungen keine so wichtige Handlung zu Ende führen,« sagte er beinahe scharf.

Sie stand auf, stellte sich mit dem Rücken ans Fenster, so daß ihr Gesicht im Dunkel blieb und er nur die weichen Umrisse ihrer Gestalt erkennen konnte.

»Das war nur der Schlußakt,« sagte sie tonlos. – »Anderthalb Jahre zieht sich diese ganze Geschichte hin. Darum habe ich ja auch meine Malerei so ernsthaft betrieben. Ich hoffte immer, selbständig zu werden. Wenn sie dort unten sehen, daß ich sie nicht brauchte und mein Vermögen nicht brauchte, dann ließen sie mich zufrieden, hoffte ich. Aber es geht nur langsam vorwärts. Daß mein Bild in der Ausstellung hängt, ist schon viel.«

Thomas Delfert stand auf. Wie beschämt fühlte er sich von dieser stillen, stummen Energie, die sich ihm verschleiert hatte unter so viel lachendem Frohsinn, so viel Anmut und Schönheit. Und doch war es ihm schwer, das Mißtrauen zu besiegen, ihren Worten zu glauben. All seine Willensstärke nahm er zusammen, um nichts von dem zu verraten, was in ihm vorging, was in ihm nach ihr verlangte in Liebe und Leidenschaft.

Wie ein kleines Mädchen stand sie vor ihm, das nicht wußte, ob es gestraft oder geliebkost würde. Nichts war mehr in ihr von dem siegenden Übermut, der sie so unwiderstehlich machte. Die lachende Heiterkeit war geschwunden, diesem »schrecklichen Deutschen« gegenüber, den weder ihre Schönheit noch ihr Geld wankend machte, wenn sein Ehrgefühl litt.

»Ich kann Ihnen heute nichts sagen ... Ich stehe nicht allein. Ich muß an meine Leute denken ... geben Sie mir Zeit ... Drei Tage, drei, vier Tage ...«

Lyda Bogatoff rührte sich nicht. Nur ihre Arme fielen schlaff an ihrem Körper herab.

»Vier Tage. Ich werde warten,« sagte sie leise.

Sie sah es kaum, wie er sich vor ihr verbeugte, kurz und mit steifen Schultern. Sie hörte nur, wie seine Schritte neben dem Teppich hart auf den Boden aufschlugen, wie die Tür im Vorzimmer knapp und dumpf hinter ihm zuschlug.

Dann warf sie sich auf das kleine Ruhebett, das unter kostbaren Teppichen in einer Ecke des Ateliers stand.

Sie weinte nicht.

Sie stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Kissen und dachte nach. Es wurde dunkel. Draußen klingelte es. Die Zofe kam herein, knipste das Licht an.

»Was soll ich sagen, wenn Gäste kommen?«

»Ich bin nur für Herrn Ljubowski zu Hause, verstanden? Nur für Herrn Ljubowski,« sagte Lyda entschlossen.

Wenn er durchaus den Kavalier spielen wollte – die Gelegenheit wollte sie ihm geben, dem kleinen Ljubowski.


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