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Hell schien der Mond herab auf die alte, mit Moos und Halmen bewachsene Mauer, welche Smolensk zur Zeit unserer Erzählung umgab und an dreißig Stellen durch hohe runde Türme mit Schießscharten verstärkt wurde. Wer von den Lesern Lübecks herrliche alte Tortürme gesehen hat, der kann sich von diesen, jetzt den Feuerwaffen unserer Zeit gegenüber wirkungslosen Verteidigungsmaßregeln einen Begriff machen und zugleich erkennen, wie interessant der Anblick einer so gleichsam umpanzerten Stadt dem Fremden gewesen sein mag.
Ein Graben floß, wieder ähnlich denen von Lübeck und Hamburg, nahe dem bedeckten Wege am Fuße der Mauer; jenseits desselben lagen Vorstädte.
Napoleons Heeresmassen, zerlumpt und verhungert, in jeder Beziehung sittlich verwildert, befanden sich noch einige Stunden von der Stadt entfernt, als am späten Abend des dritten August ein Mann bei der Torwache am Fuße der Königsbastion Einlaß begehrte und zu diesem Zweck dem Wachtkommandanten ein beschriebenes Blatt Papier zeigte.
»Vom General Rajewski!« nickte dieser. »Passiert!«
Der Mann verschwand schleunigst, nach einigen Stunden aber sah man ihn mit sehr zufriedenem Gesicht wieder fortgehen und in die Vorstadt eilen. Ein unglaublich schmutziges Wirtshaus, leer und verlassen, aller Vorräte beraubt, lag hier in einer dunklen schmalen Gasse; über dem Haustor baumelte ein Schild mit einem gemalten Bären, rostig und verblaßt, im Eingang stapelte sich allerlei zerbrochenes Geschirr, die Fensterscheiben waren zerschlagen; nirgends zeigte ein menschliches Antlitz, daß der düstere alte Bau wirklich bewohnt sei.
Der Fremde schritt mit der ganzen Sicherheit dessen, dem die Örtlichkeit vollkommen bekannt ist, durch das Vordergebäude und über den Hof in einen weitläufigen Wagenschuppen, dessen Tür er öffnete.
Schwacher Lichtschein drang aus dem Hintergrunde hervor. Da regte sich's, Tier- und Menschenstimmen wurden laut, braune schlanke Gestalten erhoben sich vom Strohlager.
»Endlich kommst du, Mikosch! Dürfen wir in die Stadt hinein?«
»Alles gut«, nickte das Stammeshaupt. »Macht euch fertig, Kinder!«
Jasko trat näher an den Alten heran. »Sprachst du den General, Vater?«
Statt aller Antwort griff Mikosch in die Tasche. Ein Strom von Goldstücken floß durch seine braunen Finger, er blinzelte schlau.
Jasko richtete sich höher auf, seine schwarzen Augen blitzten. »Du mußt mich an Barbarins Stelle treten lassen, Vater – ich bin ebenso gewandt und zuverlässig wie er.«
»Pst! Pst! – Es gibt noch heute nacht Arbeit.«
Das Gold verschwand wieder und unter Aufbietung aller Kräfte wurden die beiden Wagen, mit denen ein Teil des Stammes gekommen war, zur Weiterfahrt bereit gemacht. Frauen und Kinder hatte Mikosch an einem sicheren Orte zurückgelassen; nur seine beiden Söhne, Alexei und die beiden Deutschen begleiteten ihn auf dem gefahrvollen Zuge hinter die Wälle einer belagerten Stadt.
Die mageren Klepper setzten sich wieder in Bewegung, unter den Rädern dröhnte die Brücke, welche über den Dnjepr führte und knarrend schloß sich hinter den Ankömmlingen das Tor. Jetzt waren sie in der eigentlichen Stadt, und die Schrecken des Krieges begannen sich ihren Blicken mehr und mehr zu enthüllen.
Wer Geld genug besaß, um unabhängig von äußeren Rücksichten dem eigenen Wunsche folgen zu können, der hatte Smolensk beizeiten verlassen; nur die ansässigen Bürger und das niedere Volk waren zurückgeblieben, im ganzen lagerte eine düstere Stille auf den Straßen, die Läden waren geschlossen, die Gotteshäuser dagegen weit geöffnet. Für die nächsten Tage wurde eine entscheidende Schlacht erwartet.
Hinter der Kirche zur Verkündigung Mariä lag eine schmale Straße, unbeleuchtet und ungepflastert, mit hohen, spitzgiebeligen Häusern und engen Torwegen; dahin lenkte Mikosch die Gespanne. Geigenspiel drang aus dem Innern eines der Gebäude hervor, Gläserklingen und Gelächter, jedenfalls verkehrten hier wandernde Zigeuner, wie es deren in Rußland bis auf den heutigen Tag viele Tausende gibt.
Mikosch stieß die Tür auf. Heiße Luft schlug den Ankömmlingen entgegen, ein Gewirr von verschiedenen Stimmen und Klängen. Affenbesitzer lagen mit ihren Tieren in den Ecken, weiße Mäuse und Meerschweine krochen in vergitterten Käfigen herum, Wahrsager schlugen die Karten, Kurzwarenhändler trugen Kasten mit Seifen und wohlriechenden Ölen, sogar ein Scherenschleifer drehte in dem bunten Durcheinander sein Rad. Dazwischen lungerten Kesselflicker, Roßärzte, Gaukler und Gauner aller Art, sämtlich ruhend, musizierend, trinkend und schwatzend, daß keine einzelne Stimme aus dem Toben und Treiben hervorklang. Unsere Freunde sahen ein Bild, das sich ihrer Erinnerung unverlöschlich einprägte.
Alle diese Söhne des wandernden, heimatlosen Stammes, die braunen Nomaden sammelten sich da, wo der bürgerlichen Ordnung im Augenblick eine Gefahr drohte, alle wollten ernten, wo sie nicht gesät hatten, wollten Vorteile erringen, die ihnen im gewohnten Verlaufe der Dinge nicht zugänglich wurden.
Händereibend kam ein schlaublickender schmutziger Wirt mit langem Barte und dem bekannten russischen Kaftan den neuen Gästen entgegen. Zwei Kammern waren noch frei, die konnten sie bekommen – ganz nahe unter den Fenstern der Kirche. Für Ruff fand sich ein Stall, wo bereits fünf seiner Schicksalsbrüder einen Platz erhalten hatten.
Mikosch schien sehr guter Laune. »Laßt euch geben, was ihr zu essen und zu trinken wünscht, Kinder, aber geht heute abend nicht mehr aus. Morgen könnt ihr die Stadt besehen – ich selbst habe noch einen Geschäftsgang.«
Die Deutschen sahen einander an. Mikosch verrichtete Spionendienste, er drängte sich in das Lager der Franzosen und hinterbrachte ihre Aufstellung dem General Rajewski, das unterlag keinem Zweifel. Aber wie kam er durch die feindliche Vorpostenkette?
Sie fühlten sämtlich etwas wie Neugier. Mikosch ließ ihnen eine Kammer mit einem Strohlager einräumen, er selbst und die seinigen nahmen das anstoßende größere Gemach in Besitz. Onnen hörte, daß der Schlüssel im Schloß gedreht wurde.
»Ich möchte ihn beobachten«, flüsterte er.
Feiko Hansen deutete auf einen hellen Schimmer über dem Ofen. »Da ist in der Wand ein Riß – du kannst hindurchsehen.«
»Aber wie komme ich hinauf?«
Feiko zeigte auf seine Schultern; Georg half nach, und Onnen stand schon in der nächsten Minute wie ein Seiltänzer auf dem schwankenden Gerüste.
»Mikosch ist allein«, berichtete er, »neben ihm liegt ein großes Bündel, er schneidet seine Haare kurz am Kopfe ab.«
»Dann will er jedenfalls die Rolle eines Soldaten spielen!«
»Er wäscht sich gründlich«, meldete Onnen.
»Gott stärke ihn in dieser löblichen Gewohnheit!«
»Ah, jetzt kommt der Inhalt des Bündels zum Vorschein, eine französische Offiziersuniform mit Orden und Epauletten. Welche Miene der Mikosch annehmen kann! – jeder Zoll ein Fürst. Wahrhaftig, er ist ein schöner stattlicher Mann.«
»Der vielleicht sogar Handschuhe anlegt?« flüsterte Feiko. »Du bist übrigens eine recht süße Last, mein Vetterchen.«
»Einen Augenblick noch. Die Handschuhe sind da, auch der Degen und ein weißes Taschentuch. Seine Söhne könnten, glaube ich, an dem Alten vorübergehen, ohne ihn zu erkennen!«
»Siehst du nichts wie eine Depesche?« flüsterte Georg.
»Wahrhaftig! Ein ganz sauberes weißes Blatt – Mikosch lächelt, er versteckt es – ah, und nun hüllt er sich in einen Kaftan, der bis auf den Boden reicht, er zieht eine Perücke hervor. Der Märchenprinz ist wieder in das Bettlergewand gekrochen.«
Onnen sprang leichtfüßig herab. »Ob wir nun nicht bald ein Pferd hören werden?« raunte er.
Sie lauschten alle drei. Mikosch ging auf den Flur hinaus und zum Hofe; im nächsten Augenblick tönte Hufschlag – es war ein Renner von edelstem Blute, der da lief.
»Wenn wir nun den Alten nicht mehr wiedersähen!« sagte Onnen.
»Dann müßten wir eben den russischen Generalen alles bekennen; sie können uns keine Strafe zumessen.«
»Nein, aber wir wären Kriegsgefangene.«
Der Eintritt Alexeis störte die Unterhaltung. »Laßt uns schlafen«, gähnte der Zigeuner. »Für den Augenblick gibt es nichts zu tun.«
Sie nahmen aus seiner Flasche noch einen Schluck Branntwein und legten sich dann auf das Stroh, obwohl vom Gastzimmer her ein wüster Lärm fortwährend herüberschallte. Es schien Streit zu entstehen, Geschrei und Toben, dazwischen klang aus der nahen Kirche Gesang und Orgelton – an Schlaf war kaum zu denken.
Und dann gegen Morgen zogen Regimenter und Schwadronen vorüber, alle im Laufschritt; Kanonen rasselten die Straße hinab, Kommandos erklangen, Massen von Soldaten wälzten sich gegen die Wälle unter der Stadtmauer.
Es war ein Jagen und Eilen, ein Durcheinander, wie es dem entscheidenden Augenblick voranzugehen pflegt; die Herzen der jungen Leute schlugen schneller, die Augen blieben offen vor lauter Aufregung.
Gegen fünf Uhr morgens durchbrach plötzlich ein Kanonenschuß die allgemeine verstärkte Bewegung in der Stadt. Erst einer, dann mehrere und sehr bald ganze Salven. Kleingewehrfeuer folgte nach – von vielen tausend Lippen brach der Schrei des Entsetzens. Jetzt hatten die langerwarteten offenen Feindseligkeiten begonnen.
Im Gastzimmer ging unaufhörlich die Tür. Hier kam ein Mann mit bleichem Gesicht, um einen Tropfen Branntwein zu erhalten, dort meldete jemand, daß die ersten Toten unter der Königsbastion lägen, dann stürzten mehrere Personen zugleich herbei und eine Schreckensbotschaft folgte der anderen.
»Napoleon selbst steht vor Smolensk und mit ihm sind seine berühmtesten Generale gekommen – Murat, Ney, Davoust und viele andere. Rußland ist verloren!«
Aus dem Nebenzimmer scholl die Stimme Mikoschs. »Ihr seid doch alle da, Kinder?«
Onnen öffnete die Tür und sah hinein. Auf dem Strohlager ausgestreckt, in Lumpen gehüllt, verschmitzt blickend, mit der Stummelpfeife zwischen den Zähnen, war Mikosch so ganz der Proletarier, der vagabundierende Bärenführer, daß Onnen förmlich erschrak. Hatte ihn am letzten Abend ein Trugbild geneckt?
Aber nein; das kurzgeschnittene Haar konnte Mikosch nicht verbergen, ebensowenig diejenige gute Laune, welche einen gelungenen Streich zu begleiten pflegt.
»Laßt sie schießen, Kinder«, sagte er lächelnd, »hierher fliegen die Kugeln so leicht nicht. Hei, wie das brummt! Massen von Kanonen hat der Napoleon mitgebracht!«
»Woher weißt du das, Mikosch?«
»Ha, ha, ha – es träumte mir, Kleiner. Aber daß unser Zar siebzig Geschütze auf die Wälle bringen lassen kann, weiß ich gewiß.«
Wieder kam jemand in das Gastzimmer gestürzt. »Die ganze französische Armee steht vor unserer Stadt. Leute, helft, die verwundeten Russen aus der Schlachtlinie zu schaffen!«
Wie eine Feder schnellte Onnen empor. »Komm, Feiko, das ist eine heilige Pflicht! – Ach, wie die Unglücklichen im Sonnenbrande leiden mögen!«
Der Steuermann nickte. »Mikosch«, sagte er, »gibst du dazu deine Einwilligung? Es ist dein Brot, was wir essen, also –«
Der Zigeuner winkte lächelnd. »Ihr eßt mein Brot, weil ich eine Schuld der Dankbarkeit an Onnens Mutter abzutragen habe, junger Freund. Sie kleidete in Tagen größter Not, als mir das einzige Pferd gestorben war, meine Kinder, sie speiste die Hungernden und tröstete einen Verzweifelnden – von dieser Schuld tilge ich heute ein Teilchen, weiter nichts. Ihr seid eure eigenen Herren, und wenn ihr auf die Wälle hinausgehen wollt, um arme Verwundete zu erquicken, so geleite euch Gott; ich habe nichts dagegen.«
»Gut also!« rief Onnen. »Du bist doch ein Ehrenmann, Mikosch, trotz deiner – Träume von Napoleons vielen Kanonen. Auf Wiedersehen!«
Sie stürmten alle drei davon. Menschenhaufen füllten die Straßen, Jammern und Wehklagen ertönte überall, in ganzen Scharen zogen Männer und Frauen hinaus auf das Glacis, um den Verwundeten beizustehen.
Dazwischen erschien im Sonnenlicht des hellen Morgens jener unterste Pöbel, den jede große Stadt beherbergt und der sonst nur in vereinzelten Fällen tagsüber sichtbar wird – Menschen mit bleifarbenen Gesichtern und schlotternden Knien, Gewohnheitstrinker, Diebe und Bettler, Weiber von abschreckendem Aussehen.
Diese standen in geschützten Winkeln gruppenweise beisammen. Sie dachten nicht daran, den tapferen Verteidigern Rußlands zu Hilfe zu eilen; ihre gierigen Blicke, ihre leisen Flüsterworte verrieten vielmehr eine ganz andere abscheuliche Hoffnung, die auf den Fall der Stadt und damit verbundene Plünderung derselben. Der Feind sollte siegen, weil sie die Vorräte in den Branntweinlagern trinken und mit erhobener Faust an sich reißen wollten, was ihnen eben gefiel.
Je näher die Deutschen an die eigentliche Schlachtlinie herankamen, desto stärker wurden das Getöse und der Pulverdampf. Zwei und zwei Einwohner trugen zwischen sich einen blutenden Soldaten ohne Kopfbedeckung, hie und da lagen Waffen, Uniformstücke, hie und da standen Blutlachen mitten auf der Straße, schwankten Verwundete, unterstützt von Bürgern, mühsam an den Mauern dahin.
Überall herrschten Angst und Entsetzen, überall weinten die Frauen, eilten Männer auf die Wälle, um den Truppen Erfrischungen zu bringen oder mit ihnen zu kämpfen. –
Ein heißer Tag ging zu Ende, ohne eine Entscheidung gebracht zu haben, ebenso der zweite und dritte. Während dieser Frist hatte Napoleon mehrere Artillerieregimenter herbeizuschaffen gewußt und nun ließ er Bresche schießen.
Vergebens. Die Mauern aus der Zeit des Zaren Godunow widerstanden.
»Smolensk hält sich!« sagten aufatmend die Leute.
Mikosch dampfte große Wolken. »Seht ihr das Feuer? – Solch ein Regen von Granaten reißt alles nieder.«
Smolensk brannte an zwanzig Stellen zugleich. Von den Türmen klang das Sturmgeläute; in allen Kirchen wurde das Abendmahl verteilt. Jene düsteren Gestalten auf den Straßen mehrten sich und erschienen kecker; unter ihnen tauchten andere auf, gutgekleidete Personen, die von dem Untergange Rußlands, von Gottesgericht und Strafe sprachen – es waren Polen, Leute aus den besseren Ständen, die in den Reihen jener Elenden Bundesgenossen suchten.
Unverdrossen standen die Deutschen im Feuer, trugen Verwundete in die Häuser, halfen, trösteten und pflegten nach Möglichkeit. Das russische Heer wich und wankte nicht; wenn zuweilen ein Häuflein tollkühner Feinde im plötzlichen Anlaufe gegen einen der Tortürme vordrang, dann bedeckten Berge von Leichen die Unglücksstätte – kein einziger kam mit dem Leben davon.
Schreckliche, entsetzliche Tage, in denen Brust an Brust gekämpft wurde. Von den nahen Bergen widerhallte der Donner der Geschütze, glühend rot hingen über der unglücklichen Stadt die Sommerwolken, von den Dächern floß geschmolzenes Blei.
Man löschte nicht mehr, man hatte jede Hoffnung aufgegeben. Trommelwirbel klang durch die Straßen; eine gedruckte Bekanntmachung wurde überall verlesen und angeklebt.
»Mitbürger! Noch hat der Feind unseren tapferen Heeren keinen Fußbreit Bodens abgewinnen können, aber dennoch erscheint es geboten, die Stadt zu räumen. Viertausend brave russische Soldaten gaben ihr Leben dahin; wir dürfen nicht noch mehr Opfer bringen. Nehmt eure Habe, soviel sich fortbringen läßt, und geht fort; das Militär rückt in der Nacht vorsichtig und ohne Geräusch nach den umliegenden Höhen ab.«
Eine ununterbrochene Kanonade begleitete diese traurige Ankündigung. Stärker und stärker wurde geschossen, ganze Schauer von Kugeln überschütteten die Straßen.
Auf den Wällen verrammelten und versperrten die Soldaten sämtliche Eingänge, zerstörten die Brücke über den Dniepr und brachten alle vorhandene Munition in die Stadt. In Massen lagen am entgegengesetzten Ufer die erschossenen Franzosen, die tödlich Verwundeten, um welche sich kein Mensch bekümmerte, die Sterbenden, denen in ihrer Qual selbst ein Tropfen kalten Wassers fehlte.
Ein einziges Brausen und Donnern, gleichsam ein Sturm, der nicht mehr aufhörte, erfüllten rings die heiße, mit den schrecklichsten Gerüchen beladene Luft.
Unsere drei Freunde trugen aus der Stadt große Steine und Balken herbei, um die Zugänge zu versperren. Es galt, die räuberischen Franzosen fernzuhalten, bis sich das Volk geflüchtet hatte. Wie Sklaven, geschwärzt vom Pulver, umstrahlt von den Gluten zahlloser Brände, mit Aufopferung ihrer besten Kräfte arbeiteten die Soldaten.
Mädchen und Frauen aus allen Ständen brachten ihnen Erfrischungen. Einander völlig Fremde drückten sich die Hände und schluchzten in gemeinsamem Schmerz.
Mikosch war ausgegangen, um seine Schützlinge zu suchen; endlich fand er sie bei der Zerstörung der Brücke beschäftigt. Pfahl an Pfahl wurde eingesägt, Brett an Brett gelockert, die Steine herausgehoben. Mochten Napoleons Soldaten das unsichere Gefüge betreten und in den Wellen des Flusses den Tod finden – desto besser für die Stadt, für die Tausende von Unglücklichen, welche jetzt verurteilt waren, ihr Heim, ihren Erwerb, all ihre irdische Habe aufzugeben, nur um des nackten, aber unersetzlichen Lebens willen.
Sappeurs und Zimmerleute, Bürger, Zigeuner, selbst Frauen, alles arbeitete um die Wette. Hell schien der Mond auf den Fluß, betäubend knatterte das Kleingewehrfeuer und brüllten die Kanonen. Onnen meißelte an einem Stein, bis er ins Wasser fiel, der letzte seiner Reihe. Er bemerkte nicht, daß Mikosch vor ihm stand und ihn anredete, so groß war die Aufregung der Stunde.
»Komm, komm«, drängte der Zigeuner. »Jetzt gibt es keine Menschen mehr zu retten – du setzest dich nur der Gefahr aus, selbst von einer französischen Kugel niedergestreckt zu werden, das aber wollte ich doch nicht gern.«
Onnen sah auf. »Wo sind die anderen?« fragte er verwirrt. »Ich habe sie bereits nach Hause geschickt – komm rasch, Herr, komm!«
»Wollen wir denn abreisen, Mikosch?«
»Keineswegs, aber die Gefahr ist hier zu groß.«
Er zog ihn mit sich und Onnen sah voll Erstaunen das veränderte Äußere der Stadt. Vor den brennenden Häusern, inmitten von Trümmern und Leichen kniete betend auf den Straßen das Volk, unempfindlich vor Schmerz oder rasend, je nachdem.
Die Kreuze auf den obersten Spitzen der brennenden Türme begannen sich zu neigen, Bäume verbrannten wie stehende Riesenfackeln, hie und da waren Kornspeicher von den Flammen erfaßt worden und gossen nun einen Sprühregen wirbelnder, stäubender Funken über die ganze Umgebung. Auf den Straßen loderten dann plötzlich die Kleider der Betenden in heller Glut empor, sie sprangen auf, liefen voll sinnloser Angst vorwärts und stürzten schreiend zusammen, eine einzige Feuermasse, der niemand zu nahen wagte.
Mit erhobenen Armen stand auf einer Treppe ein Mönch und blickte wie verzückt zum Himmel. »Der jüngste Tag naht; meine Brüder, die Welt ist im Untergange begriffen! Betet, betet, draußen tobt der Antichrist, das Ende aller Dinge ist da!«
Ein Schrei aus Hunderten von Kehlen antwortete ihm; Frauen warfen sich kreischend mit den Stirnen auf den Erdboden, andere sangen, noch andere beschworen ihre Schutzheiligen, für sie einzustehen.
»Der Antichrist! Der Antichrist! Das sind die Posaunen des jüngsten Gerichtes! – Hört ihr's? Hört ihr's?«
»Der Teufel und seine Scharen kämpfen für den Widersacher!« rief der Mönch. »Rette dich, mein Volk, rette dich! Das Brodeln der Hölle klingt herüber, die Engel der Finsternis frohlocken! Laß sie deine Seele nicht umgarnen, mein Volk, tue von dir, was dich von dem Erbarmen des Gottessohnes scheidet!«
Spottlachen klang hinein in die begeisterte Rede. »Tor der du bist, dreifach verblendeter Tor! Der da den Einlaß begehrt, ist nicht der Antichrist, sondern der Befreier, der Erlöser, der, welcher die Ketten des Tyrannen zerbricht. Juble, du verdummtes, geknechtetes Russenvolk, juble, denn das Morgenrot der Freiheit geht für dich auf! Hörst du nicht die Freudenschüsse? Hurra, hurra für den Kaiser Napoleon!«
Ein Pole war's, ein hübscher junger Fant von zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzem Kraushaar; er schwang hoch durch die Luft den blitzenden Schläger. »Laß sie nur die Tore verrammeln und die Brücke zerstören, dies Volk von Sklavenseelen! Er kommt doch, der Gewaltige, Polens Befreier, er kommt, noch ehe die Sonne des neuen Tages aufgeht!«
Das Gesicht des Mönches war farblos, eine halb wahnwitzige Begeisterung leuchtete aus seinen Zügen; mit vorgestrecktem Arm ging er dem polnischen Studenten entgegen.
»Hebe dich von dannen, Satanas, hebe dich von dannen! Was verführst du mein Volk?«
Der Pole lachte. »Du verführst es, Lügenprophet! Du willst –«
Seine Rede wurde plötzlich abgeschnitten. Eine Kugel fiel auf die Straße und riß ihn mit sich fort; hoch auf spritzten rote Blutwogen, schrecklich verstümmelt lag zehn Schritte weiter hinaus die Leiche des Unglücklichen auf dem Pflaster.
»Sehet! Sehet!« frohlockte der Mönch. »Gott hat gesprochen!«
Feuergarben schossen über den Himmel, ein Brausen und Knistern erfüllte die Luft. Alles Volk betete laut, Gesänge wurden gehört, Flüche, wilde unzusammenhängende Reden. Fortwährend predigte der begeisterte Mönch.
Mikosch zog seinen Schützling mit sich fort. »Wir haben unser Eigentum in eine sichere Straße gebracht«, flüsterte er. »Die Häuser stehen einzeln unter Bäumen, da brennt es nicht so leicht wie in den anderen Vierteln. Komm nur; Smolensk ist verloren.«
»Also du meinst es wirklich? Und was wird aus uns, Mikosch?«
»Ich werde euch schon beschützen. Da sei ganz ruhig.«
Um die Kirche zu Mariä Verkündigung wogte ein dichter Menschenhaufen. Oben, ganz oben auf der Kreuzblume züngelte die Flamme, um sich verheerend durch das Innere des schönen alten Baues zu ergießen – drinnen walteten geschäftige Hände zur Rettung des kostbarsten Gutes.
Der gedrängte Menschenhaufen begann sich zu teilen; vor dem vorderen Portal entstand eine breite Gasse. Trauermusik erklang aus dem Inneren der Kirche, florumhüllte Fahnen wurden von Priestern auf die Straße getragen, dann erschien der Archimandrit im vollen geistlichen Ornate.
Silberweiß wallte bis auf den Gürtel der Bart, bedeckt mit edlen Steinen waren Gewand und Schärpe; ein hochgewachsener stolzblickender Mann und doch tief erschüttert von dem Jammer der Stunde, so ging der kirchliche Würdenträger hinaus aus dem Tempel Gottes und trug in seinen Händen ein Bild, das allen Einwohnern von Smolensk als ihr teuerstes Besitztum galt, das nimmermehr der Wut des fränkischen Eroberers zum Opfer fallen durfte.
Lebensgroß, mit dem Strahlenschein über dem braunen Haar, mild lächelnd sah das liebliche Antlitz der Gottesmutter aus dem Rahmen hervor. In ihren Armen lag das Jesuskind, Engel spielten zu seinen Füßen, Engel schwebten in weißen Wolken über seinem Kopfe.
Alles Volk fiel, als das wundertätige Bild sichtbar wurde, auf die Knie, alle Stimmen schluchzten. »Wohin geht unsere Schutzheilige?« jammerten die Frauen. »Wohin bringt ihr sie?«
»Nach Moskau«, antworteten die Priester. »Dort ist sie sicher.«
Die Kirchtüren blieben weit geöffnet; drinnen walteten treue Hände ihres Amtes. Wer den Trost der Religion, wer Segen und Abendmahl begehrte, der fand das alles, während draußen die Flammen der einzelnen brennenden Gebäude ineinanderflossen und ein großes Feuermeer bildeten, eine Glut, die in Funken und Tropfen von den Dächern fiel, das Straßenpflaster versengte und die unglücklichen, aus ihren Häusern Vertriebenen jetzt auch noch in die Weite jagte, heimatlos, besitzlos, oft ihrer Liebsten beraubt, ohne Hoffnung oder irgendeinen Trost.
Immer neue Schauer von Kugeln schlugen in die Stadt hinein, neue gewaltige Anläufe krachten und donnerten gegen die Torbefestigungen; langsam, Zug nach Zug, rückte die russische Armee ab nach den umliegenden Höhen.
Mikosch und Onnen fanden die Ihrigen in einem leerstehenden Gartenhause. Die Stätte, an der sie während der letzten Nacht geruht, war längst eine Beute des tobenden Elementes geworden; jetzt hatten sie eine von den Bewohnern verlassene Villa in Besitz genommen, Räume, welche wenig geeignet schienen, herumziehenden Zigeunern als Wohnung zu dienen.
Ruff streckte seine gewaltigen Glieder in einem Salon, dessen Spiegelwände vom Boden zur Decke reichten und das Bild des Pelzträgers fünffach wiedergaben. Glänzende Fußböden, lackierte Fenster und Türen, Kamine aus Marmor, alles zeigte den Reichtum der Besitzer, die es vorgezogen hatten, ihre fahrende Habe in Sicherheit zu bringen und dafür das Haus der Zerstörung zu überlassen.
Alexei und Jasko schleppten Stroh herbei, Kochgeschirre, Lebensmittel und Decken, dadurch war die neue Wohnung eingerichtet, und man machte sich's bequem. Auf dem Herd brodelte eine Suppe, Ruff erhielt eine Mahlzeit aus Früchten und Fleisch. Die Männer rauchten.
Feiko Hansen stützte den Kopf in die geschwärzte Hand. »Sechsundfünfzig Verwundete habe ich von den Wällen getragen«, seufzte er, »Helden, die noch mit zerschossenen Gliedern kämpften – Hunderte, Tausende von Soldaten habe ich tot auf dem Pflaster liegen sehen, und alles, alles ist umsonst gewesen.«
»Aber auch die Franzosen mußten bluten«, rief Georg. »Unter der Königsbastion lagen Berge von Toten!«
»Horch, die Kanonade wird schwächer!«
»Sie erlischt ganz, glaube ich!«
Nur das Prasseln und Zischen der Flammen klang herüber, das tausendstimmige Angstgeschrei der gemarterten Volksmenge; die Geschütze dagegen schwiegen vollständig. Das Knattern der fallenden Kugeln war verstummt; eine verhältnismäßige Stille folgte dem Donner, welcher seit drei Tagen und Nächten nicht mehr aufgehört hatte.
»Die Franzosen ziehen ein«, nickte Mikosch. »In einer Viertelstunde werden wir sie sehen, vielleicht hier in diesen Räumen sogar.«
Onnen erschrak »Und wenn uns Oberst Jouffrin erkennen sollte, Mikosch? Was geschieht dann?«
Der Hauptmann spielte mit dem Messer an seiner Seite. »Oberst Jouffrin ist nicht hier«, antwortete er endlich.
»Weißt du das ganz gewiß?«
Er nickte. »Ganz gewiß, Herr. Ich würde sonst hinausgehen, um ihn zu suchen, um die Schuld, von der du ja Kenntnis hast, abzutragen.«
Ein düsterer Ernst sprach aus seinen Worten. Barbarins vergossenes Blut war ungerächt – der Mörder konnte sich also nicht in der Nähe befinden.
»Ich möchte doch wieder auf die Straße hinausgehen«, gestand Onnen. »Jetzt ist ja auch keine Gefahr mehr dabei.«
»Wenn wirklich das Regiment des Obersten nicht gegenwärtig wäre«, zögerte Feiko.
»Wirklich nicht, Herr.«
»Dann komm, Onnen!«
Georg Wessel schlief schon, er war auch nach der ungeheuren Anstrengung des Tages nicht zu erwecken, daher gingen die beiden Vettern allein fort, in solche Stadtteile, wo das Feuer bis jetzt noch nicht oder doch nur vereinzelt wütete.
Eine wahre Völkerwanderung bewegte sich zu den Toren. Wer noch einen Wagen oder einen Karren erreicht hatte, der bemühte sich, das bißchen fahrender Habe in Sicherheit zu bringen, während Frau und Kinder neben dem Pferde gingen, meist bitterlich weinend, ratloser als je. Andere, weniger Glückliche trugen auf dem eigenen Rücken Betten, Tische und Stühle, oft das ärmlichste Hausgerät, Dinge, die nicht Wert genug besaßen, um vom Boden aufgehoben zu werden; sie ächzten unter der Last alter Bretter, einer Gartenbank, schwerer Körbe oder Säcke, sie trugen den Käfig eines Kanarienvogels, ein Kätzchen oder einen Hund. Von allen diesen Bedauernswerten wußte kein einziger, wohin er flüchten, wo er in der Nacht sein Haupt zur Ruhe betten sollte.
Ein langer Zug kam des Weges, lauter Kinder in blauen leinenen Kleidern und unter Begleitung mehrerer ernstblickender Männer. Es waren die Waisen der Stadt; jedes dieser armen Verlassenen trug sein Bündelchen über dem Arm, irgendein Spielzeug oder ein Buch, jedes hielt die Hand des anderen, auf allen Gesichtern lag jene geheime verzehrende Angst, von der Kinder, sobald sie nicht sprechen, nicht fragen dürfen, im Augenblick der Gefahr jedesmal ergriffen werden.
Die kleinen Mädchen beteten das Vaterunser; ihre Lehrerinnen folgten weinend, mit gerungenen Händen. Wohin? Wohin? – Gräßliche Frage, wenn die Beantwortung drängt und doch nirgends, nirgends aufzufinden ist, umso gräßlicher, wo es gilt, anvertraute schutzlose Geschöpfe vor allen Gefahren des Leibes oder der Seele zu behüten.
Ein langer, langer Zug; wer ihn sah, der weinte oder rief den Zorn des Himmels herab auf den dreisten Eroberer, dessen Frevelmut ganz Europa in Blut und Tränen badete. Dort drüben stürzten die rauchenden Trümmer des Waisenhauses krachend zusammen; verbrannt war die Stätte, an der arme elternlose Kinder eine Heimat gefunden, verbrannt das Bett, in dem sie geschlafen, der Tisch, an dem sie gegessen, verbrannt der Altar, an dem sie beteten. Hie und da gaben barmherzige Menschen den armen Kleinen ein Geldstück; jammernde Mütter, die ihre eigenen Lieblinge zitternd vor Furcht ans Herz drückten, schluchzende Frauen beugten sich hinab zu den Waisen und küßten sie. »Gott geleite euch! Gott schütze Rußland!«
»In Ewigkeit Amen!«
Einer antwortete dem anderen, ganz Fremde mischten ihre Tränen, ihre Gebete. Rot wie Blut leuchtete über dem brennenden Häusermeer der Himmel, glühend versengte die Luft, prickelnd und voll stäubender Asche, die Haut. In das Dunkel verschwunden waren die Waisen, andere Unglückliche nahmen ihre Stelle ein, alte Leute, alleinstehende Krüppel, denen niemand half, Frauen mit kleinen Kindern, lange Züge von Männern, die zwischen sich kranke oder verwundete Soldaten trugen.
Alles floh vor den menschlichen Hyänen, die nun einrückten, den Teufeln, deren Wüten die Bürger von Witebsk erfahren hatten. Ihnen in die Hände zu fallen, war tausendmal schlimmer, als unter dem Glanz der Sterne am Wegesrande einsam und verlassen zu sterben.
Was regte sich da am Markt in der Ecke neben dem steinernen Heiligen? – Doch nicht alle schienen geflohen.
Ein großes hochgiebeliges Haus brannte in den oberen Etagen, während unten noch alles unversehrt schien. Ein Knäuel von Menschen umstand den Eingang zum Keller, schreckliche Gestalten mit erdfahlen bleifarbenen Gesichtern und tief in den Höhlen liegenden Augen, ihre begehrlichen Finger rüttelten an den Eisenstangen vor der Tür.
»Man muß sie einschlagen!« rief eine Stimme.
»Aber die Polizei!« warnte eine andere.
»Die bekommt erst recht Schläge!«
Brüllendes Gelächter folgte dieser Bemerkung. Wie ein Funke in das Pulver fällt und es hell aufflammen läßt, so entfesselt ein keckes Wort die schlummernden Leidenschaften des Menschenherzens, das Böse, dem bisher zum Ausbruch nur die Gelegenheit fehlte. Ein baumlanger Kerl erkletterte die Statue des Heiligen und setzte sich rittlings auf dessen Schultern.
»Meine Herrschaften, ich schlage vor, Beile zu holen!« schrie er.
»Bravo! Bravo!«
»Aber woher? Hier ist für Beratungen keine Zeit. Das Feuer brennt tiefer herab und die großen Fässer da im Keller zerplatzen, ohne uns ihren Inhalt gegeben zu haben.«
»Den Branntwein!« rief eine, an der Krücke humpelnde alte Frau, »ach den Branntwein – er läßt alle Schmerzen vergessen.«
»Wir wollen ihn auf jeden Fall haben! Ich frage, weshalb die Franzosen das Labsal trinken sollen? Es ist russischer Branntwein, er gehört uns!«
»Ja, ja, er gehört uns!«
Und nun wurden Steine aus dem Straßenpflaster gerissen, nun hatte schon jemand ein Beil herbeigeholt und das Bombardement begann. Schlag nach Schlag dröhnte gegen die Kellertür, immer größer wurde der Haufen, immer wilder der Lärm.
»Da drüben brennt die ganze Reihe – eilt euch, eilt euch, das Feuer kommt in weniger als zehn Minuten hierher.«
Der lange Kerl sprang vom Rücken des Heiligen und schleppte einen ungeheuren Pflasterstein herbei. Das Geschoß flog donnernd gegen die Tür, der Halt derselben war erschüttert, sie wich und stürzte zersplittert in den Keller hinab. Mit lautem Jubel, einander drängend und stoßend, folgten die Massen.
»Hurra, Hurra – sechs große Fässer!«
»Holt Licht, Trinkgeschirre!«
Der Boden des vordersten Behälters war schon eingeschlagen und mehrere Kannen und kleinere Gefäße, die im Keller lagen, mit der ersehnten Flüssigkeit angefüllt. Wie die Wahnwitzigen stürzten Männer und Frauen von der Straße her die Treppen hinab, um einen Anteil der Beute zu erlangen.
»Und oben brennt das Haus«, sagte Feiko. »Gott sei denen gnädig, die da im Keller betrunken liegenbleiben.«
Onnen schauderte; »Welch eine grauenhafte Nacht!«
»Man kann sie nicht warnen – unser bißchen russisch reicht gerade zum notdürftigen Verstehen, aber nicht zum Sprechen!«
Und da brennt bereits das Erdgeschoß!
»Leute! Leute!« rief Feiko, »rettet euch!«
Niemand hörte ihn. Sie waren schon vollständig berauscht, die da drinnen, sie zerschlugen die Fässer und tanzten wie die Wahnwitzigen in dem herausfließenden Spiritus. Hinter dem vorderen Lagerraum befanden sich mehrere andere, Liköre und feine Weine wurden entdeckt – immer brausender erschallte der tolle Jubel. Das Feuer war vergessen; die trunkene Menge dachte an nichts als an das heiße Getränk, welches hier in Strömen floß.
Aus den Fenstern des Erdgeschosses drangen Wolken von Rauch hervor; der Fußboden brannte – plötzlich erschien unten im Keller ein Lichtstreif, eine Flamme sprang auf und ein Schrei aus hundert Kehlen klang zu den beiden jungen Leuten herüber.
»Allmächtiger Gott!« rief Onnen.
Die Worte wurden verschlungen von dem Toben da unten. Aus dem Erdgeschoß regnete es Feuer, die Kleider der im Keller Befindlichen wurden erfaßt, dann der Spiritus am Boden – haushoch schlug mit donnerähnlichem Knalle die blaue Flamme zur Tür heraus.
Und dann war plötzlich alles still. In einen Glutenmantel gehüllt, brennend vom Keller bis zum Dache stand das Haus, eine tiefe Todesruhe folgte dem Tumult in den unterirdischen Räumen, wo noch wenige Minuten vorher verblendete Toren die irdische Glückseligkeit aus Spiritusfässern zu schlürfen wähnten.
»Gräßlich!« sagte schaudernd der Steuermann. »Komm, laß uns auf die andere Seite hinübergehen! – Ich glaube, auch da tobt der Pöbel!«
Aus den Fenstern einer Weißwarenhandlung flogen unaufhörlich allerlei Putzgegenstände auf die Straße hinab, Kleinigkeiten, die zu der Garderobe von Frauen und Kindern gehörten, Spitzen, Schleifen, Hüte, alles wurde mit lautem Jubel in den Straßenschmutz getreten oder auseinandergerissen. Ein Pöbelhaufen wälzte sich durch alle Räume, und Splitter und Trümmer bezeichneten seine Bahn.
Einmal hatte es ein Polizeibeamter gewagt, den Wütenden in den Weg zu treten – seine entsetzlich verstümmelte Leiche lag mitten auf der Straße.
Weiterhin stand unter allen den brennenden, verkohlten und halbzerstörten Holzhäusern ein steinerner Bau, den vorher einer der höchstgestellten russischen Heerführer bewohnt hatte und dessen Türen verschlossen waren. Man mochte an den Abschied nicht gedacht haben; zwei Diener befanden sich im Hause, sämtliche Einrichtungsstücke waren zurückgeblieben – jetzt stürmte das wilde Heer auch diese Schwelle und zerschlug gewaltsam die Tür.
Eine Schar polnischer Studenten kam von der entgegengesetzten Seite und hob drohend die blanken Klingen. »Fort mit euch; das Haus gehört uns!«
Steinwürfe antworteten. »Ihr lügt! Wir sind Russen, ihr seid Polen, Reichsfeinde – macht, daß ihr fortkommt!«
Der Streit ging sofort über in ein Handgemenge; es floß Blut, der Pöbel wich und mit Triumphgeschrei nahmen die Polen das Haus, dessen Hüter inzwischen durch eine Hinterpforte das Freie gewonnen hatten. Den Studenten nach drängten die Massen und auch unsere Freunde gingen mit, um zu sehen, was nun folgen würde. Unten im Erdgeschoß befand sich das Arbeits- und Empfangszimmer des Eigentümers, ein elegant eingerichtetes Kabinett mit Schreibtisch und Bücherbrettern, einem prachtvollen Löwenfell, dessen Kopf als Fußkissen diente, und dem lebensgroßen Ölgemälde des Zaren. Neben dem Sessel stand noch ein Korb mit Weinflaschen, Papiere und Druckschriften lagen umher.
Die Polen fielen wie Wölfe in die Herde hinein in diesen kleinen, behaglich ausgestatteten Raum. Das Bild des Zaren wurde unter ihren Absätzen zu Staub zermalmt, Bücher und Papiere in tausend Fetzen zerrissen, dann folgten die Luxusstücke der Einrichtung.
»Da!« rief einer der Studenten, indem er den Löwenkopf emporhob, »da, ein Schemel für die Füße des Herrn Generals, ein Spielzeug, das mehr als hundert Rubel gekostet hat. So verwendet man die Steuern, das Blutgeld, dem Volke erpreßt!«
Die Pöbelmasse heulte vor Wut. »Man muß sie totschlagen, die Räuber!«
»Ja, ja, totschlagen!«
Jedes einzelne Haar des prächtigen Löwenfelles wurde auseinandergezerrt, der Schreibtisch zerschmettert, die Spiegel und Polstermöbel vernichtet; dann folgte das anstoßende Zimmer mit einem wertvollen Flügel, Noten und eingelegten Tischen – selbst zwei silberne Leuchter waren auf dem Instrument stehengeblieben. Die Studenten zerschlugen alles; der Pöbel stahl, was ihm des Mitnehmens wert erschien.
»Aha«, rief eine Stimme, »hier kommt das Zimmer der Frau Gemahlin! Seht, Leute, das ist der Ort, wo sie ihre leibeigenen Sklavinnen bei schlechter Laune als Nadelkissen benutzt, oder, wenn so ein armes Ding nach ihrer Ansicht zu wenig Flachs versponnen hat, denselben der Säumigen um die Finger wickelt und dort verbrennt!«
Ein neues Geheul folgte dieser Rede. Solch ein kostbares Bette mit Seidengardinen und Kissen aus Eiderdaunen; feine Salben und Essenzen, tropische Blumen, Konfekt, ein armes seidenweiches Schoßhündchen, das sich zitternd verkroch, ein Betaltar aus Silber und Elfenbein – hei, so eine Generalin kann es schon aushalten, indes die Menge hungert!
Man raufte um die Kleinigkeiten, ohne sie brauchen zu können, Bettlerinnen hüllten sich in samtne Mäntel, Fischweiber packten Ballhandschuhe und Spitzenschleier in ihre schmutzigen Schürzen – das wehrlose Hündchen schleuderte jemand hinaus auf die Straße, dann wurde der Plünderungszug weiter fortgesetzt und die Vorratskammern ihres Inhaltes beraubt.
Halb betäubt gelangten Feiko und Onnen wieder auf die Gasse. Überall brannte es, überall wütete der Pöbel. Die ersten Strahlen des jungen Tages schimmerten durch all den Graus, durch Rauch und lodernde Flammen; auf den Straßen befand sich kein anständiger Mensch mehr – wer nicht die Stadt schon vor diesem Zeitpunkte verlassen hatte, der suchte Schutz in einer der vielen Kirchen.
Dicht gedrängt standen und saßen hier die ihrer Heimat beraubten Menschen. Jeder Platz war besetzt, jeder Winkel barg schluchzende Unglückliche. Mütter mit kleinen Kindern, Alte, Kranke, Krüppel und Blinde, alle Hilflosen und Elenden hatten sich hier zusammengefunden.
Mutige Männer, Helden, den edelsten Vaterlandsverteidigern gleich, waren auf die bedrohten Kirchtürme gestiegen und hatten das Feuer im Entstehen gelöscht. Rings lagen ganze Straßen, ganze Stadtteile in Asche; die Gotteshäuser blieben verschont.
Horch – Trommelklang! Und da begannen auch wieder die Kanonen ihre gewaltige dröhnende Sprache.
Was war das?
Der Morgen dämmerte rosig und golden; Napoleon übersah die geräumten Stellungen der Russen, er fand den Weg frei und zog ein in die unglückliche Stadt. Aber der Feind war doch noch näher, als er geglaubt haben mochte; von den umliegenden Höhen begannen Kugeln einzuschlagen in die Reihen der Soldaten – es schien, als solle der Kampf abermals eröffnet werden.
Napoleon ritt den Truppen voraus durch menschenleere brennende Straßen, begleitet von den beiden Marschällen Ney und Davoust; er übersah finsteren Blickes das Gebiet, von welchem sich die Russen zurückgezogen hatten, ohne eigentlich besiegt zu sein.
Der Pöbel scharte sich um die Reiter, die Polen jauchzten ihnen voll stürmischer Freude entgegen. »Hoch Napoleon! Hoch der Befreier!«
Die Geschütze donnerten; heller und heller wurde der Morgen. Dicht am Wege, inmitten der Menge standen unsere Freunde; sie sahen aus nächster Nähe in das Antlitz des Gewaltigen, in Davousts hartes grausames Gesicht. Blut rieselte unter einer Stirnbinde hervor: der Marschall war verwundet, er schwankte vor Ermattung auf dem Pferde.
Orgelklang tönte aus dem Innern einer Kirche – Napoleon blickte auf, er setzte das Glas an die Augen, dann sprach er mit den Generalen.
»Von hier aus müßten sich die Geschütze da oben zum Schweigen bringen lassen!«
Ein Adjutant sprengte davon, vier Kanonen rasselten herbei, Soldaten öffneten die Flügeltüren der Kirche.
Jählings zerriß der Akkord, ein Schrei des Entsetzens trat an seine Stelle. Pferdeköpfe unter dem Portal des Gotteshauses, Pferdehufe in seinen heiligen Hallen?
O der Entweihung, des Greuels!
Mit erhobenen Armen warf sich ein Geistlicher den Eindringenden entgegen, mit flammenden Worten bat er um Schonung, um Gerechtigkeit.
Napoleon winkte den Soldaten. »Beiseite mit dem verrückten Pfaffen!«
Die Pferde zogen an; wie im Wahnsinn flüchteten drinnen die dichtgedrängten Scharen zu den anderen Ausgängen. Über zuckende Menschenkörper trieb man die Räder, schonungslos hinein in die Massen der Unglücklichen.
Kalt, ungerührt übersah der Kaiser vom Pferde herab das grauenvolle Blutbad, bei dem Zahllose, meist Frauen und Kinder, ihren Tod fanden. Die Geschütze wurden an vier Fenster gebracht, sämtliche Hindernisse entfernt und so von der auf einer Anhöhe gelegenen Kirche aus die russischen Batterien beschossen.
Onnen wandte sich ab, schaudernd, leichenblaß. »Komm, Feiko. Das zu ertragen ist mehr als ich vermag.«
Sie suchten das Haus, in dem die Zigeuner lagerten, und sanken ermattet auf die Streu. Von allem Furchtbaren, was sie bis jetzt gesehen, waren die Ereignisse dieser Nacht das Furchtbarste.
Sobald die Truppen ihren Einzug gehalten hatten, ließ der Kaiser den Brand löschen und die Toten beerdigen, ebenso wurde in aller Eile die völlig verbrannte Brücke wiederhergestellt und die Mauer ausgebessert. Bei der Abwesenheit aller Behörden, dem gänzlichen Mangel an Geld und Lebensmitteln mußten die Soldaten zusammenstehlen, was sie zu ihrer Sättigung brauchten. Äpfel und Birnen, auf den Bäumen gebraten, Gartengemüse, Feldfrüchte, alles wurde verzehrt und zerstört, alle Möbel aus den geretteten Häusern hervorgeholt und, nachdem die noch vorhandenen Einwohner hinausgetrieben worden waren, die Kirchen als Wohnräume in Besitz genommen oder zu Stallungen benutzt.
Ein großer Teil der Soldaten lagerte aber trotzdem im Freien, überall waren Zelte aufgeschlagen, Strohhaufen geschichtet und Feuerstellen angelegt; die totenstille, verbrannte Stadt glich einer ausgestorbenen Welt, in der nur von Zeit zu Zeit getrommelt und geblasen wurde, die aber keine fröhlich jauchzenden Kinder mehr barg, keine arbeitenden, schaffenden Menschen, kein Glück irgendeiner Art.
Selbst die Kirchenglocken schwiegen, die Predigt und die Orgel; über Aschenhaufen wehte der Wind durch verödete, erstorbene Straßen.
Mikosch rüstete zum Aufbruch. Ringsumher an verschiedenen Orten wurde gekämpft, die Franzosen nahmen Punkt nach Punkt – es galt also, den russischen Befehlshabern ihre Stellung, ihre Bewegungen und Pläne zu hinterbringen.
Damals wie heute beschäftigten im Kriege die beiderseitigen Heerführer zahlreiche Kundschafter, und zu diesen gehörten in erster Linie Juden und Zigeuner, die Angehörigen zweier besonders durch Schlauheit hervorragenden Völkerschaften. Alles, was wanderte, handelte und gern Geld verdiente, das zog als Parteigänger von Ort zu Ort.
Jetzt kam die Zeit, wo Ruff als Hauptperson im Vordergrunde der Handlung stand. Die Zigeuner trugen ihre schlechtesten Lumpen, fuhren mit dem abgetriebensten magersten Klepper, welcher sich auffinden ließ, und baten unter den kläglichsten Gebärden um ein Stück trockenes Brot. Dabei aber hielt Mikosch die Augen offen, und in gar mancher Nacht verschwand er heimlich, um dann erst nach vielen Stunden oder Tagen wiederzukehren, immer sehr vergnügt und freigebig, so daß in verborgenen Winkeln auf Rußlands Wohlergehen verschiedene Flaschen Wein getrunken und leckere Braten dazu verspeist wurden.
Einmal kam er von einem solchen Streifzuge mit sehr ernstem Gesichte zurück. »Der Korse unternimmt das Unerhörte, Kinder, er marschiert nach Moskau!«
Feiko Hansen klatschte in die Hände. »Hurra!« rief er. »Das bricht ihm den Hals!«
Mikosch wiegte den Kopf. »Aber vielen andern Leuten auch!« seufzte er, »und das ist das Traurige.«
»Einerlei, einerlei – wir sehen die französische Armee noch auf der Flucht! In sich zersetzt und zerfallen, vom Hunger aufgerieben, vom Geiste der Zügellosigkeit erfaßt ist sie schon heute. Außer seiner Garde hat Napoleon keine wirklichen Soldaten mehr, hier in Rußland sind sie zu Räubern geworden.«
»Vater!« warf Jasko ein, »gehen wir nach Moskau?«
»Sicherlich. Den Franzosen voraus sogar. Und soll ich dir noch eins sagen? In Moskau begegnet uns Oberst Jouffrin.«
Der jüngere Mann sah auf; seine und des Vaters Blicke trafen einander. Beide schwiegen, aber sie verstanden sich vollkommen.
Mikosch kannte, wie es schien, jeden Schlupfweg, jede Niederlassung rings umher. Wo ein französisches Regiment biwakierte, dahin lenkte er den Leiterwagen und Ruff begann seine Kunstleistungen. Die armen Zigeuner erschienen dann so bemitleidenswert, sie erhielten nirgends Geld oder Geschenke – es war eben für sie eine recht böse Zeit. Ruff tanzte, er exerzierte mit dem Stock, er konnte eine Pistole abschießen und besaß sogar eine Gitarre, deren Saiten sich den Griff seiner gewaltigen Tatzen gefallen ließen.
In neuester Zeit hatte ihm Mikosch noch verschiedene andere Kunststücke beigebracht. Ruff lernte Zählen und – Singen. Auf Kommando öffnete er den furchtbaren Rachen und stieß langgezogene melancholische Töne hervor, bis sich die Soldaten vor Lachen wälzten. Dann regnete es gute Bissen, Mikosch erfuhr dieses oder jenes; das Nachtquartier durfte in der Nähe der französischen Feuer aufgeschlagen werden.
Vor den Truppen, ihnen voraneilend, durchzogen Angst und Schrecken das weite Land. Wo eine Hütte oder ein Edelhof allein am Waldesrande lagen, da waren sie verlassen; in kleinen Dörfern sahen bleiche Gesichter den Zigeunern entgegen, oft hatten die unglücklichen Bewohner alle ihre Habe im Stiche gelassen und waren in die Wälder geflüchtet.
Mit dem Beginn des Monats September veränderte sich das bisher heiße Wetter so plötzlich, daß schon kalte Tage eintraten; der Wald zeigte sein Herbstkleid, die Wellen der Oka gingen hoch und ganze Schauer von gelben und roten Blättern tanzten im Wind.
Es war an einem Nachmittage, als Mikosch mit den seinen in dem Dorfe Borodino anlangte. Ein feiner Nebel hing in der Luft, die Sonne sandte keinen Strahl zur Erde – kalt und heimlich durchfröstelnd kam in Pausen ein stärkerer Hauch von den Höhen herab.
Die Glocke des Kirchleins läutete wie zur Totenfeier. In langen Zügen wanderten die Bauern bis an das Ufer eines kleinen Sees, der am Waldesrande seine Wellen kräuselte; hier scharten sie sich stillschweigend und warteten mit gesenkten Köpfen, während auf dem Wasser ein Boot schaukelte und die Glocke fortwährend leise Trauerklänge hinaussandte in das graue Nebeltreiben des Tales.
Der Wagen hielt und die Zigeuner mischten sich unter das Volk Weinende Frauen, Männer mit bleichen Gesichtern bildeten einen Kreis, der nicht allein den See umschloß, sondern auch den Weg zur Kirche noch besetzt hielt; endlich ertönte der Ruf eines jungen Mannes: »Sie kommen!«
Stärker wurde das Schluchzen, eins nach dem anderen warfen sich die Leute auf ihre Knie und beteten.
Grau unter dem grauen, nebelverhüllten Himmel erschien ein Zug von Mönchen, die auf ihren Schultern einen größeren Gegenstand trugen. Es glänzte und blitzte – ob es Gold war?
Jede Stirn neigte sich zur Erde, alle Hände waren gefaltet. Langsam auf den Schultern der Geistlichen erhob sich ein Kreuz aus massivem Golde, meterhoch, von unschätzbarem Werte, das Kreuz des heiligen Iwan, vor Jahrhunderten der Kirche von frommen Gebern gestiftet, ihr teuerster Schmuck, ihr Kleinod – jetzt sollten sie es dem ungewissen Schicksal preisgeben, vielleicht verlieren.
Langsam wurde die Reliquie zu Boden gelassen, dann näherte sich das Volk, um sie zu berühren, zu küssen. »Schütze uns, heiliger Iwan, gib, daß die Feinde an unserem Dorfe vorüberziehen, daß wir gerettet werden!«
Rings Schluchzen und bitteres, tiefes Weh. Weithin schlug der See seine grauen Wellen; hoch in den Wolken schrie heiser ein Rabe.
Von Hand zu Hand ging das Kreuz bis in den schwankenden Kahn. Zwei Mönche legten es auf den Boden, dann nahmen sie in Empfang, was sonst noch vor der Raubgier des Feindes an heiligem Gute geflüchtet worden war, das Altargerät, die Monstranz. Leise klirrten kleine goldene und silberne Glöckchen; ein halberstickter Laut der Herzensangst ging durch die Reihen des Volkes.
Und dann stieß der Kahn ab. Mitten auf den See hinaus trieben ihn die Mönche – unter tiefer Todesstille wurden die Heiligtümer der Kirche hinabgesenkt in den Schoß des Wassers; Stück nach Stück verschwand, bis sich die Wellen murmelnd schlossen, bis das graue Einerlei alles bedeckte, alles verhüllte.
Wie von einem Leichenbegängnis kehrten die Leute in ihre ärmlichen hölzernen Häuser zurück. Auf den Anhöhen standen die Russen, von Smolensk her wälzten sich Massen französischer Truppen; eine dumpfe Verzweiflung schnürte die Herzen zusammen.
Smolensk gefallen und Mütterchen Moskwa bedroht – das Ende aller Dinge schien nahe.
Unsere Freunde gelangten noch vor Abend in das russische Lager und setzten dann durch Fichtenwälder ihren Weg weiter fort. Hier verstummte zum erstenmal der laute Lärm des Krieges; von den französischen Horden war noch keine einzige so weit vorgedrungen, der äußere Friede durch nichts gestört. Grüne Nadelhölzer dehnten sich scheinbar endlos, unter den Füßen knisterten abgefallene Sprossen; kälter und kälter ging der Wind.
In den wenigen Walddörfern waren die Bewohner guten Mutes. Nur vereinzelte Nachrichten über den Gang der Dinge hatten ihre Einsamkeit hier oben unterbrochen; sie hielten sich für ganz sicher und meinten, der russische Winter werde die Gäste aus dem Süden schon vertreiben.
Den Zigeunern überließen sie willig ihre Scheunen als Nachtquartier, luden sie an ihre wohlbesetzten Tafeln und schenkten ihnen wärmere Kleider. So hoch hinauf in die Berge würden sich ja die Franzosen nicht versteigen.
Es kam jetzt die Zeit zum Beginn der Winterjagd. Bär und Wolf, Luchs und Wildkatze hatten ihren Sommerpelz abgestreift; die Fallen waren gestellt und neuer Schießbedarf eingekauft. Hier oben lebte alles von der Jagd und dem Pelzhandel – man rüstete sich, den ersten Fang einzuheimsen.
Mikosch saß am flackernden Feuer und lötete das Hausgerät der Frauen. Alljährlich kam er auf seinem Zuge durch Rußland in diese weltabgeschiedenen Jägerdörfer, wo er als lebende Zeitung galt, als langerwarteter und gern gesehener Berichterstatter, nebenbei aber auch als ein Tausendkünstler, der alles heilte und ergänzte, was im Laufe des Jahres schadhaft geworden war. Mikosch konnte kranke Pferde kurieren, zerbrochene Scheren flicken, Lederzeug ausbessern und zur Not ein Flintenschloß wieder instandsetzen; er verstand es aber auch, den Neugierigen im Dorfe wahrzusagen, kannte allerlei Zeichen, die auf einen strengen oder milden Winter schließen ließen, und musizierte endlich im Verein mit seinen Söhnen so prächtig, daß die alten Frauen weinten und die jungen tanzten – je wie er's machte.
Diesmal hatte man ihn schon nicht mehr erwartet; er war über die gewohnte Zeit hin ausgeblieben und fand daher gehäufte Arbeit, die nun neben dem Kohlenbecken im offenen Schuppen an seiner Seite lag. Altersschwache Teekessel, Kinderspielzeug, Schlittschuhe, Küchengerät, alles harrte in buntem Durcheinander der Hand, die jeden Schaden ausbesserte, jeden Riß flickte und überall heilend und glättend eingriff.
Die Armen erhielten ihre Siebensachen umsonst; wer nicht zahlen konnte, der gab ein »Gott lohn's« als Dank und Mikosch nickte ihm freundlich zu. »Lauf nur, Alte, trink deinen Tee mit Gesundheit! Ich hab's gern getan.«
Auch die drei anderen hämmerten und feilten fleißig mit, während die Deutschen auf die Jagd gingen, aber außer den überreich vorhandenen Vögeln, namentlich den Hühnern, keinerlei Wild erlegten. Erst am dritten Tage nach ihrer Ankunft brachte ein unvorhergesehener Zufall ihnen das ersehnte Vergnügen im vollen Maße.
Es war kalt, der offene Schuppen hatte eine Strohwand erhalten und das Feuer, durch starke Eichenklötze genährt, brannte lichterloh – da sprengte ein Reiter auf einem der kleinen eingeborenen Pferde über die Dorfstraße daher, aber noch bevor er die ersten Häuser erreicht hatte, taumelte das Tier, strauchelte, erhob sich wieder und stürzte, um nicht mehr aufzustehen. Ein Strom von Blut drang aus dem Maul hervor – es zuckte noch ein paarmal, dann starb es.
Der Reiter, ein junger Bauer, sprang gewandt zu Boden und näherte sich den Häusern, aus denen Männer und Frauen neugierig herbeiliefen; auch die Zigeuner gesellten sich zu den übrigen und Mikosch besah zuerst das verendete Pferd. »Es ist tot, mein Söhnchen«, sagte er, sich zu dem jungen Manne wendend, »was trieb dich denn zu so übermäßiger Eile?«
»Rede! Rede!« drängten auch die Dorfbewohner. »Was gab es, Kasimir Strakosch?«
Der Bauer schöpfte tief Atem. »Ich bin mit genauer Not dem Tode entronnen«, versetzte er, »achtzehn Wölfe waren auf meinen Fersen!«
»Achtzehn Wölfe?«
»Ja! – Unser Dorf wird belagert!«
»Von den Franzosen?« rief Onnen.
»Was? Franzosen?«
»Nein! Nein!« erklärte Mikosch. »Das kennt ihr nicht, Kinder. Die Wölfe belagern ein Dorf, um zu den Herden zu gelangen, aber sie wagen sich nicht hinein, sondern lungern nur hinter den Häusern herum, so daß die Bewohner gefangen sitzen. In solchem Falle werden dann der keckste Reiter und das schnellste Pferd ausgesucht, um von draußen Hilfe herbeizuholen.«
»Das heißt, Leute, welche den Wölfen zu Leibe gehen?«
»Natürlich!«
»Wir werden es sein!« rief Onnen. »Wir, nicht wahr, Alexei?«
»Vielleicht nimmt man uns mit!« lächelte der Zigeuner. »Die Sache ist nicht ganz so leicht, wie du dir denken magst, Freund Onnen.«
Auch die trägen, schwerfälligen Bauern rings umher waren lebendig geworden. Ein von den Erzfeinden, den Wölfen, belagertes Dorf ist im Walde ein Ereignis, das die tatkräftige Hilfe der Nachbarschaft wie kein anderes herausfordert. Vielleicht konnten die Eingeschlossenen nicht einmal zur Quelle gelangen, jedenfalls waren ihre Kinder, ihre Herden bedroht – da durfte auf keinen Fall länger gezögert werden.
Ein paar lange schmale Wagen kamen zum Vorschein, Jagdwagen, die nur zur Wolfshetze dienten, alle Hände regten sich, alle Stimmen sprachen durcheinander.
Der fremde Bauer wurde gastfrei bewirtet, das gefallene Pferd schleunigst abgehäutet und verscharrt, die Wagen mit Waffen, Munition und Lebensmitteln versehen, dann ein starkes Bündel Heu an ein Seil gebunden und das andere Ende dieses letzteren an das Hinterteil des Wagens befestigt.
Aus einem Stalle holten während dieser Vorbereitungen die Frauen zwei kleine junge Schweine hervor und steckten sie, jedes für sich, in Säcke, die oben fest zugeschnürt wurden.
»Was bedeutet das?« fragte Onnen.
Alexei kniff lächelnd eins der Tierchen, und als dieses sogleich zu schreien begann, sagte er: »Das bedeutet es! – Du wirst nun die russische Wolfsjagd aus dem Grunde kennenlernen, Herr.«
Zwei nicht mehr ganz junge Bauern hatten mittlerweile ihre Pelzröcke angezogen und die langen Stöcke, mit denen man in Rußland die Pferde antreibt, herbeigeholt. Jetzt wurden beide Wagen bespannt, die Säcke mit den Schweinen hineingelegt und die besten Schützen ausgesucht.
»Mikosch, willst du mit?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nehmt den Alexei«, entschied er, »der versteht's. In jeden Wagen außer dem Kutscher vier Männer, denke ich, also meine Freunde und vier von euch Bauern.«
»Du, Michael, du, Jakob und ihr beiden da drüben! Jetzt wären wir fertig!«
Vier Bauern hatten in dem ersten Wagen auf dem einzig vorhandenen Mittelbrett Platz genommen, und zwar so, daß sie zu zwei und zwei einander den Rücken kehrten. Auf diese Weise konnten unbehindert beide Seiten des Weges beobachtet werden.
Die drei Deutschen und Alexei nahmen den zweiten Wagen, der Bauer aus dem fremden Dorfe setzte sich zum Kutscher und fort ging es.
»Werden wir nun die Wölfe offen angreifen?« rief Onnen, bei dem die Hoffnung auf das erwartete Vergnügen bis zur Aufregung stieg. »Weshalb konnten sich denn die belagerten Bauern nicht selbst auf die Jagd begeben?«
»Das wirst du schon sehen, Herr. Man braucht für diese Hetze eine vollkommen freie Bahn, um sie glücklich zu Ende zu führen.«
Die beiden Wagen mit ihren niedrigen Rädern flogen über den ebenen Weg dahin, so schnell die Pferde zu laufen vermochten; nach einer kleinen Stunde kam das belagerte Dorf in Sicht. Die ärmlichen Holzhütten standen in einem von Bergschluchten umgebenen Tal, Hohlwege führten überall hinein, ein steiniger umbuschter Grund lag vor der Fahrstraße, die sich vollständig leer den Blicken der Jäger darbot. Weder hier noch zwischen den Hütten sah man ein lebendes Wesen.
Beide Kutscher hielten gleichzeitig still; der Führer der ganzen Expedition, ein älterer Bauer, stand im Wagen und übersah die Lage mit dem Blicke eines kommandierenden Generals.
»Sensen heraus!« gebot er.
Man gehorchte ihm schnellstens. Auf dem Grunde jedes Wagens lagen fünf Sensen, deren Strohumhüllungen herabflogen, um die blanke Schneide freizulassen. In den Holzgriffen befanden sich Ösen, an den Wänden der Fuhrwerke starke eiserne Pflöcke, – es war alles auf die Notwendigkeit energischer Selbstverteidigung im voraus berechnet und wurde in kürzester Zeit fertiggestellt. Zwei, die Schärfen nach oben kehrende Sensen deckten gekreuzt jede Längsseite, die fünfte schwang sich wie ein Halbmond quer über den Wagen. So von einer Mauer geschliffener Messer umgeben, waren die Jäger gegen das unvermutete Anspringen eines besonders dreisten Wolfes vollständig geschützt – der Räuber würde sich gespießt haben, ehe er seine Beute erfassen könnte.
»Jetzt nehme einer unter euch das Heubündel«, befahl der Bauer.
»So, und nun du das Schwein, aber vorsichtig, noch darf es nicht schreien!«
Nachdem in dieser Weise alles vorbereitet worden war, lenkten die beiden Kutscher ihre Gespanne nebeneinander, auf die Mitte der Landstraße, an welcher das Dorf lag, oder, besser gesagt, auf den elenden erhöhten Damm, der im Sommer Risse und im Winter Pfützen zeigte.
Ein Zungenschlag, dann flogen die Pferde dahin.
»Los!« befahl der Führer.
Ein jämmerliches Geschrei folgte diesem Befehl. Beide Männer, welche die kleinen Schweine auf den Knien hielten, ließen dieselben jetzt zwischen ihre Füße hinabgleiten, wobei sie die Ohren der Tiere einige Male kräftig zausten. Nach bekannter Weise ihrer Gattung schrien die Ferkel, als gehe es ihnen bereits ans Leben.
Die Wagen flogen nur so dahin.
Alle Gewehre lagen schußfertig in den Händen der Männer. Jedes Auge spähte, jedes Herz schlug schneller.
»Wieviele Wölfe zähltet ihr, Strakosch?«
»Es mögen immerhin dreißig sein, die unser Dorf belagern.«
»Da sind sie! Heisa, die ganze Räuberfamilie ist uns auf den Fersen!«
Aus jedem Gebüsch, aus den Hohlwegen und Steinbrüchen, aus dem Waldesdickicht hervor sahen die spitzen Gelbnasen. Lange rote Zungen lechzten, ein Kläffen und Wimmern erfüllte die Luft – Isegrim und seine Sippe hatten den hingeworfenen Fehdehandschuh aufgenommen.
Die Pferde schnauften heftig. Ohne Zuruf oder Peitschenhieb rasten sie dahin – ebenso schnell, mehr und mehr den Vorsprung der beiden Wagen überholend, folgten mit der Kraft des nagenden Hungers die Wölfe.
»Gebt Feuer!« rief der Anführer.
Acht Gewehre sandten den bleiernen Hagel in die Reihen der Feinde, aber nur ein einziger Wolf fiel und blieb getötet liegen, die übrigen, nicht gerade in den Kopf oder das Herz getroffenen, setzten trotz der Kugeln, welche sie erhalten hatten, die eifrige Verfolgung fort, obwohl ihr Blut den Boden färbte und das eigentümliche Schnappen nach bestimmten Körperstellen den Jägern deutlich verriet, wo die Wunde schmerzte. Ohne Zeitverlust wurde wieder geladen, drei oder vier Wölfe wälzten sich in ihrem Blute, aber immer noch stieg die Anzahl der Verfolger, immer noch mehrte sich von allen Seiten das wilde Heer, dessen Glieder den beiden Wagen unaufhaltsam nachsetzten.
Schuß auf Schuß, Todesschrei auf Todesschrei. Die Hälfte der Räuber war erlegt, der Rest derselben rückte jedoch den Jägern bedenklich näher. Wenn der Wagen überholt und die Pferde angegriffen wurden, dann war es um die Menschen geschehen.
»Das Heubündel heraus!« gebot der Führer.
Zu gleicher Zeit flogen beide Seile weit in die Luft und gierig fielen, einen Augenblick Halt machend, die Wölfe über ihre vermeintliche Beute her. Ein Heulen und Bellen, ein ärgerliches Geschrei folgten der Täuschung, neue Schüsse krachten, neue tödlich getroffene Räuber wälzten sich in ihrem Blute, aber mehrere von ihnen stürmten mit ungeschwächter Erbitterung den beiden Wagen nach, gereizt, zur Wut gebracht, in immer längeren, immer drohenderen Sprüngen.
Die Zahl der Bestien vergrößerte sich indessen nicht mehr; es war klar, daß alle, die vorhin das Dorf von den Steinbrüchen belagert hatten, jetzt den Jägern folgten.
Der Führer stand wieder aufrecht im Wagen; trotz der rasenden Fahrt hielt er sich festen Fußes im Gleichgewicht und übersah mit ruhigem Blick die Lage.
»Wir müssen rechts herum, Kinder, rechts herum – zu unserem Dorfe zurück. Das ist der beste Ausweg.«
»Ganz wohl, Väterchen, ganz wohl! Aber während wir um die scharfe Ecke biegen, gewinnen unsere Verfolger einen Vorsprung.«
»Das ist richtig. Im gefährlichsten Augenblick opfern wir ihnen die Schweine!«
Arme kleine Geschöpfe – sie zitterten in ihren dunklen Gefängnissen schon jetzt, sie stießen Töne hervor, die eine entsetzliche Angst bekundeten.
»Achtung! – Hinaus damit!«
Die schreienden Tiere wurden auf den Damm geworfen, unter den Wölfen entstand ein Kampf auf Leben und Tod; sie rissen die blutenden Fleischstücke einander aus den Zähnen, sie fielen sich gegenseitig an in maßloser Wut. Die Kugeln der Jäger flogen hinein in das wüste Getümmel – es war eine Szene voll abschreckender Wildheit, die sich den Blicken darbot
Aber beide Wagen hatten ihren Vorsprung gewonnen. Die neue Richtung konnte eingeschlagen und einige Minuten lang verfolgt werden, ehe sich das Raubgesindel wieder zeigte – dann erschienen zwei Wölfe mit lechzenden roten Zungen, große gewaltige Tiere, die fast ebensoschnell wie die Pferde dahinstürmten. Gespannten Blickes beobachtete der Führer den Weg – es waren wirklich nur zwei Tiere.
»Schießt!« rief er. »Schießt!«
Die Kugeln flogen, aber ihre Wirkung schien zweifelhaft. Bei der Eile der Fahrt war an ein richtiges Zielen nicht mehr zu denken. Hie und da schnappten die Wölfe nach getroffenen Stellen, ihre Wut, ihre Verfolgung erlitten jedoch keine Milderung – der Kampf ging auf Leben und Tod, für die Menschen sowohl als für die Tiere.
An beiden Wagen wurde eine hellklingende, bisher verborgene Glocke in Bewegung gesetzt, das Zeichen für die Dorfbewohner, den bedrängten Jägern zu Hilfe zu eilen. Betäubend hallten die Schläge, untermischt mit andauerndem Schießen; heftiger und immer heftiger schnauften die ermatteten Pferde.
»Horch! Klang das nicht wie ein antwortendes Glockensignal?«
»Sie haben uns gehört! – Gott sei Dank!«
»Wenn die Hilfe nämlich noch früh genug kommt!«
»Das eine der beiden Pferde scheint zu hinken!« rief Alexei.
»Beim Himmel, ich sehe es auch!«
Der Wagen, auf dem unsere Freunde saßen, blieb etwas zurück, während der andere in unverminderter Eile dahinjagte. Kasimir Strakosch sah die Gefahr, in welche seine Jagdgenossen so plötzlich geraten waren; er riß aus Leibeskräften an den Zügeln, er versuchte jedes Mittel, um die Pferde zum Stehen zu bringen, aber umsonst, die geängstigten Tiere verweigerten den Gehorsam, sie liefen für die eigene Sicherheit, nicht mehr auf das Gebot der Menschen.
Eine Handbewegung des Russen zeigte den anderen, daß es ihm unmöglich sei, ihnen zur Hilfe zu eilen.
Alexei zog gedankenschnell den Pelzrock aus und warf ihn den anstürmenden Wölfen entgegen. Alle Munition war verschossen – in jedem Augenblick konnte das Ärgste geschehen.
Eine halbe Minute Vorsprung, noch eine halbe, als Onnens und die Röcke der beiden anderen jungen Leute auf den Weg fielen, dann ließen sich die Bestien nicht mehr täuschen. Sämtliche Gewehre wurden umgedreht und zum Schlage erhoben – bange, bange Augenblicke folgten jetzt, Sekunden, in deren Schoß die Entscheidung beschlossen lag. Von dem ersten Wagen war nichts mehr zu sehen, aber heller und heller erklang die antwortende Glocke.
Niemand sprach. Es funkelte vor den Blicken der Jäger wie auf- und absteigende Wolken von bunter Farbe – sie fühlten, daß das Entsetzen ihre Seelen packte.
Da strauchelte plötzlich das bisher gesunde Pferd und fiel, seinen Genossen mit sich zu Boden reißend, schwer auf die Vorderfüße, dann in Todesangst auf die Seite, um mit den scharfen Hufeisen den letzten möglichen Widerstand zu leisten.
»Hallo!« rief in diesem Augenblick die Stimme eines Mannes, »hallo, Kinder! Jetzt kommt der rechte Freund, um euch zu befreien.«
Mikosch war's. Sein schwarzes Haar flatterte im Wind, er lief ohne Rock und Mütze in Sturmeseile über den Damm und vor ihm her in gewaltigen Sprüngen jagte Ruff, der Bär, dessen Kette und Maulkorb daheim in der Schmiede liegengeblieben waren.
Ein furchtbares Gebrüll aus seinem weitoffenen Rachen begrüßte die Todfeinde – er packte den vordersten Wolf am Kragen und riß ihn mitten im Sprunge zurück, gerade im gleichen Augenblick, als die Bestie ansetzte, um über die Sensen hinweg in das Innere des Wagens zu gelangen und dort die Menschen – diese zarteste, erlesenste Beute – mit ihren mordgewohnten Zähnen zu ergreifen.
Beide, der Bär und der Wolf, fielen rücklings zur Erde. Ruff lag unten, Isegrim über ihm und nun schien es, als sei für den tapferen Freund der Zigeuner ein verhängnisvoller Augenblick herangekommen. Blind und toll vor Wut schlug der zweite Wolf seine Zähne in das Fleisch des Bären, ihn zugleich mit den Krallen packend – Ruffs Kehle färbte sich rot, Blutstropfen drangen hervor. Das gewaltige Tier brüllte, es ließ in unerträglichem Schmerz den Widersacher fahren.
Dieser Gruppe zunächst stand Onnen. Ganz der Eingebung des Augenblicks folgend, sprang er federleicht vom Sitzbrett des Wagens über die gekreuzten Sensen und ließ mit aller Macht, deren seine jungen kräftigen Arme fähig waren, den Kolben der Büchse auf des Wolfes Schädel niederfallen. Auch einen Ochsen hätte dieser von der äußersten leidenschaftlichen Erregung geführte Schlag zu Boden strecken müssen, wieviel mehr also nicht den Wolf, dessen Kopf buchstäblich gespalten wurde. Ruff konnte jetzt, alle seine überlegene Gewalt dem einen noch gebliebenen Gegner zuwenden; im nächsten Augenblick hatte er ihm die Kehle durchbissen.
Die Menschen sahen einander an, stumm, schwindelnd, halb betäubt. An einem einzigen Haare hing über ihren Köpfen das Verderben; noch eine halbe Minute und alle Hilfe von Freundeshand wäre zu spät gekommen.
Mikosch untersuchte die Kehle seines Lieblings. Vier Zähne waren eingedrungen, aber nicht sonderlich tief, da das dichte Fell kräftig widerstanden hatte; Ruff konnte sich bei einiger Pflege von dieser Verwundung sehr bald wieder erholen – der Zigeuner gab ihm alle möglichen Schmeichelnamen, er sah mit blitzenden Augen zu dem jungen Deutschen hinüber. »Das vergesse ich dir nie, Herr, du hast meinen Bären vom Tode errettet!«
Onnen lachte. »Im Gegenteil, Mikosch, du und dein Tier, ihr kamt für uns gerade zur rechten Zeit! Hörtest du die Notglocke?«
Der Alte nickte. »Ich war euch mit dem Bären schon ein gutes Stück Weges entgegengegangen«, versetzte er. »Mir lief eine schwarze Spinne über die Hand, das bedeutet allemal Böses, und da dachte ich denn natürlich zunächst an euch!«
»Eine schwarze Spinne, Mikosch?«
»Sicherlich!« rief Feiko. »Weshalb sollte denn der liebe Gott nicht neben allen übrigen Geschöpfen auch einmal dies als Boten benutzen? – Du nahmst dem Bären Kette und Maulkorb ab, Alter, und machtest dich auf den Weg?«
»Ganz gewiß, Kinder. Hab' ja so manche Wolfshetze mit angesehen, bin so oft selbst nahe am Rande des Verderbens gewesen – da wird man vorsichtig.«
»Und nun seht dorthin«, fügte er bei. »Die ganze Dorfschaft ist ausgerückt, um euch von den Bestien zu befreien.«
Auf zwei raschen eingeborenen Pferden näherten sich, allen voraus, Jasko und Luiz, dann kamen die Bauern aus beiden Dörfern zu Wagen und zu Fuß, alle bewaffnet, alle voll Kampflust, die nun freilich ohne Anwendung verrauchen mußte. Das belagerte Dorf war erlöst, die Eingeschlossenen konnten sich wieder frei bewegen und der Jubel kannte keine Grenzen.
Nachdem Mikosch die Pferde untersucht und im Verein mit mehreren älteren Bauern für unbeschädigt erklärt hatte, wurden einige junge Leute in das Dorf zurückgeschickt, um sie langsam zum Stalle zu führen, die übrige Gesellschaft dagegen zog mit fünf oder sechs Wagen zum zweiten Male aus, um die Kadaver der erschossenen Wölfe einzusammeln, teils der wertvollen Felle wegen, teils weil das Fleisch und das eingetrocknete Blut verscharrt werden mußten, damit nicht etwa der scharfe Geruch anderweitige unliebsame Gäste dieser Sippe herbeiladen möge.
Reihenweise lagen an der Landstraße die gelben Gesellen mit zerschmettertem Schädel oder durchschossener Brust, manche längst erstarrt, manche noch zuckend, als sie den Gnadenstoß erhielten, um dann abgezogen und an Ort und Stelle verscharrt zu werden. Die Kugeln hatten furchtbar aufgeräumt, beinahe dreißig Wölfe waren erschlagen.
Wie Sieger vom Schlachtfelde kehrten die Bauern in das Dorf zurück, jubelnd empfangen und mit dem Besten bewirtet, was Küche und Keller hergaben. Auch aus der belagerten Ortschaft kamen die Leute, um zu danken; es floß Branntwein in Strömen, und erst spät nach Einbruch der Nacht trennten sich die Festteilnehmer.
Früh am nächsten Morgen schickte der Dorfälteste den Deutschen einen Boten und ließ sie auf den Abend zu sich einladen; es sollte, wie der Mann sagte, nochmals eine Wolfsjagd stattfinden, aber anderer Art natürlich.
»Es ist noch eine von den Bestien zurückgeblieben«, erklärte Mikosch. »Die fängt man dann im Fuchseisen.«
Unsere Freunde gingen in Alexeis Begleitung hinüber und fanden die Bauern eifrig beschäftigt, ihre Jagd einzuleiten. Eng gedrängt standen die hölzernen Hütten beieinander, alle ohne Gärten oder irgendwelche Beete, aber umgeben von weiten Scheunen, die das Vieh, Wintervorräte und Aussaat enthielten, ebenso die Ackergeräte, obwohl das bebaute Feld kaum der Rede wert schien. Diese, die Wirtschaftsgebäude, kehrten ihre glatte Rückseite ohne Türen oder Fenster den Steinbrüchen entgegen.
Auf dem Dache einer Scheune stand ein Bauer und lockerte die Bretter, so daß dieselben durch einen einzigen Griff zu beseitigen waren, dann zogen mehrere Männer einen Ackerwagen in den Steinbruch hinaus und schoben ihn unmittelbar unter die Wand des Gebäudes. Als die Dämmerung herabsank, legten sie in die Scheune, gerade unter das Loch im Dache ein an allen vier Füßen gebundenes, stark blökendes Lamm. Die übrige Herde, lauter Schafe, gingen frei im Stall umher, nur von dem Mittelpunkte durch einige ausgespannte Seile getrennt. Hier lagen, versteckt unter Stroh, die Fuchseisen.
Die Schafe waren unruhig, sie liefen durcheinander und drückten sich ängstlich in die Ecken. Der Bock stieß mehrere Male heftig mit dem Kopfe gegen die Mauer, als wollte er seiner gereizten Stimmung Ausdruck verleihen.
Heller Mondschein glänzte vom Himmel herab. Draußen tanzten die ersten Flocken aus klarer Luft einzeln über das schweigende Dorf dahin; in einer nahegelegenen Scheune beobachteten unsere Freunde die Dinge, welche da kommen würden.
»Ein Wolf ist nur noch übrig geblieben«, hatte der Dorfälteste gesagt. »Eine große, ausgehungerte Bestie, die uns sogleich ihre Kameraden wieder hierherzieht; wir müssen sie schleunigst zu töten suchen.«
So warteten denn eine ganze Menge Bauern mit den Deutschen, alle wohlbewaffnet, auf das Erscheinen des Räubers. Sämtliche Schäferhunde waren an Ketten gelegt und den Dorfbewohnern anbefohlen, sich hinter verschlossenen Türen zu halten; der Wolf sollte zum Angriff ermutigt werden.
»Nach wenigen Tagen würde wieder ein ganzes Rudel vorhanden sein«, sagte Kasimir Strakosch. »Wir müssen ihm unbedingt den Garaus machen«
Ein tiefes Schweigen beherrschte die Versammlung; außer dem angstvollen Blöken der Herde drang kein Laut durch die Stille der Nacht. Zuweilen zog eine Wolke über das Sternengeflimmer da oben, dann fielen die sechseckigen Flocken und der Wind fuhr mit plötzlichem Rauschen in die kahlen Baumwipfel, später eine um so drückendere Ruhe zurücklassend.
Da erschien über dem Rande des niederen Daches eine spitze Schnauze. Isegrim war auf den Wagen gesprungen und besah sich die Gelegenheit.
Alle Schafe blökten, alle Hunde bellten, das gefesselte Lamm schrie herzzerreißend. Kasimir Strakosch hob wie beschwörend die Hand. »Keinen Laut, Freunde! Wenn uns der Wolf bemerkt, so nimmt er Reißaus.«
Mehrere Pferde in der Nachbarschaft rissen an ihren Halftern und wieherten heftig, die Hunde bellten in unbezähmbarer Jagdlust, Isegrim horchte.
Dann hob sich der langgestreckte Leib den Vordertatzen nach. Das Tier stand auf dem Dache, es schnupperte, prüfte die Festigkeit der Schindeln.
Eine derselben fiel mit lautem Geräusch zu Boden. Aus dem offenen Stalle drang warmer Geruch hervor und dem lüsternen Räuber gerade in die Nase – er vergaß, umnebelt von heftiger Begierde, die nötige Vorsicht und riß gewaltsam alle losen Bretter hinweg. Mit einem gewaltigen Sprung erreichte er den Stall und die ersehnte Beute.
»Hurra!« schrie Kasimir Strakosch, »den hätten wir.«
Ein Jammergeschrei schien seine Worte zu bestätigen. Isegrim saß mit beiden Vorderfüßen in den Eisen, aus denen er nicht wieder loskommen sollte; als die Männer den Stall betraten, riß er so verzweifelt an seinen Fesseln, daß das Blut herabrann, aber ganz umsonst, die Bauern erschlugen ihn an Ort und Stelle mit großen hölzernen Keulen, die sich eigens zu diesem Zweck in einer Ecke vorfanden.
Es war kein Schaf beschädigt; der Räuber hatte das arme, als Lockspeise dienende Lämmchen nicht mehr erreichen können. Onnen löste mitleidig seine Bande und trug das zitternde Tier in die entfernteste Ecke, wohin ihm das Mutterschaf sogleich folgte, um »Baby« trinken zu lassen und ihm durch die eigene vertraute Nähe einigermaßen seine verlorene Zuversicht wieder zurückzugeben.
»Im Augenblick sind wir nun von den Wölfen befreit«, seufzte der Dorfälteste, »aber auf wie lange? Es gibt einen strengen Winter; da werden wir also noch manche Belagerung aushalten müssen.«
»Wiederholen sich denn diese Vorgänge alljährlich?«
»Immer. Der Landmann kennt keinen Winter, in dem nicht die Wölfe versucht hätten, sogar sein Haus zu stürmen und womöglich das Kind aus der Wiege zu stehlen.«
»Und das sagt Ihr so ruhig, als könnte es gar nicht anders sein?«
»Das kann es auch wirklich nicht. Viele Geschlechter mögen noch geboren und wieder begraben werden, ehe die Wölfe aus unseren Dörfern verdrängt sind!«
»Das ist ja schrecklich! – Komm, Feiko, laß uns eilen; die Bestien lungern vielleicht in der nächsten Nähe.«
»Aber sie greifen bis jetzt keine erwachsene Person tätlich an, das heißt, wenn dieselben zu Fuß gehen; den Wagen laufen sie nach.«
Eine Anzahl Fackeln wurde herbeigebracht, noch einmal ging die Branntweinflasche von Hand zu Hand, dann verabschiedeten sich die Deutschen, um das Dorf, in dem sie augenblicklich wohnten, wieder zu erreichen.
Unter den Füßen knisterten die Flocken, schwarze blattleere Zweige rauschten im Wind. Hie und da strich ein Häschen, lüstern nach den Kohlfeldern der Bauern, eilig über den Weg, während Scharen von Krähen und Raben aus den Höfen aufflogen, wo sie die Küchenabfälle durchwühlt und alles Genießbare gierig verschlungen hatten.
Wie schnell war auf den glühenden Sommer der kalte Herbst gefolgt. Unter sengender Sonne verbrannte Smolensk – und schon jetzt, so kurz danach, wirbelten wenigstens hier oben in den Bergen Eisnadeln durch die Luft.
Alles so kirchenstill und friedlich, so das Bild vollkommenster ländlicher Ruhe – und doch donnerten unten in den Ebenen des Landes die Geschütze, doch zog die Furie des Krieges in blutrotem Mantel durch alle Gaue und trieb Angst und Schrecken millionenfach vor sich her.
Was mochte geschehen sein seit den Tagen von Smolensk?
Ein Licht bewegte sich zwischen den Bäumen, dunkle verhüllte Gestalten trugen einen schweren Gegenstand hinaus in den Wald; leiser Gesang erscholl von dem düsteren Zuge her.
»Was bedeutet das, Alexei?«
»Raskolnijken sind's!« erklärte der Zigeuner. »Altgläubige, die weder den Kaiser noch die Kirche, weder das Gesetz noch die Familie anerkennen. Sie leben, ihrem Gelübde nach, als Nomaden und dürfen nicht innerhalb geschlossener Wände sterben.«
»Deshalb tragen die Männer dort einen Kranken hinaus in den schaurigen blätterlosen Wald zu den wilden Tieren?«
»Ja. Es ist der alte Michailow, er war schon lange krank und hinfällig.«
»Herr des Himmels, welcher Unfug!«
Die Deutschen waren jetzt dem Zuge ganz nahe gekommen. Männer mit langen Mönchsgewändern und dichtanschließenden Kapuzen von gleichem Stoffe, alle ein Kreuz in den Händen, folgten der Bahre; mehr als fünfzig ältere Leute, offenbar aus der Umgebung des Dorfes hierher berufen, um den Glaubensbruder in ihrer Mitte sterben zu lassen. Jeder Mann trug ein Öllämpchen, keiner nahm von den Zigeunern irgendeine Notiz.
Als der Zug vorüber war, schlossen sich die Gebüsche. Der Wald hatte sein Opfer empfangen, um es nicht wieder zurückzugeben. »Und wenn nun der Kranke noch bis morgen, ja wenn er noch Tage lebt, Alexei? Was geschieht dann?«
»Die Raskolnijken halten bei ihm aus, und erst wenn sie den Genossen begraben haben, zerstreuen sie sich wieder nach allen Himmelsrichtungen.«
»Um zu vagabundieren, zu betteln?«
»O, durchaus nicht. Meistens sind die Leute Holzfäller, oder sie leben, solange es das Wetter erlaubt, als Einsiedler in der Nähe von Klöstern und flüchten erst bei dem Eintritt der Kälte in die bewohnten Dörfer.«
»Michailow handelte mit Holzschuhen, die er im Sommer schnitzte«, fügte Jasko hinzu.
»Und jetzt kämpft er den letzten Kampf auf eisiger Erde, ohne Kopfkissen, ohne Decke – wie traurig!«
Feiko schüttelte sich. »Ich habe in den letzten drei Jahren keinen nordischen Winter mehr gesehen", sagte er, "dieser Ostwind behagt mir nicht ganz.«
Alexei lachte. »Das hier nennst du also den Winter, Herr? Wie wird dir's ergehen, wenn er erst wirklich hereinbricht?«
»Dann sind wir hoffentlich nicht mehr in Rußland! Vorwärts, vorwärts, ich sehne mich nach einem tüchtigen Feuer und wärmenden Decken.«
Der Wind pfiff um die Hütten, alle Fenster waren dunkel, nur aus dem des alten Zigeuners glänzte noch schwacher Lichtschein. Mikosch lag mit gestütztem Kopfe und sah in die Flamme, neben ihm kauerte auf dem Stroh der Bär.
Eine wohltätige Wärme drang den jungen Leuten entgegen. Sie schliefen nach der Anstrengung der letzten Tage doppelt tief und nahmen dann etwas später von ihren freundlichen Wirten den letzten Abschied. Mikosch hatte es eilig, nach Moskau zu kommen, er überschlug sogar mehrere Dörfer und beschleunigte, je näher er der Zarenstadt entgegenging, umso mehr seine Schritte.
In der Ebene herrschte bange Furcht vor den heraufziehenden Ereignissen; alle Leute lebten in peinvoller Unruhe. »Er kommt, der Antichrist, er kommt! Wenn ganz Rußland besiegt und niedergeworfen daliegt, dann bricht der jüngste Tag herein!«
»Moskau soll nicht verteidigt werden«, meinten einige. »Der Räuber findet es offen und leer, er mag einziehen, wann er will.« Die große Schlacht bei Borodino war geschlagen und das Volk tief entmutigt. »Gott hat Rußland verlassen«, sagten alle Leute. Noch war bis hierher kein Franzose vorgedrungen, aber dennoch herrschten die Schrecken des Krieges. Flüchtige verließen ihre Häuser, Wertsachen wurden vergraben, Viehherden weggetrieben, Kähne und Fuhrwerke beladen.
An russischem Militär fand sich nichts mehr vor. Um Moskau sollte nach des Kaisers Willen nicht gekämpft werden. Mikosch schien sehr zufrieden. »In der Hauptstadt machen wir gute Geschäfte«, erklärte er. »Vielleicht wird Moskau unser Winterquartier.«
»So daß wir erst im Frühling nach Deutschland zurückkämen?« Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Um einige Monate darf nicht gerechnet werden, Kinder. Ich muß Geld verdienen, um eine große Familie zu ernähren und habe dafür gerade jetzt eine günstige Gelegenheit – was euch betrifft, so seid ihr hier in Rußland vollkommen sicher, in Deutschland dagegen würde man euch erkennen und als Deserteure behandeln.«
»Mikosch hat recht!« rief Georg. »Wir sind ihm zu größtem Danke verpflichtet.«
Feiko schwieg. Seine Sehnsucht nach dem Meere verließ ihn nicht, aber er sah ein, daß sie jetzt unerfüllbar sei; mit heimlichem Seufzer bestieg er den Wagen des Zigeuners und teilte gleich den beiden anderen die Mahlzeiten, welche den wandernden Bärenführern und Bettelmusikanten von gutmütigen Menschen geschenkt wurden.
Niemand tanzte mehr, wenn die Geigen der Zigeuner so süß und lockend erklangen, niemand brachte zerbrochenes Geschirr oder kranke Tiere, aber die weinenden Frauen öffneten bereitwillig ihre Speiseschränke und ließen die Söhne des braunen Volkes im Winkel der Isba schlafen. Es war ja eine traurige Zeit – vielleicht galt es schon über ein kleines, unter den Streichen der Feinde zu erliegen und vor Gottes Thron zu erscheinen; da hatte man denn an den armen Zigeunern vorher ein gutes Werk getan.
Nach mehreren Tagen war der Berg des Heils erreicht und von seiner Höhe herab sahen die Reisenden Moskau im Tale zu ihren Füßen daliegen. Helle, kalte Luft wogte um die zahllosen Türme und Kuppeln, um Schlösser und Kirchen; helle, kalte Luft zeigte die Riesenstadt im ganzen Schmucke ihrer unvergleichlichen, morgenländischen Pracht. Aber neben dem blendenden Glanze des Reichtums und der Schönheit erregte auch ein anderer Anblick das Gefühl der Trauer, der Beklemmung. In langen Zügen verließen mit hochbeladenen Wagen die Einwohner ihre Heimat; man flüchtete und ließ hinter sich die Öde zurück, jene Reihen stolzer Paläste und altehrwürdiger Kaufmannshäuser, die dazu bestimmt waren, wenige Wochen später als lodernde Riesenfackeln den ewig denkwürdigen und schmachvollen Rückzug Napoleons aus dem nie wirklich bezwungenen Rußland grell und schrecklich zu beleuchten.