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Erstes Kapitel

Es war etwa um fünf Uhr morgens. Aus dem Krater des Vesuv stieg eine leichte bläulichweiße Rauchwolke in langsamen Windungen zum sonnenhellen Himmel empor.

Heute sollte die Weinlese beginnen. Aus den Dörfern und Städtchen am Abhange hatten sich die Leute mit großen Körben und Bütten zahlreich eingefunden, um die Trauben einzusammeln und ins Tal zu schaffen. Auch eine Anzahl halberwachsener Knaben kam die Anhöhen heraufgestürmt.

Zwei davon unterschieden sich merklich von ihren Genossen; der eine durch einen besseren Anzug und sein herausforderndes Wesen, der andere durch den weit größeren und kräftigeren Körperbau, der ihn im Verein mit hellerer Hautfarbe und treuherzig blickenden Blauaugen als einen Nordländer kennzeichnete; Matthias Bergfeld war mit seinen Eltern aus Hamburg eingewandert. Auf dem Rücken trug er einen großen Korb und in der Hand ein Messer. Er schien sich jetzt von den Genossen trennen zu wollen, denn er sagte: »Da ist meines Vaters Weingarten! Auf Wiedersehen!«

Der andere Junge stand in diesem Augenblick still und hob die Hand, während er zugleich den Korb von der Schulter warf. »Ich habe einen Plan!« rief er. »Seht ihr da unten auf dem Meere das neue schöne Schiff mit den glänzend weißen Segeln und der großen Flagge?«

Aller Augen suchten den Golf, aus dessen blauer Tiefe in ziemlich bedeutender Entfernung ein stattlicher Segler emporragte. »Das ist die ›Napoli‹,« rief einer. »Was soll's mit ihr, Giulio?«

»Das Schiff des reichen Signor Ferrati! Es geht dieser Tage nach den Südseeinseln unter Segel.«

Giulio nickte. »Und ich gehe als Kajütsjunge mit. Vielleicht sehe ich in Jahren meine Heimat nicht wieder. – Hört zu! – Wer von euch ist schon auf dem Vesuv gewesen?«

Die Knaben sahen einander an. »Ich nicht!« tönte es von den Lippen aller.

»Ich selbst bin auch noch nicht hinaufgekommen,« nickte Giulio. »Wie wäre es also, wenn wir heute die Sache mal versuchten? Vier Stunden genügen zum Aufstieg, ebenso viele zur Talfahrt. Etwa gegen drei Uhr nachmittags sind wir wieder an Ort und Stelle, und kein Mensch erfährt, wo wir gesteckt haben.«

Wenige Minuten später trabte die ganze Schar über Geröll und Steine dahin, einem auswärtsführenden Wege entgegen. Die Trauben würden ja nicht davonlaufen, man pflückte sie morgen, meinten sie.

»Da sind die Esel!« rief Giulio.

Eine Menge kleiner halbnackter Jungen kam zum Vorschein, hinüber und herüber schwirrten die Angebote, Esel wieherten, Menschen schimpften oder lachten. Fünf Minuten später saßen unsere Freunde in den Sätteln, die Treiber liefen, mit Dornenstöcken versehen, eifernd hinterdrein, und in schnellem Trabe ging es bergauf.

Weiter und weiter entschwand den Blicken das blühende Landschaftsbild am Fuße des Vulkans. Jetzt sah man die Rauchmasse schon näher und größer. Wie eine Pinie war sie geformt, mit schlankem Stamm und breiter Krone. Mitten aus dem riesigen Schlunde des Kraters kam sie heraus.

»Merkwürdig still ist der Tag,« sagte jemand.

»Und kein Vogel singt mehr.«

»Weil es hier in den Steinwüsten keine gibt. Überall bedeckt fußhoch Lava den Boden.«

»Du,« fragte Giulio den Treiber seines Reittieres, »du, warst du schon einmal oben am Rande des Kraters?«

Der Junge nickte.

»Kann man auch das Feuer sehen?« fragte Matthias.

»Si! Si! Aber dazu mußt du hinabsteigen, Signor – über den Rand – mußt mit sicherem Schritt von Stein zu Stein springen bis in die innerste Mitte des Kraters. Da steht ein einzelner Kegel – in dessen Schlund glüht die Flamme, da leuchtet es, und rote flüssige Glut füllt den Raum.

Matthias schüttelte sich.

»Der Schwefelgeruch wird immer stärker,« meinte er.

Das fanden die übrigen auch. »Es ist, als sei Staub in der Luft.«

»Oder feine Asche.«

»Das dachte ich schon vorhin. Meine Hand war mit feinem grauen Pulver bedeckt.«

Fast wie eine Ebene dehnte sich das weite Rund, hie und da von rauchenden Spalten durchzogen, und nur in der Mitte wogte und gärte, den tieferen Schlund ausfüllend, die bewegliche Masse wie ein Knäuel von Riesenschlangen, bald zusammengeballt, bald auseinanderschnellend, unter- und übereinander dahinschießend wie lebende Wesen, die in enger Gefangenschaft den Ausgang suchen.

»Heute sind die Berggeister in vollster Arbeit,« bemerkte ein kleiner Führer.

»Hört ihr nichts?« fragte eine andere Stimme.

»Nein. Was denn?«

»Es klang, wie wenn ein Wagen in weiter Ferne über eine Brücke fährt. Aber ich kann mich auch getäuscht haben.«

»Das kommt von dem Wühlen und Bewegen im Krater. Ich mag es nicht länger mit ansehen.«

»Ich auch nicht. Man ist ohnehin durch den langen Ritt hungrig geworden.«

Die jugendlichen Reiter suchten hier und dort zwischen den Lavablöcken möglichst bequeme Sitzplätze, um dann das Frühstück aus den Taschen hervorzuholen und tüchtig hineinzubeißen, während die Esel ihre spärliche, aus dem Tal mit heraufgebrachte Heuration verzehrten.

»Also du willst Seemann werden, Giulio?« fragte einer der Knaben. Der schlanke Knabe lächelte eigentümlich. »Das wohl weniger,« versetzte er, »aber die Reise nach der Südsee möchte ich gern einmal mitmachen. Mein Vetter Carlos ist erster Steuermann an Bord der ›Napoli‹, müßt ihr wissen.«

Die anderen sprachen hin und her. »Ich möchte auch einmal eine Seereise unternehmen,« meinte einer, »aber freilich – – nicht mit der ›Napoli‹. Die Leute erzählen sich nämlich, der geizige Ferrati wolle Sklaven einfangen und nach Südamerika auf den Markt bringen.«

Giulio lachte. »Was kümmert das die Besatzung?« rief er.

»Die wird an den Mast gehängt, wenn etwa ein dänisches Kriegsschiff den Sklavenjäger auf frischer Tat ertappt!«

»Wenn! Wenn! Signor Ferrati will eine der Südseeinseln für sich gewinnen, will da eine Art König werden und zu seinen vielen Millionen noch neue erjagen, das ist alles.«

»Vor fünf Jahren hat er seinen einzigen Sohn auf die See hinausgeschickt,« sagte einer. »Das war, als er das erste Schiff ausrüstete, um in der Südsee Sklaven zu fangen. Alfeo mußte mit, ob er wollte oder nicht, denn er konnte ja doch die Besatzung überwachen. Der Alte soll ihn damals gewaltsam auf das Schiff gebracht haben.«

»So ist es,« nickte Giulio. »Das war die erste ›Napoli‹.«

»Sie kam niemals hierher zurück, nicht wahr?«

»Nie. Verschollen, verloren, untergegangen mit Mann und Maus.«

»Und das alles konnte den Geizkragen nicht mürbe machen? Er nennt auch dies schöne schlanke Schiff getrost wieder ›Napoli‹ und versucht auf dem Wege, der ihm seinen einzigen Sohn gekostet hat, abermals das trügerische Glück? Ich würde mich hüten, ein verfemtes Schiff zu besteigen.«

Matthias hob den Kopf. »Ich auch,« sagte er.

In diesem Augenblick fuhr ein Windstoß durch die Luft, eine Säule aus loser, zerflatternder Asche hob sich hoch empor und wirbelte auseinander, die jungen Leute mit schwärzlichem Staub vom Kopf bis zu den Füßen überschüttend.

»Es kommt ein Unwetter,« meinte einer der Treiber. »Die Tiere werden unruhig, sie sind klüger als wir und suchen Schutz.«

»Aber hier oben gibt es ja weder Baum noch Strauch. Du lieber Himmel, wenn wir nur erst ohne Unfall wieder auf ebener Erde angelangt wären!«

Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein neuer Windstoß daherfuhr, begleitet von langanhaltendem Donner und einem Aschenregen, der diesmal nicht wieder aufhören zu wollen schien. Die Luft verfinsterte sich von Minute zu Minute immer mehr.

Jetzt hatten die jungen Leute ihre Tiere bestiegen, und suchten ängstlich den Weg ins Tal. Man konnte nicht mehr mit Sicherheit sehen, konnte kaum atmen, kaum die Augen offen halten, so sehr tobte von allen Seiten der entfesselte Sturm.

»Ein Aschenregen!« jammerten die Eseltreiber. »Heilige Jungfrau, steh uns bei!«

»Ruhig! ruhig!« ermahnte Matthias. »Kameraden, ich glaube, wir müssen uns entschließen, zu Fuß zu gehen, – die Herrschaft über die Tiere ist im Augenblick verloren.«

Man ließ die Esel laufen, wohin sie wollten, und suchte zwischen den zerstreuten Lavablöcken, in mehr als fußtiefer Asche watend, den abwärts führenden Weg. Der heftige Wind trieb den Rauch aus dem Krater um den ganzen Berg, Funken mischten sich hinein und festere Aschenklumpen; dann, als zufällig einer der Knaben emporblickte, sah er durch alle Hindernisse hinweg eine hohe Feuersäule, die aus dem mittleren Schlunde aufstieg. In jedem Augenblicke konnte der Strom glühender, flüssiger Lava hervorbrechen und seinen Weg in das Tal nehmen.

»Wir sind fehl gegangen!« ertönte plötzlich Giulios helle Stimme. »Vor uns liegt eine breite Schlucht.«

»Auch die Esel können nicht hinüber. Sie laufen schreiend durcheinander.«

Im heftigen, den Blick mehr als halb verschleiernden Aschenregen sahen die jungen Leute das tief ausgehöhlte Bett eines früheren Lavastromes. Schwarz und unheimlich gähnte der offene Schlund. Wie aus weiter Ferne drang zu den Obenstehenden das klagende Wimmern einer Tierstimme. Einer der Esel mochte in den Abgrund gestürzt sein und nun mit zerschmetterten Gliedern auf dem spitzen Gestein liegen.

Ein Treiber rang voll Verzweiflung die Hände. »Das ist Mira, mein armes, gutes Tier – ach, ihr Heiligen, wie soll ich ihr nur helfen?«

»Mir will scheinen, als ginge unser Weg nicht mehr bergab!« rief Matthias.

»Großer Gott, das wäre schrecklich!«

»Aber die Schlucht zwingt uns, an ihrem Rande zu bleiben!«

»Oh, die entsetzliche Schlucht. Stundenweit führt sie dahin!«

»Und nicht zu Tal?« rief Matthias.

»Nein – zur Wohnung des Eremiten.«

»Hier oben in der Steinwüste lebt also ein Mönch?«

»Ja, ein frommer Franziskaner. Seine Hütte hat er aus Lavablöcken aufgebaut. Er lebt von dem, was ihm mitleidige Menschen schenken.«

Noch eine martervolle Viertelstunde beschwerlichen Weges wurde durchlitten, dann schimmerte ziemlich nahe vor der kleinen Schar ein schwaches Licht durch die Finsternis des Aschenregens.

»Das ist Fra Urbinos Hütte!«

Matthias eilte etwas voraus und klopfte an die Tür. »Fra Urbino!« rief er.

Die Tür wurde sogleich geöffnet, und hinter ihr zeigte sich die hohe, ungebeugte Gestalt eines Greises, dessen weißer Bart bis auf den Gürtel herabhing. Ein Käppchen aus schwarzem Seidenstoff bedeckte das Haupt des Alten, dessen Mönchgewand durch ein hänfenes Seil zusammengehalten wurde, während die Füße in Lederschuhen steckten. Fra Urbino schien bei dem Anblick seiner unerwarteten Gäste lebhaft zu erschrecken.

»Kinder,« sagte er, »wie kommt ihr gerade jetzt hierher?«

»Wir sind von dem Aschenregen überrascht worden, frommer Vater. Ist es erlaubt, in Eurer Klause das Unwetter vorüberziehen zu lassen?«

Der Einsiedler trat zurück. »Seid willkommen!« versetzte er. »Ob zum Leben oder zum gemeinsamen Tode, das weiß nur einer – bei ihm allein steht die Entscheidung.«

Das kleine Gebäude faßte kaum die ganze Schar der Besucher. Überall am Boden kauerten müde und matt von der inneren Unruhe die Knaben, denen der Franziskaner mitleidig den Trunk kalten Wassers reichte.

»In einer Stunde wird der Aschenregen aufgehört haben,« sagte Fra Urbino.

»Woher wißt Ihr das, frommer Vater?«

»Weil ich ihrer zwanzig und mehr hier oben schon durchlebte. Das Ärgste ist bereits vorüber.«

»Gott sei Dank!« riefen fast alle wie aus einem Munde.

Im halben Schimmer des neuerwachenden Tageslichtes schien die aus dem Krater aufsteigende Feuersäule weniger rot und grauenerregend als vorhin, die Blitze verloren sich, und der Aschenregen hörte allmählich auf, ja, nach einigen Minuten hatten sich die kleinen Eseltreiber schon vollständig zurechtgefunden, und man konnte an den Aufbruch denken.

»Hier geht es hinab,« rief Beppo. »In drei Stunden sind wir zu Hause.«

Der Einsiedler zog aus einer Spalte der Wand ein kleines abgegriffenes Buch hervor. »In dem Vierteljahrhundert, seit ich hier oben lebe, sind zu mir viele schutzbedürftige Menschen gekommen,« sagte er, »alle dürstend und voll Angst und Schrecken wie ihr, die haben sämtlich ihre Namen hierhergesetzt und vielleicht noch ein Wort der Erinnerung außerdem. Wollt ihr ein Gleiches tun?«

Matthias nahm dankend das Heft, von dessen Blättern ihm die Namenszüge aller Nationen entgegenschimmerten. Mit fester Hand schrieb er zwei Zeilen hinein und gab dann das kleine Buch zurück.

»Matthias Bergfeld,« las der Geistliche. »Den 3. Juli 1805. – So, ihr anderen, jetzt ist es an euch.«

Die Knaben ließen das Buch von Hand zu Hand gehen, als aber einer derselben es dem trotzig dastehenden Giulio reichen wollte, verschränkte dieser die Arme und schüttelte abwehrend den Kopf.

Nach einem kurzen Danke an den Einsiedler verließ die kleine Schar auf dem nächsten Wege die Hütte. Die Eseltreiber pfiffen und riefen unablässig die Namen ihrer Tiere in alle Himmelsgegenden hinaus, aber keine Stimme antwortete ihnen. Möglicherweise hatten sämtliche Langohre den Weg in die heimischen Ställe allein gefunden.

Aber dennoch – ein Laut drang aus der Schlucht hervor, gerade da, wo diese in Windungen auf den gebahnten Weg ausmündete. »I – ah! – I – ah!«

»Das ist Mira!« jubelte der kleine Treiber. »Mira! Mira!«

Und wirklich hinkte der Graue arg zerschunden und blutend langsam herbei; er hatte sich hier und dort verletzt, aber wenigstens lebte er doch noch, und als Kennerblicke seine Wunden untersuchten, fand es sich, daß keine derselben bedenklich war.

Giulio näherte sich dem Grauen. »Flink!« gebot er in herrischem Tone dem Treiber. »Wo ist dein Stock? Ich will reiten.«

Beppo deckte schützend beide Arme über den Rücken seines Tieres. »O nein, Signor,« rief er in ängstlichem Tone. »Nein, das geht nicht an. Mira blutet, ihr Fuß ist verletzt, sie kann dich nicht tragen, überdies gehört das Tier für heute auch dem deutschen Herrn.«

Giulio lachte spöttisch, obgleich ihm der Ärger das Blut ins Gesicht trieb.

»Dem deutschen Herrn?« wiederholte er mit scharfer Betonung. »Das verstehe ich nicht. Matthias und sein Vater sind Signor Ferratis Knechte, weiter nichts.«

Diesen Worten folgte eine Pause. Vielleicht hatte Giulio eine zornige Entgegnung erwartet und ärgerte sich jetzt um so mehr, je gelassener sein Gegner die Beleidigung aufnahm. Er konnte den Zank, den er herbeiführen wollte, nicht erreichen. Matthias blieb stumm.

»Du!« rief er endlich in ungeduldigem, herrischem Tone, »Du! Wenn denn der Esel wirklich dein Reittier ist, so leihe ihn mir. Ich bin ermüdet.«

Matthias wandte den Kopf. »Es tut mir leid, deine Bitte abschlagen zu müssen, Giulio. Der Esel kann ja kaum sein eigenes Gewicht tragen.«

»Sind alle Deutschen so empfindsam?«

»Ja. Ein blutendes, hinkendes Tier zu besteigen, würde jeder meiner Landsleute verschmähen.«

»Ha! ha! ha! – Bettler!«

»Was sagst du da?«

Und nun stieg das heiße junge Blut auch in die Schläfe des deutschen Knaben empor, mit geballten Fäusten wandte er sich zu seinem Beleidiger. »Was sagtest du eben, Giulio?«

»Ich nannte dich einen Bettler, einen deutschen Hund! Dich und deinen Vater, der –«

Weiter kam er nicht! Matthias hatte sich urplötzlich auf ihn gestürzt und ihn zu Boden geworfen, ehe noch irgendein Widerstand möglich gewesen war. Einige klatschende Ohrfeigen belohnten den heimtückischen Angriff auf die Ehre des abwesenden Mannes.

Giulio hatte sich wieder erhoben. Schon von der Schulbank her wußte er, daß seine Kräfte denen des Deutschen nicht gewachsen waren, aber eben aus diesem Grunde haßte er ihn und suchte beständig Reibungen, denen sich Matthias, solange es anging, schweigend zu entziehen verstand, bis dann bei Gelegenheiten wie diese auch die deutsche Langmut endlich riß und statt des Wortes die geballte Faust den Streit schlichtete.

»Hier stehe ich,« rief Matthias blitzenden Auges. »Willst du dir Genugtuung verschaffen, so komm nur her – ich bin bereit.«

Giulio wandte sich zornig ab. »Warte nur, zwischen uns gibt es noch eine Abrechnung,« murmelte er vor sich hin, die Faust ballend.

Die Knaben beeilten sich heimzukommen. Jeder auf kürzestem Wege. »Vater, Mutter,« rief Matthias bei seinen Eltern eintretend. »Ihr waret meinetwegen doch nicht in Sorge?«

Ein lauter Jubelschrei der Geschwister begrüßte ihn, die Mutter streckte ihm beide Hände entgegen. »Matthias, wie konntest du dich bei solchem Wetter von Hause entfernen? Oh, wie haben wir alle uns geängstigt!«

Die arme Frau weinte vor Aufregung. »O Gott, Gott, welch ein Tag!«

Matthias hatte Mühe, sie einigermaßen zu beruhigen; als dann auch der Vater hinzukam, erzählte er beiden, was geschehen war, und erreichte auf die erste Bitte hin ihre Verzeihung. Signor Ferrati hatte schon zwei Boten geschickt, um sich zu erkundigen, ob auch alle seine Trauben von den Stöcken genommen seien. Er wollte vor Abend noch selbst kommen, um die Dinge in Augenschein zu nehmen.

»Solch ein geiziger Mann!« seufzte Frau Bergfeld. »Er denkt nur an den leidigen Gewinn; seine Mitmenschen sind ihm nicht der geringsten Rücksicht wert.«

»Komm, mein Junge, hilf mir,« sagte der Vater; »es ist für heute noch viel zu tun.«

Berge von Trauben lagen draußen, die alle noch der säubernden Hand bedurften. Da das Unwetter viele Arbeiter verscheucht hatte, lag alle Arbeit dem Vater allein ob.

Gegen Abend kam Signor Ferrati, die Gärten zu mustern. »Die Leute sind fast alle geflüchtet,« sagte er höhnisch –, »also wird keiner wieder eingestellt, Aufseher!«

Bergfeld griff an die Mütze. »Sehr wohl, Herr!«

Der Italiener musterte das blasse, kummervolle Gesicht seines Schuldners. »Gedenken Sie auch von hier fortzugehen, Aufseher?«

»Mir fehlen die Mittel, Herr. Ich kann es nicht,« entgegnete Bergfeld bedrückt.

»Gut, das vereinfacht die Sache. Ich glaube auch nicht, daß ein anderer Ihnen so viel Schonung angedeihen läßt wie ich.«

Damit ging er. Bergfeld sah ihm kopfschüttelnd nach. »Hast du es gehört, Matthias? Von den Arbeitern wird keiner wieder eingestellt, und wollen sie in ihre Häuser zurückkehren, treibt der Büttel sie von der Schwelle.« ,

Tiefbedrückt kehrten Vater und Sohn heim. Die erste Hälfte der Nacht verlief ohne Störung, aber bei Sonnenaufgang ward es draußen unruhig. Man vernahm Stimmen und das Geräusch von eiligen Schritten. »Seht doch! Seht doch,« rief es immer lauter.

Schleunigst erhob sich Matthias, kleidete sich an und spähte in die Schlafkammer der Eltern.

»Was gibt es?« fragte Bergfeld, sich halb aufrichtend.

»Ich will gleich nachsehen, Vater.«

»Aber wecke die Mutter nicht auf, sie ist kaum erst eingeschlafen.

Matthias schlüpfte auf den Zehenspitzen hinaus. Die Leute draußen blickten zu dem Vesuv empor. Voller Todesangst die einen. Andere in einen Anblick versunken, wie er schöner und großartiger nicht gedacht werden konnte.

Aus dem Abhang des Berges brachen hier und dort hohe breite Ströme siedenden Wassers hervor und wurden durch die Macht des nachtreibenden Druckes als vielfach gewundene Säulen hoch in die Lust geschleudert. Oben zerplatzten und zerstäubten sie in den Strahlen der Morgensonne zu Millionen Tropfen. Matthias stand wie betäubt. Dergleichen hatte er noch nie gesehen. ,

»Und wenn nun neue Schlünde sich auftun,« sagte jemand. »Wenn unsere Häuser von dem kochenden Meerwasser überflutet werden?«

»Ach, das ist ja undenkbar.«

Der Sprechende hatte noch nicht geendet, als ein Laut wie das Rollen eines Lastwagens dumpf dröhnend erklang. Zugleich hob und senkte sich unter den Füßen der entsetzten Menschen die Erde in wellenförmigen Bewegungen, vornüber und zur Seite neigten die Häuser ihre Giebel, Bäume stürzten wie geknickt Halme, – dann ein Krachen, ein Aufschrei von hundert Stimmen zugleich, – und die Steinbauten sanken in sich zusammen und begruben unter den Trümmern alle diejenigen, die sich darin befanden. Eine Wolke von Kalkstaub wirbelte auf, Steine fielen hierhin und dorthin, Balken standen mitten auseinandergebrochen gen Himmel, Fensterscheiben stürzten klirrend zu Boden, hier und da flatterten Hühner oder Tauben mit geknickten Flügeln und Blutstropfen an den Federn schreiend auf, um dann sogleich schwerfällig wieder zurückzusinken; Geschrei und Rufen ertönte. Es war eine Szene unbeschreiblicher Verwirrung.

Matthias taumelte gleich einem Trunkenen. Der vor ihm liegende Trümmerhaufe war sein Vaterhaus, und inmitten der zerbrochenen Balken, der auseinandergerissenen Mauern befanden sich die Eltern und Geschwister, alle, alle, die er auf Erden liebte. Ihm war, als werde ihm die Kehle zusammengeschnürt. »Vater!« rief er. »Mutter! Mutter! Lebt ihr denn nicht mehr?«

Keine Antwort traf sein Ohr. Matthias rüttelte wie in Verzweiflung bald an dieser Seite des Trümmerhaufens, bald an jener. Steine fielen herab, Holzteile und Eisenriegel, auch im Innern des eingestürzten Hauses erhob sich lautes Gepolter, dann war wieder alles still.

»Mutter! Mutter!«

Der Knabe bedeckte mit beiden Händen sein Gesicht. »Sie sind alle tot,« schluchzte er. »Ich habe keine Antwort erhalten.«

»Das ist noch durchaus nicht gewiß, mein armer Junge. Es gehen sogleich Boten nach Neapel, und vor Mittag sind Soldaten hier, Ingenieure, Feuerwehrleute, die sich auf Arbeiten wie diese verstehen. Man wird nachgraben, aufräumen und retten, was zu retten ist.«

Verzweifelt umschlich Matthias das eingestürzte Haus und suchte durch Ritzen und Spalten einen Einblick in das Innere zu gewinnen, lauschte, rief nach seinen Lieben. Allein kein Laut antwortete ihm.

Dann kam das Militär und mit ihm alle möglichen Hilfsmittel zur Errettung der Verschütteten. Halb Neapel brachte Liebesgaben. Hilfsbereite Hände griffen überall zu. Auch Signor Ferrati eilte herbei und betrachtete das herzzereißende Bild der Zerstörung.

»Das Haus hier war mein Eigentum« – murmelte er ärgerlich. »Wer ersetzt mir nun den Schaden? Oh, und aller Wein, aller Wein! Die ganze Ernte!«

»Ist das nicht der, den man den reichsten Mann von Neapel nennt. Der, dem das Sklavenschiff da unten gehört?«

Ferrati warf auf die Gruppe der Sprechenden einen giftigen Blick. »Was Sklavenschiff?« knurrte er. »Die ›Napoli‹ soll Kaufmannsgüter verladen, ebenso wie alle anderen Schiffe.«

Man lachte ihm ins Gesicht. »Das ist ein öffentliches Geheimnis,« sagte jemand. »Die erste ›Napoli‹ ging auch auf Schleichwegen, und der Teufel zog sie in die bodenlose Tiefe hinab.«

»Wo ist der Aufseher?« schrie Ferrati, dem es daran lag, jemand zu haben, den er seine böse Laune nach Herzenslust fühlen lassen konnte. »Bergfeld! Bergfeld, wo stecken Sie?«

Eine Hand deutete auf das eingestürzte Haus. »Da drinnen mit allen Seinigen. Tot!«

»Ihr Heiligen! – und er schuldete mir mehr als tausend Lire!«

Rings ballten sich die Fäuste auch der Geduldigsten. »Jagt doch den Geizhals über alle Berge!«

»Schade, daß nicht der schwerste Stein auf seinen Kopf fiel!«

»Es ist immer noch Zeit genug, – schlagt ihn tot den Menschenquäler!«

Vor den drohenden Blicken der Empörten eilte Signor Ferrati, so schnell er konnte, aus dem Gebiet des Erdbebens. Allerlei Wurfgeschosse wurden ihm nachgeschleudert, Verwünschungen ohne Zahl, – er mußte in ein unversehrt gebliebenes Haus flüchten, um der Wut des Volkes zu entgehen.

Währenddessen waren die Soldaten schon eifrig an der Arbeit, das Rettungswerk auszuführen. Auf die inständigen Bitten Matthias' beschäftigten sich mehrere am Bergfeldschen Hause. Einer klopft« mit einem Hammer vorsichtig an die Trümmerstücke. »Wo stecken Sie denn, Signor Bergfeld?«

»Hier! hier!«

Das klang wie der letzte Hauch eines Sterbenden.

Matthias schrie laut auf: »O Gott, mein Vater stirbt!«

Jetzt hatte der Mann die Richtung, in der er vorgehen mußte, gefunden. Es krachte im Innern des Trümmerhaufens. Staub wirbelte auf. Langsam glitt eine schwere Last zu Boden. Der Balken mit der Strickleiter schwankte, dann aber stand er doch wieder fest, und auch das Poltern der Steine hörte allmählich auf.

»Gelungen!« rief Geronimo. »Gelungen! Dank sei dem Himmel!«

Er trat bis an die Strickleiter. »Wenn doch jetzt ein Mann zu mir kommen könnte,« rief er mit seltsam beklommenem Tone. »Ich fürchte, es gibt noch eine sehr schwere Arbeit.«

Wie der Blitz hing Matthias an dem Balken, der die Leiter trug. »Ich will hinunter!« – das war alles, was er sagte.

Noch ein zweiter und dritter kletterten nach, Cesare und Matteo, die beiden verwegensten Turner unter der ganzen Schar.

Matthias lag schon neben seinem schwerverwundeten Vater auf den Knien. Es war das Wohnzimmer der kleinen Familie, wohin der äußere Zugang führte. Jedenfalls hatte Bergfeld auf die Straße hinausgehen wollen, als ihn die Katastrophe überraschte. Von allen Seiten eingeschlossen, ohne Luft und Licht blieb er liegen, bis ihn die tapferen Retter erlösten.

Nun hob er den Kopf und aus seiner verwundeten Brust drang ein Ächzen des heftigsten Schmerzes. »Seht nach in der Kammer,« bat er. »Sie sind tot – ich glaube es ganz gewiß.«

Unablässig arbeiteten alle. Balken und Steine, Möbelstücke und Dachziegel wurden entfernt – ach, es gab da keine Höhlung, die unter den Trümmern verborgen gewesen wäre, keinen noch so kleinen Schlupfwinkel! Tiefer und tiefer sank die Hoffnung der Männer.

»Matthias,« fragte Bergfeld, »wie steht es?«

Auf der Stirn des Knaben perlten die großen Schweißtropfen. »Ich weiß es nicht, Vater! – Da ist ein fester Gegenstand! Das Bett!«

Matthias hatte unter Aufbietung aller seiner Kräfte einen Teil der Bettkissen bloßgelegt, jetzt griff er in etwas Feuchtes und ein Schauer banger Ahnung ging über sein Herz. Was war das?

Er hob die Hand zum Licht empor. »Blut!«

Bergfeld öffnete matt die Augen. »Wo bist du, Matthias? – Und deine Mutter, mein Junge? Und die Kinder?«

Matthias antwortete nicht, und sein Vater verstand ihn. »Ich wußte es,« murmelte der Verwundete. »Ich wußte es!«

Sie trugen ihn in das Zelt, und als dann drinnen in dem zerstörten Hause die Unglücksstätte bloßgelegt war, baten die mitleidigen Leute den Knaben, nicht hinzusehen.

Matthias brach förmlich in sich zusammen. »Sie sind tot? – Alle?« »Gott hat es so gewollt!«

Matthias bedeckte mit beiden Händen das zuckende Gesicht. Der Schmerz drohte ihm fast den Verstand zu rauben. »Es hat doch mit meinem Vater keine Gefahr?« fragte er den Arzt.

Der alte Herr streichelte mitleidig das unruhige Gesicht des Knaben. »Solange der Kranke lebt, dürfen wir hoffen,« tröstete er ihn.

Draußen betete die Bevölkerung mit angstvoll gerungenen Händen. Riesige Steine flogen aus dem Krater in die Luft empor. Flammensäulen, sprühende Funken und glühende Lava ergoß sich aus unzähligen Löchern, das, was das Erdbeben verschont hatte, vollends vernichtend.

Dann kam die Bestattung. Tränenlos folgte Matthias den Särgen. Dann saß er noch eine Nacht und einen langen Tag an dem Lager des Vaters, dessen Stunden gezählt waren.

Gegen Mitternacht erwachte dieser aus tiefem, bleiernem Schlaf. »Matthias,« sagte er mit matter Stimme, »du bist kein Kind mehr. Nimm allen Mut zusammen und sieh dem Kommenden gefaßt ins Antlitz. Ich sterbe und lasse dich ganz allein in der feindlichen, selbstsüchtigen Welt zurück – ohne Freund, ohne Beschützer. Das ist es, was mich so sehr quält.«

Matthias unterdrückte tapfer die Tränen, die ihm in die Augen treten wollten. »Denke nicht an den Tod, Vater! Gott wird dich erhalten!«

Aber der Kranke schüttelte matt den Kopf. »Was hilft es, sich geflissentlich zu täuschen, mein Junge? – In wenigen Stunden bist du ganz allein, und nichts bleibt dir, als schwere, kaum zu erfüllende Pflicht. Darum mußt du alles wissen – alles – das von dem Gelde. Es sind mehr als tausend Lire.«

»Die Signor Ferrati von dir noch zu fordern hat, Vater? War es das, was du meintest?«

Bergfeld bewegte kaum merklich den Kopf. »Es drückt mir – das Herz ab – auf – Erden eine – unbezahlte Schuld – zurückzulassen, mein Junge.«

»Du willst sagen, daß ich diese Summe tilgen muß, lieber Vater! Sei versichert, ich werde nicht ruhen, bis Signor Ferrati den letzten Heller erhalten hat.«

Die Hand des Sterbenden suchte die des Knaben. »Leb' wohl, mein Herzensjunge! – Leb' wohl! – Bleib ein guter, ehrlicher – Mensch!«

Seine Hand sank kraftlos zurück, die Finger wurden kalt, und ein letztes Zucken lief durch seine Glieder. Unbeweglich saß der Knabe an dem Bett, bis endlich ein Arzt hinzukam und ihn mit sanftem Zwange entfernte.

Matthias schloß kein Auge. Er sah immer starr vor sich hin, ohne zusammenhängend denken zu können. Dieser letzte Schlag hatte ihn vernichtend getroffen.

Signora Teresina, die freundliche Gemahlin Ferratis, schickte ihm durch einen Boten Lebensmittel und ließ ihm sagen, sie würde auch für das Begräbnis sorgen – er hörte es kaum.

Für ihn war die Welt leer. Wie im Traume folgte er dem Sarge seines Vaters. Er fühlte sich namenlos unglücklich. In tiefes Sinnen verloren, verließ er den Friedhof.

Erst die keifende Stimme des alten Ferrati weckte ihn aus seinem dumpfen, schmerzlichen Brüten. »Nun, Bursche, wie denkst du über die Zukunft? Weißt du auch, daß mir dein Vater mehr als tausend Lire schuldet?«

Purpurglut flog über das bleiche Gesicht des Knaben. »Ich weiß es,« stammelte er seufzend. »Leider!«

»Siehst du wohl, Junge! Und diese Schuld geht von Rechts wegen auf seinen einzigen Sohn, also auf dich über,« sagte Ferrati, gespannten Blickes der Antwort des Knaben harrend.

Dem schoß alles Blut in die Wangen. Den Kopf in den Nacken werfend, entgegnete er: »Gewiß! Ich schulde Ihnen das Geld, Herr!«

Ferrati verzog das Gesicht. »Nun gut! Aber da du weder die Mittel besitzt, dich selbst zu erhalten, geschweige denn die Schuld zu bezahlen, so muß natürlich ein Erwerbszweig für dich gefunden werden. Nicht wahr?«

»Natürlich, Herr. Ich möchte zunächst bei einem größeren Weinbergsbesitzer in Dienst treten.«

Der Italiener winkte abwehrend. »Nein, nein,« rief er, »das ist kein guter Gedanke. Ein solcher Mann würde dir Kost und Wohnung geben und außerdem ein paar Lire, kaum genug, um dir die nötigsten Kleider anzuschaffen. Du müßtest dein eigener Schuster sein, dein Schneider und deine Wäscherin – für mich bliebe dabei kein Heller übrig.«

Matthias senkte den Kopf. »Dann ersinnen Sie einen besseren Plan, Herr! Ich finde keinen.«

»Aber ich!« klang es zurück. »Wie ein Vater habe ich in Gedanken schon für dich gesorgt. Du sollst es gut haben, kräftige Kost und gesunde Lebensweise, auch die nötigen Kleider, dabei kannst du nebenher monatlich deine Schuld abtragen, immer sechs Lire, das macht im ersten Jahre schon zweiundsiebzig, eine hübsche Summe, nicht wahr? Aber deine Einnahmen wachsen natürlich, und bei sparsamer Wirtschaft darfst du hoffen, die ganze Schuld in etwa sieben Jahren getilgt zu haben; denn da du es bist, werde ich selbstverständlich weder Zins noch Zinseszins berechnen.«

Matthias fühlte sich unbehaglich bei den Motten des Italieners. »Und woran dachten Sie, Signor?« fragte er zögernd.

Der Italiener nickte und blinzelte fortwährend. »An etwas Schönes und Herrliches. Ich gebe dir aus reinem väterlichen Mitgefühl die Stellung eines Kajütsjungen auf meinem Dreimaster ›Napoli‹! – Was sagst du dazu, he? Bist ganz außer dir vor Freude, ganz gerührt, wie?«

Matthias trat einen Schritt zurück. »Ich sollte ein Seemann werden?« rief er ganz entsetzt. »Und gar auf der ›Napoli‹?«

»Natürlich! Natürlich! Ist es nicht ein sehr ehrenwerter Beruf, der des Seefahrers? Und ist nicht die ›Napoli‹ ein schönes, neues Schiff?«

»Das wohl, Herr, aber –«

»Es gibt hier gar kein Aber, Junge. Du mußt mit beiden Händen zugreifen und Gott und den Heiligen danken, daß dir ein so großes Glück zuteil wird.«

Bild: Karl Mühlmeister

Matthias schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht,« sagte er. »Nein, nein, ich kann es nicht. Die See erregt mir einen wahren Abscheu.«

»So bleib, wo du willst, hörst du, verdirb, geh zugrunde, betrüge mich um mein Geld, ich kann's nicht ändern. Vielleicht ist das in Deutschland so üblich.«

Ferrati lief eiligst davon. »Ich kriege ihn doch noch!« dachte er.

Matthias blieb ganz bestürzt und unruhig zurück.

Was nun?

Er lief von einem Weinbauern zum anderen und bot überall seine Dienste an, aber immer vergeblich. Für die Kost wollte ihn der eine behalten, für eine später zu zahlende Summe der andere, aber keiner konnte ihn sofort in Dienst nehmen und ihm pünktlichen Wochenlohn versprechen.

Signor Ferrati ließ sich während dieser Zeit gar nicht blicken. Matthias mußte ja früh genug kommen und um das bitten, was er damals so entrüstet zurückgewiesen hatte. Der Geizhals kannte das Leben und wußte, wie schwer es ist, sich mit leerer Hand ehrlich durchzubringen.

Matthias erwog auch wirklich an jedem Tage dringender und ernstlicher die Frage, ob es nicht seine Pflicht sei, doch als Kajütsjunge auf die »Napoli« zu gehen.

So sprach er denn am anderen Morgen über Signor Ferratis Anerbieten mit einem guten Freunde. Dieser sagte: »Ferrati will weiter nichts, als zu seinem Gelde kommen. Da ist von Barmherzigkeit oder Menschenliebe gar keine Rede. Der alte Filz nähme dir wohl das Haar vom Kopf, wenn sich's in bare Münze verwandeln ließe. Aber siehst du, im Augenblick gehen sein Vorteil und der deinige Hand in Hand, du kannst ein tüchtiger Seemann werden, der später sein eigenes Schiff führt. Matthias, ich rate dir, greife zu, der Plan ist gut.«

»Auch wenn mich nichts, gar nichts zum Seeleben hinzieht, Nachbar?«

Der andere nickte. »Auch dann. Etwas ist besser als nichts.«

»So werde ich denn heute noch zu ihm gehen,« entgegnete Matthias mit einem tiefen Seufzer.

Zwei Stunden darauf stand er vor Ferrati. Dieser empfing ihn sehr kühl. Die Dinge hatten sich zu seinem Vorteil geändert. Matthias kam um zu bitten, nicht, um sich bitten zu lassen.

»Ich will sehen, was sich machen läßt,« sagte Ferrati achselzuckend. »Stellt der Kapitän Lamberti dich ein, erhältst du von ihm ein Handgeld. Das hast du mir selbstverständlich abzuliefern. Wer Schulden hat, dem darf kein Geld gehören; er muß alles an seinen Gläubiger abliefern.«

Matthias neigte nur stumm den Kopf. Dann begab er sich zu einem Gasthause in Neapel, wo Kapitän Lamberti wohnte, und verpflichtete sich durch Namensunterschrift, am nächsten Sonnabend mit der »Napoli« in See zu stechen.

Nachdem der Abschied von den Gräbern seiner Eltern, von Freunden und Nachbarn genommen war, kam Signora Teresina zu ihm, um vor seiner Abreise noch einen Augenblick mit ihm zu sprechen. Die sanfte Dame mit dem kummervollem Gesicht drückte ihm eine Geldbörse in die Hand, und als er hm Mund öffnete, um zu sprechen, da sagte sie abwehrend: »Still, Matthias, wir haben für Überflüssiges keine Zeit mehr. Ich bin gekommen, um dir die Bitte einer bekümmerten Mutter ans Herz zu legen. Vor fünf Jahren, also ehe deine Eltern hierherzogen, ging ein Schiff, das meinem Manne gehörte – auch eine ›Napoli‹ – nach der Südsee, um dort Geschäftsverbindungen zu suchen. Mein einziger Sohn befand sich an Bord, mein armer Alfeo – ich habe von ihm nie wieder etwas gehört, Schiff und Mannschaft sind verschollen bis auf diesen Tag. Auch dies Schiff geht nach den Südseeinseln, geht dieselbe Bahn, die das frühere verfolgte. Wäre es also nicht möglich, vielleicht bei den Eingeborenen eine Kunde über den Verbleib der ersten ›Napoli‹ zu erlangen? Könnte man nicht fragen, nachforschen, überall beobachten?«

»Gewiß, Signora.«

»Und das willst du für mich tun, Matthias?«

»Von Herzen gern,« antwortete unser Freund. »Sie haben meiner armen toten Mutter, meinen kleinen Geschwistern die letzten Liebesdienste erwiesen, Signora, dafür bleibe ich ewig Ihr Schuldner. Was in eines Menschen Macht steht, das werde ich tun, um Ihnen eine Nachricht zukommen lassen zu können.«

Sie dankte ihm weinend und reichte ihm zum Abschied die Hand.

Wenige Stunden später begab Matthias sich mit seiner Kiste zum Hafen, nach einem Bootsführer umherspähend, der ihn an Bord bringen könne. Von ungefähr fiel sein Blick auf zwei junge Männer, die einander umarmten. »Hättest du doch nicht gerade dieses Schiff gewählt, Gottlieb,« sagte der eine auf deutsch. »An den Namen seines Eigentümers knüpft sich allerlei Unheimliches.«

»Sei ohne Sorge, Richard,« lachte der andere. »Die ›Napoli‹ ist ein schönes, nagelneues Schiff, gut gebaut und gut ausgerüstet, und ihr Kapitän hat den Ruf eines tüchtigen Seemannes – was willst du noch mehr? Altweibermärchen in bezug auf den Reeder wirst du doch diesen Tatsachen nicht gegenüberstellen wollen!«

Nach diesen Worten legte er beide Hände an den Mund und rief, sich dem Meere zuwendend, mit lauter Stimme: »Napoli ahoi!«

Matthias hatte jedes Wort verstanden; der Klang der geliebten Muttersprache berührte sein Ohr wie Musik. Jetzt, als der Fremde die »Napoli« anrief, wandte er sich höflich grüßend zu ihm. »Darf ich fragen, ob Sie sich an Bord des Schiffes zu begeben gedenken?« Den Fremden schien die deutsche Anrede angenehm zu berühren.

»Aha!« rief er, »ein Landsmann, wie ich höre! Bist du ein Schiffer, Junge?«

»Ich möchte wenigstens diesen Beruf erwählen, Herr. Meine erste Reise geht mit der ›Napoli‹ in die Südsee.«

»Nun, dann werden wir ja eine Zeitlang eng aufeinander angewiesen sein. Ich bin erster Steuermann der ›Napoli‹.«

Ein Boot schoß über die Wellen heran. Nun wurde zwischen den beiden Männern noch ein letzter Händedruck, ein letztes herzliches Lebewohl gewechselt, dann wandte sich der hübsche Seemann wieder zu Matthias. »Wolltest du dich gerade jetzt an Bord begeben?«

»Ja, Herr!« – und zugleich nannte er seinen Namen.

»Gut, Matthias. Und mich nennst du künftig einfach: Steuermann! Das ›Herr‹ gebührt an Bord nur dem Kapitän.«

»Ich werde es mir merken, Steuermann.«

Das Boot legte an, und zwei schwarze Augen sahen mit dem Ausdruck übergroßen Erstaunens in die unsers Freundes. »Du hier, Matthias? Was hast du an Bord der ›Napoli‹ zu suchen?«

»Steige ein!« befahl der Steuermann. »Und du, Junge, stimme deinen hochfahrenden Ton ein wenig herab, hörst du?«

In den dunklen Augen loderte ein Zornesblitz, die Hand trieb dm Riemen schneller und energischer durch das Wasser, als nötig schien. Es war Giulio, der von dem zweiten Beherrscher der »Napoli« gleich zu Beginn einen tüchtigen Verweis erhalten hatte und in dessen Seele dadurch geheimer Groll erweckt wurde. Matthias an Bord des Schiffes, und dessen erster Steuermann ein Deutscher – das waren zwei ärgerliche Entdeckungen aus einmal. –

»Matthias!« rief von der Kajüte her der Obersteuermann. »Komm einmal her, mein Junge!«

Dieser leistete sogleich Folge, und einige Minuten später war er emsig beschäftigt, die Besitztümer seines Landsmannes in einen Wandschrank zu packen, Wäsche und Kleider, Bücher und Instrumente, alles an seinen Platz. Herr Wiering, der Obersteuermann, sprach dabei dann und wann mit ihm ein freundliches Wort und fragte unter anderem, wo Matthias geboren sei.

»Du bist ein Hamburger, nicht wahr?«

»Ja, Steuermann/

»Nun und wie kam es denn, daß deine Eltern nach Neapel zogen?«

Matthias erzählte ihm alles, und dann tröstete der freundliche Mann seinen jungen Untergebenen in liebevollster Weise. »Kapitän Lamberti ist ein Ehrenmann in des Wortes strengster Bedeutung. Aber der dort am Mast,« setzte er mit halber Stimme hinzu, »dem gegenüber sei auf der Hut. Carlos Rompano heißt er und zweiter Steuermann ist er. Dein unmittelbarer Vorgesetzter. Ein heimtückischer, hinterlistiger Bursche, der einmal wegen einer Schmugglergeschichte eine längere Freiheitsstrafe verbüßt hat. Er weiß auch, daß ich von der Sache Kenntnis habe.«

»Stehen Sie sich deswegen schlecht mit ihm?«

Der Steuermann zuckte die Achseln. »Äußerlich höflich,« antwortete er. »Im übrigen geht jeder von uns seinen eigenen Weg. Rompano kann mir in meiner Stellung nichts anhaben, aber du mußt dich hüten, dir seinen Haß zuzuziehen, – ich weiß, daß er um seine Rachsucht zu befriedigen, kein Mittel scheut. – Übrigens, da kommt der Kapitän.«

Die drei Schiffsoffiziere begaben sich zum Abendessen in die Kajüte, und später erhielt jeder Mann seine Arbeit sowie seine Koje zugewiesen.

Matthias schlief schon halb, als die Anker gelichtet wurden und das Schiff langsam schaukelnd seine Fahrt antrat. Er stand sofort auf, als er die Bewegungen merkte; denn er empfand Kopfschmerz und Schwindel. Vielleicht besserte sich das draußen im frischen Nachtwind.

Aus der offenen Tür des Logis sah ein junges hübsches Gesicht hervor, und eine halblaute Stimme sagte freundlich: »Na, du, wie ist es, fängt schon der Boden unter deinen Füßen zu tanzen an?«

Matthias schüttelte den Kopf. »Ganz so schlimm ist es noch nicht,« versetzte er.

»Du bist ein Deutscher, nicht wahr?«

»Ja. Und Sie?«

»Ich auch. ›Theodor Weber, Leichtmatrose‹ – diese Worte mußt du gefälligst als Visitenkarte betrachten.«

Matthias lachte belustigt. Er nannte gleichfalls seinen Namen, und dann holte der andere aus den Tiefen einer Schiffskiste eine Weinflasche hervor, die er geräuschlos entkorkte und unserem Freunde reichte.

»Nimm einen tüchtigen Hieb, mein Junge, das wird dir wohltun!« Matthias trank aus Höflichkeit einige Tropfen, obwohl irgendein geheimnisvolles Etwas in seiner Kehle sich gegen das Schlucken zu sträuben schien. »Auf glückliche Reise!« sagte er. »Daß uns weder Admiral van der Deeken, noch der Klabautermann begegnen möchte.«

»Hm, – diese beiden biederen Alten wohl schwerlich. Aber es gibt auch Menschen von Fleisch und Blut, die uns später nicht in den Wurf kommen dürfen. Wir unternehmen nämlich eine Sklavenjagd.«

Matthias erschrak. »Nicht möglich!« rief er. »So hätte das heimliche Geflüster der Leute in Neapel doch den Nagel auf den Kopf getroffen? – Ich glaube es nicht.«

»Und ich sage dir, daß es so ist. Hunderte von Schiffen aus aller Herren Ländern gehen jetzt in die Südsee, um Beute zu machen. Warum sollte nicht Signor Ferrati dasselbe tun?«

»Aber der Kapitän!« rief Matthias, »und der Obersteuermann! Willigen denn die in einen so abscheulichen Handel?«

Theodor hob warnend die Hand. »Hüte dich vor derartigen Fragen,« rief er. »Kapitän und Steuermann sind sehr ehrenwerte Leute, aber den Sklavenhandel betrachten sie als etwas Erlaubtes. In Amerika besitzen ja die geachtetsten Personen zahlreiche Schwarze, die sämtlich in Afrika gejagt und wie eine Hammelherde auf den Markt getrieben wurden. Jetzt fängt man die hellfarbigen Ozeanier, das ist ganz dasselbe.«

Einen Augenblick stockte die Unterhaltung. Matthias, den das eben Gehörte ganz verwirrt gemacht hatte, hielt sich mit beiden Händen an der Tür fest. »Ich glaube, das Schiff geht im Kreise herum,« sagte er plötzlich.

Theodor reichte ihm aufs neue die Weinflasche. »Das ist die Seekrankheit, mein Junge, daran stirbt man nicht. Trinke nur tüchtig!«

»Nein, ich danke. Es ist mir ganz unmöglich!« Es überlief ihn plötzlich heiß und kalt. Dann sank er zu Boden, und sein junger Landsmann legte ihm mitleidig ein Stück Segeltuch unter den Kopf, während auch von der anderen Seite her ein gutmütiges Gesicht halb lächelnd, halb teilnahmsvoll den Knaben betrachtete. Das war Heinz Edenbrecher, der Schiffskoch, auch ein Deutscher und eine ehrliche Haut, schüchtern und friedfertig wie ein kleines Kind, aber dabei doch in der Stunde der Gefahr tapfer wie ein Löwe. Wie eine Feder hob er den Ächzenden vom Boden auf und trug ihn an eine freiere, vom Wind bestrichene Stelle des Vorderschiffes, wo er ihn ganz in die Mitte, also an dem der Bewegung am wenigsten ausgesetzten Punkt niederlegte. Nun noch ein nasses Tuch um den Kopf und einen tüchtigen Schluck Rum in den Mund – mehr ließ sich vor der Hand nicht tun.

Matthias krümmte sich unter der Wucht des Angriffes wie ein Wurm, er glaubte sterben zu müssen. »Laßt ihn nur ruhig liegen,« sagte der zweite Steuermann. »Weshalb soviel Aufhebens wegen der dummen Seekrankheit? Ich kenne Schiffe, auf denen man den Jungen dies Leiden mit dem Tauende austreibt.«

Keiner der beiden Matrosen antwortete ihm, aber sie blieben doch bei ihrem in völliger Bewußtlosigkeit daliegenden Landsmann, der jüngere, indem er kleinere Hilfeleistungen vornahm, der ältere, indem er die Arme um seine Knie schlang und dann den Kopf oben darauf stützte. – – –

Bei herrlichem Wetter durchkreuzte die »Napoli« unter vollen Segeln den Ozean. Kein böses Vorzeichen hatte sich eingestellt, kein Sturm, kein Unfall. Matthias, der die Seekrankheit längst überwunden hatte, fing an, das Seeleben ganz angenehm zu finden. Seine Arbeit verrichtete er spielend, so daß der Kapitän und der Obersteuermann ihm ihre Achtung und ihr Wohlwollen offen bekundeten, sehr zu Giulios Verdruß, denn Matthias war ihm ein Dorn im Auge, besonders seit der Kapitän einmal gesagt hatte, daß er, Giulio, ein Windbeutel sei, den er nie wieder an Bord nehmen werde.

Der leidenschaftliche junge Italiener biß die Zähne zusammen. »Hast du es gehört, Carlos?« flüsterte er. »Die Deutschen sind, wie es scheint, auf der ›Napoli‹ ganz besonders gut angeschrieben. Der erste Steuermann gibt sogar in seinen Freistunden diesem Matthias allerlei Unterricht.«

Carlos zuckte die Achseln. »Mag er doch – was kümmert das uns? Wenn alles gut verläuft, brauchen wir beide ja niemals wieder Schiffsdienste anzunehmen.«

Giulio erstickte einen Seufzer. »Wenn!« wiederholte er.

»Das kann uns gar nicht fehlen, mein Junge. Der Plan liegt fertig vor, es bedarf nur der geschickten Ausführung. Ich habe sechs von unseren Leuten in aller Stille schon gewonnen – zur Not genügt das.«

»Auch wenn die übrigen uns hindern wollen, wenn es einen offenen Kampf gibt, Carlos?«

Der Untersteuermann lächelte. »Vergißt du, daß ich in meiner dienstlichen Stellung über alle Vorräte allein gebiete, alle Schlüssel selbst im Besitz habe?«

Ein Schauer ging durch Giulios Adern. »Wenn man dich sprechen hört, erscheint es wie eine Kleinigkeit, das Schiff mit allem, was darauf und darin ist, an sich zu nehmen und nach Belieben in veränderten Kurs zu bringen. Es gibt aber auch Leute, die dergleichen Dinge Meuterei nennen.«

Carlos zuckte die Achseln. »Mögen sie doch, das soll mich wenig kümmern. Wenn wir nur nach Ualan kommen und – –«

»Ualan heißt also die Insel?«

»Pst! Den Namen laut nennen heißt soviel, wie ein Vermögen aufs Spiel setzen. Die Perlenbänke an der Küste sind Millionen wert.«

Ein schnelles Rot lief über Giulios verschmitztes Gesicht. »Aber wir müssen den Ertrag mit jenen sechs Matrosen teilen,« sagte er.

»Das schadet nichts. Es ist für uns alle genug vorhanden.«

»Und du bist deiner Sache ganz sicher, Carlos, du weißt gewiß, welcher Lohn uns für das Wagnis in Aussicht steht?«

»Ganz gewiß. Ich hörte, wir der amerikanische Kapitän, der selbst in Ualan gewesen war, einem Kollegen die Sache erzählte. Diese beiden Leute glaubten mich schlafend, sie dachten auch, daß ich ihr Englisch nicht verstünde, und so sprachen sie ganz unbesorgt – ich hörte alles: ›Die Perlenmuscheln hängen zu Tausenden in den Byffusranken an der flachen Küste, und die Eingeborenen ahnen nicht, welch riesiger Wert da unberührt zu ihren Füßen liegt. Man könnte reich werden zwischen Morgen und Abend‹.«

»Ach! – Und der andere Mann? Was antwortete er?«

Carlos lachte. »Du kannst dir denken, wie eifrig er horchte, wie genau er sich alles doppelt und dreifach beschreiben ließ. Gewiß, er wollte sogleich ein Schiff zu erlangen suchen und dann nach Ualan segeln, koste es, was es wolle. Ha, ha, ha, ich habe ihm diesen Plan versalzen. Der gute Mann und ich selbst waren in eine Schmuggelangelegenheit verwickelt, bei der ich mit zwei Monaten davonkam – ihm dagegen verschaffte meine Schlauheit drei Jahre. Bis er in Ualan eintrifft, ist das Nest leer.«

Giulio lachte. »Und der Kapitän?« fragte er.

»Oh, was den betrifft, so hatte er im Jähzorn seinen Steuermann erschlagen und ist danach zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er sitzt sicher.«

»Gottlob! Du ließest dir natürlich nicht das geringste anmerken. Keiner der beiden Leute ahnt, daß du das Geheimnis kennst?«

»Keiner. Ich habe mich gehütet. Aber es war meine erste Sorge, auf dies Schiff zu kommen und dich zur Mitreise zu bewegen. In einigen Monaten sind wir Millionäre, Giulio.«

In zuversichtlicher Stimmung, den Kopf voll großer Pläne trennten sich die beiden Vettern.

Gegen Abend ballten sich dichte Nebel um das Schiff her. Die Schiffslaternen glühten gleich Feuerkugeln, rote Strahlen durch die Wolkenmassen sendend, bald vergrößert, bald kleiner, überrieselt von dampfenden Tropfen, die an den Gläsern herabliefen und rund im Kreise glänzende Lachen bildeten.

Die Matrosen sprachen nicht; alles Lachen und Pfeifen hatte aufgehört. »Wäre diese Nacht erst vorüber!« sagte eine Stimme.

»Weshalb denn?«

»Nach zwölf Uhr beginnt der Freitag und der – hm, aber ich meine, er bringt allerlei Ungemach.«

»Dummheiten, Beppo. Als ob nicht jede Woche ihren Freitag hätte.«

»Das hat sie natürlich, aber viele davon gehen ohne Unfall vorüber. Und dann – es ist auch nicht ein jeder unter uns gerade in der Mitternachtsstunde des neunundzwanzigsten Februar geboren, am Schalttage also. Damit hat es seine besondere Bewandtnis.«

Die Zuhörer drängten sich dichter um den alten Segelmacher, der mit der Pfeife zwischen den Lippen auf einem Block saß und bedenklich den Kopf wiegte. »Bist du selber so einer, Beppo?« fragte ihn Edenbrecher.

»Das bin ich,« nickte der Alte.

Ein Lächeln erschien rings auf den Gesichtern der Matrosen, aber nur flüchtig, schnell vorübergehend; der Gegenstand war viel zu ernst und gefährlich, um mit ihm einen Scherz zu treiben.

»Nun, Beppo,« hieß es, »was haben denn Leute wie du eigentlich vor uns anderen gewöhnlichen Menschenkindern voraus?«

»Sie sehen ins Verborgene. Das, woran ihr ahnungslos vorübergeht, liegt offen vor ihren Augen.«

»Ach, Unsinn!«

Der Alte erhob sich und ging fort, legte sich in seine Koje und kam nicht eher wieder zum Vorschein, bis er um zehn Uhr mit mehreren anderen Matrosen die Mittelwache antreten mußte.

Auch Matthias und Edenbrecher befanden sich unter diesen letzteren. Der Nebel war so dicht, daß vier Laternen über die vorgeschriebene Zahl hinaus an Deck brannten und daß trotzdem alles wie in weiße oder graue Schleier gehüllt erschien.

In den Wanten gab es bei der herrschenden Windstille für die Matrosen nichts zu tun. Sie saßen sämtlich eng beieinander und rauchten ihre kurzen Pfeifen, ohne viel zu sprechen. Edenbrecher lag der Länge nach auf einem Bündel alter Segel, stützte den Kopf in die Hand und sah vor sich hin.

»Nun, Beppo,« meinte er endlich, »du könntest wohl ein Garn spinnen. Hast doch gewiß und – noch dazu mit den Schaltjahrsaugen – allerlei Besonderes erspäht.«

Der Alte zuckte die Achseln. »Ihr glaubt es ja doch nicht,« dann aber erzählte er ihnen doch ein Abenteuer aus früheren Jahren, in dem der Klabautermann eine Hauptrolle spielte. Jeder Seemann weiß, daß, wo der Klabautermann einmal erscheint, ein Unglück im Anzuge ist; menschliche Klugheit und menschlicher Scharfsinn genügen dann nicht, ihm zu entgehen.

Beppo war mit seiner Erzählung fast zu Ende gekommen, als ein lauter, gurgelnder Aufschrei seine Rede unterbrach. Seine bebende Rechte deutete auf den mittleren Teil des Schiffes, seine blaß gewordenen Lippen stammelten tonlos die Worte: »Da sitzt er ja – der Klabautermann!«

»Was?« – »Wo?«

»Dort am Mast. Er erscheint nur da und sonst nirgends.«

Aller Blicke folgten der angedeuteten Richtung; auf mehr als nur einem Kopfe sträubte sich bei dem, was man sah, unwillkürlich das Haar. Am Fuße des Großmastes kauerte ein zwerghaftes Wesen mit spitzen Schultern und ungeheurem Kopfe, dessen Fischmaul beständig auf- und zuklappte. Nur ein Auge war sichtbar, aber dieses glühte und glänzte unheimlich, die spitzen Zähne rieben einander, als zermalmten sie eine willkommene Beute.

Sekundenlang herrschte bei diesem Anblick das Schweigen des Todes, dann sprang Matthias vom Sitz auf und flog mit drei großen Schritten der spukhaften Erscheinung entgegen.

»Das wollen wir doch gleich mal untersuchen!« rief er.

Aber seine Hand griff ins Leere. Alle übrigen sahen, daß sich der Kopf des Gespenstes auseinanderzog, einen Augenblick bis ins Ungeheuerliche vergrößert erschien und dann in Schatten und Nebel zerfloß. Nur das Auge, der helle glänzende Punkt blieb zurück – es war der auf eine neue Schraube fallende Schein einer Laterne.

»Seht Ihr es, Segelmacher!« rief Matthias. »Hier ist nichts als die leere Luft.«

Der Alte schien mehr erschrocken als beleidigt. »Danke Gott, daß dir das Gespenst nicht den Hals gebrochen hat, du Naseweis!« brummte er.

In diesem Augenblick fragte eine ruhige Stimme: »Weshalb herrscht hier eine so gewaltige Aufregung, Leute?«

Es war der Obersteuermann, dessen Blicke forschend die Umgebung durchflogen.

»Beppo hat den Klabautermann gesehen!«

»Nein, nein, wir alle haben ihn gesehen.«

Wieving lächelte. »Torheit!« sagte er. »Das war der Nebel, irgendein Schattenspiel vielleicht, ein Tauende, das im Luftzug schaukelte.«

Der Segelmacher antwortete keine Silbe; er war auf das tiefste gekränkt, da er aber dieser Empfindung seinem Vorgesetzten gegenüber keinen Ausdruck verleihen durfte, so schwieg er lieber ganz. Auch die Matrosen waren auffallend still; es hatte doch jedes Auge die geheimnisvolle Erscheinung am Großmast gesehen, wir konnte da nur der Steuermann von einem Schatten, einer Täuschung der Sinne sprechen? Das hieß erwachsene Leute wie Schulknaben behandeln.

»Vielleicht bereut er noch einmal seine törichten Worte,« murmelte Beppo.


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