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Die Stadt war verlassen, das Ufer allmählich den Blicken entschwunden, und die »Antje Marie« durchpflügte wieder das Meer. Jetzt umfächelten südliche Lüfte die heißen Stirnen der Matrosen, und an Bord regte sich ein geheimnisvolles Leben.
Robert sollte erfahren, was Peter Bolland meinte, als er von den doppelten Böden und verschiebbaren Planken des Schiffes sprach.
Man hatte feine Weine eingenommen und verschiedene sonstige Waren. Das alles befand sich teils in der Kajütte des Kapitäns, teils in dem Logis aufgestapelt, während noch unzählige teuere Waren aus den Schränken und Kisten der Kajütte hervorkamen, um dann anderweitig untergebracht zu werden. Das ganze Schiff glich einer großen Jahrmarktsbude, in der alles Mögliche ausgebreitet daliegt, um die Schaulust der Käufer zu reizen.
Hier flandrischer Samt von prachtvoller Beschaffenheit, dort Brüsseler Teppiche, Mechelner Spitzen und die Seidenwaren Frankreichs. Feiner Battist, Stickereien und Schleier wechselten mit den teuersten Sorten des echten Champagners und Burgunders, mit Blumenzwiebeln von Harlem und den Ölgemälden alter berühmter Meister.
Und nun begann die »Verstauung« aller dieser Dinge. »Hast du es noch nicht gewußt?« fragte der alte Mohr. »Wir betreiben als Hauptverdienst den Schmuggelhandel, aber laß du dich dazu nicht brauchen, Kind. Wenn sie dich abfassen, so wirst du bestraft, und es kommt in deine Schiffspapiere. Ist auch außerdem kein redliches Geschäft.«
»Was sollte ich denn dabei tun?« fragte erstaunt der Knabe.
»Hm, die zollpflichtige Ware an Land bringen, entweder eine Bootsladung bei Nacht und Nebel den Helfershelfern zuführen, oder einzelnes an deinem Körper in die Stadt schaffen. Dafür gibt es freie Tage und ein paar Taler Heuer mehr, aber es ist doch nichts Gutes, und du solltest dich lieber davon entfernt halten.«
»Onkel Mohr,« fragte nach einer Pause der Knabe, »tust du es auch nicht?«
Der Alte strich mit der Hand durch das weiße Haar. »Ich, Kind? – Ja, ich tue es, obwohl ich das Land nicht betrete, aber mit mir ist es ein anderes, als mit dir. Ich will schon sorgen, daß du frei ausgehst. Im Augenblick mußt du freilich Hand anlegen, das läßt sich nicht ändern.«
Kapitän van Swieten erschien an Deck. Der alte Holländer in seiner altfränkischen, kaum seemännischen Tracht ließ sich selten ohne sein Glas Grog sehen, gewöhnlich erglänzte sein breites Gesicht von schnapsseliger Röte. Er ließ durch den Untersteuermann jedem von den Leuten eine Flasche Wein verabreichen, auch Robert erhielt die seinige, obwohl er nicht so recht wußte, was er mit dem unbekannten Stoff anfangen sollte.
»So, Kinder,« schmunzelte der Kapitän, »nun macht euch dran. Zuerst die Flaschen verstaut. Das andere, der bunte Krimskrams für Frauenputz findet schon leichter seinen Platz. Also weg mit den Kohlen, damit wir fertig sind, ehe Cuba in Sicht ist.«
Ein beifälliges Murmeln der Matrosen antwortete dem »Alten«. Die Champagnerpfropfen knallten in die sengende Mittagshitze hinein, und die geleerten Flaschen flogen den tanzenden Korken nach ins Meer, nur der Obersteuermann sah äußerst verdrießlich in das weinrote, behäbige Gesicht des Kapitäns. »Hättest auch nicht jedem Kerl eine ganze Flasche schenken sollen,« brummte er. »Ein Glas voll wäre genug gewesen.«
Van Swieten blinzelte vertraulich. »Die Steinkohlen fallen dann aber so verteufelt leicht – oder schwer, wenn du willst – einmal unversehens an die unrechte Stelle, und meistens gerade dahin, wo Champagner liegt,« schmunzelte er. »Kennst das nicht, Renefier, und überdies bin ich auch der Kapitän, wie du weißt, kann auf meinem Schiffe schalten und walten, wie mir gut dünkt. Die Pfennigfuchserei ist mir ein Greuel, daher habe ich überall, wohin ich komme, gute Freunde, das solltest du bedenken.«
Der Obersteuermann nickte grimmig. »Bis zur Havana, van Swieten, dann trennen wir uns,« sagte er. »Ich bin kein dummer Junge, der sich mit einer Schattenherrschaft begnügt.«
Van Swieten zuckte die Achseln. »Das ist deine Sache, Renefier. Vorerst brauche ich nun alle Hände, um die Steinkohlen fortzuschaffen.«
Das geschah, und die Matrosen schaufelten abwechselnd, bis die ganze Masse entfernt war, um darunter eine Luke erscheinen zu lassen, unter welcher wieder ein hübsches, ellentiefes Versteck zu tage kam. Mit lustigem, durch den Schaumwein nicht wenig belebten Gesang packten dann die Leute, von Hand zu Hand arbeitend, sorgfältig die Champagnerflaschen auf das Heu in den Verschlag, und als alles gefüllt war, wurden in sämtliche entstandene Lücken die Blumenzwiebeln verstreut, so daß jeder Fußbreit Raum benutzt war. Nachdem schließlich der Kohlenvorrat die Luke wieder verdeckte, besichtigte van Swieten das Ganze und schmunzelte sehr vergnügt. »Nun laßt die Spürnasen kommen,« sagte er, »mir soll's recht sein. Sind schon seit sechzehn Jahren daran vorübergelaufen, also werden sie es wohl auch diesmal tun.«
Dann kamen die Spitzen und Teppiche an die Reihe. Hier ließ sich ein Brett verschieben und dort eines, hier war ein verborgenes Schränkchen und weiterhin sogar mehrere. Tausende von Talern hätten nicht ausgereicht, um den Wert aller dieser versteckten Gegenstände bar zu bezahlen, – Robert erstaunte heimlich, als er sah, wie planmäßig die Sache betrieben wurde. Jetzt erst begriff er, weshalb damals Peter Bolland, der Wirt der Hamburger Matrosenschenke, so eifrig besorgt war, den betrunkenen Koch der Verhaftung zu entziehen. Van Swieten konnte ja für die Bedienung seines Schiffes nur vertraute Leute brauchen und wäre in der größten Verlegenheit gewesen, sobald er ohne den Spanier hätte absegeln müssen. Und das wußte auch Georg, der falsche Freund, als er ihn dem Heuerbas überlieferte, das war alles verabredete Sache, und er, Robert, der Geprellte. Doch tat's ihm nicht leid. In Cuba fand sich gewiß ein anderes Schiff, auf das er übergehen konnte, um in strengere aber ehrlichere Verhältnisse zu gelangen, – wenn nur der alte Mohr nicht gewesen wäre! Den wollte er so ungern verlassen.
Seine Blicke suchten ihn. Der Greis lag inmitten bunter Seidenstoffe auf den Knieen und packte ein Stück nach dem andern in den Verschlag, der an der Hinterwand der Kajütte angebracht war. Das meiste hatte jetzt schon Platz gefunden,
Robert gesellte sich zu dem Alten. »Onkel,« fragte er leise, »wie lange haben wir noch bis nach Cuba?«
»So acht Tage!« versetzte der Matrose. »Warum fragst du mich, Kind?«
Robert errötete. »O – ich meine nur so,« antwortete er verlegen.
Der Alte sah ihn an. »Dir gefällt das nicht,« sagte er nach einer Pause, »und du hast recht, mein Junge. Man soll ja auch dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Willst du in der Havana von Bord gehen?«
»Mit dir, Onkel!« rief der Knabe. «Gehst du nicht, so bleibe ich auch. Du bist von allen der einzige, welchen ich liebgewonnen habe.«
Mohr erhob sich, nachdem er die letzte Planke wieder eingefügt, von seinen Knieen. »Ich habe dich auch lieb,« antwortete er, »und darum sollst du fort, Kind. Brauchst ja von dem, was du hier gesehen, keinem Menschen zu erzählen, weil es nicht dein Geheimnis ist, und weil überhaupt der Verräter immer eine ganz jämmerliche Rolle spielt. Aber um keinen Preis darfst du hier einrosten, vielleicht gar selbst ein Schmuggelhändler werden, und später noch Ärgeres, – nein, nein, die Mannschaft der »Antje Marie« ist für dich kein gutes Beispiel, du mußt von hier fort, und ich helfe dir dazu,«
»Wird bei jeder Reise geschmuggelt?« fragte nach einer Pause der Knabe.
»Immer. Das Geschäft ist jetzt jedoch sehr verschlechtert. In früheren Jahren, als wir den aufständischen Chinesen Waffen und Schießbedarf zubrachten, war es bedeutend besser. Damals verdienten wir Geld wie Heu, – der Kapitän wenigstens. Ich selbst habe nie mehr genommen, als ein Matrose für seine Arbeit überall bekommt.«
»Gar nichts von den Extravergütungen für das Schmuggeln, Onkel?« »Gar nichts, aber trotzdem besitze ich ein hübsches Sümmchen, und das soll dir gehören, mein Junge. Laß dich nach Hamburg hin anmustern, reise nach Hause und hole dir den Segen deines Vaters, das ist es, was ich wünsche, was du mir versprechen mußt. Sieh, wenn du einwilligst, wenn du gelobst, vor dem beleidigten Vater die Kniee zu beugen und dein Gewissen reinzuwaschen in den Tränen, die seine Verzeihung erflehen, dann – – hat sich so ein Stückchen Bestimmung erfüllt, dann würde ich glauben, auch für mich eine sehr gute Botschaft gehört zu haben. Die letzte auf Erden, Kind; willst du sie mir bringen, willst du nach Hause reisen und dich mit dem Vater versöhnen, ehe du wieder zur See gehst?«
Robert fühlte, wie ihm das Herz schlug. Recht hatte der Alte, aber dennoch – wenn ihn sein Vater nicht wieder fortließ? Wenn er abermals gezwungen wurde, auf dem Tisch zu sitzen und zu nähen?
Der Matrose las den Gedanken von seiner Stirn, »Kannst ja schon in Liverpool oder Havre schreiben,« setzte er hinzu. »Aber denke nicht, daß der Vater hart sein würde, unmöglich könnte er es, wenn du freiwillig zurückkehrst.«
In Roberts Augen schimmerte es feucht. »Ich möchte tun, wie du sagst, Onkel Mohr,« flüsterte er. «Ich möchte, daß die Eltern ganz mit mir einverstanden wären, aber – weglaufen müßte ich zum zweitenmal, wenn sie unerbittlich blieben.«
Der Alte lächelte. »Komm mit,« winkte er. »Ich will dir zeigen, daß meine Worte mehr als ein leerer Schall sind. Du sollst dein Erbteil sehen.«
Er ließ den Knaben in die Schiffskiste blicken, wo sich allerdings eine stattliche Anzahl holländischer und spanischer Münzen vorfand. »Das alles ist dein,« sagte er leise, »aber du tust damit, wie ich dich gebeten, nicht wahr, Kind? Es kommt der Tag, wo du mir für unser heutiges Gespräch im Herzen dankst, darauf verlasse dich.«
Robert gab gerührt und mit dem festen Vorsatz, es zu halten, das verlangte Versprechen. Dann reichte ihm der Alte die Flasche Champagner, welche er selbst bei der Verteilung heute bekommen. »Trink es in den nächsten Tagen, mein Junge,« sagte er freundlich.
»Und du, Onkel Mohr,« fragte der Knabe, dem das unbekannte schäumende Getränk ganz außerordentlich gefallen, »warum trinkst du nicht?«
Der seltsame Mann schüttelte den Kopf. »Ich nehme nie Wein oder Spirituosen zu mir,« antwortete er. »Laß dir's gut schmecken, Kind.«
Und dann ging er fort, wie das so seine Gewohnheit war, wenn ihm ein Gespräch peinlich zu werden schien. Robert hatte längst erkannt, daß irgend ein großes Unglück die Seele des Alten so verdüstert haben müsse, aber er wagte nicht, nochmals danach zu fragen. Mohr würde ja ohne Zweifel Wort halten und ihm alles freiwillig erzählen.
Die Waren hatten jetzt fast sämtlich ihr Unterkommen gefunden und während der folgenden Tage mußte das ganze Schiff von oben bis unten gescheuert werden. Der Obersteuermann wetterte und fluchte an Deck umher, als wolle er alles wieder einholen, was während der ganzen Reise an unumschränkter Herrschergewalt für ihn verloren gegangen war. Die Matrosen murrten so laut, daß es sogar der Kapitän bemerkte, und ein fast vollständiger Bruch zwischen den beiden war die Folge dieser Erörterungen.
Van Swieten hatte, wie das sehr häufig geschah, zu viel getrunken. Er befand sich daher in streitlustiger Laune und wollte vor allen Dingen sein Ansehen als Führer des Schiffes gewahrt wissen. Ihm gehörte die »Antje Marie«, er war Herr an Bord, und niemand durfte ihm widersprechen. »Geh in deine Kajütte, Renefier,« rief er mit lauter Stimme dem Obersteuermann zu. »Geh und schlafe oder tue, was dir beliebt. Deines Postens bist du entsetzt, – du paßt mit deinen Unteroffiziersgelüsten nicht auf mein Schiff und noch weniger für meine Leute.«
Der Steuermann wurde blaß wie eine Wand, aber er beherrschte sich doch und verließ schweigend das Deck, nur als der Kapitän im Vorraum der Kajütte nahe an ihm vorüberging, fragte er leise: »Van Swieten, hast du deine Worte wohl überlegt? Hast du an meiner Statt einen Mann zur Verfügung, der die Monddistanz aufnehmen kann, und der es versteht, eine Höhenberechnung aufzustellen? – Besinne dich, ehe es zu spät ist.«
Der Kapitän schlug mit der Hand in die Luft. »Unsinn,« versetzte er, »das kann ich alles selbst, und der Untersteuermann kann es auch. Ich habe ihm bereits deinen Posten übertragen, und du sollst dich in nichts mehr mischen, hörst du. Ich brauche willige Kerle, die vor dem Teufel nicht bange sind und die den Taler gern verdienen, ohne lange zu fragen, womit, aber keine Scheuerweiber, die an nichts als an Sand und Seife denken.«
Der Obersteuermann zog sich sehr verletzt zurück, und der Kapitän ging in seine Kajütte, um den letzten Rest des Bewußtseins mit Grog hinunterzuspülen. Der zweite Steuermann, eingedenk des eben Erlebten, und überhaupt eine weniger tatkräftige Natur, ließ nichts vom Befehlshaber durchblicken, so daß an Bord vollständige Unordnung Platz griff. Nur die notwendigsten Arbeiten wurden vorgenommen, sonst aber lagen die Leute in ihren Kojen und spannen wechselweise ein »Garn«, wie man auf der See das Erzählen einer Geschichte zu nennen Pflegt. Das Wetter blieb günstig, der Wind schwach und die Sterne sichtbar, es ereignete sich also nichts Bemerkenswertes.
Nur Mohr schüttelte den Kopf. »Noch ein Tag und noch eine Nacht,« murmelte er, »dann müssen wir den Hafen erreicht haben! – Seltsam, seltsam!«
»Mohr,« sagte ein anderer, »gib auch einmal etwas zum besten! Wahrhaftig, du hast von deiner Vergangenheit noch nie gesprochen, niemals ein Garn gesponnen, also tue es jetzt.«
Der Alte sah über das Wasser, und sein tiefliegendes Auge glühte fast unheimlich. »Ich hätte heute abend ein Garn gesponnen, auch ohne eure Aufforderung, Kameraden,« versetzte er. »Aber ob ihr meine Geschichte unterhaltend finden werdet, das steht dahin.«
Die andern lagerten sich im Kreise, und die kurzen Pfeifen wurden in Brand gesetzt. Auf dem Meere schwamm hell der weiße Mondglanz, und oben am Himmel schimmerten in südlicher Klarheit die Sterne.
Die Tür des Logis war weit offen gelassen, laue, schmeichelnde Lüfte umspielten die wetterbraunen Gesichter der Matrosen.
Mohr zog den Knaben mehr zu sich heran. »Morgen mit dem Frühesten sehen wir die blauen Berge von Cuba aus der Ferne wie Schatten auftauchen,« sagte er, »morgen scheint für mich die letzte Sonne, – darum hört alle, was ich euch zu erzählen habe, nehmt mein Beispiel zu Herzen.«
Niemand widersprach ihm. Sie kannten ja alle den Geisterseher, der oft in dunkeln Nächten so unheimliche, angstvolle Worte murmelte, der sich im Schlaf von einer Seite zur andern warf, und träumend schluchzen konnte wie ein geängstigtes Kind.
»Der Klabautermann sitzt auf seiner Brust und drückt ihn,« hatten dann wohl einige, heimlich schaudernd, gesagt, während andere den Kopf schüttelten. »Die Nachtmahr ist es, das bleiche Gespenst, sie will mit ihm würfeln um sein Herzblut, und er kann sich ihrer nicht erwehren.« – –
Sie kannten ihn, darum widersprach keiner.
Mohr senkte den Kopf in die hohle Hand. »Ich war zur Zeit meiner zwanziger Jahre ein kecker, übermütiger Geselle,« begann er seine Geschichte, »ein Bursche, der sich weder vor Gott noch vor dem Teufel fürchtete und seine Tage dahinlebte wie einer, der da meint, daß Jugend und Gesundheit ewig dauern, nur um den Becher der Vergnügungen in vollen Zügen zu genießen und von einer tollen Lustbarkeit zur andern zu eilen.
Das Seeleben gefiel mir nachgerade nicht mehr, weil die Zeit der Arbeit und der Entbehrungen lang war, die Freudentage im Hafen aber sehr kurz, und namentlich, weil ich an Bord gehorchen mußte wie ein Schuljunge. Das verstand ich gerade am allerwenigsten, das erregte immer meinen Jähzorn und stürzte mich in viele Verlegenheiten. Einmal habe ich dem Kapitän, der mir ein verweisendes Wort sagte, eine Ohrfeige gegeben, und dafür als Meuterer die ganze Reise in Eisen gelegen, aber alles das konnte mich nicht zur Besinnung bringen. Ich sagte also dem Seeleben Valet und legte mich einstweilen in meines Vaters Haus vor Anker. Der Alte war Wirt, lebte mit einer ebenso bejahrten und mürrischen Schwester ganz allein und sah mich höchst ungern kommen. Einen erwachsenen Sohn zu füttern, der noch obendrein jeden Augenblick mit den Gästen Streit anfing und es meistens vorzog, die seinen Weine oder Kognaks selbst auszutrinken, anstatt die Bezahlenden unter glatten Worten damit zu bedienen, das behagte ihm nur äußerst wenig.
Hätte ich Flaschen spülen, Kegel aufsetzen und Bier abzapfen wollen, hätte ich bei der alten Base den Küchenjungen gespielt und ihrem Schoßhündchen geschmeichelt, dann wäre alles gut abgelaufen, so aber wurde das Verhältnis zwischen mir und meinen Angehörigen immer schlechter, bis ich zuletzt den ganzen Tag auf der Bank lag und rauchte oder trank, mit mir selbst und der Welt gleich sehr zerfallen.
Sollte ich nachgeben? Wieder ein Schiff suchen, mich von meinen Kameraden auslachen lassen, und der Base, die den Alten aufhetzte, das Feld räumen? Es wurmte mich, nur daran zu denken, aber dennoch konnte auch der gegenwärtige Zustand keine Dauer haben. Es mußte über kurz oder lang anders werden, das sah ich wohl, namentlich da mir der Vater niemals Geld geben wollte. ›Es ist genug, daß ich einen Taugenichts ernähre und vor dem Büttel bewahre‹ sagte er mir einmal. ›Du solltest dich schämen, von deinem alten Vater noch Geld zu verlangen. Ich gebe dir nichts und wenn du keinen Rock mehr anzuziehen hast, keine Stiefel an den Füßen.‹
Damals zerschlug ich in meiner wilden Wut alles, was sich meinen Fäusten darbot, die Flaschen und Gläser, die Fensterscheiben und die Rohrstühle, ich tobte wie ein wildes Tier im Käfig und ging erst fort als kein heiles Stück mehr zu finden war. Drei Tage lang trieb ich mich umher, aß rohe Feldfrüchte, hungerte und schlief hinter den Zäunen, dann kehrte ich zurück, um nicht ins Gefängnis geworfen zu werden, aber es war ein elendes Leben, das ich führte, mir selbst zur Last. Der Alte sagte nichts; er mochte einen ähnlichen Auftritt wie den soeben geschilderten befürchten und ließ mich daher tun und treiben, was ich wollte. Die Base machte es ebenso, sie ging im weiten Bogen um mich herum und nahm ihr Hündchen auf den Arm, sobald ich im Zimmer erschien. Das verdroß mich heimlich viel mehr, als hätten mir die beiden das Leben täglich zur Hölle gemacht; ich wurde so grimmig, so verbissen, – o ich kann euch nicht schildern, wie sehr. Du knüpfst dich auf, dachte ich bei mir, dann hat das Leiden ein Ende. Gerade vor der Kammertür der Base, damit sie sich erschreckt.
Den Nagel schlug ich auch richtig in die Mauer hinein, aber weiter kam es nicht. Das Leben ist doch so ein eigen Ding, man verschenkt es mit prahlenden Worten, aber in der Tat hält man's doch fest, es mag noch so elend sein.
Um diese Zeit, gerade an meinem Geburtstage, kam einmal ein Jude in die Schenke, der mit allerlei Kleinigkeiten, unter anderem auch mit Lotterielosen handelte. Ich lag wie gewöhnlich auf der Bank hinterm Ofen, heute wilder und ingrimmiger gelaunt als jemals vorher. Es war ja mein Geburtstag, aber kein Mensch hatte davon Notiz genommen, niemand hatte mir ein freundliches Wort, einen Glückwunsch gesagt, obwohl ich wußte, daß der Alte die Bedeutung des Tages ganz genau kannte. Das ärgerte mich über alle Maßen. Ich dachte wieder an den Nagel neben der Kammertür der Base.
Da trat der Jude zu mir und hielt zwischen den Fingern ein schmutziges, zerknittertes Blatt. ›Kauft der Herr kein Los?‹ fragte er schmeichelnd. ›Gerade das letzte, also das Glückslos, weil man immer das beste bis zuletzt aufhebt, – Nummer 26!‹
Es durchrieselte mich sonderbar. Heute an meinem Geburtstage wurde mir das Los angeboten, dessen Nummer die Zahl meiner Jahre angab. Wie eigentümlich!
Ich stand auf und zeigte das Papier dem Alten. ›Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals,‹ flüsterte ich. ›Das Glück will mir die Hand bieten.‹
Er zuckte die Achseln und wusch emsig seine Gläser, ohne zu antworten. Das kribbelte mich schon, weil es die anderen Gäste sahen.
Der Jude schlich mir nach. ›Sie sollten es nehmen,‹ drängte er. ›Die Ziehung ist schon in vierzehn Tagen und die Nummer bringt Glück. Hab einmal auf sechsundzwanzig das große Los in meine Kollekte gebracht. Wäre doch herrlich, so viel Geld, nicht wahr?‹
Mir stieg das Blut heiß zu Kopf. ›Vater,‹ sagte ich mit lauter Stimme, ›seid so gut und leiht mir die paar Taler, ich will das Ding da kaufen.‹
Der Alte zögerte. Er murmelte einiges, was ich nicht verstand, aber er griff endlich doch in die Kassenschublade und zählte das verlangte Geld auf den Tisch, alles ohne ein Wort zu sprechen. Ich flößte ihm Furcht ein, das war ganz sicher.
Er und ich, wir sprachen von der Sache nicht weiter, und das Los blieb in meiner Tasche. Die vierzehn Tage vergingen wie alle vorherigen, ich las und trank, rauchte oder schlief und ärgerte mich fortwährend. An den Gewinn dachte ich schon längst nicht mehr.
Da erschien eines Abends der Jude, als gerade das ganze Gastzimmer Kopf an Kopf gefüllt war. Er winkte mir schweigend, ihm zu folgen. ›Gewonnen,‹ flüsterte er, als wir draußen vor der Tür standen, ›gewonnen! Ich hab's Geld mitgebracht. Wieviel lassen Sie mich verdienen, wenn ich es gleich auszahle?‹ Hinter uns erschien in diesem Augenblick wie ein schwarzer Schatten der Alte. ›Was gibt's?‹ fragte er, hat das Los gewonnen?‹
Der Jude hob warnend den Finger. ›Pst!‹ flüsterte er, ›nicht so laut, die anderen merken es. Das schöne Geld könnte gestohlen werden. Es ist eine große – große Summe, und ich bin ein geschlagener Mann, wenn mich Diebe überfallen. Nachher wollen wir das alles besprechen, wenn die Gäste fort sind.‹
Er schlüpfte voran in das Zimmer, und ich folgte ihm, halb berauscht vor Entzücken. Also endlich sollte meine Erlösungsstunde schlagen, endlich sollte ich nach so langer trüber Zeit der Entbehrung wieder Geld besitzen, viel Geld, wie der Jude gesagt hatte! – ach, dieses Hochgefühl, welches mich durchströmte, diese gewaltige Freude. Ich trank und trank, bis mir die Adern an der Stirn zu schwellen begannen, und meine Augen die Gegenstände ringsumher nicht mehr mit Sicherheit zu unterscheiden vermochten.
Ich wollte das öde Dorf verlassen und mit dem schnell erworbenen Reichtum in eine größere Stadt ziehen, um ohne Mühe durch Leihgeschäfte immer mehr Geld zu erwerben, ich schmiedete Pläne über Pläne, und in allen spielte mein Vermögen die Hauptrolle.
Karten und Würfel gingen von Hand zu Hand, ich trank und verlor Summe nach Summe, aber ich lachte darüber. Was konnte mir die Handvoll Taler gelten, da ich ja reich war!
Aber wieviel es nur sein mochte? – Heute blieben auch die Gäste länger als jemals. Heiße Ungeduld brannte in allen meinen Adern. Mitternacht war vorüber, als endlich die letzten halbtrunkenen Bauern davon taumelten. Jetzt befanden sich außer mir selbst nur noch mein Vater und der Jude im Schenkzimmer. Die Base saß nickend in der Küche.
Wir neigten uns beide gegen den Hebräer. ›Wie viel ist's?‹ fragte flüsternd der Alte und: ›wieviel ist's?‹ wiederholte ich zitternd vor Begier.
Der Jude sah von einem zum andern. ›Ihrer zwanzigtausend harte Taler,‹ raunte er. ›Hab's ja gesagt, die Sechsundzwanzig ist eine Glücksnummer. Was soll ich haben, wenn ich das Geld gleich auszahle anstatt in sechs Wochen?‹
Mir flirrte und flunkerte es vor den Augen ›Tausend Taler!‹ rief ich ungestüm. ›Das ist fürstlich bezahlt, sollte ich meinen, also zähl das Geld heraus, Itzig.‹ Da legte sich eine Hand auf meine Achsel. ›Sachte, sachte‹ rief der Alte, ›was geht es dich an, wieviel ich dem Juden geben will?‹
›Du?‹
Ich starrte ihn an, unfähig, mehr als das eine Wort herauszubringen.
›Natürlich‹ beharrte er, ›das Geld ist mein, ich habe das Los bezahlt und kann zehn Zeugen bringen, daß ich die Wahrheit rede.‹
Ein heißer Strom rann durch alle meine Adern. ›Mir hast du das Geld geliehen,‹ schrie ich, ›und du kannst es zurückerhalten, sobald mir das Geld ausbezahlt worden. Gib her, Itzig, hier hast du das Los und tausend Taler sind dein.‹
Der Jude erhaschte im Fluge den Papierstreifen. Ein solches Trinkgeld bot ihm ganz gewiß niemand, am wenigsten aber der habsüchtige Alte, daher stand er ganz auf meiner Seite und begann hastig die Kassenscheine auf den Tisch zu zählen. Dann entfernte er sich so rasch ihn die Füße trugen.
Der Vater legte seine Hand auf das Geld. ›Mein ist's,‹ raunte er, ›und ich lasse nicht davon. Ergib dich im Guten, oder –‹
Ich sah ihm aus nächster Nähe ins Auge. ›Oder?‹ zischte ich.
›Du wanderst morgen ins Gefängnis. Ich habe das Los bezahlt, ich bin hier im Dorfe ein ansässiger Mann, ich betreibe ein ehrliches Handwerk, du aber bist ein Tagedieb und Herumtreiber, der jetzt auch noch seinen alten Vater bestehlen Will!‹
Die Habsucht mußte ihn völlig verblenden, mir so drohend gegenüberzutreten. Ein Schein nach dem andern verschwand in seinen Taschen.
Und da, Kameraden, da war's um mich geschehen. Er hatte das Wort »stehlen« ausgesprochen, hatte meine Ehre tödlich gekränkt, unheilbar – – –
Ich ergriff einen schweren Hammer, der zufällig auf dem Tische lag – – –«
Der alte Matrose hielt einen Augenblick inne. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, die Stimme klang kaum verständlich –
Unter den Leuten herrschte Totenstille – – –
»Vor meinen Blicken erschien alles rot, wie zuckende Blitze, in Blut getaucht.« fuhr nach einer Pause der Erzähler fort. »Ich weiß nur noch, daß mir die völlige Besinnung erst später zurückkehrte. Und da war ich nüchtern auf einen Schlag.
Vor mir am Boden lag mit gespaltenem Schädel mein Vater, und seine gebrochenen Augen schienen starr zu dem Mörder emporzusehen.
Langsam rann das Blut über die Kassenscheine, welche er im Fallen mit sich vom Tisch gerissen.
Alles war totenstill um mich herum, kein Laut unterbrach die Mitternachtsstunde des entlegenen Hauses, nur ein eintöniges leises Geräusch hörte ich, ganz leise wie das Ticken einer Uhr. Es waren Blutstropfen, welche langsam über die Stufen der Kellertreppe hinabliefen und deren Fall in mir ein eisiges Grauen wachrief. Das Licht brannte allmählich herab, knisterte und zuckte noch ein paarmal hoch empor, dann erlosch es gänzlich.
Ich rührte kein Glied. Wie gelähmt, wie erstarrt saß ich da. »Mörder!« schien es in mir zu flüstern, und »Mörder« rings in der stillen Luft, bis mich ein fast wahnwitziger Schauder ergriff. Ich mußte fort von hier, ehe es Tag geworden, ich konnte um keinen Preis noch einmal in dieses gebrochene Auge sehen.
Stunde nach Stunde verrann. Der Tag rückte näher, die Hähne im Dorfe begannen zu krähen, Hunde bellten und hier und da knarrten Wagenräder. Jetzt galt es vom Sitz aufzustehen.
Ich machte keine Bewegung, atmete kaum, – da drang durch die Fensterläden ein erster schwacher Schimmer, – er streifte die dunkle stille Gestalt am Boden. –
Schaudernd raffte ich mich auf und schlich zur Tür, immer verfolgt von dem Blick der toten Augen. Wohin sich mein Fuß wandte, da begegnete mir der schreckliche Anblick, Ich öffnete die Tür und trat hinaus ins Freie, in den Gottesfrieden der Sommerfrühe – – O Kameraden, möchte keiner unter euch je empfinden müssen, was ich damals empfand. Ich fühlte das Kainszeichen auf meiner Stirn brennen, fühlte den Fluch des Ewigen über mir in der stillen Morgenluft und stürzte davon, wie einst die ersten Menschen aus dem Paradiese.« – –
»Onkel Mohr,« flüsterte der Knabe, sich innig an den Alten schmiegend, »du Armer!«
Und auch die übrigen waren ernst und still. Selbst diese rohe Schar, zusammengewürfelt aus aller Herren Ländern, sittlich verwahrlost in der steten Ausübung eines widerrechtlichen Berufes, selbst dieser Auswurf des heiteren harmlosen Matrosenvolkes war tief ergriffen von dem furchtbaren Schicksal des Genossen, dessen silberweißes Haar sich heute noch beugte unter der Last einer Erinnerung, die sein ganzes Leben vergiftet hatte.
Nur Gallego, der Unselige, der Sklave des geißelschwingenden Lasters, das Herz und Seele der ihm Verfallenen zu Asche versengt – Gallego schlich ungesehen im Dunkel des Logis zu Roberts Koje und stahl die Champagnerflasche, mit der er sich in die Kombüse begab und mit gierigen Zügen den perlenden Schaumwein hinunterstürzte.
Niemand achtete seiner. In den Seelen aller widerhallte das schauerliche Selbstbekenntnis des Greises, dessen Wesen jetzt erst anfing verständlich zu werden. Darum das Flüstern im Schlafe, darum das leise stehende: »Sieh mich nicht an, o aus Barmherzigkeit, sieh mich nicht an!« – wie es die Matrosen so oft von ihm gehört.
»Fahre fort,« bat eine Stimme. »Dein Garn ist noch nicht abgelaufen.«
Der Alte hatte indessen das heiße Gesicht des Knaben liebkosend gestreichelt; jetzt erhob er den Kopf und warf das Haar in den Nacken zurück. »Nein,« sagte er, »mein Garn ist nicht abgelaufen, da habt ihr recht. Aber ich will euch alles erzählen. Hört zu!
Ich besah beim ersten Tageslicht mein eigenes Antlitz in einem Bach, der am Wege vorüberfloß, – es war mir ja heimlich, als stände darauf die Untat verzeichnet, und dann, als ich Haar und Bart ein wenig geordnet, wanderte ich unaufhaltsam bis nach Bremen, das etwa drei Meilen weit von meiner Heimat entfernt lag und wo mich jeder Schlafbas kannte. Ein Schiff zu bekommen hielt nicht schwer, und schon nach vier oder fünf Tagen war ich auf einem amerikanischen Dreimaster in völliger Sicherheit.
Wir hatten Passagiere an Bord, Frauen und unschuldige Kinder; es gab viele Unterhaltung, manches Neue, manches Ungewohnte, kurz, ich erholte mich in verhältnismäßig kurzer Zeit von dem erlittenen Schrecken derartig, daß ich anfing, mich für weit mehr unglücklich als schuldig zu halten, und daß ich mir eifrig die beste Seite der Sache nach oben zu kehren suchte. Noch war meine Seele nicht demütig geworden, noch die Reue nicht echt, – es mußte schlimmer kommen, ehe ich aus dem Trotz und dem Eigenwillen aufgerüttelt wurde,«
Unter den Zuhörern entstand ein unwillkürliches Murmeln. »Schlimmer?« fragten einige leise Stimmen. »Unmöglich!«
»Schlimmer!« bestätigte der Alte. »Um meiner Sünde willen sind Hunderte dem Tode zum Opfer gefallen, haben Mütter ihre kleinen Kinder sterben sehen, haben brechende Herzen ihre letzte Hoffnung dahingegeben und sind tausend glühende Tränen geweint worden. Wißt ihr's nicht, daß das Schiff, an dessen Bord ein Mörder, ein heimlich unentdeckter Mörder weilt, – dem Verderben geweiht ist? Wißt ihr nicht, daß es dem Ahasver des Meeres, dem fliegenden Holländer, entgegentreibt und von seinem weißen Kiel in den Grund gebohrt wird?«
Der alte Matrose hatte sich erhoben, die Augen glühten wie in halbem Wahnsinn, die Hände streckten sich aus, als wollten sie einen unsichtbaren Feind bekämpfen. Seine Brust keuchte schwer, sein Gesicht war totenblaß.
Die andern begütigten ihn. »Das ist ein Aberglaube, Mohr,« sagten sie. »Du bist so lange an Bord der ›Antje-Marie‹ und sie ist nie dem gespenstischen Schiffer begegnet, also beruhige dich doch.«
Der Alte lächelte. »Die Antje-Marie?« wiederholte er sinnend. »Das ist ein anderes, Kameraden. Wir stehlen dem Staate den Zoll, wir fahren auf der breiten Straße, die dem Abgrund zuführt, da braucht es keiner besonderen Schuldverschreibung an den Bösen, sie ist ohnehin schon vorhanden, und dennoch – was da kommen wird, das wissen wir ja heute nicht. Ich will euch aber erzählen, was mit der ›Seemöwe‹ geschah, an deren Bord ich Dienste genommen hatte.
Laßt mich also ausreden.«
Die Matrosen waren jedoch zu erregt, um schweigen zu können. »Hast du ihn gesehen, den fliegenden Holländer?« fragten sie.
Mohr nickte. »Ich habe ihn gesehen, – von Angesicht zu Angesicht – er erhob gegen mich die Knochenhand – er winkte mir!«
»Pah, Unsinn, Geisterseher, du hast geträumt, dich drückte der Alp.«
»So laß doch den Alten sein Garn spinnen. Erzähle, erzähle, wie ging es der Seemöwe?«
Mohr bekämpfte den Schauder, welchen er noch jetzt in der Erinnerung empfand. »Wir waren am Kap der guten Hoffnung,« begann er, »und das Wetter hielt sich merkwürdig gut. Trotzdem aber ließ der Kapitän alle Vorsichtsmaßregeln wahrnehmen, und schon bei dem ersten Regen des Windes mußten wir bis auf die Sturmsegel jeden Fetzen Leinwand hereinholen. Man kann ja, wie ihr wißt, in jenen Breiten dem Frieden niemals trauen.
Es war abends um elf Uhr, als ich abgelöst wurde und mit den Maaten zur Koje gehen konnte, aber der schwülen Luft wegen blieben wir alle lieber noch ein bißchen bei offenen Türen sitzen. Es hatten sich auch, obgleich das strenge verboten war, mehrere von den Zwischendeckspassagieren zu uns gesellt, und wir würfelten auf unseren Schiffskisten. ›Hier herum ist es ja wohl, wo der fliegende Holländer sein Wesen treibt,‹ meinte einer der Auswanderer, ›ich hätte nicht übel Lust, dem alten Burschen zu begegnen. Wer ein gutes Gewissen besitzt, der braucht die Geister nicht zu fürchten.‹ – Solche und andere Reden flogen hinüber und herüber. Meine Kameraden nahmen es dem Auswanderer krumm, daß er die bösen Gewalten des Meeres herausforderte, aber ich lachte dazwischen. ›Laßt doch das Geisterschiff kommen. Wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, der trinkt mit dem alten Van der Decken Brüderschaft. Auf du und du, alter Kamerad,‹ rief ich übermütig in die Nacht hinaus, meine Ration Rum hinunterstürzend, und die Flasche in weitem Bogen über Deck schleudernd.›Prosit, alter Knabe!‹
Das Wasser spritzte hoch empor – über dem Schiff in der Luft erklang es wie ein spöttisches langgedehntes Lachen. He, he, he, – und dann noch einmal, he, he, he –
Die Gesichter um mich herum wurden leichenblaß und auch über meinen Rücken lief es heimlich eiskalt herab bis in die Fußspitzen, aber ich ließ mir nichts merken, sondern antwortete mit halber Stimme auf das gespenstische Lachen in der Luft:
›Schon Möwen! – wir befinden uns also nur wenige Meilen von der Küste.‹
Der Auswanderer, welcher vorhin so großen Mut an den Tag gelegt hatte, sah jetzt aus wie ein durchgeschnittener Käse. ›Sollte es wirklich eine Möwe gewesen sein?‹ flüsterte er.
›Natürlich? Haben Sie jemals gehört, daß die Geister lachen?‹
›Wie der Wind heult!‹ schauderte er.
›Kriechen Sie zur Koje, Mann, – Sie haben doch Furcht trotz des guten Gewissens.‹
Er sah mich grollend an. Vielleicht beleidigte ihn mein herausforderndes Wesen, vielleicht durchschaute er es und las auf dem Grunde des Herzens die verborgene Unruhe.
›Und Sie haben doch kein gutes Gewissen trotz Ihrer prahlenden Worte,‹ sagte er.
Ich sprang auf, die Fäuste geballt, die Augen rollend, – ganz derselbe unbändige, wilde Geselle, der ich immer gewesen, ich hätte vielleicht in diesem Augenblick einen zweiten Mord begangen, wenn nicht das Kommando des Kapitäns wie ein Blitz aus heiterer Luft dazwischen gefahren wäre.
›Alle Mann an Deck. Die Marssegel gerefft.‹
Wir hatten nicht beachtet, daß es über uns und unter uns schauerlich lebendig geworden war. Der Wind fegte über die weißen Wogenkämme daher und schleuderte spielend ganze Berge von Wasser in die Luft empor. Es zischte, brodelte und gärte um den Bug der Seemöwe herum, wie ich es nie vorher gehört; es ächzte im Takelwerk und knarrte in den Masten, während gelbe Blitze in immer schnellerer Reihenfolge aus den schwarzen Wolkenmassen Hervorschossen und der Donner seine brüllende Stimme über den Ozean dahinsandte.
Mehr und mehr wuchs der Sturm, hoch und höher ging die See. Der Kapitän ließ die Zwischendecksluken schließen, weil uns die angsterfüllten Menschen am Arbeiten verhinderten, aber das Zwangsmittel half nur für kurze Zeit. Von innen sprengte die Kraft der Verzweiflung das Eisen, unaufhaltsam ergoß sich der Strom halberstickter, jammernder, betender und schreiender Auswanderer auf das Verdeck.
Es war eine gräßliche Szene. Die Stimme des Kapitäns übertönte zuweilen das Brausen der Elemente, aber was er sprach, das ging verloren. Da galt kein Kommando mehr, da waren alle Bande der Ordnung und des Gehorsams auf einmal gerissen, da schrie jeder, und niemand hörte. Wilde Flüche mischten sich mit dem herzerschütternden Jammern der Frauen, den Angstrufen der Kinder und den laut hervorgestammelten Gebeten. Einige sangen Sterbelieder, andere sprachen mit lauter Stimme Worte voll Liebe und Zärtlichkeit zu ihren viele Hunderte von Meilen entfernten Angehörigen, sie nahmen von denselben Abschied und baten sie, ihnen zu vergeben, was jemals Unfriedliches oder Unversöhnliches geschehen sei.
Hier lag eine Mutter auf ihren Knieen und hielt in schützenden Armen die Kinder, deren kleine Gesichter sich angstvoll an ihrer Brust verbargen, dort segnete ein Greis im weißen Haar zum letztenmal die geliebten Seinen, während an der Tür der Kapitänskajütte ein Priester mit lauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes anrief. Glühende Gebete flossen von seinen Lippen, andächtig mit gefalteten Händen lauschte ihm eine kleine Anzahl Gläubiger.
Und von dritter Stelle nahten zügellose schwankende Gestalten, Einzelne Männer hatten den Mundvorratsraum aufgesucht, die Schlösser erbrochen und die Rumfässer hervorgezogen. In den Gesang der Todgefaßten, in die Gebete der Frommen hinein tönte ihr trunkenes Lästern.
Mehr und mehr wuchs der Sturm, hoch und höher ging die See.
Hier oder dort zerriß ein heller Schrei auf Sekunden die Luft. Die Stelle, wo noch kurz zuvor ein Mensch gestanden, war leer. Aufgehört hatte Singen, Toben und Beten, aufgehört das Kommando und der Gehorsam, – die Vernichtung war hereingebrochen.
›Dieser hat's getan!‹ grollten die Stimmen meiner Kameraden, und kreidebleiche bebende Lippen nannten mich flüsternd den Bösen, der das Schiff ins Unglück gestürzt. Augen voll Zorn blickten mir entgegen, geballte Fäuste und wilde Verwünschungen bedrohten mich.
›Er hat das Gespenst des Meeres herbeigerufen! Er hat mit dem fliegenden Holländer Brüderschaft getrunken! –‹
›Werft ihn vom Bord, den Verfluchten! –‹
Tageshelle umgab uns auf allen Seiten, das Schiff war nur noch ein Wrack ohne Masten, unaufhaltsam gingen die Wellen über Deck und spülten mit sich hinab in den bodenlosen Schoß, was zu schwach war, ihrem Toben Widerstand zu leisten.
He, he, he, lachte hoch oben in der Luft die Möwe. He, he, he. –
Aber ihr triumphierendes Schreien wurde übertönt, ihr Hohnlachen erstickt in einem Ruf des Entsetzens, der allem, was noch atmete, die Haare zu Berge trieb.
Ich sah nach vorn, weil sämtliche übrige es taten und – was ich dort erblickte, das sieht auch der Vermessenste nicht, ohne auf seine Kniee zu sinken und das göttliche Erbarmen vom Himmel herabzuflehen.
Über die schwarzen, grün und violett gegipfelten Wogenkämme kam das Geisterschiff daher, gerade auf die Seemöwe los. Schneeweiß vom Kiel bis zu den Mastspitzen, war es unter vollen Segeln und dennoch regte sich an Bord kein Stückchen Leinen, dennoch schaukelte oder stampfte es nicht, sondern glitt, von unsichtbarer Macht getrieben, in pfeilschneller Fahrt und schnurgerader Richtung vorwärts, näher, immer näher an uns heran. Auf dem Großmast glühte und funkelte, bläulich angehaucht, in majestätischer Höhe das Sankt Elmsfeuer, weißes Licht ging von den Segeln aus, und in den Raaen arbeiteten die weißen Todesgestalten der sechs Matrosen. Alle mit Leichentüchern angetan standen sie auf den Köpfen im Takelwerk, während Kapitän Van der Decken am Großmast lehnte und aus hohlen Totenaugen zu mir herübersah.
Ha. – zu mir!
Ich schrie vor Entsetzen. Dieser Blick! – hatte ich ihn nicht einmal schon gesehen?
Meine Besinnung drohte zu schwinden. Da hob das Gespenst die rechte Hand und winkte mir. – – –
Ganz nahe war das Geisterschiff herangekommen; Auge in Auge stand ich dem fliegenden Holländer gegenüber. Wie ein kalter Schatten streifte es mein Gesicht.
Als ich zu mir kam, lag ich in der Koje eines französischen Schiffes und wurde von barmherzigen Menschen freundlich gepflegt. Kaum wagte ich die bange Frage nach den Genossen dieser Unglücksfahrt, – ich wußte die Antwort vorher. Von allem, was auf der Seemöwe gelebt, von mehr als fünfhundert Menschen war ich der einzige Gerettete. Die Matrosen des französischen Schiffes hatten mich anscheinend leblos aus dem Wasser aufgefischt, als die Wellen meinen Körper bis unter den Bug trieben.« – –
Der alte Mann schwieg und trocknete mit dem Tuche die Schweißtropfen von seiner Stirn. »Ich war der Einzige,« wiederholte er nach einer Pause, »den das Meer ausspie, den der Tod verschmähte. Ich mußte leben, um zu wissen, welches Opfer meine Sünde gefordert, an wie vielen Unschuldigen gerächt worden war, was ich verbrach.
Aber seitdem wurde aus mir ein anderer Mensch. Ich ging an Bord der »Antje-Marie«, die damals ihre erste Reise antrat, und leistete mir selbst einen heiligen Eid, nie wieder in die Gesellschaft ehrlicher schuldloser Menschen zurückzukehren, nie wieder das feste Land der Erde zu betreten, und in dieser Weise, allen Rechten, allen Freuden entsagend, losgerissen von allem was das Herz beglückt und das Leben verschönert – den ungeheuren Frevel zu büßen.
So sind dreißig lange Jahre dahingegangen. Ich war ein lebendiggestorbener Mensch, aber ruhig in mir durch das Bewußtsein tiefer Reue. Da, während der letzten Nacht im Hamburger Hafen, hatte ich einen seltsamen Traum. Die »Antje-Marie« trieb auf hoher See im hellsten Sonnenschein langsam dahin. Der Wind war still, die Luft warm und das weite Meer wie ein glänzender mattbewegter Spiegel. Ich stand am Ruder, das Herz voll Frieden und Ruhe, wie es in vielen, vielen Jahren nicht gewesen, so ganz glücklich, ganz als ob ein schönes langersehntes Siel erreicht, da – nahte aus der Ferne das Geisterschiff des fliegenden Holländers. Aber es erschreckte mich nicht, meine Pulsschläge blieben ruhig, meine Augen sahen den Alten am Großmast, ohne sich abzuwenden von dem Entsetzlichen. – –
Das weiße Schiff kam heran, immer näher und näher, es segelte lautlos über die »Antje-Marie« hinweg und ich fühlte, wie wir langsam zu Grunde gingen, tiefer und tiefer in das blaue Wellenbett hinein. Ich schloß die Augen – und ließ mich träumend von den weichen Armen der Wogen zur Ruhe schaukeln, – – Am andern Morgen sagte mir der Kapitän, daß wir bei Eintritt der Flut in See gehen würden, und nun wußte ich genug. Es tut nicht gut, an einem Montag auszulaufen, zumal nach einem so bedeutsamen Traum. Diese Reise ist meine letzte! Noch vordem wir den Hafen von Havana erreicht haben, noch vordem sich der nächste Tag neigt, bin ich ein toter Mann und eben deshalb erzähle ich euch meine Geschichte, um jeden einzelnen zu warnen. Bittet Gott, daß er euch den Frieden des Gewissens erhalte, das höchste Gut des Menschen!«
Niemand antwortete ihm, nur Robert drückte in tiefer Rührung seine Hand. Er verstand ja jetzt, weshalb ihn der alte Mann so eindringlich gebeten, nach Hause zu reisen und die Verzeihung des Vaters zu erstehen, er freute sich, dem einsamen Herzen des Unglücklichen wirklich teuer geworden zu sein.
»Du stirbst nicht, Onkel Mohr,« sagte er zuversichtlich. »Im Gegenteil, nun du alles einmal von der Seele herunter gesprochen hast, wird dir leichter und besser zu Mute werden.«
Der Alte nahm den Kopf des Knaben zwischen seine beiden Hände und küßte Roberts jugendliche Stirn. »Leb wohl, Kind,« sagte er feierlich, »leb wohl, du hast mich mit dem Leben wieder ausgesöhnt, hast noch einen letzten warmen Sonnenschimmer von Liebe und Vertrauen wieder aus der Gemeinschaft der Menschen zu mir, dem Ausgestoßenen, herübergebracht. Sei gesegnet!« – Ein lauter Ausruf des Obersteuermanns unterbrach die Stille, welche den Worten des alten Matrosen gefolgt war.
»Alle Mann an Deck! Klar zum Wenden!« schrie Renefier, wie außer sich das Ruder ergreifend, in vergeblichem Bemühen, die Galliote dem Winde gerade entgegen zu drehen. Der Mann am Steuer, zufällig sein erbittertster Gegner, wollte dem Befehl des abgesetzten Gewalthabers nicht gehorchen und verteidigte mit beiden Fäusten den Platz, auf welchen ihn des Kapitäns Anweisung gestellt. »Rufen Sie den Kapitän hierher!« schrie er. »Auf dem vorgeschriebenen Kurs zeigt sich keine Gefahr, also gehorche ich Ihnen nicht.« Der Obersteuermann mußte indessen seiner Sache sehr gewiß sein, und mußte auch jeden Augenblick für kostbar halten, denn er kehrte sich plötzlich von dem widerspenstigen Matrosen ab und wendete das Schiff mit flaggendem Topsegel, indem er die Hauptbrasse schießen ließ. Dann befahl er der Mannschaft, das große Segel zu reffen, aber – keiner wollte gehorchen. Was hatte den sonst so ruhigen und besonnenen Obersteuermann jählings aus der Fassung gebracht? Das Meer und der Wind waren still, keine Gefahr weit und breit, – was focht ihn an?
Er selbst zerraufte sich das Haar wie ein Wahnwitziger. »Van Swieten!« schrie er. »Van Swieten, komm um Gotteswillen herauf.
In zwanzig Minuten sind wir alle des Todes, wenn deine Leute nicht gehorchen.«
Ein unwillkürliches Erschrecken packte die Herzen der Matrosen. Nur Mohr stand aufrecht mit gekreuzten Armen. »Es kommt!« sagte er leise, »es kommt! –Herr, sei den Unschuldigen gnädig!«
Robert stürzte an ihm vorüber zur Kajüttentür, die er aufriß. »Herr Kapitän! – Herr Kapitän! – Sie müssen an Deck kommen.«
Van Swieten war wie gewöhnlich halb betrunken und fuhr aus dem ahnungslosesten Schlummer empor. »Zum Teufel, Junge was schreist du hier? Willst du das Tauende schmecken?«
»Van Swieten!« rief abermals der Obersteuermann, »komm und gib mir das Kommando zurück, oder wir sind alle verloren. Das Schiff steuert in voller Fahrt den Cubariffen entgegen. Komm um Gottes willen!«
Van Swieten taumelte an Deck. »Was sagst du da, Renefier? Geh in deine Kajütte und kümmere dich um nichts. Wo ist der zweite Steuermann?«
Der Gerufene erschien mit bleichem Gesicht und ängstlichem Wesen. Er verteidigte sich nicht, als ihn der Obersteuermann bei beiden Schultern packte und derb schüttelte,
»Hast du die Monddistanz aufgenommen, Bursche? Kannst du sie überhaupt aufnehmen? – Wo ist deine Höhenberechnung?«
Die Zähne des jungen Menschen schlugen hörbar gegeneinander. »Ich weiß es nicht,« stammelte er, »ich – ich verließ mich auf den Herrn Kapitän.«
»Da haben wir's! – Van Swieten, siehst du jetzt, was deine Gewaltmaßregel angerichtet hat? Wir alle sind verloren,«
Da tönte ein halb erstickter Ruf vom Ausguck her. »Scharf angeholt!« schrie der Matrose. »Brandungsfelsen dicht am Bug!«
»Nieder mit dem Steuer!« gebot Renefier, dessen Geistesgegenwart ihn nie verließ. »Nieder mit dem Steuer!«
Der Befehl wurde befolgt, aber die Galliote verlor die Kraft der Fortbewegung, streifte, durch den Stoß erschüttert, einen schaumbedeckten Felsen und lief mit dem Hinterteil auf ein Riff, wo sie überall von sieben Faden Wasser umgeben war.
Jetzt herrschte allgemeine Bestürzung. Die Segel flatterten um die knarrenden Masten, die Taue rissen und peitschten umher, die Brandung heulte, der Rumpf dröhnte, die Leute schrieen. Da rief van Swieten, wahrscheinlich nur um sich ein Ansehen zu geben, mit lauter Stimme: »Den Anker los!« – der verderblichste Befehl, welcher überhaupt gegeben werden konnte.
Buganker und Teianker schossen herab, so daß sich das Fahrzeug vor ihnen drehte und plötzlich stillstand. Niemand dachte daran, die Segel zu reffen und so das Ungestüm der über Deck rasenden Sturzwellen zu vermindern.
Niemand sah es, daß die Stelle, an welcher noch kurz zuvor der alte Matrose gestanden, leer war.
»Renefier,« sagte mit unsicherer Stimme van Swieten, »ich bitte dich in Gegenwart aller meiner Leute um Verzeihung. Du hast das Kommando auf dem Schiff!«
Der mürrische Holländer antwortete keine Silbe, aber er ergriff sofort die Zügel des Kommandos. Sämtliche Segel wurden gerefft und die Anker aufgewunden, um das heftige Stampfen des Schiffes zu verhindern. Dann, nachdem der Tag angebrochen, ließ Renefier ein Boot bemannen und untersuchte selbst den Zustand der Dinge. Die Galliote war mit der Flut über den äußeren Saum des Riffes hinausgekommen und mehr als einen halben Fuß tief in die Zacken der Korallen eingedrungen.
Totenstille herrschte an Bord, nachdem das Vernichtungsurteil gesprochen. Van Swieten, unfähig, den Schlag zu ertragen, barg das Gesicht in beiden Händen. Er weinte.
»Peilt die Pumpen!« tönte Renesiers ruhiges Kommando.
»Vier Zoll Wasser im Schiff!« meldete nach kurzer Pause der Zimmermann.
Der Obersteuermann erbleichte. Es war also in den Boden der Galliote ein Leck gekommen und die eigentliche Ladung derselben, Mehl und Fleisch, auf jeden Fall rettungslos verloren.
»Vier Mann an die Pumpen!« gebot er. »Das große Boot herunter!
Alle seine Befehle wurden jetzt mit unglaublicher Eile vollzogen. Es gab für die Mannschaft der gestrandeten Galliote nur noch eine einzige Hoffnung auf Hilfe und Erlösung aus dieser schrecklichen Lage, nämlich eine Insel, die in der ganzen Schönheit tropischer Gegenden unweit des Riffes aus dem Meere hervorragte.
Das unglückliche Schiff lag fast im Schatten derselben. Wenn es möglich war, dorthin wenigstens die kostbaren Schmuggelwaren zu flüchten, so ging doch nicht alles verloren und so konnte man hoffen, mehr als das nackte Leben zu retten. Ein anderes Fahrzeug zu erwarten wäre vergeblich gewesen, da ja kein besonnener Kapitän der gefährlichen Stelle nahe genug kommen würde, um die Galliote zu sehen.
»Auf, van Swieten!« ermunterte Renefier, »nimm fünf oder sechs Mann und untersuche die Insel. Wenn sich irgend ein Schutz daselbst vorfindet, so müssen wir mit dem Boot unsere Ladung hinüberschaffen und dann die »Antje-Marie« ihrem Schicksal überlassen. Je früher wir anfangen, desto mehr wird gerettet werden.«
Der Kapitän sah aus wie ein Bild der Verzweiflung. Gerade auf diese Reise hatte er so große Hoffnung gesetzt, gerade diesmal hatte er fast sein ganzes flüssiges Vermögen zum Ankauf der kostbarsten Waren verwendet, um auf einen Schlag Tausende zu verdienen. Freunde und Helfershelfer, alle gut bezahlt, hatten ihm in Hamburg, in Holland, in Spanien und auf Cuba die Wege geebnet, hatten ihm in die Hände gearbeitet und das ganze Unternehmen gesichert, – jetzt war alles dahin.
»Mein Schiff!« ächzte er, »mein Schiff!«
»Das ist verloren!« sagte düster der Obersteuermann. »Ergib dich, van Swieten, und rette, was noch von der Ladung geborgen werden kann.«
Der Kapitän taumelte auf. Es sah aus, als sei der gutmütige, immer lächelnde Mann binnen wenigen Stunden ein Greis geworden. Die Augen lagen wie erloschen in ihren Höhlen, die Haut war welk und aschfahl, die Hände zitterten leise.
»Wo ist Mohr?« fragte er halblaut.
Die Matrosen schwiegen, nur Robert war unfähig, den Kummer um den alten Freund zu verbergen. Ein lautes Schluchzen beantwortete die gestellte Frage.
Van Swieten nahm die Mütze vom Kopf. »Wenn du ein paar Hände frei hast, Renefier, so laß die Flagge für ihn halbstock vom Mast wehen,« sagte er nach einer Pause. »Gib seinem Andenken die Ehre, welche wir der Leiche erwiesen hätten, wenn Mohr in unserer Mitte gestorben wäre. Die »Antje-Marie« ist ja leckgelegt auf immer.«
Und sei es im bitteren Bewußtsein des erlittenen schweren Schadens, sei es in der Erinnerung an den Gefährten eines halben Menschenlebens, der nun dahin war, ohne Abschied und auf ewig, – van Swietens Stimme brach, als er die letzten trostlosen Worte aussprach. Er ging in die Kajütte und schloß sich ein.
Vier Mann wurden bestimmt, die Insel zu untersuchen.
Robert drängte sich herzu, als die Leute das Boot bestiegen. Von Wache und Ablösung war ja nicht mehr die Rede, – er sah flehentlich in das finstere Gesicht des Obersteuermannes.
Renefier nickte stumm. Er hielt nur besser als der durch Alter und Trunk um seine geistige Widerstandskraft gekommene Kapitän dem Unglück stand, im innersten Herzen aber empfand er die gleiche Verzweiflung. Sein Auge folgte dem Boote, wie es etwa einem Sarge gefolgt wäre, trüben und hoffnungslosen Blickes.
Die fünf Abgesandten landeten nach kurzer Fahrt an einer seichten Stelle, wo sich das Boot bequem an überhängende Baumstämme binden ließ. Ein wahres Paradies öffnete sich ihren Blicken, ein Fleck Erde, so schön und malerisch, wie ihn keiner der Männer je gesehen, wie er Roberts Seele vollständig entzückte. Palmen ragten zum Himmel empor, prachtvolle Blüten rankten sich um ihre schlanken Stämme, unzählige Vögel wiegten sich in den Zweigen
»Wie wundervoll, ach wie wundervoll!« rief unser Freund.
»Hm,« meinte einer der Matrosen, »das ginge schon an, wenn nur nicht vielleicht hinter den nächsten Bäumen so eine Bestie lauert, die uns gefälligst als Frühstück über den Schnabel zu nehmen beliebt. Das würde ich mir verbitten.«
Robert lachte. Er hatte den naturgeschichtlichen Unterricht seines alten Pinneberger Rektors noch zu treu im Gedächtnis bewahrt, um auf Cuba oder den Inseln, die es umgeben, Raubtiere zu fürchten. »Hier gibt es keine Bestien,« antwortete er, »nur etliche Skorpionen und Taranteln, die aber nicht so gefährlich sind, wie man es meistens von ihnen behauptet, und außerdem in den Sümpfen viele Krokodile.«
»Daß dich! Was der Schmierdieb alles weiß! Ist's wahr, Junge, kann man sich darauf verlassen? sonst holen wir uns doch lieber vom Schiff ein paar Gewehre.«
»Ist nicht nötig, Speckesser. Laß uns nur getrost vordringen und ausspüren, wo sich ein Versteck findet. Aha, eine Quelle hätten wir schon.«
»Schmierdieb!« rief ein anderer, »schau her, was ist das? Ein Kürbis, glaube ich.«
Robert pflückte eine der reifsten Früchte und biß mit dem ganzen Entzücken seines Alters hinein. »Ach,« rief er, »das schmeckt aber anders als Erbsen und Speck! – es ist eine Ananas, sage ich euch, in Europa die teuerste Frucht, welche es gibt.«
Jetzt machten sich die Matrosen darüber her. »Schmierdieb, du sollst Professor heißen,« erklärte der »große Russe.« »Deine Gelehrsamkeit hat uns zu diesem Leckerbissen verholfen und dafür müssen wir dich belohnen.«
»Wollen aber doch den Kameraden welche mitbringen!« rief kauend der Speckesser. »Ach Gott, hätte man so eine Schiffsladung von den Dingen, die hier wild wachsen, und säße damit in Hamburg, wie schön wäre das!«
»Nichts auf Erden ist vollkommen,« schaltete der vierte ein. »Laßt uns jetzt aber nur eilen, damit Vater Grausen bei Laune bleibt. Zu sagen hat er uns freilich nicht viel mehr, und an eine richtige Heuer ist auch schwerlich zu denken,«
»Vorwärts!« mahnte Robert, dem bei der Erinnerung an das Schiff und an den toten verlorenen Freund die Ananas nicht mehr schmeckte. »Vorwärts. Zu viel von den frischen Früchten dürfen wir nicht essen, sonst gibt es böse Folgen. Das Klima ist nicht sonderlich gesund, am wenigsten für uns Nordländer.«
Die Leute lachten und setzten sich wieder in Marsch. Robert schnitt mit dem Taschenmesser hier und da ein Stückchen Baumrinde herunter. »Um den Rückweg zu finden,« wie er meinte.
»Bravo, Professor! denkst wohl an das Märchen von Hänsel und Gretel, die Erbsen auf den Pfad streuten, als sie sich heimlich in den Wald begaben, wo die Hexe wohnte!«
»Und die nachher von den Vögeln gefressen waren!«
»Ach,« sagte ein anderer, und blieb stehen, um mit langem Blick über das Meer dahinzusehen, »ach, sprecht nur nicht von den deutschen Märchen, das macht das Herz traurig. Ich habe ja auch zu Hause solche Hänsel und Gretel, die nach dem Vater ausschauen, daß er ihnen Brot bringe. Wenn wir nun niemals von hier erlöst würden, oder wenn wir mit ganz leeren Händen irgendwo an Land kämen, ohne Geld, ohne Kleidungsstücke, ohne Heuer!« –
Keiner der anderen antwortete ihm, aber die ursprüngliche gute Laune war verscheucht, selbst in der Seele des Knaben. Er ging voran durch das blühende, duftende Gewirre von Pflanzen und Blumen, über den schwellenden Rasen und das weiche grüne Moos – ganz still geworden, seit der Matrose von Deutschland sprach. Jetzt war's zu Hause Abend, die Lichter wurden ausgelöscht, – die alte Mutter betete vielleicht in diesem Augenblick, daß Gott ihr Kind beschützen möge, daß er es erhalte und vor Gefahren behüte. – –
Lautlos gingen die Schiffskameraden weiter. Jeder einzelne hatte ja daheim seine Lieben, jeder fragte sich, ob er sie in diesem Leben wiedersehen werde.
So waren sie etwa eine Viertelstunde gegangen, als sich der Boden zu erhöhen begann und die Vegetation minder üppig erschien. Dafür aber entdeckten die Kundschafter einen überhängenden, ziemlich breiten Felsvorsprung, auf dessen Kuppe das Moos in langen Flechten wucherte, und der unter seiner Decke für die kostbare Ladung des gestrandeten Schiffes einen hinlänglichen Schutz zu bieten schien. Von allen Seiten offen, besaß die Stelle nur ein Dach, aber das war auch alles was man brauchte, und sofort wurde der Rückweg angetreten. Jetzt hob sich die Stimmung der Leute. An Bord lagerte Mundvorrat für viele Wochen, für Monate sogar, und wenn einige Tage lang an dem überhängenden Felsen gezimmert wurde, so gab derselbe gegen den Regen hinlänglichen Schutz. Einmal mußte ja auch ein Schiff des Weges kommen.
»Holla Jungens,« rief der große Russe, »nun laßt uns nur alle Segel einsetzen, daß wir die Ladung erst einmal hier verstauen. Den Mundvorrat voran.«
»Frisches Wasser fließt an unserem künftigen Hotel unmittelbar vorüber,« sagte der Speckesser, »wir werden also Herrentage haben, namentlich wenn auch ein bißchen Jagd betrieben werden kann. Diese weißen und blauen Vögel scheinen mir zum Fasanengeschlecht zu gehören.«
»Und Fische gibt es von allen Sorten!« setzte Robert hinzu. »Wenn wir nur erst den schweren Mundvorrat hier hätten. Sechs Mann müssen ja ununterbrochen bei den Pumpen bleiben.«
»Der Zimmermann soll Flöße zusammenschlagen, dann geht's.«
Man hatte sich der Küste wieder genähert, und plötzlich legte Robert stillstehend den Arm auf des Speckessers Schulter.
»Was ist das? – Ein fremdes Boot am Schiff!«
Alle spähten durch die Gebüsche. Wirklich lag seitwärts der Galliote ein großes Fischerboot, und auf dem Verdeck standen mehrere Männer in roten Flanelljacken. Van Swieten sowohl als Renefier waren mit den Leuten in eifrigem Gespräch begriffen.
»Nun schlage doch Gott den Teufel tot!« rief der Speckesser. »Wo kommen die Kerle her?«
»Wer sind sie und was wollen sie auf der Galliote? Das scheint mir viel wichtiger.«
»Ob wir uns zu der Beratung melden?«
»Na – und wollten wir etwa die Kameraden im Stich lassen?«
Ohne länger zu zögern drangen die fünf zu ihrem Boote vor und ruderten so schnell als möglich an das gestrandete Schiff hinan. Als sie das Deck betraten, gab ihnen Renefier heimlich ein Zeichen zu schweigen, worauf der Speckesser in gleichgültigem Tone sagte: »Wir haben Wasser gefunden, Herr Obersteuermann.«
»Es ist gut. Ich werde später die weiteren Befehle geben.«
Dann setzte er seine Unterhaltung mit den Fischern wieder fort. Robert verstand natürlich davon keine Silbe, aber später erfuhr er durch den Kapitän selbst, um was es sich handelte. Die Fischer hatten angefragt, welche Ladung im Raum der Galliote verstaut sei und was man bezahlen wolle, im Fall sie vermittelst ihrer Bark, die an einer entfernten Insel vor Anker lag, sämtliche Waren nach der Havana befördern würden.
Van Swieten besann sich nicht lange. Sein Plan war sehr bald gemacht. Er bewies durch die Schiffspapiere, daß sich Mehl und Fleisch an Bord befanden, daß er also bei einer so wenig wertvollen Ladung für den angebotenen Transport höchstens zweihundert Dollar zahlen könne. Darauf gingen die Fischer nach einigem Handeln ein und versprachen, am folgenden Morgen mit ihrer Bark zur Stelle zu sein.
Nachdem die beiderseitigen Bedingungen zu Papier gebracht, entfernten sich die Spanier, unter deren Flanelljacken jeder Windzug die langen dolchartigen Messer zeigte.
Van Swieten hatte kaum die nötigen Abschiedsgrüße gewechselt, als er sich händereibend zu den Matrosen wendete. »Kinder,« sagte ersagte er, »das geht bei allem Unglück noch besser als ich dachte. Nun zeigt, daß ihr Kerle seid und es soll euer Schade nicht werden. Wir müssen sämtliche wertvolle Waren hier auf der Insel unterbringen, um sie den Blicken der Strander zu entziehen, sonst fordern die Kerle mindestens das Sechsfache der bedungenen Überfahrt. Bin ich erst einmal in der Havana, so habe ich Freunde genug, um die Sachen hinüberzuschaffen.«
Die Abgesandten berichteten nun was sie gefunden hatten, und sowohl van Swieten als auch Renefier schienen mit dem Stande der Dinge verhältnismäßig zufrieden. Es wurden in größter Eile Vorbereitungen getroffen, um die Schmuggelwaren am Lande zu verstecken.
Von den vierzehn Männern an Bord der Galliote mußten sechs die beiden Boote mit dem erforderlichen Mundvorrat, mit Werkzeugen und Geräten aller Art beladen, dann, nachdem diese Dinge hinübeigeschafft, folgten die Waren, und ehe der Abend hereinbrach, hatten die Matrosen fast alles geborgen, was dem Kapitän besonders wertvoll oder wichtig erschien.
»Morgen mit Tagesanbruch fahren wir noch einmal,« bestimmte der Kapitän, »und dann bleiben dreie von euch auf der Insel als Wache zurück. Wer dazu Lust hat, mag sich melden. Ich verpflichte mich, euch binnen acht Tagen abzuholen und gebe Mundvorrat und Wein so viel ihr wollt, nur dürft ihr das Versteck der Waren an niemand verraten, sondern müßt, wenn euch die Fischer aufspüren sollten, irgend ein Märchen erfinden. Nun, wer will's sein?«
Robert trat mit der Mütze in der Hand vor. Seine Augen baten so beredt, so eindringlich, daß wirklich die halblaut gestammelten Worte gar nicht nötig gewesen wären. »Ach, lassen Sie mich die beiden Matrosen begleiten, Herr Kapitän, bitte lassen Sie mich mitgehen!«
Van Swieten lächelte. »Meinetwegen, du Schlingel. Willst gern ein bißchen Robinson spielen, nicht wahr? Na, lauf denn mit. In der Havana finden wir uns, so Gott will, auf einem neuen Schiff wieder zusammen, wenn's auch nicht die arme brave »Antje-Marie« ist, und wenn wir auch den alten Geisterseher nicht mehr in unserer Mitte haben. Gott geb ihm die ewige Ruhe, Amen!«
Dann wurden die beiden zum Bleiben auf der Insel bestimmten Matrosen ausgewählt; Mohrs Seekiste kam als Roberts Eigentum in die Kapitänskajütte, um mit den Sachen des Schiffseigentümers zunächst der Gefahr entzogen zu werden, man peilte nochmals, und fand, daß sich das Wasser im Raum nicht vermehrt hatte – dann ging die Mannschaft zur Koje.
Robert schlief nicht. Zu viel Verschiedenes stürmte auf ihn ein, zu viele Gedanken, frohe und wehmütige, beschäftigten seinen Geist. Die acht Tage auf der Insel sollten ihm zu einem einzigen Freudentage werden! – Wie diese Hoffnung alles erfüllte, was er sich jemals Märchenhaftes und Abenteuerliches gedacht! In Pinneberg betrieben ja schon die größeren Knaben der Rektorklasse so gern allerei Räuberspiele und derartiges; sie bekriegten einander auf den Inseln im Mühlenteich und in der Aue, wobei Robert jedesmal der Anführer war, – ach, aber was sagte das gegen die Freude, in einer wirklichen Wildnis zu leben, in unbekannte Gegenden vorzudringen und Neues, immer Neues zu sehen?
Sein Herz hüpfte vor Freude, und wäre es nicht des alten Mohr Bild gewesen, das zuweilen wie ein Schatten in die Helle hineintrat, so würde der Knabe heimlich den Schiffbruch der Galliote als ein sehr frohes Ereignis bezeichnet haben. Aber die Erinnerung an den verlorenen Freund kam immer wieder zurück, mischte sich in jede Hoffnung, jede Freude – er konnte sie nicht bannen, so oft er es versuchte.
Wo jetzt die Leiche sich befinden mochte? Vielleicht von Fischen gefressen, vielleicht treibend im weiten Weltmeer, sanft geschaukelt von den Wellen, die seine zweite Heimat gewesen.
Roberts Augen feuchteten sich, als er des Alten gedachte. Ja sein Wunsch sollte erfüllt werden, schon in der Havana wollte er nach Hamburg anmustern und mit den Ersparnissen des unglücklichen ruhelosen Vatermörders in das Elternhaus zurückkehren, ein reuiges Kind, das Vergebung sucht, das seine Schuld bekennt und um Vergebung bittet. Er wollte später von Mohrs Erbe die Steuermannskunst erlernen, ja, und wenn er dereinst ein Schiff besaß, so sollte es »der Geisterseher« heißen, zum Andenken an den lieben verlorenen Freund.
Seine heißen Augen schlossen sich. Leise spielten die Bilder des Traumes hinüber in das Gebiet des Erlebten, Wahn und Wirklichkeit verschlangen und verzweigten sich wie bunte Einzelheiten ein und desselben Bildes zum unentwirrbaren Ganzen.
Wunderbar ruhig und still war die Tropennacht. Kein Hauch, keine Welle bewegte das blaue sternengestickte Wasser. Hoch oben am Himmel erglänzte in leuchtender Pracht der Vollmond, und unten im Meer spiegelte sich sein Helles lächelndes Rund. Es schläfert ein, solches Alleinsein in einsamer lauer Sternennacht, es lastet auf allen Sinnen zugleich und nimmt die Seele gefangen.
Träumte Robert oder wachte er, als ihm schien, daß sich das Deck mit bewaffneten Männern anfüllte, daß ein Ringen und Stampfen, ein Ächzen und Fluchen die Stille der Mitternachtsstunde unterbrach? – –
War es Wirklichkeit, daß er die Männer an den Pumpen gebunden und gefesselt auf Deck liegen sah und daß die fremden Gestalten ihre Arbeit übernommen hatten, während andere den Kapitän und den Obersteuermann zwangsweise in ein Boot schleppten?
Ein Schein zerriß die Schleier des Traumes. Robert fuhr auf und sah hart neben sich das braune, bärtige Gesicht eines der Fischer. Noch war er selbst nicht bemerkt worden, daher riet ihm die Klugheit, sich vollkommen regungslos zu halten. Was konnte der Überfall bedeuten?
Nur zu bald sollte ihm indessen das Rätsel gelöst werden. Er hörte, wie van Swieten und Renefier in deutscher Sprache miteinander verhandelten. »Die Schurken,« knirschte der Kapitän, »die verfluchten, vermaledeiten Schurken!«
Renefier seufzte. »Du bist schuld an allem!« gab er zurück. Ein lautes Rufen der Spanier übertönte diese Unterhaltung.
Sie schnatterten durcheinander und begannen im Logis und in der Kajütte zu suchen.
Robert horchte angestrengt. »Der Junge ist's, den sie nicht finden können,« sagte van Swieten. »Ich wollte wünschen, daß er entkäme.«
Es rann heiß und kalt durch Roberts Adern. Auf dem Bündel alter Segel, das er sich hinter der Kombüse zum Lager eingerichtet, war er bis jetzt den Blicken der Räuber entgangen, aber wie lange währte es, bis man ihn entdeckt hatte und mit den Genossen, an allen Gliedern gefesselt, in das Boot schaffte?
Hier galt kein Zaudern. Auf der Insel fand sich alles, was man für mehrere Wochen zum Lebensunterhalt brauchte, an Bord dagegen wartete seiner die Gefangenschaft einer Verbrecherbande, und sehr wahrscheinlich sogar der Tod. Robert schauderte.
Schnell entschlossen ergriff er ein starkes Tau, zog es durch einen eisernen Ring der Schanzkleidung und ließ sich geräuschlos daran hinabgleiten in das Wasser Dann holte er, um seine Flucht gänzlich zu verbergen, das Tau schleunigst ein und schwamm in langen Zügen durch die blaue Flut.
Er konnte es ja. Daheim in Pinneberg hatte er sich's eingeübt, und hier im fernen Westindien sollte es ihm das Leben retten. Kein Auge entdeckte ihn, keiner der Räuber ahnte, daß neben ihrem Boote eines der Opfer schändlichsten Verrates schwimmend in wenigen Minuten die kurze Strecke bis zum Lande durchmaß.
Sie stießen ab, als der Knabe das Ufer erkletterte. Durchnäßt bis auf die Haut, allein in der pfadlosen Wildnis, zitternd vor Schwäche und Anstrengung, sah Robert die Genossen der Unglücksfahrt als Gefangene davonschleppen, während auf dem verlassenen Schiff die Piraten das Kommando ergriffen hatten und den Inhalt des Raumes als ihr Eigentum in Besitz nahmen.
Van Swieten wollte nur betrügen, jene raubten mit kecker Faust. Das Recht des Stärkeren vollzog an dem unglücklichen Kapitän und seiner Mannschaft eine schauerliche Wiedervergeltung des Schicksals.
Als Robert den letzten Schatten des Bootes aus den Augen verloren, sank er, von der Aufregung betäubt, ohnmächtig zu Boden.