Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

An Bord Sr. Majestät Schiff »Gazelle«.

Die Korvette »Gazelle«, auf welcher sich Robert also jetzt befand, und wo er den Posten eines »Bootsmannsmaat« zum erstenmal wirklich bekleidete, ist in allen ihren Verhältnissen ein ganz anderes und viel größeres Fahrzeug als das Kanonenboot »Meteor«. Eine solche Korvette hatte damals noch auf dem Oberdeck zwei Geschütze von je 70 Zentner Rohrgewicht auf Rahmenlafetten und in der Batterie zwanzig glatte 36pfünder, sowie sechs dreizöllige Bombengeschütze. (Seitdem sind die glatten Läufe in gezogene verändert worden.) Ihre Ausdehnung ist etwa 170–190 Fuß Länge und 40 Fuß Breite bei einem Tiefgang von 18 Fuß. Die Bemannung besteht aus etwa 380 Köpfen. Gegen die 65 Leute des »Meteor« gehalten war das eine große Veränderung, und unser Freund, nachdem er den Abschied von seinen Lieben einigermaßen überwunden hatte, sagte sich, daß dem entsprechend auch der Dienst etwas strenger und die ganze Bedeutung der Expedition eine wichtigere sein müsse als die des Kanonenbootes, natürlich abgesehen von dem Kampfe mit dem »Bouvet«, und ganz im allgemeinen verglichen.

Eine Korvette steht im Range der früheren Fregatten, sie dient als Stationsschiff in den Häfen halbzivilisierter Völker und muß eben durch ihre Größe, sowie durch ihre Bewaffnung allen etwaigen Gegnern Achtung einflößen können. Ist noch außerdem das Fahrzeug zum Schulschiff für eine Anzahl junger Kadetten von der Militärverwaltung bestimmt worden, so herrscht an Bord eine um so größere Ordnung und Strenge, die sich zwar dem Charakter unseres Freundes durchaus harmonisch anpaßte, ihm aber doch zuweilen einiges Stirnrunzeln des Bootmannes, oder eine freundschaftliche Lehre Gerbers eintrug, jedenfalls aber seine Geduld auf harte Proben stellte.

Um unseren Leser von dem Leben an Bord eines Kriegschiffes den erforderlichen Vorbegriff zu geben, wollen wir nicht unterlassen, einige kleine Züge desselben besonders auszumalen, namentlich was die beiden täglich wiederkehrenden Haupterfordernisse, Reinlichkeit und Pünktlichkeit, anbetrifft.

Es ist eben keine Kleinigkeit, bei so beschränktem Raume und einer so großen Anzahl junger, lebensfroher, kräftiger Menschen, doch Ordnung und Mannszucht aufrecht zu erhalten, es ist eine schwere Aufgabe, das enge Zusammenleben vieler ohne Gefahr für die körperliche Gesundheit der Leute zu ermöglichen, daher muß reichliche Arbeit im Verein mit guter Kost und ausgesuchter Sauberkeit den Leib vor Schaden bewahren, während wiederum durch das Wohlbefinden dieses »sterblichen Gefährten« auch die Seele frisch und geschmeidig bleibt.

Solch ein Kriegsschiffmatrose ist alles in allem. Er vertritt als Angehöriger der Reichsmarine in fremden Weltteilen sein Vaterland, seinen Kaiser, – er muß aber auch den Boden, welcher ihn trägt, selbst waschen, selbst sein Bett aufmachen und selbst fegen. Er ist in dem schwimmenden Bau, dessen Wände ihn von Pol zu Pol gegen die Wut der Elemente beschützen, der Soldat, der Mann in Wehr und Waffen, aber auch die sorgsame Hausfrau, der kein Stäubchen, kein Spinngewebe entgeht, die nie ruht und nie abläßt, immer wieder ihr Reich zu durchmustern, immer wieder zu wischen, zu fegen und zu polieren, ob auch kein Menschenauge eine erblindete Platte oder gar ein Fleckchen zu entdecken vermöchte.

Bedenkt man nun noch die täglichen Übungen an den schweren Geschützen, den Masten und Segeln, ferner den ununterbrochenen Wachtdienst, die Enge des Raumes, auf dem alles dies vor sich geht, den Mangel an allem, was man im gewöhnlichen Leben am Lande unter »Bequemlichkeit« versteht, so ist wohl zur Genüge klar, wie schwer der Kriegsschiffmatrose arbeitet.

Besonders an Sonntagen wird auf allen Kriegsschiffen große Musterung abgehalten, und das Leben an Bord zeigt schon von fünf Uhr früh eine Tätigkeit, als werde heute Gott weiß welcher Gast erwartet, der späterhin die Nase rümpfen oder wohl gar der angetroffenen Wirtschaft eine üble Nachrede anhängen könne.

Dafür ist es aber auch ein hübscher Anblick, solches Schiff im Sonntagskleide. Von der Gaffel herab weht die Nationalflagge, alles glänzt schneeweiß im besten Schmuck der Sauberkeit, jeder einzelne Mann erscheint mit blauen Tuchbeinkleidern, weißem Hemde, schwarzseidenem Halstuch und blankgeputzten Schuhen. Auf dem Kopfe trägt er heute den lackierten Hut, dessen Band den Namen seines Schiffes aufweist.

Nachdem alles Waschen, Putzen und Fegen vorüber ist, kommt die eigentliche Inspektion, bei welcher unser Freund zuweilen das stärkste Herzklopfen verspürte. Er selbst war von Haus aus und dank der vortrefflichen Erziehung seiner Eltern ein sauberer, ordentlicher Mensch, aber durchaus nicht alle diejenigen, welche zu seiner Backschaft gehörten, konnten sich gleichfalls dieser Vorzüge rühmen. Robert lernte es hier, geduldig an jedem Tage das gestern Gesagte zu wiederholen, sich selbst zu bezwingen und seiner Leidenschaft Zügel anzulegen. So oft er aber demselben schmutzigen Burschen befahl, die Schuhe zu putzen, die Hände zu waschen oder die abgerissenen Knöpfe vom Schneider wieder festnähen zu lassen, eben so oft erinnerte er sich des Verweises, welchen ihm Kapitän Knorr erteilt, und wie dieser die eigene Überlegenheit bewiesen, aber keineswegs herausgepoltert hatte.

Wenn die Leute aus seiner Backschaft am Montag – Sonntags werden keine Strafen verhängt – auf die schwarze Liste kamen, so ärgerte ihn das anfänglich furchtbar. Der alte, böse, unausrottbare Fehler, sich alles im Leben zu leicht, zu einfach zu denken, alle Hindernisse im ersten Anlauf besiegen zu wollen, diese schlimme Eigenschaft großangelegter, enthusiastischer Naturen war immer noch nicht ganz besiegt. Robert hatte gehofft, daß schon sehr bald gerade seine Backschaft die ausgezeichnetste des ganzen Schiffes werden solle, er hatte den Ehrgeiz, welcher ihm selbst innewohnte, auch bei den Matrosen gesucht, und als er anstatt dessen zuweilen die größte Trägheit oder Unordnung antraf, ärgerte er sich auf das äußerste.

»Du mußt es machen, wie ich,« riet Gerber. »Während der Dienststunden schimpfst du dir alles von der Galle herunter, und nachher denkst du nicht weiter daran.«

Robert seufzte, aber er gewöhnte sich allmählich, und als das Schiff in die Tropen kam, als von einem Tage zum anderen wieder Neues, Fremdes seinem sehnenden Auge entgegentrat, da waren bald die kleinen Sorgen des Anfanges überwunden. Er konnte jetzt wieder mit noch zehn oder zwanzig anderen, wohlbewaffnet und wohl mit Mundvorrat versehen, die Küsten der Inseln durchstreifen und frische Früchte sammeln, hier und da auf die Jagd gehen, oder mit den Eingebornen verkehren, ebenso lernte er auch in den Städten die Art und Weise fremder Völker von Angesicht zu Angesicht kennen, vervollkommnete seine allgemeine Bildung und studierte eifrig die Sprache, welche ihm in den jedesmaligen Hafenplätzen entgegentrat.

Von zu Hause sowie von den Freunden im Hochgebirge der Sierra Nevada erhielt er häufig Briefe, die ihn dann wieder auf das blaue Wasser hinausbegleiteten und dort seine kostbarsten Schätze bildeten. Im Hafen von Hayti wartete seiner sogar ein umfangreiches Paket, und als er es öffnete, – ach da war die Freude groß.

Eine Photographie hatten sie ihm von Stockton aus geschickt, und keiner fehlte. Da standen sie im Vordergrunde, der liebe, alte Mongo mit seinem schwarzen, ehrlichen Gesicht, der Trapper, auf die lange Kugelbüchse gestützt, so ernst, so gelassen wie immer: ihm zu Füßen die beiden Hunde und im Hintergrunde die Indianer, halb scheu, halb neugierig, jedenfalls von dem Gedanken an eine Zauberei völlig durchdrungen und in diesem Augenblick ihrer Würde so ziemlich beraubt. Der farbigen Gesellschaft zur Seite stand Gottlieb. Unser Freund lachte laut, als er die Veränderung dieses schüchternen, blassen Gesichtes sah. Das Haar bis auf die Schultern herabhängend, ganz im Barte wohnend, glich der junge Krämer mit seinem Lederanzug und den derben Stiefeln einer Art von Urmenschen, wie sie etwa vor Erfindung der Scheren und der Seife auf Erden einhergewandert sind. Ihm fehlte jede Schönheit, jeder malerische Anstrich, er sah weder interessant aus noch stattlich, nur grausam verwildert. Das wußte er auch und verriet es selbst. »Ich will mich dir noch in meiner ganzen Wildnisglorie zeigen,« schrieb er, »in einer Gestalt, die ich nach wenigen Stunden für immer abschüttele. Wir befinden uns auf dem Wege nach San Francisco, wir kehren in den Schoß der Zivilisation zurück, als reiche Leute, Robert, aber das letztere ganz im Vertrauen gesagt! – Deshalb, ehe ich den alten Menschen wieder anziehe, ehe Messer und Schere den anständigen Bürger des Kulturstaates in mir wieder herstellen, nimm noch ein Andenken der Vergangenheit, in welcher wir miteinander gelebt. Nun es überstanden ist, möchte ich doch die Erinnerung daran nicht verkaufen! Wirklich, schon jetzt hier in Stockton schmeichelt es mir, wenn mich die Leute auf große Erlebnisse hin ansehen. Man macht einen ganz anderen Eindruck als die gewöhnlichen Menschen, denen nichts weiter passierte, als daß sie an jedem Morgen aufstanden und sich abends wieder schlafen legten.

»Bei ein paar Krämern bin ich hier in Stockton schon gewesen und habe heimlich das Handwerk gegrüßt. Aber es ist nichts Reelles, der Schmutz liegt in den Ecken, man schenkt Branntwein, Müßiggänger sitzen auf allen Kisten und Tonnen, man streckt die Beine in lümmelhafter Weise vor sich und spuckt nach Belieben auf den Fußboden.

»Ich kehre zurück nach Deutschland, Robert, – im Ledergürtel stecken die Wechsel – Hurra! Hurra! nach Deutschland.«

Unser Freund konnte sich von dem Anblick des Bildes nicht wieder trennen. Der Jaguar und Mongo und die beiden großen gelehrigen Hunde, – wie weckten in ihm alle diese lieben, vertrauten Gestalten die Erinnerung an vergangene Freuden. Besonders der Zug durch Steppe und Wald war es, welcher ihm mit dem ganzen Zauber eines glücklichen, von reichster Fülle des Genusses belebten Andenkens wieder vor die Seele trat. Alles sah er und fühlte er im Geiste noch einmal.

Aber doch stellte er das Heute höher. Sein Leben hatte nun eine Bedeutung, nicht allein für ihn selbst, sondern auch für den Staat, dem er angehörte, er diente seinem Kaiser, indem er die eigene Zukunft begründete. Wie angenehm war es nicht, von der Welt und den Menschen, von den Verhältnissen aller Völker und aller Erdteile sich durch persönliche Anschauung ein Urteil zu verschaffen, wie stillte es den Wissensdurst seines Inneren, von Hafen zu Hafen immer neue Sehenswürdigkeiten kennen zu lernen und den reichen Schätzen der Erinnerung beizufügen. Das alles ließ sich doch nur verwirklichen, indem er auf Kriegsschiffen diente, denn auf der Handelsmarine fand sich dazu nur durch das Unglück, durch Schiffbruch oder Havarie eine passende Gelegenheit, während im Gegenteil die Kriegsfahrzeuge, namentlich aber das Kadettenschiff, nur kreuzten, um die jungen Leute, welche sich an Bord befanden, ihrem künftigen Berufe entgegenzuführen und sie auf denselben vorzubereiten.

Robert fühlte so recht, wie gnädig ihn Gott zu verhängnisvoller Stunde aus den Banden geistiger Trägheit und des Irrtums befreit hatte, er atmete leichter und froher, je länger das Bild in seiner Hand ihn an die Vergangenheit erinnerte. Wohl ihm, daß so reiche Freuden sein eigen gewesen, daß er sich treue, liebe Freunde erworben und redliche Herzen ihm ergeben waren, – aber auch wohl ihm, daß er nicht müßig genießend schwelgte, als das Vaterland gegen den Feind kämpfte, daß er zur rechten Zeit aufgerüttelt wurde, schweren Stunden, aber auch schönem Lohne entgegen.

Er steckte das Bild zu sich, und suchte dann in der nächsten Straße ein Wirtshaus. Es war drückend heiß an diesem Tage. Obgleich schwarze Regenwolken die Sonne gänzlich verhüllten, lag doch die Luft wie Blei auf der Brust, und jede Stirn zeigte große Schweißtropfen. Kein Windhauch belebte die glühende Luft, alle Blätter an den Bäumen hingen schlaff herab, die Tiere verhielten sich scheu und teilnahmlos.

Robert suchte mit noch einigen anderen Leuten von der ›Gazelle‹ Schutz unter einem großen Leinwandzelt, das einladend und schattenspendend inmitten eines Gartens lag. Dort wurden Flaschen aufgefahren, deutsche und englische Zeitungen herbeigebracht und nach Herzenslust »gekneipt«. Es war heute der letzte Tag am Lande, daher mußte er noch wahrgenommen werden. Morgen sollte die Korvette wieder in See stechen.

Das Bild von Stockton ging von Hand zu Hand. Roberts Abenteuer, von denen er nie viel zu sprechen pflegte, wurden bei dieser Gelegenheit lebhaft erörtert, und die Erzählung derselben rief in den Seelen der anderen so manche Erinnerung an eigene und die Erlebnisse befreundeter Personen wieder wach, kurz, es entstand eine sehr anregende Unterhaltung, bei welcher die jungen Leute ganz übersahen, daß sich der Himmel von Viertelstunde zu Viertelstunde immer dunkler färbte und daß einzelne Blitze die Luft zerrissen.

Deutsche Lieder ertönten rings im fröhlichen Kreise, heitere Scherzworte wurden den Vorübergehenden, sobald sie irgendwie die Neckerei der ausgelassenen Schar herausforderten, im vaterländischen Dialekt nachgerufen, und lautes Lachen erschallte vom Zelt herüber bis zum nahen Hafen, wo die Schiffe aller Nationen friedlich vor Anker lagen.

Da erschien plötzlich bleich wie ein Gespenst der Wirt, ein brauner, magerer Spanier, unter dem Eingang des Zeltes und rang jammernd die Hände. » Madre de dios,« stammelte er, seine eigene Sprache und ein schlechtes Englisch bunt durcheinander mischend. » Sennores, es kommt, es kommt, – alle vierzehn Nothelfer beschützen uns! – flieht! flieht!

Die Matrosen sprangen unwillkürlich von ihren Sitzen auf. »Was kommt?« wiederholten sie. Und einige Stimmen setzten hinzu: »Der Bursche hat den Sonnenstich!«

»Vom Schatten?« fragte ein anderer. »Heut ist ja der Himmel schwarz wie Tinte.«

»Betet!« ächzte der Wirt. »Betet! – San Christophoro, Santa Anna, Santa Barbara –«

»Der Kerl ist verrückt!«

Aber im nächsten Augenblick verstummten alle derartigen Bemerkungen. Ein Wirbelwind, so urplötzlich, so unvorbereitet für diejenigen, welchen die klimatischen Verhältnisse dieses Landes fremd waren, so daß keine Minute Zeit blieb, um ihm zu entrinnen, – ein Wirbelwind von furchtbarer Stärke ergriff das Zelt, dessen Pfähle wie Schwefelhölzer zerbrachen und dessen Leinwanddach, gewaltig aufgebauscht, mit donnerartigem Krachen zerplatzte. In weniger als einer Minute lagen sämtliche Männer am Boden, während Tische und Stühle, losen Blättern gleich, vom Sturme entführt wurden. Überall im Garten knickten und krachten die Zweige der Obstbäume, stürzten ganze Gesträuche, mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen, übereinander und wurden die Früchte wie von einem Hagelschauer auf die Erde geschleudert.

»Laßt uns ins Haus eilen!« rief, sich aufraffend, unser Freund. »Diese Staubmassen ersticken ja förmlich!«

Der Wirt, auf seinen Knieen liegend, das Gesicht in den Händen verborgen, krümmte sich wie ein an Krämpfen Leidender. »Nicht in das Haus! Santissima virgen, – nicht in das Haus!« schrie er.

Während dieses Vorganges war die Straße von Menschen bedeckt worden. Überall stürzten Männer und Frauen mit den Zeichen höchster Angst aus ihren Türen hervor, schreiend, gestikulierend, die Heiligen anrufend, gänzlich fassungslos wie der Wirt selbst.

Hoch in der Luft tönte ein Sausen und Heulen; es rollte wie ferner Donner. Vor einem Lastwagen, der gerade in der Nähe stand, scheuten die Pferde, rissen sich los und stürmten, neues Erschrecken verbreitend, durch die menschenüberfüllte Straße dahin.

Und dann sahen alle, welches Ereignis jetzt hereinbrach. Mit hohlem Rauschen stieg vor den Augen der Matrosen die See von Minute zu Minute höher, stampften die Schiffe im verworrenen kreisenden Durcheinander an ihren Ankerketten, und, als das Schlimmste, hob und senkte sich die Erde wie eine atmende Menschenbrust.

Es war unmöglich, zu stehen. Schwindelnd, halb des Bewußtseins beraubt, ließen die deutschen Matrosen das Unvermeidliche über sich ergehen, indes rings um sie herum die südliche Lebhaftigkeit in allen möglichen Tonarten laut hervorbrach. Nur als Robert, blaß und wie von einem Anfall der Seekrankheit geschüttelt, zufällig den Kopf erhob, als er sah, daß an der Hafenmauer die Boote von den Pfählen gerissen und in das hochgehende Meer hinausgeschleudert wurden, da raffte er sich gewaltsam auf.

»Kameraden, unsere Jolle! – unsere Jolle!«

Er versuchte es zu gehen, stürzte nieder und versuchte es nochmals, bis endlich die wellenförmigen Bewegungen der alten Mutter Erde etwas abzunehmen schienen und eine Pause der Ruhe eintrat. Ehe jedoch die Matrosen, taumelnd wie Schwerbetrunkene, bis an die Ufertreppen kamen, hatte sich das kleine Fahrzeug bereits losgerissen und wurde von den zischenden, kochenden Wogen gleich einer Nußschale herumgeworfen.

Robert sprang schnell entschlossen ins Wasser. Es war ihm auf der Oberfläche der bebenden, taumelnden Erde so entsetzlich beklemmend zu Mute gewesen, daß er erst wieder frei atmete, als ihn das vertraute, geliebte Element von allen Seiten umgab.

Mit langen Stößen schwamm er der Jolle nach.

Vergebens riefen vom Ufer die anderen, er hörte nicht. Dicht vor ihm, kaum noch erkennbar im letzten Dämmerlicht des scheidenden Tages, schaukelte auf den Wellen das Boot, dessen Führer er gewesen und das er erreichen wollte. Sein leidenschaftlicher Eigensinn hatte ihn einmal wieder gänzlich mit sich fortgerissen.

Hart unter den Bug eines spanischen Schiffes ging die tolle Fahrt. Robert schwamm wie eine Ente, alle seine Kräfte waren zurückgekehrt, sein Kopf klar und seine Arme wie von Eisen. Die Jolle schien unter dem Fallreep des Spaniers einen Augenblick lang in ihrem Laufe innezuhalten, sie drehte sich und schaukelte, ohne vorwärts zu stürmen. Robert streckte schon die Hand aus, um sie zu erfassen.

Aber der nächste Windstoß entführte ihm seine Beute. Ein anderes kleines Boot schoß unmittelbar neben ihm durch das Wasser, dessen grünschillernde Oberfläche, von weißem Perlenschaum übersäet, sich allmählich zu beruhigen begann. Ein einzelner Mann ruderte das Fahrzeug, welches unser Freund sofort anrief. »Bringt mich an Bord der Korvette »Gazelle«, Kamerad,« bat er in englischer Sprache. »Ich bezahle Euch die Mühe.«

Der Fremde antwortete nicht, aber er duldete, daß Robert ins Boot kletterte und setzte dann dasselbe wieder in Bewegung, offenbar um aus dem Hafen herauszukommen.

Robert war außerstande, in der umgebenden Dunkelheit das Gesicht seines Begleiters zu erkennen, aber er glaubte mißverstanden zu sein und wiederholte in spanischer Sprache die frühere Bitte, ihn an Bord der »Gazelle« zu bringen.

Der andere hielt nur um so stärker und eiliger aus dem Hafen heraus; jetzt waren die letzten Schiffe hinter dem kleinen Fahrzeug zurückgeblieben und das offene Meer, schwarz wie Tinte, lag vor den einsamen Insassen des Bootes, deren einer mit Aufbietung aller seiner Kräfte ruderte, indes der andere, endlich von bestimmtem Verdacht erfüllt, aufsprang und die geballten Fäuste dem unerkennbaren Begleiter dicht vor das Gesicht hielt. »Schurke!« rief er, »was beabsichtigst du?«

Bild

Eine tiefe Stimme antwortete ihm. »Hab' ich dich!« klang es mit teuflischem Frohlocken. »Jetzt kommst du nicht lebend davon.«

Wie ein Blitz durchzuckte es den Geist unseres Freundes. Sein scharfes Gedächtnis erkannte sofort die Stimme, obwohl er sie vor Jahren zuletzt gehört. »Rafaele!« rief er, »Ihr seid es!«

»Ich bin es,« wiederholte der Flibustier. »Stirb, Verräter!«

Und ehe sich Robert zur Wehr setzen konnte, hatte er ihn um den Leib gefaßt und versuchte jetzt ihn über Bord zu werfen, was freilich bei der Körperkraft und Geschmeidigkeit unseres Freundes keine leichte Sache war und auch nur in so weit gelang, als beide Gegner, unfähig, auf dem schwankenden Boden des Fahrzeuges sicher zu stehen, miteinander eng verschlungen in das Wasser stürzten und von den tobenden Fluten im Augenblick begraben wurden.

Schon nach Augenblicken tauchten indes die Köpfe wieder empor. Beide Männer waren mit der Gefahr, welche sie umgab, viel zu vertraut, als daß nicht jede ihrer Bewegungen sogleich zur nötigen Sicherheitsmaßregel geworden wäre. Ein Ringkampf im Wasser mußte für beide den unmittelbaren Tod zur Folge haben.

Robert behielt seinen Gegner fest im Auge. »Rafaele,« sagte er, »Ihr seht jetzt keinen Knaben mehr vor Euch, sondern den Mann, der entschlossen ist, das Leben so teuer als nur möglich zu verkaufen. Weshalb nanntet Ihr mich einen Verräter? Ich habe Euer Geheimnis bis zu dieser Stunde mit keinem Menschen geteilt, darauf mein Wort.«

Der Flibustier lachte. »Aber Ihr könntet es schon morgen tun,« versetzte er. »So lange Ihr atmet, schwebt über meinem Haupte das Richtbeil.«

Und während er sprach, versuchte er es, mit schwerem Faustschlag den Kopf unseres Freundes zu treffen, aber ebenso geschickt wich ihm Robert aus. Im nächsten Augenblick schrillte der Ton der Signalpfeife langhallend über das Wasser dahin.

»Hier!« schrie aus ziemlicher Entfernung Gerbers Baßstimme, und zugleich gab die Pfeife Antwort, »hier! Junge, wo steckst du denn?«

Der Flibustier fiel mit der Kraft der äußersten Verzweiflung über seinen Gegner her. Er mochte fühlen, daß jetzt das Verderben ganz nahe war, daß er, falls ihn die Leute von der »Gazelle« einfangen würden, auch ein dem Tode verfallener Mensch sei, daher wollte er das Schlimmste von sich abwenden.

»Robert! Robert!« rief es vom Boot her.

Nochmals gelang es unserem Freunde, das Signal zu wiederholen, dann aber hatte der Räuber Gelegenheit gefunden, mit einem schweren Schlüssel, den er in der Tasche trug, Roberts Schläfe zu treffen und ihn dadurch im Augenblick zu betäuben. Ehe dieser einen Schrei ausstoßen oder einen Entschluß fassen konnte, hob ihn eine heranrauschende Welle auf ihre mächtigen Schwingen und entführte den anscheinend leblosen Körper aus dem Gesichtskreis des Räubers, dem indessen dieser Sieg von keinem besonderen Nutzen sein sollte, da gerade jetzt das ausgesandte Boot von der Korvette mit schnellen Ruderschlägen herankam.

»Hallo, Kroll!« rief Gerber, »gib Antwort.«

Der Räuber schwamm so schnell er konnte dem offenen Meere zu. Vor allen Dingen durften ihn die deutschen Seeleute nicht sehen. Einen Fluch nach dem anderen murmelnd entzog er sich ihren Blicken, um indessen dadurch vom Hafen einstweilen ganz abgeschnitten zu werden. Er sah, daß die Matrosen im Boot nach allen Seiten ausspähten.

»Das ist eine fremde Jolle,« hörte er Gerbers Stimme sagen, ohne natürlich den Sinn der Worte mehr als nur erraten zu können. »Der Kroll muß ertrunken sein.«

»Das ist ganz und gar unmöglich,« meinte der andere. »Jedes Kind könnte bei solchem bißchen Wind den Hafen wieder erreichen. Es war ja nur eine Mütze voll.«

»Einerlei, wo ist denn der Kroll geblieben?«

»Dort! dort!« rief plötzlich einer der Matrosen. »Ich sah seinen Kopf.«

Man steuerte in der angegebenen Richtung, aber die meisten der Leute glaubten doch, daß sich ihr Kamerad geirrt haben müsse. »Weshalb sollte denn Robert nicht antworten?« fragten mehrere.

»Nun, wißt ihr, ob er überhaupt noch lebt?«

»Wäre er tot, so könnte der Körper nicht treiben.«

Das war richtig, und der es gesagt hatte, behielt das letzte Wort. Man ruderte schweigend mit aller Kraft dem angegebenen Punkte nach.

Der Kutter durchschnitt, von zwölf Paar kräftigen Armen getrieben, wir ein Pfeil die Flut. Zuweilen glaubten die Matrosen mit Sicherheit einen schwimmenden Menschen zu sehen, und im nächsten Augenblick war die Erscheinung verschwunden. Schon machte sich unter den Leuten eine abergläubische Furcht bemerkbar. »Vielleicht ist's der Klabautermann,« sagte einer, »er lockt uns mitten in der Nacht auf das pfadlose Meer hinaus, und kein einziger sieht lebend das Schiff wieder.«

Gerber setzte die Signalpfeife an den Mund. Lang anhaltend rollte der Ton über das Wasser dahin, – dann horchten alle.

Es erfolgte keine Antwort.

Aber wenn auch das Ohr nichts vernahm, so war doch das, was das Auge sah, um desto beängstigender, erschütternder. Ein Streif wie das Kielwasser eines schnell dahingleitenden Bootes zog sich durch die Fluten, grünlich glänzend, schaumbedeckt und in Kreisen verrinnend, – eine Flosse wie ein Dreizack hob sich empor.

Und dort, – dort, wieder das Menschenantlitz von vorhin, jetzt in wilder, wahnwitziger Flucht, – Arme, die das Wasser teilten, ein Kampf zwischen dem Manne und dem Raubtiere, ein Peitschen und Schlagen, dann ein gräßlicher Schrei, ein Knirschen wie von einer Säge –

Kann es Robert sein? – Weshalb sollte er nicht geantwortet haben?

Die Matrosen sahen sich um, schreckensstarr, mit bleichen Gesichtern. Nichts vom Hafen, nichts von der Korvette, – nur dunkle, tiefschwarze Nacht war zu erblicken.

»Der Klabautermann!« flüsterten bärtige Lippen. »Gott stehe uns bei.«

Einer tauchte die Hand in das Wasser, und als der Schein eines Zündhölzchens die herabfallenden Tropfen beleuchtete, da war's rot von Blut.

Was hätte es jetzt noch genützt, weiter nachzuforschen? Ob Robert, ob ein anderer, – den dort der Hai zermalmt, der brauchte keines Menschen Hilfe mehr.

Aber unheimlich war das ganze Abenteuer, schauerlich geheimnisvoll. Ein herrenloses Boot, ein schweigender Mann, welcher hinausflüchtete in das Meer, um eines unbekannten Zweckes willen, – die tiefe, nächtliche Stille, die frische Erinnerung an das kaum überstandene Erdbeben, alles zusammen genommen wirkte furchtbar erschütternd auf die Herzen der Männer.

Schweigend, ohne ein Wort zu wechseln, suchten sie den Rückweg. Allmählich traten die Lichter am Strande, die dunkeln Umrisse der Masten und das Geräusch des Lebens wieder langsam zutage, und Gerber, als der Führer der Mannschaft, fing an, sich zu orientieren. »Dorthin,« gebot er dem Mann am Steuer, »ich weiß, daß wir das Schwimmfloß der Soldaten passiert haben, – es war die Stelle, an welcher wir das Signal hörten. Armer Kerl! Ein so guter Kamerad!«

Und Gerber schwieg, weil er fürchtete, das etwaige fernere Worte nicht mehr ganz sicher klingen möchten. Die Matrosen ruderten so schnell als möglich, um diesem schrecklichen Abenteuer ein Ende zu machen.

Das Schwimmfloß war jetzt fast erreicht, die breite Wasserstraße zwischen der Doppelreihe von Schiffen zeigte sich den Blicken, da – erklang plötzlich vom selben Orte wie vorhin die preußische Signalpfeife, nur schwächer, matter als sonst.

Auf den Köpfen der Matrosen sträubten sich die Haare. Sie hielten wie auf Verabredung mit Rudern an und wagten kaum zu atmen. Dort, wo Robert zuletzt gelebt und die Kameraden zur Hilfe gerufen, dort äffte jetzt ein Spuk die Nahenden.

Würde nicht Roberts Geist zwischen ihnen im Boote Platz nehmen, würde nicht die Totenhand ihre Stirnen streifen?

Lieber auf offenem Meer die ganze Nacht, lieber selbst von den Haien gefressen werden, als an dieser Stelle vorüber.

Gerber war der einzige, welcher sich aufzuraffen vermochte. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, die antwortenden Klänge der Signalpfeife zitterten wider Willen, aber dennoch bewahrte der gemütliche Maat seine ganze Würde. »Vorwärts!« gebot er. »Wer sich weigert mir zu gehorchen, den stelle ich vor ein Kriegsgericht.«

Das half. Einige Mutige rissen die anderen mit sich fort, das Boot wurde wieder durch die Fluten getrieben und kam dem Schwimmfloß näher. Alle Stangen und Zeltwände auf demselben hatte der Sturm zerknickt und teilweise über Bord geschleudert, aber doch bedeckten noch unordentliche Haufen die ganze Oberfläche, und von dieser erhob sich jetzt aus halbliegender Stellung eine menschliche Gestalt. Ein Arm streckte sich dem Boote entgegen.

»Maaten!« sagte eine schwache Stimme, »seid ihr es?«

Gerber räusperte sich zweimal, bevor er zu sprechen vermochte. Dann trat er hart an den Bootsrand. »Im Namen Gottes, sag, wer du bist!« rief er.

»Gerber!« klang es zurück. »Ach, Gottlob, daß Ihr da seid. Nehmt mich auf, ich glaube, der Schurke hat mir den Kopf zerschlagen.«

Jetzt hörten alle, daß sie den totgeglaubten Kameraden lebend vor sich hatten, und jeder wollte der erste sein, welcher sich selbst und den übrigen die abergläubische Furcht von vorhin zu leugnen suchte. Robert wurde mit Fragen von allen Seiten her bestürmt.

Er vermochte kaum, sich mit Hilfe der anderen zu bewegen. Ihn schwindelte, und der Kopf schmerzte zum Zerspringen. Nur in Bruchstücken erfuhren die übrigen, was geschehen war.

Rafaele hatte, als er das Leben unseres Freundes zu zerstören trachtete, auf eine so entsetzliche Weise den eigenen Tod gefunden; der Mörder, dem nichts heilig war, hatte sich widerstandslos durch das grobe, physische Recht des Stärkeren besiegen lassen müssen. Was den Matrosen so unbegreiflich geschienen, das trat jetzt, eines nach dem anderen, klar zutage, und mehr als ein: »Das hatte der Schurke verdient!« wurde dem auf so gräßliche Art Gestorbenen noch in die Vergeltung der Ewigkeit hinein nachgesandt.

Robert mußte, als das Boot zur Korvette zurückgekehrt war, sogleich in das Lazarett gebracht werden und konnte erst nach mehreren Tagen alle Einzelheiten der ganzen Sache zu Protokoll geben, wobei ihm die Aussagen sämtlicher Bootsgasten ergänzend zu Hilfe kamen. Der Kapitän hielt sich indessen nicht berufen, nach dem Tode Rafaeles noch den kubanischen Behörden eine Mitteilung zu machen, namentlich da dort gar zu leicht gegen klingenden Dank ein Auge zugedrückt wird und vielleicht mit dieser Anzeige den Behörden verzweifelt wenig Neues entdeckt worden wäre.

Robert freute sich darüber sehr, weil doch sonst sein einstiger Erretter, der Koch, mit den übrigen hätte büßen müssen. Wie er von den Wellen auf das Schwimmfloß geschleudert worden war, erinnerte er sich später nicht mehr, und auch die Jolle blieb verschwunden, – nur das Bild Gottliebs und der Indianer zeigte sich wohlbehalten, da es bei dem plötzlichen Erscheinen des Wirtes auf dem Tisch gelegen hatte und nachher von den Matrosen mitgenommen worden war. Unser Freund dankte dem Himmel, in allen Stücken so gnädig davongekommen zu sein.

Als das Schiff die Guanoinsel Navasa passierte, hatte er sich bereits genügend erholt, um wenigstens vom Bord aus, im warmen Sonnenschein sitzend, die Arbeiten der dort beschäftigten Männer mit anzusehen. Einige schaufelten die unappetitliche Ware in Karren, die den Weitertransport zum Schiff bewerkstelligten, andere hackten und zerschlugen die verkalkten Anhäufungen langer Jahre, während gelegentlich sogar solche gleichsam zu Stein gewordene Berge schwärzlichen Stoffes mit Pulver zersprengt wurden, ehe die Spitzhacke in Anwendung kam.

Überall Neues, Neues! dem wir indessen nicht Schritt um Schritt folgen können, weil uns das Interessanteste aus Roberts Erlebnissen überhaupt noch bevorsteht, nämlich die Weltumsegelung auf der »Gazelle«, welche wir, so weit die Briefe, die er geschrieben, darüber Aufschluß geben, in allen ihren anziehenden Einzelheiten mitteilen werden.

Robert kam von der westindischen Reise der »Gazelle« im Jahre 1872 wohlbehalten nach Hause, machte mit demselben Schiff noch eine zweite Reise und nahm dann, nachdem seine Dienstzeit abgelaufen, freiwillig wieder Stellung auf der »Arkona«, bis es im Frühling 1874 bekannt wurde, daß die »Gazelle« ihre wissenschaftliche Reise um die Welt im Juni antreten werde. Unser Freund bewarb Bild sich sofort um die Erlaubnis, diese Reise mitmachen zu dürfen, und als er sie erhalten, nahm er Urlaub, da doch zuvor die Heimat besucht werden mußte.

Schon im Jahre 1872 hatte er die längsterwartete Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten und das Wiedersehen mit der alten Mutter war daher ein sehr ernstes, wehmütiges, namentlich da er die stille Hoffnung der vielgeprüften Frau, daß ihn nun der Vollbesitz des hübschen väterlichen Vermögens bewegen könne, am Lande zu bleiben, – doch trotz aller Liebe und Sohneszärtlichkeit nochmals täuschen mußte. Er fand das Mütterchen immer noch wohlauf, nebenbei aber auch seinen Freund Gottlieb als wohlhäbigen Hausbesitzer und Krämer, mit grüner Schürze und roten Fäusten, mit dem gleichen bescheidenen Wesen und in dem Laden, den er sich genau nach dem Muster des abgebrannten Häuschens wieder aufgeführt. Eine niedere Decke, ein enges Arbeitszimmerchen, ein fest verwahrter Hofraum und zwei mächtige Eisenstangen, mittels welcher er in dem harmlosen Pinneberg allnächtlich die Haustür versperrte, – das war Gottliebs Eden.

Das Schaufenster malerisch mit Feigen und Rolltabak verziert, vor der Haustür anstatt des üblichen Negers einen Indianer, dessen Augen die kleinen Kinder aus den jenseitigen Bürgersteig hinüber flüchten ließen, und abends im Zwielicht ein paar kleine Schauergeschichten aus der Zeit, wo er in den Wildnissen der Rothäute gelebt, so verbrachte Gottlieb die harmlosen Tage, in deren Hochgenuß er sich für alle erlittenen Qualen vollständig entschädigte. »Daß die Indianer keinen Tabak bauen, und daß sie überhaupt große, faule Bärenhäuter sind, die dem lieben Herrgott den Tag abstehlen, davon wissen die hier nichts,« sagte er, »mir ist's zum Vorteil, daß ich ein braunes, anstatt eines schwarzen Gesichtes vor der Tür habe. Ich erzähle denen, die es hören wollen, daß der Kerl mein genauer Bekannter war, – überhaupt lüge ich ein bißchen, das bringt den Handel in Aufschwung, weißt du.«

Dabei führte er seinen Freund in das enge Hinterzimmer und holte aus dem Keller eine Flasche vom besten herauf. »Ich sitze gut in der Wolle,« schmunzelte er, »aber natürlich darfst du das niemand wiedererzählen, Robert. Ich mag nicht, wenn andere in meine Papiere sehen können. So kleine zehntausend Mark sind in guten Hypotheken angelegt und das Haus ist schuldenfrei, alles was du siehst, bar bezahlt. Die Goldkörner, welche mir meine Squaws aus dem Quarz herausklauben mußten, haben hübsch vorgehalten.«

Robert gratulierte lachend und fragte dann nach Mongos Schicksal.

»Dem geht es gut!« versetzte Gottlieb. »Er hat für seinen Anteil unseres Verdienstes in New York eine kleine Schenke gekauft und kann nun auch seinen Sohn die Steuermannskunst erlernen lassen. Als wir uns trennten, wünschte er vom Leben nur noch, daß es dich und ihn einmal wieder zusammenführen möge.«

Robert hob das Glas, um mit Gottlieb anzustoßen. Auf die Verwirklichung dieses Wunsches,« sagte er. »Auf das Gelingen dessen, was jedem unter uns als Ziel vorschwebt, so grundverschieden es auch sei.«

Der junge Krämer erhob sich vom Sitz. »Wart' einen Augenblick!« bat er, »ich möchte dazu erst die Eltern herbeiholen.«

Bild

Und dann brachte er die beiden alten Leute und legte des blinden Vaters Hand in die seines Freundes. »Das ist Robert,« sagte er mit etwas unsicherer Stimme, »der, dem wir alles verdanken, der mich mit Gefahr seines eigenen Lebens gerettet hat und –«

»Als der Schafbock in der Nähe war!« raunte ihm Robert ins Ohr, um das beabsichtigte Kompliment zu unterbrechen, und keine Rührung aufkommen zu lassen. »Du irrst übrigens, es war Mongo, der sich diesem reißenden Tier tollkühn in den Weg warf.«

Da war es denn aus mit dem Ernst; man lachte und neckte unbarmherzig den jungen Hausherrn, welcher so wunderbar Fersengeld gegeben hatte, als ihm das Horn des Moufflon durch die Büsche entgegenschimmerte. Um aber gerecht zu bleiben, erzählte unser Freund außerdem auch die Geschichte, wo Gottlieb durch seine Geistesgegenwart auf der Insel in der Magelhaensstraße die ganze Schiffsmannschaft vor dem Verderben bewahrt hatte, eine Tatsache, welcher der bescheidene, junge Mensch eben um ihrer Wahrhaftigkeit willen nie Erwähnung getan, obgleich er anderseits den schaudernden Kundinnen im Laden die unglaublichsten Geschichten vorfabelte und sich Gefahren andichtete, die er niemals bestanden, und die in ihrer Zusammensetzung höchst befremdliche Erscheinungen darboten.

Robert trennte sich von ihm und der Heimat überhaupt mit dem Bewußtsein, glückliche und geordnete Verhältnisse zurückzulassen, namentlich da ihm Gottlieb zum Schluß noch das Beste anvertraut, nämlich, daß er bei der diesjährigen Aushebung als unbrauchbar zur Ersatzreserve hinübergeschrieben. »Den Gott lieb hat, dem schenkt er's im Schlafe,« fügte er bei. »Seit ich das wußte, habe ich mir noch eine Versicherungsagentur zugelegt und will außerdem eine Wirtschaft begründen.«

Robert wünschte ihm von Herzen alles mögliche Gute, aber er begriff doch weniger als je, wie so Kleinliches ein Menschenleben ausfüllen könne.

»Und du möchtest nicht, nachdem dir nun ein Teil der Welt bekannt geworden, auch gern alles sehen?« fragte er.

»Behüte mich Gott!« rief schaudernd der junge Krämer. »Ich will in diesen vier Wänden leben und sterben, will alles, was mich anregt und freut, hier zusammenhäufen, will nie anders als zu Geschäftszwecken hinausgehen, auch keine Spaziergänge machen oder gar tanzen und dergleichen. Das heißt doch nur die Zeit totschlagen.«

»Allmächtiger Himmel, aber die Art zu leben, wie du sie schilderst, heißt doch lebendig mit freiem Willen begraben zu sein.«

»Das finde ich durchaus nicht. Sich Gefahren aussetzen, nur durch ein paar Bretter von der Tiefe des Meeres getrennt zu sein, auf das allerungemütlichste seine Tage hinzubringen, heißt in jeder Stunde Spießruten laufen.«

Robert geriet immer mehr in Eifer. »Aber tausend neue Schönheiten sehen, immer lernen, immer mehr erkennen, die Erinnerungen aus allen Weltteilen in seiner Seele vereinigen, ist denn das nicht entzückend?« rief er.

Gottlieb nickte. »Gewiß! Aber mögen andere mir die Kastanien aus dem Feuer holen. Ich lese in behaglicher Sicherheit die Schilderung solcher Dinge, bei deren Erkenntnis sie ihre Haut zu Markte trugen. Das macht die Sache angenehmer und billiger.«

Jetzt lachte Robert. »Du Erzphilister,« sagte er, »du eingefleischter Spießbürger. Wir wollen nicht länger Meinung gegen Meinung abwägen, es kommt dabei nichts heraus, weil wir eben Gegensätze bilden. Aber ein anderes gibt es noch, wobei wir uns hoffentlich besser verstehen. Gottlieb, wenn du wirklich glaubst, mir einigen Dank schuldig zu sein, – willst du ihn abtragen an meine Mutter? Kann ich annehmen, daß sie an dir und den Deinen eine Stütze finden wird in jeder Lage des Lebens?«

Der junge Krämer ergriff und schüttelte herzlich die Hand seines Freundes. »In Not und Tod findest du mich treu, Robert!« sagte er einfach.

Unser Freund gab innig gerührt den Händedruck zurück. Als er sich von dem Gefährten seiner Kindheit verabschiedete, da wußte er, daß die alte Mutter einen Anhalt und einen treuen Helfer an ihm finden werde, so oft sie dessen etwa bedürftig sei.

Die Trennung von ihr selbst wurde schwer, sie war für beide ein schmerzvoller Augenblick, und nur das feste Gottvertrauen der alten Frau half ihr über die abermalige Täuschung hinweg, während Robert in dem hohen Ziele, das ihm winkte, für alles Ersatz fand.


 << zurück weiter >>