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Viertes Kapitel

Unter den letzten Strahlen der abendlichen Sonne lief die »Blume von Tripolis« mit geschwellten Segeln in den Hafen. Zwölf Kanonenschüsse hatten schon vorher den Bewohnern von Bengasi verkündet, daß eine reiche Ausbeute an Christensklaven gemacht worden sei. Alles Volk lief also an den Strand, um zu gaffen und womöglich die Gefangenen zu beschimpfen. Lastträger, Neger und sonstiges Gesindel liefen in Scharen herbei, alle frohlockend, die Frauen mit zerrissenen Fetzen von Schleiertuch vor dem Gesicht, die Männer halbnackt, mit bloßen Füßen und unbedecktem Kopfe.

Als das Schiff die Anker auswarf, bildete der Schwarm eine förmliche Gasse, die die Weißen passieren mußten.

In diesem Augenblicke kam Mustapha mit einigen Matrosen, die Handschellen trugen; wieder andere brachten die Boote zu Wasser. »Eilt euch!« gebot der Vertraute Heireddins, »wir werden mehrere Male fahren müssen.«

»Wohin bringt man uns denn?« forschte Matthias.

»Das siehst du früh genug, Junge. Aber halt! Der Kapitän wollte ja mit dir sprechen; bald hätte ich es vergessen.«

»Ali, bringe den Jungen in die Kajüte!«

Matthias folgte ohne Zögern seinem Führer und stand eine Minute später vor dem hagern Manne, dem er an Bord der »Napoli« so weidlich zugefetzt hatte. Heireddin sah ihn forschend an, aber mit einem heimlichen, boshaften Funkeln der Augen; er schwieg lange, und dann erst kam über seine Lippen eine kurze Frage.

»Willst du auf meinem Schiffe bleiben und wie ein freier Matrose leben?«

Das Rot der Empörung überflammte Matthias' Züge: »Ich diene auf keinem Kaperschiff.«

Heireddin lächelte tückisch: »Du willst also lieber ein Sklave werden, lieber Prügel und Fußtritte hinnehmen, als mir dienen?«

»Ja, Herr Kapitän.«

»Nun gut, jeder nach seinem Geschmack! – Geh!« Matthias enteilte so schnell er konnte. Flammenden Gesichts beichtete er seinen Freunden, was Heireddin ihm angeboten.

Mustapha, der in der Nähe stand, lächelte seltsam. »Nimm das Angebot mit Dank an, Bursche,« sagte er, »du weißt nicht, was dir bevorsteht.«

In Matthias' Augen blitzte es auf, doch er schwieg.

Die Boote stießen ab und schlugen den Weg nach der Küste ein, während aus den Reihen des versammelten Pöbels jetzt schon Gejohle und Pfeifen den unglücklichen Opfern entgegenklang. Hunderte umdrängten den Landungsplatz, Schimpfreden und Drohworte tönten über das Meer dahin, es wurden Steine nach den Booten geworfen, bis der begleitende erste Steuermann des Korsarenschiffes die Geduld verlor und eine Pistole aus dem Gürtel zog. Die Waffe auf das Volk anschlagend, rief er: »Laßt die Steine beiseite oder ich schieße!«

Vor dem Zuge ging Mustapha mit der Pistole in der Hand. Der Weg führte durch schmale, ungepflasterte Straßen mit niederen Häusern bis zu einem kasernenartig aussehenden niedrigen, langgestreckten, sehr schmutzigen Gebäude. Mustapha klopfte mit dem Pistolenkolben an eine Tür, aus der dann ein mageres, altes Gesicht hervorsah.

»Du bist es, Mustapha! Ich hörte die zwölf Schüsse. Hat Heireddin einmal wieder gute Beute gemacht?«

Mustapha deutete auf die lange Reihe der Gefangenen. »Wie du siehst, Tebelin.« Er zog ein Blatt Papier aus den Falten seines Haik hervor. »Hier ist die Liste der Gefangenen. Von diesem Augenblick an haftest du für ihre Sicherheit.«

Der Alte nickte. »Es ist gut,« murmelte er. »Ich schließe sie alle an Eisenringe. Sind übrigens auch hervorragende Personen darunter?«

»Ein Schiffskapitän.«

»Gut, dann erhält der eine Kammer für sich. – Nur herein, Leute, hier herein!«

Der Alte ließ die Gefangenen ein, während Mustapha zum Hafen zurückging. Das lange, einer verdeckten Kegelbahn nicht unähnliche Gebäude hatte nur einige Dachluken, aber kein einziges Fenster. Es war in ihm beinahe ganz dunkel. Eine entsetzliche Luft schlug den Unglücklichen entgegen, die Stimmen zahlreicher Menschen und das Klirren von Ketten. Ein unheimlicher Raum!

Mann für Mann bückte sich, um nicht den Kopf an den Türrahmen zu stoßen, Edenbrecher und der Steuermann ganz besonders; diese beiden waren so groß, daß sie auch innerhalb des Gebäudes kaum geradestehen konnten. Die Handschellen wurden abgenommen, aber dafür jeder einzelne wie das Tier im Stall mit ziemlich langer Kette an die Wand geschlossen.

Allmählich gewöhnte sich das Auge an die herrschende Finsternis, man sah eine Anzahl halbnackter Gestalten auf dem Stroh kauern, verkommene, verwilderte Erscheinungen, Säufer, arme Kranke und halbwüchsige Knaben, denen schon das Verbrechertum aus dem Gesicht schaute.

»Was sind das für Leute, Beppo?« fragte Edenbrecher.

Der Segelmacher schüttelte den Kopf. »Fluchtverdächtige,« antwortete er, »solche, die gelegentlich dem Aufseher eine Tracht Prügel angedeihen lassen oder mit dem Messer sogar ihren Gebieter bedrohen. Man bringt sie an jedem Abend hierher und führt sie ebenso bestimmt am Morgen wieder auf den Arbeitsplatz zurück.«

»Tebelin!« rief eine Stimme, »Tebelin! Soll es denn heute kein Abendbrot geben?«

»Doch, doch,« entgegnete der Aufseher und holte aus einem Verschlage einen großen Korb hervor. Jeder Gefangene erhielt drei kleine schwarze, sehr harte und feste Brote, dazu einen Krug mit Wasser. Das war das ganze Abendessen.

»Seht nur das Wasser,« sagte Matthias, indem er den Krug gegen das Licht hielt. »Es schwimmen Strohhalme und Insekten darin!«

Der Segelmacher legte beruhigend seine Hand auf den Arm des Knaben. »Es ist für diese eine Nacht,« sagte er. »Hierher kommen wir ja nicht wieder.«

Zwei Lampen brannten, eine an jedem Ende; dazwischen lag alles im Halbdunkel. Hier und da schliefen die Elenden. Stunde um Stunde verging. Ratten und Mäuse erhoben aus allen Winkeln, unter dem Stroh und sogar mitten im ungedielten Lehmboden aus Gängen und Höhlen ihre immer beweglichen, schnuppernden Schnauzen, um nach den Überresten des Abendessens zu spähen. An den Wänden erschienen Eidechsen, kleine unschädliche Schlangen wanden sich über die Sparren des Daches, und Legionen von Insekten summten durch die Luft. Es war eine entsetzliche Nacht.

Allmählich dämmerte der Tag, und die Sonnenstrahlen fielen durch die offenen Luken in den widerwärtigen Raum. Die Türschlösser rasselten, und Tebelin kam mit dem Abzeichen seiner Würde, dem Bambus, um die Sklaven ihren einzelnen Gebietern auszuliefern. Hinter ihm erschienen gegen zwanzig Aufseher, meistens Neger und Mulatten, alle mit Lederpeitschen in den Händen. Geduldig ließen sich die Sklaven an die Kette legen und fortführen.

Unsere Freunde sahen einander an. Niemand sprach, aber die Herzen waren tief erschüttert.

Mitten in dieses Schweigen hinein klang die Stimme Tebelins. »Ihr werdet gerufen, Leute. Vorwärts!«

Im Saale stand ein älterer Mann mit ruhigen, ernsten Zügen, nicht allein gut, sondern sogar reich gekleidet, auch ein Abendländer, ein Sklave wie alle übrigen, aber doch kein Unglücklicher, keiner der darben mußte oder geprügelt wurde. Das sah man auf den ersten Blick. Es war Nureddin, der Hausmeister in Omars Palaste.

Er grüßte freundlich die Gefangenen. »Begleitet mich, Leute,« sagte er. »Der Pascha hat befohlen, euch vorzuführen.«

Tebelin öffnete schon dir vordere Tür, und so gingen alle hinaus, dem ihnen bestimmten Geschick entgegen.

Der lange Heinz deutete verstohlen auf den in vornehmer Ruhe daliegenden alten Bau. »Segelmacher,« sagte er, »ist das Omars Schloß?«

Der Gefragte erstickte einen Seufzer. »Ja, Maat, das ist es.«

»Wie gut, daß Ihr bei uns seid, Alter. Man ist nicht ganz so verlassen wie – –«

»Ich es damals war.«

Während dieser Worte hatte sich der Bote Omar-Paschas den Gefangenen unmerklich genähert und berührte die Schulter unsers Freundes. »Auf ein Wort, Kamerad! Bist du nicht Matthias Bergfeld?«

»Ja, der bin ich,« entgegnete dieser erstaunt.

»So laß dir zu deinem Besten eins sagen: Fragt dich der Pascha nach deiner Nationalität, dann verleugne den Deutschen, so lieb dir das Leben ist. Fragt er aber gar, ob du jemals in Hamburg warst, so sage, daß du den Namen dieser Stadt zum erstenmal hörst, sonst fällt vor Abend noch dein Kopf in den Sand.«

Matthias fiel von einem Erstaunen in das andere. »Aber woher kennst du gerade meinen Namen und meine Nationalität? Es sind außer mir doch noch drei andere Deutsche hier.«

»Das ist möglich, aber bei diesen wird es auf die Tatsache weniger ankommen als bei dir. Omar-Pascha bekümmert sich nicht um jeden einzelnen Sklaven.«

»Weshalb sollte er denn aber gerade von mir besondere Notiz nehmen?«

»Weil Mustapha, Kapitän Heireddins Vertrauter, im Schloß gewesen ist und mit ihm von dir gesprochen hat. In den Palästen haben, wie du wissen dürftest, die Wände Ohren.«

Matthias wechselte die Farbe, er gedachte jenes Augenblicks in der Bucht von Ualan, als Edenbrecher und er den Kapitän so gründlich durchbleuten. Dafür wollte Heireddin jetzt Rache nehmen.

»Es ist gut,« sagte er laut, »ich danke dir, Freund. Nun weiß ich alles.«

Der Sklave trat jetzt an die Spitze des von sechs Aufsehern geführten Zuges, um eine Pforte in der Palastmauer zu öffnen und dann die Gefangenen an sich vorübergehen zu lassen.

Hohe Bogenfenster gingen auf einen steinernen, mit den kostbarsten Blattpflanzen geschmückten Balkon.

»Da oben regt sich etwas,« flüsterte die Stimme eines Matrosen.

»Dann kommt vielleicht jetzt der Pascha.«

»Gott sei uns gnädig!«

»Pst!«

Die schweren dunklen Seidenportieren mit den Goldquasten gingen auseinander, und ein Palastwächter trat heraus, um langsamen Schrittes die Treppen hinabzusteigen. Hinter ihm erschien die hohe Gestalt eines etwa vierzigjährigen Mannes im violetten seidenen Haik, mit weißem Turban und reichgesticktem von Edelsteinen glänzendem Gürtel, an dessen Quasten das breite Schwert herabhing. Ein ruhiger Blick streifte die Gefangenen und haftete schließlich mit unverkennbarer Bestimmtheit auf Matthias' Gesicht. Ihn allein ansehend, schritt der Pascha die Stufen hinab.

Matthias fühlte, wie sich die Schläge seines Herzens verdoppelten. Es war ihm einen Augenblick, als schwanke alles um ihn her, und dennoch empfand er kein eigentliches Grauen vor Omar.

Die Augen des Paschas sahen nicht aus, als sei dieser Mann der Tiger, für den ihn so viele ausgaben. Es war ein Antlitz voll tiefer Schwermut, das unter dem weißen Turban hervorsah, ein schönes, edles Antlitz, vom Barte halb verhüllt, stolz vielleicht und strenge, aber ohne jeden Zug des Niedrigen und Grausamen. Matthias nahm sich daher vor, diesen Mann nicht zu täuschen.

»Komm einmal hierher,« befahl Omar.

Matthias trat ruhig und entschlossen vor.

»Wie heißt du?«

Matthias nannte seinen Namen. Es vergingen Sekunden, die ihm endlos erschienen.

»Du bist ein Deutscher?«

»Ja, Herr.«

»Wo geboren?«

»In Hamburg.«

»Ah! Du bist, wie es scheint, ein trotziger, verstockter Bursche,« sagte der Pascha. »Kapitän Heireddin berichtete über dein Verhalten sehr ungünstig; du hast sogar gewagt, die Hand an ihn zu legen.«

Jetzt sah Matthias plötzlich auf. Dunkle Röte bedeckte sein Gesicht, seine Augen glänzten heller, aber er schwieg doch, um nicht etwa den Zorn des gefürchteten Mannes vor der Zeit herauszufordern.

»Nun?« fragte Omar.

»Darf ich dir den Zusammenhang der Dinge erzählen, Herr?«

»Ich will dir's erlauben.«

»Dann laß dir sagen, daß Kapitän Heireddin lügt. Einer meiner Kameraden und ich haben ihn allerdings gehörig durchgeprügelt, aber das geschah an Bord unseres, nicht seines Schiffes, und es war ein offener, ehrlicher Verteidigungskampf, kein heimtückischer Überfall. Die Mannschaft der ›Napoli‹ wehrte sich gegen ihre Gefangennehmung. Findest du nicht, daß sie dabei vollkommen im Rechte war, Herr?«

Und der Pascha neigte zum allgemeinen Erstaunen beistimmend das Haupt. »Wenn sich die Sache so verhält, trifft dich allerdings kein Vorwurf, Junge. Wie steht es nun aber mit dem zweiten Punkt der Anklage? Kapitän Heireddin bot dir Schiffsdienste an Bord der ›Blume von Tripolis‹, und du schlugst dieses Anerbieten aus. Weshalb geschah das?«

»Weil mir, dem Christen, das Gewissen verbietet, Korsar zu sein.«

Auf Omars Antlitz wechselte die Farbe. »Weißt du, daß ich dir für deine dreisten Worte den Kopf abschlagen lassen könnte?«

»Ja, Herr, ich weiß es,« klang es bescheiden, aber fest zurück.

Eine bange Stille trat ein. Was nun? Matthias klopfte das Herz heftig gegen die Rippen.

»Genug,« rief der Pascha, indem er sich abwandte. »Die Gefangenen sind allesamt zum Verkauf zu bringen. Dieser Bursche aber bleibt in meinem Hause,« setzte er, sich an Nurredin wendend, hinzu.

Ehe Matthias sich von seinem Erstaunen zu erholen vermocht hatte, war Omar hinter einem Vorhange verschwunden, den der Oberaufseher vor ihm aufgehoben hatte.

Darauf wandte sich dieser an Matthias und deutete an, ihm zu folgen. Er gehorchte, aber er zitterte vor Aufregung so sehr, daß er fast taumelte.

Nurredin faßte ihn mitleidig beim Arm und fragte ihn, ob er krank sei. – Nein, er sei es nicht – aber er bitte, ihm sogleich seine Arbeit anzuweisen.

Der Alte lächelte. »Damit eilt es nicht so sehr. Ich wüßte vorläufig überhaupt nicht, womit ich dich beschäftigen sollte.«

Sie waren in ein anderes Gebäude gelangt. »Sieh hier, deine vorläufige Lagerstätte – mir scheint, du bist angegriffen. Ich werde dir zunächst ein tüchtiges Frühstück geben lassen, und dann magst du ausschlafen. Die Nacht im Bagno war wohl schrecklich?«

»Entsetzlich,« entgegnete Matthias kleinlaut.

»Ja, ja, ich weiß es. Sieh, da bringt Muhammed schon einige Speisen. Nun iß erst, mein Junge.«

In diesem Augenblick ertönte eine Klingel; ein Diener flog die Treppen hinauf und kam zurück mit dem Befehl, daß der »Prophet« gesattelt und vorgeführt werden solle. Während jemand zu den Ställen hinübereilte, sahen der Koch und der Hausmeister einander mit bedeutsamen Blicken an.

»Also wieder einmal aus dem Häuschen,« sagte der erstere.

Oben im Hause knarrte bald darauf eine Tür. »Er kommt!« raunte jemand.

Es wurde leichenstill.

Mit hallenden Schritten ging der Pascha ganz allein durch sein ödes, von Furcht und Grauen bewohntes Haus und die Marmortreppen hinab in den Hof. »Prophet!« rief er, »Prophet!«

Der schöne schneeweiße Araberhengst antwortete durch ein lautes, kräftiges Wiehern, er drängte sich mit stürmischen Liebkosungen an seinen Gebieter heran, und als dieser mit einem gewandten Schwung im Sattel saß, warf das stolze Tier den Kopf auf, wie um zu fragen: »Soll ich dir jetzt zeigen, was meine Sehnen und meine Hufe leisten können?«

Ein Sklave reichte seinem Gebieter die Reitpeitsche mit goldenem Knauf, mehrere andere hatten schon das vordere Tor geöffnet, die Wachen waren beiseite getreten, und nun stürmte der Renner in vollem Galopp davon.

»Wohin reitet der Pascha?« fragte Matthias.

»In die Wüste – vielleicht erst nach Tagen kehrt er zurück.« –

Gründlich gesättigt legte Matthias sich alsbald auf das ihm angewiesene Lager und versank in tiefen Schlaf.

Es mochte am Spätnachmittag sein, als ein von der Straße hereindringendes Geräusch ihn weckte. Er fuhr jählings empor. Kam der Pascha schon zurück?

Nurredin, der Hausmeister, beruhigte ihn. »Zieh dir die Decke nur getrost wieder über die Ohren, mein Junge, es ist ein Lärm, der uns nicht kümmert. Fuad-Pascha, der Oberbefehlshaber der Miliz, sammelt Rekruten für den bevorstehenden Zug in die Wüste Barka, weiter nichts.«

Matthias sprang von seinem Lager auf. »Fuad-Pascha!« – Welch eine Flut von Erinnerungen weckte nicht dieser Name. Die Begegnung mit der amerikanischen Fregatte und Beppos Erzählungen, alles stand mit einem Schlage wieder deutlich vor seiner Seele.

»Ich habe vollständig ausgeschlafen,« sagte er. »Erlaubst du mir, ein wenig auf die Straße hinauszugehen?«

»Was wolltest du denn draußen, Junge?«

»Nurredin, du bist doch ein geborner Deutscher, nicht wahr?«

»Pst! Das sind Dinge, die hier nicht erörtert werden dürfen. Ich bin der Hausmeister des Paschas, weiter nichts.«

»Nun wohl, so warst du doch in vergangenen Tagen einmal ein Deutscher. Bei dieser Erinnerung, die ja auch die meinige ist, schwöre ich dir, an keine Flucht zu denken, sondern freiwillig zu jeder von dir bestimmten Stunde in das Schloß zurückzukehren.«

Nurredin hatte sich abgewandt. »Nun,« sagte er nach einer Pause, »so lauf denn in Gottes Namen, Junge, ich vertraue dir!«

»Ich will nur dem Schicksal meiner Kameraden ein wenig nachforschen.«

»Hm, die sind sämtlich verkauft. Einige, ich glaube ihrer drei oder vier, hat Fuad-Pascha aufgreifen lassen.«

»Und sie zu Soldaten gepreßt?«

»Ja. Die Leute werden notdürftig einige Tage lang gedrillt, und dann geht es gegen den rebellischen Beduinenstamm in die Wüste Barka.«

Matthias sprang mit kurzem Abschiedsgruß auf die Straße hinaus. Da hörte er aus einer Nebenstraße Lärm und angstvolles Kreischen. Er lief dorthin und kam so ganz nahe an ein Haus, das die Soldaten förmlich blockiert hatten.

Aus dem Innern desselben ertönte ein Tumult, in den sich alle erdenklichen Laute mischten. Frauenstimmen kreischten, Hunde bellten, Möbelstücke wurden mit Gepolter zu Boden geworfen; es war ein Durcheinander wie bei einer Schlägerei auf dem Jahrmarkt.

Inmitten der Soldaten hielt vor dem Hause auf einem großen, unbeholfen aussehenden Pferde ein Reiter, eine kleine wohlbeleibte Gestalt, die als das Urbild des wohlbekannten Sir John Falstaff gelten konnte. Dieser Mann trug weitfaltige, dunkelrote Pluderhosen und einen weißen, goldgestickten Haik. Um den Kopf schlang sich ein ebensolcher Turban, und an den nackten Füßen steckten Schuhe, die aber der edle Herr wie Pantoffel trug, eine Gewohnheit, die der ganzen Erscheinung etwas Lächerliches verlieh.

Es war Fuad-Pascha. Er überwachte persönlich den Raubzug, den seine Soldaten eben jetzt ausführten; denn es konnte ja möglicherweise irgendwo von reichen Eltern ein Lösegeld für die Freilassung des einzigen Sohnes geboten werden.

Der Pascha hörte jeden Schrei, sah jedes Ringen und den Ausgang jeder Verhandlung, indem er, von einem Sklaventroß begleitet, von Tür zu Tür mitzog. Auch einen hochgelehrten Palastbeamten führte der grimmige Falstaff mit sich, einen Mann, der lesen und schreiben konnte. Diese Respektsperson mußte den endlichen Ausgang aller Geldangelegenheiten in ein Buch eintragen, und wenn die Sache soweit gediehen war, holten die Soldaten aus den betreffenden Häusern irgendein Familienglied als lebendes Pfand hervor, um es einstweilen bis zur Zahlung der vereinbarten Summe in Haft abzuführen.

Von Straße zu Straße zog das Militär. Die letzten Sonnenstrahlen waren längst versunken, die Soldaten hatten Fackeln angezündet und sammelten sich um ihren Führer, der ihnen durch mehrere Offiziere seine Befehle übermitteln ließ. Offenbar war die Jagd auf Rekruten beendet; es sollte jetzt ein anderes, vielleicht kostbareres Wild gehetzt werden.

»Zum Marktplatz!« kommandierte ein sehr bunt geschmückter Offizier.

Es wurde wieder getrommelt und geblasen, der ganze Zug setzte sich in Bewegung, und mit Gejohle und Lärm folgten ihm die Neugierigen.

Auch Matthias lief mit. Da legte sich diesem eine Hand auf die Schulter. »Matthias! Matthias!«

Voll Überraschung wandte er den Kopf. »Weber, du bist es! Wer hat dich gekauft?«

Der Leichtmatrose lachte. »Mich hat mit mehreren anderen der alte Mardochai gekauft,« antwortete er, »der Juwelier am Markt. Der Spitzbube handelt mit Menschen. Er besitzt auch eine Anzahl Neger, die er sämtlich nach Algier verkaufen will, aber für den Augenblick ist ihm doch, glaube ich, ein Strich durch die Rechnung gezogen. Er soll diese Nacht ausgeplündert werden.«

»Aber wie bist du auf die Straße gekommen?« fragte Matthias.

»Mit Gewalt natürlich. Der Alte konnte auf uns nicht ordentlich achtgeben, und so brachen wir aus, doch da ist ja schon der Marktplatz und das Haus des Juweliers.«

Die Soldaten machten eben vor einem einstöckigen Gebäude halt. Alles lag dunkel da, der Garten mit seinen blühenden Granatbäumen und Kaktushecken, das Vorderhaus und die halbzerfallenen, unregelmäßig angelegten Schuppen hinter demselben.

Fuad-Paschas Banden gingen eben daran, das Haus des Juden zu plündern, aber sie fanden die Zugänge fest verschlossen und gut verbarrikadiert. Erst nach großen Anstrengungen vermochten die schwarzen Sklaven ein Tor zu sprengen und fanden endlich im Keller des Gebäudes einen verborgenen Gang, der zu einer kleinen Holztür führte. Lichtstrahlen, die durch die Spalten fielen, wiesen den Weg.

Weber und Matthias, die sich dem Zuge angeschlossen hatten, um, wenn möglich, schützend für Mardochai und dessen Familienangehörige eintreten zu können, drangen in die dunklen Räume der Tiefe vor.

Schnell hatten kräftige Fäuste das letzte schwache Hindernis in Stücke geschlagen. Bald darauf gelangten die Eindringenden – Weber und Matthias mit ihnen – in ein niedriges, wenn auch reich ausgestattetes Gemach.

Silber und Gold funkelte im Glanze der Fackeln, über seidene Frauenkleider und reiches Geschmeide glitten die zuckenden Lichter, aber auch über gerungene Hände und totenbleiche Gesichter.

Die Neger rafften, trotz Mardochais Geschrei, zusammen, was an Kostbarkeiten erreichbar war, und derbe Hände packten zu gleicher Zeit den Alten und dessen Sohn an der Kehle, sie zu erwürgen.

Die junge Frau und die Kinder schrien. Der Greis hob die gefalteten Hände hoch empor und rief: »Gott meiner Väter, hilf uns.«

Blitzschnell zuckte ein Gedanke durch Matthias' Hirn. Vorspringend streckte er abwehrend den Negern die Hand entgegen. »Fort, fort,« rief er, »hörtet ihr nicht, daß der Alte seinen Gott anrief?«

Die Schwarzen wichen augenblicklich zurück.

»Kann uns sein Gott vernichten?« rief einer.

»Er kann seinen Blitz schicken und euch zu Asche versengen, er kann die Erde spalten und euch in den Abgrund ziehen.«

Ein gellender Schrei tönte von den Lippen der Schwarzen. Sie drängten zurück und ließen die Hände von dem Raube. Ihr Entsetzen durchlief bis zum Vorderhause die Reihen der Plünderer und Stürmer, es fand einen Widerhall bei den Truppen und jagte alle hinaus auf die Straße, wo der Pascha auf seinem großen Pferde hielt und gerade erwartete, daß man ihm den alten Mardochai bringen und seiner Grausamkeit überliefern werde.

»Der Gott der Juden! Er hat ihn angerufen! – Lauft! Lauft!«

Und wie eine Schar Spatzen, wenn der Habicht erscheint, so stob alles auseinander.

Drinnen lachte Matthias trotz aller Aufregung, die ihn beherrschte; er und Weber sahen einander an.

»Ach, wenn wir doch an ein Schiff gelangen könnten!« sagte Mardochais Sohn.

»Das ist wohl möglich. Weber, willst du vorausgehen?«

»Gewiß. Gib mir nur eine Fackel her!«

»In dem Gange brennt eine Lampe,« warf der Sohn des Alten ein. »Ich werde dich bis an den Hof führen, Herr.«

Der Leichtmatrose folgte dem schmächtigen jungen Manne durch ein zweites Gemach, das als Lager für wahrhaft fürstliche Reichtümer zu dienen schien. Edle Metalle, Sammet und Seide, kostbare Gefäße, Waffen und Edelsteine, alles stand und lag in Kisten und Kasten an den Wänden.

Weber glaubte zu träumen. »Weshalb ist alles das verborgen, als sei der ehrliche Handel ein Verbrechen?« fragte er.

Der Goldschmied lächelte traurig. »Weil du hier im Lande noch ganz fremd bist, Herr; du würdest sonst wissen, daß der Regierung alles gehört, Leben wie Eigentum ihrer Untertanen, und daß daher der einzelne sein Hab und Gut versteckt, um es nicht hergeben zu müssen.«

»Herr, du übertreibst!«

»Erkundige dich, wo es dir beliebt, und du wirst meine Worte bestätigt finden.«

»Hier ist die Tür zum großen Schuppen,« fügte der Alte hinzu.

Matthias und Weber beeilten sich nun, die in dem unterirdischen Prunkgemach Wartenden zu erlösen und sie hinauszuführen. Die zitternden Kinder schmiegten sich fest an ihre Mutter, Mardochai taumelte vor Schwäche, obgleich ihn sein Sohn und Matthias liebevoll unterstützten. Als die freie Nachtluft seine Stirn umwehte, atmete er tief auf. »Gott sei gepriesen – nun ist wenigstens das Leben gerettet!«

Dann sah er prüfend in das Auge Webers. »Dich muß ich kennen, Freund! Wo ist mir dein junges Antlitz schon begegnet?«

Weber lächelte. »Du hast mich heute früh von der Regierung gekauft, Herr. Ich bin dein Sklave.«

Der Juwelier erschrak. »Und doch warfst du dich den Wütenden entgegen, mein Sohn, doch wagtest du das eigene Leben, um meines zu retten? – Siehe, Freund, deine edle Tat veranlaßt mich zu dem heiligen Schwur, nie wieder Sklaven zu kaufen oder zu verkaufen! Und was dich betrifft, so bist du frei von dieser Stunde an. Mein Geschäftsteilhaber, Muley ben Abdallah, soll dir den Freibrief schon morgen ausstellen.«

Dann wandte sich der Alte an Matthias. »Auch dich will ich loskaufen, junger Mann. In dieser Nacht ist ein großer Teil meines Vermögens verlorengegangen, aber doch nicht alles. Ich gehe vorläufig nach Alexandria, aber du sollst demnächst von mir hören. Gottes Segen über euch beide! – Und nun,« fügte er hinzu, »laßt uns aufbrechen. Am Ufer liegen zwei Boote, bestimmt, eine Ladung Schwarzer aufzunehmen und an Bord eines nach Alexandria gehenden Schiffes zu bringen. Statt ihrer kommt nun der beraubte und vertriebene Gebieter selbst.«

Der kurze Weg wurde schnell zurückgelegt, dann nahmen die Boote am Strande die kleine Familie ohne Störung auf, und nach dankerfülltem Abschied der Geretteten standen Weber und Matthias allein auf der Straße. Weber begab sich in eine Herberge, da es ihn nicht gelüstete, den Palast des Paschas aufzusuchen. Matthias dagegen eilte zu Nurredin zurück.

»Omar ist wieder hier,« raunte dieser ihm zu. »Er hat seinen bösen Tag heute.«

Aus den oberen Räumen des Palastes schrillte ein Glockenzeichen so hastig, als habe eine zornige Hand den Strang erfaßt und ihn in wilder Aufregung geschüttelt. Nurredin fuhr zusammen. »Das ist das Signal für mich,« raunte er. »Geh zwei Treppen hinauf, Junge, dann links in das erste Zimmer! Dort legst du dich auf dein Bett und suchst zu schlafen!«

Matthias erstickte einen Seufzer. »Ich werde gehorchen, Nurredin.« Dieser war schon flüchtigen Fußes davongeeilt. Die Glocke erklang zum zweitenmal, noch lauter und schriller als vorhin, – vielleicht ertrug es der Pascha nicht, so lange warten zu müssen, bis sein Sklave die Treppen hinaufflog.

Matthias tastete sich über verschiedene dunkle Gänge mühsam weiter. Die Örtlichkeit des Palastes war ihm vollkommen unbekannt, und das von draußen hereinfallende Licht sehr spärlich. Er hielt sich genau an die Weisung des Hausmeisters und stieg eine breite Marmortreppe geräuschlos hinauf.

Da klang es wie ein Ächzen durch die Finsternis, ein Vorhang wurde ungestüm beiseite gezogen, und ein Schatten glitt vorüber. »Gott, mein Gott, du hast mich verlassen!«

Wie erstarrt blieb Matthias stehen. Das war Omars Stimme. Dicht vor ihm stand der Pascha und preßte beide Hände vor das Gesicht. »Gott,« flüsterte er wieder, »was tat ich dir. Tausend andere sind schlimmer als ich. War denn gerade mein Fehler unverzeihliche Sünde?«

Seine Hände zitterten. Nach einer Weile verschlang er sie fest ineinander. Der Herrscher schien nichts zu scheu, was um ihn vor sich ging. Plötzlich sank er wie gebrochen in sich zusammen und murmelte: »Verloren! Verloren! Alles ist dahin.«

Das war für Matthias der gegebene Augenblick, um aus Omars gefährlicher Nähe zu entfliehen. Er schlüpfte vorsichtig in ein nahe gelegenes Gemach, dessen dicke Teppiche jeden Schall erstickten. Auch hier brannte kein Licht, während ein offenstehendes großes Gemach von vier Lampen erhellt wurde und wie im vollen Tagesschein erglänzte. Hier verbarg er sich hinter einem Diwan mit hoher Rücklehne und sah jetzt alles, was um ihn her vorging, ohne selbst gesehen zu werden.

Alsbald teilte sich der Vorhang, und auf der Schwelle erschien Omar. Er ächzte wie ein Kranker, seine Blicke musterten jeden Gegenstand. Er streckte die Arme von sich, als verzehre ihn heftigste Ungeduld.

Matthias wagte kaum zu atmen. Mit weit geöffneten Augen blickte er auf den Gewaltigen. Was mochten die nächsten Minuten bringen?

Wieder öffnete sich der Vorhang, und Hamid, sein Sklave, trat ein. Omar ging schnellen Schrittes in das zweite, innere Zimmer und warf sich auf den Diwan. »Komm hierher,« befahl er.

Hamid gehorchte. »Du bist krank, Herr,« sagte er. »Soll ich den Arzt rufen?«

Da wuchs Omar-Paschas Zorn zur Raserei. Er holte aus einer Ecke das Schwert mit den blitzenden Diamanten am Griff und zerschlug damit eine der Lampen, daß ein Regen von Glasscherben auf den Teppich niederfiel, dann wandte er sich zu der zweiten und führte auch hier einen kräftigen Hieb. Alle Besinnung war dahin, alle Überlegung in Fesseln geschlagen.

»Herr! Herr!« rief mit starker Stimme Hamid, »du frevelst!«

Ein krankhaftes Lachen antwortete ihm. Dumpfes, undeutliches Geräusch ging durch das Zimmer, ein Knistern und Krachen wie von zerreißender Seide, dann ein Dröhnen, ein Sturz – – nachher Todesstille.

Matthias hörte die Schläge seines eigenen Herzens. War der Pascha nur ohnmächtig, oder hatte ihm die Raserei den Tod gebracht?

Hamid entzündete eine Wachskerze, mit der er das Bild der Zerstörung nach allen Seiten beleuchtete. Schon wollte er sich in das angrenzende Zimmer zurückbegeben, da raffte Matthias mit schnellem Entschluß alle Kräfte zusammen und hob den Kopf empor. Hamid würde ihn nicht verraten, das wußte er.

Zwei blasse Gesichter sahen einander an. Der Alte erschrak so, daß er zusammenfuhr, dann flog sein Blick hinüber zu dem ohnmächtigen Gebieter, und als er diesen immer noch in gleicher Unbeweglichkeit am Boden liegen sah, winkte er wortlos dem Knaben, sich aus seinem Versteck zu erheben. Zugleich drückte er kräftig auf einen Knopf in der Wand. Nach wenigen Sekunden schon erschien Nurredin. Er ergriff den Arm unseres Freundes. »Rasch, um Gottes willen, rasch!« rief er schreckensbleich und führte ihn hinaus.

»Wie bist du denn eigentlich in das Zimmer des Paschas gelangt, Junge?« fragte Nurredin. »Ich fasse es nicht.«

»Hattest du mir nicht gesagt: Steige zwei Treppen hinauf!« antwortete er. »Ich tat es, oder wollte es wenigstens, aber –«

»Du schlugst die falsche Richtung ein. Die Hauptsache ist, daß Omar dich nicht gesehen hat, sonst lebtest du jetzt nicht mehr.«

»Mein Gott, wie er tobte und vor Raserei keuchte. Hat unser Gebieter häufig solche Anfälle?«

»Sehr selten, und immer nur, wenn deutsche Sklaven gebracht werden. Der Himmel weiß, was ihn dann jedesmal anficht.«

»Und kehrt dieser Anfall wieder, sobald der Herr sich erholt?«

»Nein, im Gegenteil. Der Herr ist dann zahm wie ein Lamm, spricht kein Wort und bleibt in seinen Zimmern. Nur Hamid darf alsdann zu ihm.« – – –

Am andern Morgen ließ der Pascha Matthias durch Nurredin zu sich führen. Omar spielte mit einem vor ihm auf dem Tische liegenden Messer. »Wo warst du gestern abend,« fragte er nach einer Pause.

»Ich sah der Rekrutenaushebung zu und später den Tumulten vor des Juden Mardochai Hause.«

Omar runzelte die Brauen: »So vernimm, weil du den Palast ohne meinen Befehl verlassen, sollst du zur Feldarbeit vermietet werden,« rief er vor Zorn bebend. »Gleich in dieser Stunde und an einen strengen Herrn, billig oder halb umsonst, damit die Sache keinen Aufschub leidet. Abends wirst du geschlossen hier eingeliefert, und du,« wandte er sich an Nurredin, »haftest für ihn mit deinem Kopfe.«

Der Hausmeister verneigte sich schweigend und zog den Knaben aus dem Zimmer.

»Du Unglücklicher,« seufzte Nurredin, »aber behalte den Kopf oben, Junge. Bei Omar-Pascha wechseln die Launen wie das Wetter im April; vielleicht ruft er dich schon morgen wieder zu sich zurück.«

Matthias antwortete nur durch einen Blick. Er fühlte sich krank und begann allmählich in eine Art von Stumpfsinn zu verfallen. Sie gingen bis an die letzten Häuser der Stadt, wo sich reiche Fruchtgärten weithin ausdehnten. Eine Anzahl Sklaven war hier mit der Ernte beschäftigt, und diesen Leuten sollte sich Matthias zugesellen.

»Nimm den Korb da und fange an, die Kaktusfeigen zu pflücken!«

Das war eine leichte Aufgabe, und unser Freund schob sogleich die erste der reifen, kühlenden Früchte unbemerkt in den Mund, während sich der schwarze Aufseher ein schattiges Plätzchen suchte, wo er bald einschlief. Die zwischen den Hecken beschäftigten Sklaven sahen es alle.

Von rechts und links näherten sie sich mit freundlichen Begrüßungen dem neuen Leidensgefährten.

»Cetti! Du hier? – Ach, und da ist Beppo! – Gottlob, Beppo! Habt ihr einen erträglichen Gebieter bekommen?«

»Ganz erträglich,« nickte der Segelmacher. »Cetti und ich pflücken Feigen. Das ist nicht schwer, und überdies trinkt auch der Aufseher so viel Branntwein, daß er meistens schläft.«

Matthias berichtete seine Erlebnisse, und während dieser Zeit füllte sich sein Korb nach und nach mit Früchten. Jeder Genosse legte einige Hände voll hinein, so daß es aussah, als habe der neue Arbeiter emsig und ohne aufzublicken gepflückt.

»Ich sammle für dich mit, mein Junge,« sagte der Segelmacher. »Du bist krank, lege dich auf die Matten und schlafe!«

»Ja, ja,« bestätigten auch andere Stimmen. »Schlafe nur, armer Kerl, schlafe nur!«

Matthias schauderte. Trotz des heißen Tages fror ihn, er streckte sich im Schatten einer Palme auf einen Haufen Bastmatten und schloß die Augen, nachdem ihn Beppo noch sorglich zugedeckt hatte.

Nach einigen Stunden erwachte er nur wenig gestärkt, aber doch schon wohler. Die Kameraden hatten für ihn gearbeitet, seine Körbe waren bis an den Rand gefüllt, und der Schwarze nickte zufrieden.

Er nahm aus einem Holzkasten ein Paar Handschellen und legte sie dem Knaben an. Beppo, der den Auftrag hatte, Matthias an Omars Palastwache abzuliefern, wanderte mit diesem langsam durch den wundervollen Abend dahin. Sie sprachen nicht viel, aber die Herzen verstanden sich, und der Händedruck, den sie beim Abschied wechselten, sagte ihnen alles.

So war der erste Tag der Sklaverei dahingegangen und andere folgten. Matthias erhielt aus Nurredins Händen heimlich eine gute Verpflegung, wurde durchaus nicht mit Arbeit überbürdet und konnte schlafen, so oft der Neger betrunken im Winkel lag; aber dennoch zehrte an seiner Seele eine tiefe Mutlosigkeit. Es war entsetzlich, morgens und abends wie ein wildes Tier an der Kette auf den Arbeitsplatz geführt zu werden und dort Feigen einzusammeln oder die gepflückten auszulesen. Wenn diese Ernte beendet war, dann mußte man Mais in die Scheunen bringen oder das Land bearbeiten, Holz spalten und Wasser herbeitragen. Eine entmutigende Aussicht.

Acht Tage waren seit dem Beginn dieser Schreckenszeit verflossen, da trat eines Tages Nurredin kopfschüttelnd zu ihm und sah ihn lange an. »Ich habe dir eine Hiobspost zu melden, Matthias. Bist du stark genug, sie anzuhören?«

»Gewiß, gewiß!«

»Der arme Weber ist von den Milizen aufgegriffen und in die Kaserne gebracht worden. Als er dann den ihm geschenkten Freibrief von Muley Abdallah herbeiholen wollte, hieß es, Mardochai könne einen solchen überhaupt nicht ausstellen, da er der Regierung große Summen schulde, und so wurde denn unser junger Landsmann der Abteilung Fuad-Paschas ohne weiteres zugeordnet. Jetzt ist er viele Meilen von hier entfernt, er reitet gegen die Beduinen. – Aber jetzt schlafe, denn du bist schwach und krank.«

Matthias seufzte.

»Du sollst nicht lange mehr krank sein. Um Mitternacht sende ich den Koch Muhammed zu dir. Er ist ein verständiger Mann, er soll dich zu den Beni Aisauri führen, die dich gesund machen und, in Körben verpackt, deine Krankheit zu ihrem Tempel in die Wüste Barka tragen werden.«

»Wer sind die Beni Aisauri?«

»Weise Männer, die den Kranken helfen – aber nun frage nicht mehr, schlafe und wisse, daß ich stets dein Bestes will.«

Gehorsam schloß Matthias die Augen. Spät in der Nacht fühlte er sich wirklich durch einen bärtigen Mann geweckt, der sich als der Koch Muhammed zu erkennen gab und Matthias aufforderte, ihm zu folgen.

Matthias erhob sich. Beide verließen durch eine versteckte Gartenpforte den Palast und wanderten vor die Stadt hinaus, wo die Beni-Aisauri-Mönche hausten und bei Vollmondschein die Aufträge vieler Kranken entgegennahmen, für Geld und gute Worte ihre Leiden, in Körbe verpackt, hinaus in die Wüste zu schaffen. Auch für Matthias erlegte der Koch den nötigen Tribut und kehrte dann in die Stadt mit seinem Schützling zurück, der sich freilich mehr erheitert fühlte, als daß er geglaubt hätte, auf solche Weise Hilfe erhalten zu haben.

Als sie den Garten wieder betraten, erschraken sie auf das Heftigste. Der Fuß stockte. Dicht neben der Pforte auf einer Dank saß Omar. Sollten sie fliehen, sollten sie verweilen. Aber ehe sie zu einem Entschlusse gekommen, schlug des Paschas Wort an ihr Ohr. »Bleibt! – Ich zürne ja nicht! Wo kommt ihr her?«

Der Koch zitterte trotz der freundlichen Worte an allen Gliedern. Sich zur Erde werfend, stammelte er. »Gnade, o Herr!. Ich … wir … die Beni Aisauri … der Knabe hier …«

»Ist er krank?« fragte der Pascha mit einem langen Blick auf Matthias. »Dann verstehe ich. Du hast sein Leiden in die Körbe der Rotmäntel gepackt. Das ist nichts Unrechtes. Geh …«

Muhammed sprang empor. Auch Matthias wollte sich entfernen.

»Halt!« gebot Omar. »Der Knabe bleibt. Er soll mir einige Fragen beantworten.« – Als der Koch enteilt war, sah Omar lange in das abgezehrte Gesicht des Knaben. »Setze dich auf die Steinbank hier neben mich. – Bist du krank, mein Sohn?«

»Hamid sagte, es sei ein schleichendes Fieber, Herr!«

»Warum ist mir davon keine Kenntnis gegeben worden?«

»Ich weiß es nicht, Herr.«

»Aber ich desto besser. Man hat mich dir gewiß als einen rohen, unbarmherzigen Menschen geschildert, einen Teufel, der die Grausamkeit als eine Belustigung ansieht. Ist es nicht so?«

»Man sagte mir nur, du hassest die Deutschen. Sonst nichts.«

»Dienstbotengewäsch.« – Dann nach einer Pause sagte Omar unvermittelt. »Hast du einen Wunsch? Könnte ich dir eine Bitte erfüllen?«

»O Herr« – in Matthias Augen leuchtete es auf. »Mich drückt eine schwere Last.«

»Sprich.«

Auf dieses Wort hin begann der Knabe von der Schuld seines toten Vaters an Ferrati zu erzählen. »Er schreit über den Verlust, den er so erlitten, und beschimpft den Toten im Grabe. Um die Schuld abzudienen, ging ich zur See. Das ist jetzt unmöglich geworden. Aber, würdest du, Herr, mir gestalten, wie ein freier Arbeiter zu leben, dann könnte ich mein Ziel vielleicht doch noch einmal erreichen.«

Matthias wußte kaum, ob der Pascha ihn verstanden. Schweigend sah er vor sich hin.

»Heute ist mein Geburtstag,« sagte er plötzlich unvermittelt auf ein völlig anderes Gesprächsthema überspringend. »Willst du mir einen Wunsch erfüllen, Matthias?«

»Wenn es in meiner Macht steht, gewiß!«

Der Pascha wandte sich ab und sah in die mondbeschienene Landschaft hinaus. »Dann wünsche mir Glück, Kind, – aber in deiner deutschen Muttersprache.«

Matthias wurde, er wußte nicht wie. »Mögest du Frieden finden für deine Seele,« sagte er schlicht, »möge dein Herz ruhig werden.«

Wie ein Zucken ging es durch des Paschas Körper. Tief neigte er das Haupt. Als er wieder emporsah, sagte er: »Du bleibst fortan bei mir im Schlosse, Matthias. Du bekommst Kleider, wie ich sie trage, ein Zimmer neben dem meinigen; du wirst mit mir essen und meine Bibliothek als die deinige betrachten. Morgen soll erst einmal der Arzt kommen und dich untersuchen.«

Omar ging die Treppen hinab und durch eine zweite gewölbte Halle in das Schloß zurück, gefolgt von dem Knaben, der beinahe zu träumen glaubte. War das derselbe Mann, der im Rufe stand, mit oder ohne Veranlassung die Christensklaven nach Laune zu mißhandeln oder gar in den Tod zu schicken?

Jetzt ging es die breite Marmortreppe hinauf, in das Zimmer mit dem Diwan, hinter welchem Matthias damals Schutz gesucht und gefunden. Zwei Glockenschläge riefen den Hausmeister herbei, und als dieser kam, gab ihm Omar den Befehl, für ein Bett und die nötigen Kleider zu sorgen.

»Weißer Haik, nicht wahr, Matthias? Das übrige braun oder dunkelblau. Und nun, gute Nacht. Morgen kommt der Arzt.«

Eine Handbewegung gab das Entlassungszeichen, Nurredin aber war sprachlos vor Verwunderung. »Kann der Junge hexen?« dachte er.

In dieser Nacht war des Knaben Fieber sehr stark, so daß ihn am anderen Morgen der Arzt kreidebleich antraf. Der Gelehrte fragte nach diesem und jenem und erklärte, der junge Herr bedürfe nur der Ruhe, frischer Luft, guter Pflege und angemessener Bewegung im Freien. »Können Sie reiten, Herr? – Das würde ich Ihnen am ehesten empfehlen.«

Reiten! Matthias bejahte.

Omar schien sehr zufrieden. »Das ist ja hübsch,« sagte er. »Heute noch soll dir der Stallmeister ein recht frommes, gut zugerittenes Tier aussuchen.«

Und dann, nachdem sich der Arzt entfernt hatte, reichte der Pascha Matthias eine kleine gestickte Börse, aus deren Maschen glänzendes Gold hervorschimmerte.

»Für etwaige Ausgaben,« sagte er. »Mein Schatzmeister ist angewiesen, dir fernerhin zu geben, was du wünschest. Auch darfst du dich frei bewegen; doch habe ich eine Bitte. Entziehe dich mir nicht durch Flucht. Übrigens erhalten heute noch die spanischen Missionare das Geld für den alten Geizhals Ferrati, die frommen Brüder haben Verbindungen überall. Es wird ihnen leicht sein, die Summe für dich zur Auszahlung zu bringen. Der Schatzmeister begibt sich heute noch in das Kloster.«

Jeden Dank des beglückten Knaben lehnte Omar lächelnd ab. »Schon gut, komme lieber mit, die Pferde zu besichtigen. Später gebe ich dir regelmäßig Reitstunden.«

Der Stallmeister wurde herbeigerufen, und nach diesem Tage begann der regelmäßige Unterricht. Matthias trank feine Weine, bekam zum Frühstück ein gebratenes Huhn und zum Mittagessen ein Beefsteak, er studierte fremde Sprachen und war, wie der Pascha selbst, nie müßig, er brauchte aber keinerlei Arbeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu verrichten und wurde in allen Stücken gehalten wie ein Sohn des Hauses.

»Siehst du,« sagte mit würdevollem Kopfnicken der Koch, »die Beni Aisauri haben richtig deine Krankheit in ihren Körben fortgetragen. Du siehst frisch und fröhlich aus und kannst essen für drei.«

Matthias lachte belustigt. Er ritt jeden Tag mit dem Pascha spazieren und fand zu seinem eigenen Erstaunen, daß ihm der Mann, den er so energisch gehaßt hatte, nun bei näherer Bekanntschaft immer lieber wurde. Omar war ein tief unglücklicher Mensch, das hatte er längst erkannt.


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