Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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11

Noch heute ist der russische Urwald zum größten Teil ohne Forstkultur; damals war er es ganz. Bären und Wölfe, Auerochsen und Füchse beherrschten das Gebiet. Der Mensch kam nur hinein, um Holz zu fällen, unbekümmert, wer jungen Nachwuchs ziehen, wer das Vorhandene pflegen und sich um das Künftige bemühen werde.

Eine solche Wildnis, undurchdringlich im Winter, ist im Sommer malerisch schön und anmutig, dennoch aber fanden die Soldaten den Weg durch dieselbe sehr unbequem: Dichter Efeu spann seine grünen Arme von Baum zu Baum, Dickichte und Flächen voll stachliger Gebüsche nötigten nicht selten zu Umkehr oder zu weiten Umwegen.

Hie und da glänzte silbern ein stiller See, aber keine Menschenwohnung zeigte sich in der Nähe. Das Regiment lagerte gegen Mittag an den Ufern eines klaren Flusses; große Feuer wurden entzündet, um die mitgenommenen Vorräte zu kochen, Wachtposten umgaben nach allen Seiten den ausgedehnten Platz. Ein tiefer Waldesfriede lag auf der Umgebung. Wie lichtgrüne Quasten hingen die Blüten des Hopfens überall von den Bäumen herab, in brennendem Rot glänzten die Fruchtbüschel der Eberesche; ein dichtes Blätterdach hinderte die Sonnenstrahlen, den weichen Moosboden zu treffen – nur hie und da zitterte auf den Blüten ein goldiger Schein oder fiel wie ein hell schimmerndes Band von dem Stamme einer uralten, vielfach zerborstenen Eiche herab.

Gegen den Fluß hin waren keine Wachtposten ausgestellt. Das Wasser schien seicht und sein Lauf vielfach gekrümmt, überall hingen Baumzweige bis auf die hüpfenden Wellen herab. Es sang und flötete, es zwitscherte und lockte, aus jedem lauschigen grünen Versteck.

Das Feuer begann zu erlöschen, die Pfeifen wurden als Nachtisch in Brand gesetzt. Unter einer Rieseneiche lagen die Freunde langgestreckt im Moos und plauderten von der Heimat, der nächsten Zukunft, von allem, was ihre Herzen bewegte.

»Hast du den Fluchtplan aufgegeben, Feiko?« fragte Onnen.

Der Steuermann lächelte. »Durchaus nicht, mein Junge. Aber ich will die günstige Gelegenheit erwarten und diese fehlt bis jetzt.«

»Das ist auch meine Ansicht«, stimmte Georg Wessel ein. »Wir müssen erst zur Armee stoßen und geduldig ausharren, bis ein Hauptschlag gefallen ist – natürlich gegen die Franzosen. Dann, auf dem Rückzuge, verschwinden wir eines Tages.«

»Ach«, seufzte Onnen, »wie lange ist das noch! Und vielleicht –«

»Pst! – da unter den Zweigen regte sich etwas Lebendiges!«

»Wo?«

»Unter den Weiden!«

Sie beobachteten alle den angedeuteten Punkt; Feiko nahm leise das Gewehr zur Hand und richtete sich auf. »Vielleicht ein hungriger Wolf!« flüsterte er.

»Die wagen sich am hellen Tage nicht so nahe herbei!«

»Da! da!« rief Onnen. »Ein schwarzer Kopf!«

In diesem Augenblick teilten sich die Zweige und eine große, plumpe Gestalt trat, das Wasser durchwatend, auf den Uferrand. Ihr folgten mehrere etwas kleinere und schließlich ein paar unbeholfene Tierchen, die kaum mit den Schnauzen aus dem Wasser hervorragten.

»Eine Wisentfamilie!« rief Feiko. »Auerochsen!«

Hunderte von Stimmen erhoben sich zugleich; die Jagdlust war geweckt, alle Müdigkeit vergessen. Der Hornist blies ein Signal zum Angriff, wenigstens zwanzig der verwegensten jungen Leute sprangen in das Wasser, um den Tieren den Rückweg abzuschneiden.

Der alte Leitstier warf den Kopf auf; er schien erstaunt. Aus seiner mächtigen Brust drang ein Ton wie fernes Donnergrollen; er scharrte mit dem Vorderfuße das Moos auf.

Zwanzig Schüsse krachten zugleich. Das gewaltige Tier drehte sich im Kreise, taumelte und raffte dann alle seine Kräfte zusammen; mit gesenktem Kopfe stürzte es sich gegen die Reihen der Soldaten.

Alles flüchtete, alles geriet in Bewegung; man umstellte den verwundeten Stier, scheuchte ihn mit Feuerbränden, mit Trompetengeschmetter und Geschrei, bis er in ein Dickicht getrieben war und dort zusammenbrach. Ein Schuß aus nächster Nähe setzte seinem Leben ein plötzliches Ziel.

Die übrige Herde hatte unterdessen versucht, an irgendeiner günstigen Stelle durchzubrechen. Führerlos, auf das äußerste erschreckt, stampften die Tiere den Boden, kläglich brüllend und schreiend, dabei unablässig verfolgt von den Jägern, die weit über die Postenlinie hinaus nachsetzten und immer erbitterter ihre Beute verfolgten, je weniger sie auf dem unebenen beschwerlichen Wege hoffen durften, derselben habhaft zu werden.

Feiko und Onnen jagten ein halbwüchsiges Kalb. Das Tier lief behende unter den Gebüschen dahin, es war schneller als seine Verfolger und wäre auch ohne Zweifel entkommen, wenn nicht irgendein unerklärbares Etwas plötzlich die eilende Flucht gehemmt hätte. Das Kalb fuhr wie im Erschrecken zurück, drehte sich kurz um und lief den beiden Jägern gerade in den Schuß.

Die Gewehre knallten zu gleicher Zeit; das hübsche Tier sprang hoch empor und fiel dann tödlich getroffen zu Boden.

»Hurra!« rief Onnen. »Das ist ein annehmbarer Braten.«

»Aber was war es wohl, vor dessen Anblick das Tier so heftig erschrak?«

Feiko prüfte das nächste Gebüsch, er horchte und spähte, aber ohne irgend etwas Auffälliges entdecken zu können; dann kehrte er zu dem erlegten Kalbe zurück und beide glückliche Schützen trugen es unter Aufbietung aller ihrer Kräfte ins Lager.

Von einem Baume herab sah Adam Witt unruhig nach allen Seiten. Er hatte noch das weiße Leinentuch um den Kopf gebunden und glich so mit dem blassen sorgenvollen Gesicht einer alten Frau in französischer Infanterieuniform wie ein Wassertropfen dem anderen. Die beiden Jäger grüßten ihn laut lachend; gaben ihm die Versicherung, daß alle Feinde erlegt seien, und forderten ihn auf, zum frischen Kalbssteak herunterzukommen; er antwortete nur durch eine Grimasse.

Oberst Jouffrin ging den jungen Leuten entgegen. »Gute Beute, meine Kinder«, sagte er schmunzelnd, »gute Beute! Ich bitte mich bei euch zu Gaste. Aber was war das da unten, hm? Dies Tier witterte ohne Zweifel einen Feind; es hatte einen Grund, so plötzlich umzukehren!«

»Das ist auch unsere Ansicht, Herr Oberst, aber zu entdecken war nichts.«

»Einerlei, einerlei, wir müssen uns überzeugen. Es ist immerhin möglich, daß russische Streifkorps hinter den Gebüschen stecken.« Er ließ dann seine Leute antreten und gebot: »Freiwillige vor!«, worauf mehr als hundert der verwegensten Gesellen sich meldeten und nun mit geladenen Gewehren die Rekognoszierung unternahmen.

Eine Spitze von zwei Mann eröffnete den Zug. Schritt um Schritt wurde möglichst geräuschlos zurückgelegt, immer tiefer drangen die Franzosen in den grünen Urwald hinein, über gestürzte mächtige Baumriesen kletternd, vorbei an Sümpfen, an Schilf und Binsen, aber nichts Besonderes zeigte sich.

Meister Reineke im roten Pelz, haarlos und schäbig, strich über den Weg, Scharen von wilden Hühnern, Tauben und Sumpfvögeln flogen auf, eine Hasenfamilie verschwand schattengleich vom Weideplatz. Überall herrschte tiefe Stille. Plötzlich legte ein Soldat den Finger auf die Lippen; er winkte. Die ganze Schar stand wie gebannt; aller Augen blickten hinüber zu einer Stelle, die der Vordermann angedeutet hatte. Dort erhob sich, nur mit einer einzigen Ecke sichtbar, ein Brettergebäude, eine roh behauene Hütte ohne Fenster – was war das? Rings kein betretener Weg, kein freier Plan, nichts, das auf eine menschliche Niederlassung hinzudeuten schien; nur das graue niedere Bauwerk sah aus dem Gebüsch hervor. Vielleicht lag hinter demselben noch eine ganze Reihe ähnlicher Hütten, ein Lager, in dem die Russen steckten.

»Sucht Deckung!« befahl der mitgegangene Offizier. »Zwei Mann zum Rapport an den Obersten, aber rasch!«

Hie und da im Unterholz, hinter Baumstämmen und Gebüschen verschwanden die Soldaten. Der Raum wurde leer, eilenden Schrittes liefen die Ordonnanzen ins Lager zurück. Feiko und Onnen standen beieinander; beide beobachteten das sonderbare Haus – da sahen sie plötzlich, daß sich ein Brett verschob und daß im Rahmen desselben ein bärtiger Kopf erschien. Blitzschnell zog sich der Mann nach kurzer Umschau wieder zurück.

Der Bau war also doch bewohnt, aber seine Insassen wollten nicht bemerkt sein.

Die Herzen schlugen schneller. Vielleicht stand jetzt das erste kriegerische Abenteuer unmittelbar bevor, vielleicht würde binnen wenigen Viertelstunden das Moos rot gefärbt scheinen vom Blute der Opfer.

Im Geschwindschritt näherte sich das Regiment. Man hatte alles Gepäck zurückgelassen und sammelte sich jetzt in einiger Entfernung vor dem verdächtigen Gebäude; Oberst Jouffrin befehligte selbst die Truppen.

»Das Haus wird umzingelt, Leute! Die eine Hälfte geht nach rechts, die andere links. Sucht unter Deckung zu kommen.«

Das Militär schwärmte aus. Onnen und Feiko schlichen mit ihrem Zuge an den Ufern des Flusses dahin, in weitem Bogen um das Gebäude herum – plötzlich klang ein heller Ton durch die Sommerluft; es wieherte ein Pferd.

»Aha!« flüsterte der Offizier. »Es sind also doch Soldaten!«

»Wo hält sich Adam Witt versteckt?« forschte Onnen. »Ich sehe ihn nicht«

»Er ist bei dem Gepäck geblieben«, lächelte ein anderer. »Seine Wunde hatte sich plötzlich so sehr verschlimmert, daß es ihm unmöglich war aufzustehen.«

»Ach, der Arme!«

Und alle drei lachten leise. Adam Witt war viel zu schlau, um dahin seine Schritte zu lenken, wo möglicherweise Kugeln durch die Luft fliegen konnten.

»Es scheint eine ganze Reihe von Holzgebäuden nebeneinander zu stehen«, meinte wieder der Leutnant. »Ich sehe die gekreuzten Latten.«

»Wir auch«, nickten die Soldaten.

»Also ganz geräuschlos, ganz langsam, Kinder!«

Der Vortrab des an der anderen Seite marschierenden Zuges war erreicht und somit die Niederlassung umzingelt.

»Zusammentreten!« befahl der Oberst.

Das Kommando lief von Mund zu Mund; schleichend wie Katzen zogen die Soldaten den Kreis immer enger und enger.

Drinnen im feindlichen Lager rührte sich nichts.

Die gekreuzten Latten schimmerten in langer Linie durch das Grün; es mußten nach der Schätzung des Obersten mindestens fünfzig oder sechzig Baracken vorhanden sein.

»Wir wollen den Fuchs zum Loche heraustreiben«, rief er. »Zielt gut Kinder! – Feuer!«

Ein Hagel von Gewehrkugeln schlug prasselnd in die Holzdächer, der Donner widerhallte mit zehnfacher Stärke, blauer Pulverdampf umzog die Baumwipfel.

Und dann geschah etwas ganz Unerwartetes. Anstatt einer antwortenden Salve tönte ein einziger gellender Schrei, anstatt der vermeintlichen russischen Truppen erschien vor dem zuerst entdeckten Hause die in Lumpen gehüllte Gestalt einer alten Frau. Sie trug russische Bauernkleidung und schien mit der kurzen Pfeife zwischen den Lippen außerordentlich häßlich, ihre Faust drohte ins Leere, der zahnlose Mund sprudelte offenbar bitterböse Worte.

Einen Augenblick waren die Soldaten vor Erstaunen sprachlos, dann aber schallte durch die Reihen ein dröhnendes Gelächter, unaufhaltsam drangen die jungen Leute gegen das Holzgebäude vor und an der zeternden Alten vorüber zur Tür.

Sechs Männer standen in dem inneren Räume, eine kranke ächzende Frau lag auf einer Bank und in der Hütte neben dem größeren Hause fanden sich zehn Pferde – die vermeintlichen sonstigen Baracken dagegen waren große Holzstapel, weiter nichts.

Oberst Jouffrin mußte schließlich selbst lachen, obwohl ihn die Erbitterung des Gefopptseins immer noch beherrschte. »Alle Teufel«, rief er, »was macht ihr hier, Leute?«

»Wir sind Heimatlose, Herr!«

»Was ist das – Heimatlose?«

»Ja. Wir arbeiten für einen Holzhändler in Petersburg und ziehen im Walde hin und her, wo gerade die besten Stämme stehen. Unsere Pferde bringen im Herbst das Holz bis an einen größeren Fluß und von da treibt es in die Newa.«

»Ihr habt also kein Dorf, keine feste Wohnstätte?«

»Nein. Der Holzfäller kauft im Herbst und im Frühling seine Vorräte, sonst aber lebt er einsam im Walde, meilenweit von den Wohnungen der Bauern.«

Oberst Jouffrin wandte sich ab. »Détestable!« murmelte er. »Herr Leutnant, führen Sie die Soldaten wieder zu unserem Lagerplatz zurück.«

Dann ging er fort, die armen Holzfäller verwünschend. Sein ganzes Regiment lachte noch immer, das verdroß ihn gewaltig.

Alle Balken ringsumher waren mit Flintenkugeln gespickt. Die Soldaten fanden das Abenteuer außerordentlich spaßhaft, sie drangen in die Hütte und besahen dieselbe von allen Seiten. Eine schreckliche Wohnung! Vier Pfähle in die Erde gerammt, ein paar vermorschte Bretter als Fußboden, Bänke aus unbehobeltem Holz an den Wänden, ein Heiligenbild, ein Tisch und ein Ofen – mehr fand sich darin nicht vor.

Unter den Bänken lagen in Säcken Mehl und Hülsenfrüchte, sowie Kartoffeln, die einzige Nahrung dieser armen Nomaden, denen damals wie heute noch von dem Holzhändler ein erbärmlicher Lohn bezahlt wurde, kaum genug, um sich an trockenen Gemüsen sättigen zu können.

Manche Gabe floß aus den Händen der jungen Leute in die der Heimatlosen. Es war ein zu bejammernswürdiges Dasein, das sie führten; nicht einmal einen Schornstein besaß das Bretterhaus, kein Fenster, keine wirkliche Tür, sondern nur ein Loch in der Wand, aus dem der Rauch den Ausweg fand und das in der Nacht durch eine Art Luke verschlossen wurde.

»Aber wie macht ihr es denn im Winter?« fragte Onnen. »Ihr müßt ja erfrieren!«

»O nein, Herr«, lächelte der Mann. »Wir haben unsere Schafspelze – und dann schneit auch die Hütte ein.« »Herr des Himmels, welch ein Los! Dagegen sind wir Norderneyer, denen so oft im Winter der Verkehr mit dem Festlande abgeschnitten wird, doch noch reiche Leute!«

»Hört einmal«, meinte Feiko, »wir haben einen Wisent geschossen – wollt ihr ihn haben? In unserem Besitze ist augenblicklich noch Fleisch genug.«

Die Leute küßten in überströmender Dankbarkeit die Waffenröcke ihrer jungen Gönner. Man hatte ihnen von den Franzosen soviel Böses erzählt, und nun waren sie die liebenswürdigsten Leute von der Welt, verschenkten sogar Fleisch! Die armen ungebildeten Arbeiter nannten den Tag ihrer ersten Begegnung mit den Feinden des Landes einen wahren Glückstag.

Als der ganze Zug singend und lachend den Lagerplatz wieder erreicht hatte, fand sich der Stier unverletzt vor; es gelüstete offenbar keinen der Soldaten nach dem harten Fleische, die Holzfäller dagegen nahmen dankbar den ungeheuren Körper in Empfang, schlachteten ihn aus und schleppten den Braten in ihre schreckliche Höhle. Sie wollten jede Hand küssen, die ihnen erreichbar war.

Unter allen diesen Vorgängen rückte die Dämmerung heran, das saftige Kalbssteak prasselte in der Blechpfanne, eine kräftige Suppe sandte ihre Dampfwolken gen Himmel, und Brot und Branntwein kamen aus den Tornistern hervor. Es war für den Weitermarsch jetzt zu spät geworden, man mußte im Walde biwakieren und sich behelfen, so gut es ging. Das Regiment besaß keine Zelte oder Baracken, nicht einmal Decken. Es zog plündernd durch das Land, dem allgemeinen Sammelpunkte bei Smolensk entgegen und durfte keine anderen Ansprüche erheben als nur solche, die es auch mit eigenen Kräften befriedigen konnte.

Der Mond bildete, so gut seine weißen Strahlen das Laubdach zu durchdringen vermochten, die einzige Beleuchtung, das Kissen war ein grüner Moosteppich und die Decke der Mantel. An drei Seiten brannten große Feuer; Wachtposten mit aufgepflanztem Bajonett standen überall. » Weißt du, was ich immer denken muß?« flüsterte Onnen. » Wenn doch die Hütte der Heimatlosen unentdeckt geblieben wäre, das heißt, wenn wir allein sie aufgefunden hätten!«

»Um uns darin zu verstecken, ich weiß es wohl. Aber tröste dich, Vetter, die rechte Stunde kommt früher oder später doch!«

Onnen seufzte. »Meile nach Meile führt uns immer tiefer in das Herz des Landes hinein – die Flucht wird täglich schwerer.«

Auch Georg Wessel war verstimmt. »Hätte man doch bei den Holzfällern bleiben können! Es ist zu trostlos, als Räuber im Lande herumzuziehen.«

»Wohin wir nun wohl morgen verschlagen werden?«

»Das weiß ich zufällig von den beiden Führern, welche der Oberst mitgenommen hat. Am Saume dieses Waldes liegt ein uraltes reiches Mönchskloster.«

»Aha, da stehlen wir wieder Altargeräte!« »Wenn diese nicht vorher in Sicherheit gebracht worden sind! Wahrscheinlich liegen sie in den Gewölben des Kreml oder der Peter-Paulsfestung.«

Ein blasses Gesicht erhob sich und horchte nach den Dreien hinüber. Es war Adam Witt, der sie nie ganz aus den Augen verlor, ihr Hüter, ihr Todfeind, der sie dem Verderben mit lachendem Munde ausgeliefert haben würde – lieber in dieser, als in der nächsten Stunde.

»Bemühe dich nicht, Adam«, rief Onnen, »wenn es zur Flucht geht, sagen wir's dir!«

Der andere duckte sich, ohne eine Silbe zu erwidern.

Allmählich senkte sich der Schlaf auf die müden Augen. Eine ruhige Nacht folgte dem beschwerlichen Marsche des letzten Tages; erst spät am folgenden Morgen wurde Reveille geschlagen.

Noch gab es Vorräte – für das weitere mußte der Himmel sorgen.

Die beiden Führer brachten das Regiment auf dem kürzesten Wege aus dem Walde heraus und zur Landstraße, die nach dem Kloster führte. Dörfer mit Holzhäusern schimmerten hie und da herüber, dann kam ein wüster Heidestrich und zuletzt eine belebtere Gegend.

Hie und da lagen Bauernhöfe ohne Gärten und Bäume, kahl in kahler ärmlicher Umgebung, mit unverhüllten Fenstern und niederen Dächern. An eine dieser Türen wurde vergeblich geklopft, und dann der ganze Raum durchsucht – es war offenbar niemand daheim.

Nur in der »Isba« (der großen Stube) schimmerte unter dem Heiligenbilde die ewige Lampe, sonst war kein Lebenszeichen zu entdecken.

Auf einem zweiten Gehöfte ging es ähnlich, so daß der Oberst voll Erstaunen den Kopf schüttelte. »Wo mögen sich die Leute befinden?«

Ein junger Eingeborener der Nationalgarde konnte Auskunft geben. »Im Kloster wird heute das Fest des heiligen Gregor gefeiert«, sagte er. »Das Bild desselben gilt als wundertätig und die Bauern beten es an.«

»So daß wir eine große Volksmenge versammelt finden werden?«

»Ja, höchstwahrscheinlich.«

Der Oberst schwieg. Die Nachricht hatte ihn sehr verstimmt, wie es schien. Wenn Hunderte von handfesten Bauern die Schätze des Klosters verteidigten, so konnte er sie nicht erlangen, ohne den Leuten eine förmliche Schlacht zu liefern – und das würde doch der Kaiser schwerlich verziehen haben.

Verdrießlich ritt er weiter. Die sogenannte Landstraße war ein roh aufgeworfener, holperiger und lückenhafter Damm, der im Winter vollkommen unpassierbar sein mußte. Nirgends stand ein Baum, ein Meilenstein, ein Wegweiser, nirgends konnten die Soldaten dem glühenden Sonnenbrande, den Legionen von Stechmücken auch nur einen Augenblick lang ausweichen.

Auf den Gepäckwagen lagen mehrere Fieberkranke, andere schleppten sich nur noch mühsam fort, alle ohne Ausnahme litten unter der Hitze und dem Mangel an irgendwelchen Erquickungen.

Es gab keine Gärten, keine wildwachsenden Früchte, ja sogar nur wenige Gräben, in denen sich ein schmutziges Wasser fand. Weite Felder dehnten ihre unübersehbaren Flächen, dazwischen lagen Sümpfe, Moräste – wüste Striche.

Endlich traten die Umrisse der Klostergebäude fern am Horizont deutlich hervor und nun wurde die Aufmerksamkeit unserer Freunde auch in anderer Weise gefesselt.

Auf niederen Karren, mit einem einzigen Klepper bespannt, hockten ganze Familien, von der alten Großmutter bis zum Säugling; Frauen, Mädchen und Kinder, die den Sack mit Lebensmitteln zwischen sich stehen hatten. Neben dem Gefährt gingen die Männer und Dienstboten.

Je weiter die Soldaten vorrückten, um so mehr derartiger Züge begegneten ihnen, stattliche Bauern und reichgekleidete Frauen, hübsche blonde Kinder, die den bunten Gestalten unbefangen ihre Händchen entgegenstreckten.

Alle diese Leute erschraken, sobald sie der Franzosen ansichtig wurden, auf das äußerste. Einige wendeten das Pferd und entflohen schleunigst, andere warfen sich am Wegesrande auf die Knie, als erwarteten sie, im nächsten Augenblick angegriffen zu werden.

Dazwischen erschienen wieder einzelne zu Fuß gehende Frauen, in Lumpen gehüllt, blaß und vergrämt, meistens mit einem kleinen Kinde im Tragetuch und mehreren größeren neben sich; diese streckten den Soldaten ihre Hände entgegen.

»Eine Kopeke, Väterchen, eine kleine Kopeke! Die arme Wjera hat kein Haus, nichts zu essen für ihre Kinder, keine Schuhe an den Füßen, sie ist so unglücklich!«

Die Leute gaben hie und da ein paar Kupfermünzen oder ein Stück Brot. »Hast du denn keinen Mann mehr, Wjera?« fragte einer von der Nationalgarde, aber er lachte dabei, als wolle er sagen: »Mich hintergehst du nicht, Frau, ich kenne den Schwindel!«

Die Bettlerin wiegte den Kopf. »Gewiß, Herr, gewiß. Der arme Dimitri sucht ein paar Kopeken zu verdienen!«

»Das heißt doch, er bettelt mit derselben Leidensmiene wie du? Weshalb seid ihr beide denn so außerordentlich unglücklich?«

»Unser Haus ist abgebrannt, Herr, das ganze Dorf. Es war von Holz.«

Der junge Gardist lachte wieder. »Ich konnte mir's denken!« rief er. »Na, gehab dich wohl, Wjera, und bringe das Geld nicht in die nächste Schenke.«

Die Bettlerin antwortete nichts; sie schien den Spott keineswegs übel genommen zu haben, sondern streckte die Hand gleich dem nächsten Wagenzuge entgegen. Nach ihr kamen andere, und wenn der Gardist zum Spaße wieder fragte: »Was fehlt dir denn, Mütterchen?«, so erhielt er die Antwort: »Unser Dorf brannte ab; es war von Holz.«

Die Deutschen hörten von den Eingeborenen zu ihrem größten Erstaunen, daß an den meisten dieser Behauptungen kein wahres Wort sei, sondern daß ganze Niederlassungen mit zum Teil wohlhabenden Grundbesitzern nur vom Bettel lebten. Sie bereisten mit eigenem Fuhrwerk die Volksfeste und Feierlichkeiten aller Art, solange die gute Jahreszeit andauerte, und kehrten dann, beladen mit Geld und Lebensbedürfnissen, in die Heimat zurück Das wußten alle, deren Wohltätigkeit in Anspruch genommen wurde, aber sie gaben trotzdem mit vollen Händen. Das Gnadenbild im Kloster sollte ja heute ihnen selbst irgendeinen langgehegten Wunsch erfüllen, sie von einer Sorge oder einem körperlichen Leid befreien – wie konnten sie da die Bettler unbeschenkt lassen?

Je mehr man sich dem Kloster näherte, desto zahlreicher wurden die Pilgerscharen. Auch arme Bauern kamen herbei, langbärtige Männer mit Stöcken; Frauen, die kaum notdürftig bekleidet waren, barfuß und ohne Hut, aber in der Hand irgendeine Opfergabe und wenn es nur ein paar Eier waren, ein Pfund Wolle oder ein selbstgefangener Hase.

Hell und klar zeigten sich als einziger Trost auf dem ermüdenden, endlos scheinenden Wege die Kuppeln und Türme des Klosters. Ein uralter Bau in Kreuzform aufgeführt, aus der ersten christlichen Zeit, graue eisenfeste Mauern, hinter deren weitem Rund schon ganze Dörfer Schutz und sichere Zuflucht gefunden hatten, wenn wilde asiatische Horden das Land überfluteten. Hoch und majestätisch erhoben sich Kuppeln und Rundbogen, ein wetterfestes graues Dach, an dem die Jahrhunderte spurlos vorübergezogen waren. Um den ganzen Besitz herum lief weitgedehnt eine unübersehbare Mauer aus behauenen Felsen.

Das vordere Tor stand heute offen. Wagen nach Wagen, Zug nach Zug verschwand hinter den eichenen, eisenbeschlagenen Flügeln, und als endlich auch die Spitze des Heereszuges anlangte, da mußte die Meldung von seinem Kommen dem Prior des Klosters schon hinterbracht worden sein, denn er selbst mit mehreren Mönchen stand auf der Treppe, um die Gäste zu empfangen.

»Vorsichtig!« ermahnte der Oberst. »Es darf nichts erzwungen werden!«

Der ganze Hof war mit Bauern angefüllt. Sie lagerten auf ihren Karren, auf Stroh und Decken, sicher des gewaltigen Schutzes, den ihnen das Kloster gewährte, neugierig der Dinge harrend, die da kommen sollten.

Ein Greis mit weißem, lang herabwallendem Barte begrüßte den Obersten. Er trug das wie ein Frauenkleid bis auf die Füße reichende Klostergewand mit dem am Saume eingenähten Kreuze, die Kapuze und die Sandalen, außerdem auf der Brust eine schwere goldene Kette, an der das Kreuz hing. Ruhig und ernst erwartete er die Anrede des Soldaten.

Dieser verfuhr sehr schlau; er bat zunächst nur um Aufnahme für einige Stunden, um Lebensmittel und eine Streu für Menschen und Tiere.

Der geistliche Herr nickte Gewährung. »Das Kloster selbst kann so viele Gäste nicht beherbergen«, sagte er, »aber in dem zu demselben gehörenden Dorfe werden Sie ein Unterkommen finden. Dort liegen die Gehöfte!«

Er deutete zu einer Anzahl von Gebäuden hinüber und fügte dann bei, daß die Herren Offiziere ihm in den Gastzimmern willkommen sein würden.

Der Oberst zögerte noch. »Meine Leute beanspruchen nichts als ein wenig Stroh, Herr Prior«, sagte er, »sie nehmen fürlieb mit einem Platze im Klostergarten.«

Der geistliche Herr zuckte die Achseln. »Auch dort ist der Raum beschränkt, Herr Oberst! Ich kann Ihre Soldaten nicht auf das Gemüseland betten.«

Dabei blieb es. Die beiden Männer maßen einander mit Blicken, in denen mehr enthalten war, als alle Worte sagten, die aber doch an dem Entschlüsse des geistlichen Herrn nichts zu ändern vermochten. »Dürfen meine Leute auch an der stattfindenden Feierlichkeit keinen Teil nehmen?« fragte endlich der Offizier.

»O natürlich, natürlich«, war die schnelle Antwort. »Sie sind Christen wie wir und das Haus des Herrn steht ihnen jederzeit offen.«

Oberst Jouffrin verbeugte sich. Er kehrte zu den Truppen zurück, ließ die Unteroffiziere vortreten, um ihnen gemessene Befehle zu erteilen, und bezog dann mit dem gesamten Offizierskorps die kühlen hochgewölbten Klosterzellen, in denen der geistliche Wirt seine Gäste willkommen hieß und ihnen Küche und Keller freigebig zu Gebote stellte.

Draußen waren Tausende versammelt, um dem wundertätigen Bilde des heiligen Gregor ihre Ehrerbietung zu bezeugen.

Zwei Laienbrüder gaben den Soldaten das Geleite und quartierten sie in aller Form bei den Bauern ein, so daß niemand unter freiem Himmel zu schlafen brauchte. In jedem Hause brannte unter dem Bilde des Schutzheiligen die ewige Lampe, überall wurde mit Amuletten, Rosenkränzen, Weihwasser und Heiligenbildern gehandelt, natürlich für Rechnung des Klosters, dem das Dorf gehörte.

Eine Kette von Vorposten bezog die erhöhten Punkte der Umgegend; jeder Unteroffizier ließ seinen Zug antreten und verbot den Leuten, sich außerhalb dieser Linie zu bewegen. Es herrschte eine Mannszucht, die auf erhaltene, sehr strenge Befehle hindeutete. Nachdem unsere Freunde ein derbes, doch reichliches Mittagsessen eingenommen hatten, begaben sie sich in das Kloster. Die feierliche Prozession sollte erst bei Kerzenlicht stattfinden, es blieb daher Zeit genug, um das Innere des alten Baues und den Garten vorher zu besehen.

Der letztere war so groß wie eine ganze, nicht allzuweit gedehnte Stadt; er enthielt den Gottesacker mit versunkenen, moosüberwucherten Steinen und Inschriften aus dem achten und neunten Jahrhundert, dann eine lange Reihe von Gemüsefeldern, welche die Mönche selbst bearbeiteten. Hacke und Spaten lagen in allen Händen, Männer jedes Alters gruben den Boden, pflanzten und säten, als gäbe es keinen Krieg, der im nächsten Augenblick mit seinen ehernen Schritten das Weck des Menschenfleißes vernichten könne; sie banden hier ein schwankendes Reis an den Stamm, dort beschnitten und begossen sie Blumen, während die ältesten unter ihnen, Greise mit weißem Haar, sich auf lange Stöcke stützten und, im Sonnenschein sitzend, die Ruhe ihrer letzten Tage behaglich genossen.

Überall herrschten Ordnung und Sauberkeit, überall wurde das Auge erfreut durch Bilder des Friedens und des Wohlstandes inmitten einer Bevölkerung, die sich größtenteils in den Wäldern versteckt hielt oder allen Unbilden der Fremdherrschaft schutzlos preisgegeben war.

Drüben im Hofe hatten die Bauern ihre Vorräte ausgepackt und hielten eine allgemeine Mahlzeit, bei der es indessen schweigsam herging. Die Nähe der Franzosen schien den Leuten ein heimliches Grauen einzuflößen.

Nach und nach sank ein weiches Dämmerlicht auf die Erker und Zinnen des alten Klosters. Mit ihren Geräten in den Händen kamen die Brüder von der Arbeit, irgendwo erklang ein Glöckchen, Licht nach Licht blitzte auf und der gewaltige Mittelbau lag glanzumflutet in tausendfältigem, ganz weißem Schimmer.

Ringsumher lief ein Säulengang, in dem Bänke standen; hier versammelten sich die Soldaten, welche als bloße Zuschauer gekommen waren, ohne an der Feier teilzunehmen. Ein weiter, von gekreuzten Rundbogen getragener Kuppelbau zeigte sich den überraschten bewundernden Blicken, spielende Engelsgestalten sahen aus weißen Wolkenschichten hervor, Blumengewinde umzogen jede Säule. Kanzel und Altar waren von den prachtvollsten Samtstickereien verhüllt; auf letzterem, unter dem lebensgroßen Bilde des Heiligen, stand das Silbergerät der Kirche.

Und nun nahte aus einer Seitentür die Prozession.

Voran der Prior im langen, am Boden schleppenden Prachtgewande mit Orden und Ketten, in der Hand eine Laterne am goldenen Stocke, dann zwei Fahnenträger und nach ihnen sämtliche Mönche, alle mit Laternen. Es glänzte und schimmerte, daß die Augen kaum den Glanz ertrugen. Überall Gold und edle Steine, überall helles Licht und bunte Farben; wie der Königszug des Märchens entrollte sich das vielgestaltige Bild.

Eine sanfte Musik begrüßte die Eintretenden; stärker und stärker quollen, langsam anschwellend, die leisen Stimmen, bis brausender Orgelton den ganzen großen Raum erfüllte. Mehr als achtzig Mönche, Greise mit dem Aussehen Hundertjähriger und junge Laienbrüder, die kaum zwanzig zählen mochten, ernste Männer und Knaben zogen mit ihren Laternen an dem wundertätigen Bilde vorüber und jeder einzelne neigte sich zum Gruße gegen den Schutzpatron des Klosters.

Nach den Geistlichen kamen die Bauern in ihren dunklen plumpen Kleidern, mit dem scheuen Wesen solcher Personen, die sich ungeschickt zwischen Höherstehenden bewegen, Männer und Frauen, Kinder jedes Alters, alle mit einer Opfergabe, die sie dem Heiligen zu Füßen legten. Die verschiedenen Lebensmittel fielen auf eine zu diesem Zweck angebrachte Klappe, welche sie sogleich in den Keller weiterbeförderte; das Geld dagegen blieb auf einem Tische liegen und bildete bald einen so ansehnlichen Haufen, daß es dem Obersten schwül ums Herz wurde. Gerade bares Geld, der Zauberschlüssel, dem sich alle Türen öffnen, bares Geld war bis jetzt nirgends zu erlangen gewesen.

Er überlegte. Das Kriegsrecht ist nur das des Stärkeren, weiter nichts; wer gab den Mönchen, der sonstigen Bevölkerung gegenüber, ein besonderes Vorrecht?

Die Rubel und Kopeken klirrten, da lagen Pfunde edlen Metalles, Berge von Gold und Silber. Das Kloster mußte unermeßliche Reichtümer besitzen.

Der Oberst atmete schneller. Er wollte doch nicht abziehen, ohne von dem Prior eine Kontribution verlangt zu haben; vielleicht ließ sich die Sache machen.

Ausgeschickte Spione waren an diesem Tage zu ihm zurückgekehrt und hatten berichtet, daß die französische Armee siegreich bei Witebsk stehe, daß ungeheure Massen russischen Fußvolkes in der Nähe seien – es galt, rechtzeitig diesen gefährlichen Punkt zu verlassen und zur Hauptarmee nach Witebsk zu gelangen; er durfte keine Zeit verlieren.

Das Geld auf dem Tische verwirrte seine Begriffe; er wollte, er mußte es um jeden Preis den Mönchen entreißen.

Der letzte Bauer hatte sein Scherflein gespendet, die Lichter erloschen und im Mondschein entwickelte sich auf dem Hofe eine belebte Szene. Die Bauern bereiteten ihr Nachtlager; sie wollten erst am anderen Morgen den Rückweg antreten.

Der Oberst hätte am liebsten diese Leute, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, durch einen einzigen haßerfüllten Blick getötet.

Er ging hinaus, um die Vorposten zu inspizieren. »Nichts gesehen oder gehört, Guichard?« fragte er einen auf einer Hügelspitze stehenden Soldaten.

Der Mann salutierte. »Zu Befehl, Herr Oberst – ich sah einen Reiter, der in gestrecktem Galopp während des Gottesdienstes den Klostergarten verließ.«

»In welcher Richtung?« fragte hastig der Oberst.

»Dort hinaus, Herr Oberst!«

»Hm – nun, es ist gut, mein Junge, du sprichst von der Sache sonst mit keinem Menschen, hörst du?«

»Zu Befehl, mon colonel!«

Die sämtlichen aus Ostfriesland und Bremen gepreßten Mannschaften mußten antreten und wurden einzeln aufgerufen; der Oberst wiederholte nachdrücklich, daß sie zu den Vorpostendiensten nicht verwendet werden dürften, dann gab er den Befehl, jeden, der es etwa wagen werde, sich über die streng gezogene Linie hinauszubegeben, ohne Verzug und ohne Gnade auf dem Fleck niederzuschießen.

Nach allen diesen Anordnungen ging er zum Kloster zurück. Die Mönche führten in ihren Kellern vorzügliche Marken und er war ein Liebhaber derselben.

Die Nacht verfloß ohne Störung. Mit dem ersten Tagesschein stand der Oberst schon an seinem Fenster und sah auf den Hof hinaus; die Bauern fütterten ihre Pferde, oder schliefen gar noch – sie schienen bis jetzt nicht an den Aufbruch zu denken. Vom Dorfe her kam eilenden Schrittes ein Unteroffizier und klopfte an das vordere Tor, dann suchte er einen Klingelzug, er klatschte in die Hände und rief, sein Gesicht war sehr rot, sehr unruhig.

Der Oberst riß das Fenster auf. »Roquette!« rief er, »ich bin hier!«

Der Mann ließ sich kaum Zeit zum Gruße. »Herr Oberst«, tönte gedämpft und in französischer Sprache seine Stimme. »Herr Oberst – der Feind.«

»Was sagst du?«

»Der Feind! Eine Abteilung russischer Soldaten!«

Einen Augenblick schien selbst dieser keine Furcht kennende Mann wie betäubt, dann zwang er sich gewaltsam zur Ruhe und winkte dem Unglücksboten mit der Hand.

»Antreten lassen, Roquette! Ohne Trommeln! Sogleich.«

Der Unteroffizier salutierte. »Ist bereits geschehen, Herr Oberst Die Deutschen stehen in der innersten Mitte.«

»Ah – sehr gut, Roquette. Im Geschwindschritt hierher!«

Der Unteroffizier verschwand.

Oberst Jouffrin blieb am Fenster stehen und sah gedankenlos hinab auf die schlaftrunkenen Bauern. Hatte man sie zur Verteidigung der Klosterschätze hier behalten?«

Und jener Reiter, den Guichard gesehen – sicherlich war er ein Bote der bedrängten Mönche an irgendeinen russischen General. Es konnte nach langer Pause an diesem Morgen einmal wieder bitterer Ernst werden mit dem Kriegsspiel.

Er dachte an Deutschland und an die schönen Tage der Freiheit und Zügellosigkeit, in denen er dort geschwelgt. Hier war das alles weit schwieriger, weit gefährlicher.

Dann schlich er den langen gewölbten Korridor vor seinem Zimmer hinab und spähte am Ende desselben aus einem Fenster, das nach der Richtung des Dorfes hinausführte.

Im Morgengrau zeigte sich ihm eine Abteilung russischer Infanterie ohne Geschütz; es war ein Häuflein, vielleicht einige hundert Mann, halb so viele Soldaten, wie er selbst befehligte – ein Frohlocken zuckte durch seine Seele.

Mochten sie kommen! dann brachte er außer der Beute noch eine Siegesbotschaft mit in das Hauptquartier des Kaisers.

Drüben erklang ein Hornsignal; die Kolonne setzte sich in Bewegung.

Der Oberst flog zurück zu seinem Zimmer, das Regiment stand fast unter den Mauern des Klosters, dessen Pforte immer noch verschlossen war. Mehrere Mönche sprachen lebhaft mit den Bauern, die in einer Gruppe zusammenstanden. Sie schienen dem, was die Geistlichen ihnen sagten, ohne Rückhalt beizustimmen.

Der Oberst ging die Treppen hinab und bat einen im Gange stehenden dienenden Bruder, ihn schleunigst dem Prälaten zu melden.

Der Mönch öffnete die Tür des Sprechzimmers, ließ den Offizier eintreten und entfernte sich dann, um den erhaltenen Auftrag auszurichten. Kaum eine Minute später betrat von der entgegengesetzten Seite her der Kirchenfürst das Gemach. Beide Würdenträger, der kirchliche und der militärische, begrüßten einander äußerst förmlich, beide waren blaß und ihre Augen glänzten stärker. »Hochwürdigster Herr«, begann der Franzose, »ich komme, um mich zu verabschieden und zugleich im Namen des ganzen Regimentes für die erhaltene gastfreie Aufnahme zu danken. Es erübrigt jetzt nur noch diejenige bare Kontribution, welche ich im Namen Seiner Majestät des Kaisers zu fordern leider beauftragt bin. Schätzen wir etwa das reiche Kloster auf einmalhunderttausend Rubel! Das wird, wie ich glaube, ein mäßiger Ansatz sein.«

Der Prior verbeugte sich kühl. »In welchem Verhältnis diese Summe zu den Einkünften des Klosters steht, darüber zu streiten, wäre müßig, Herr Oberst – ich bezahle von der sogenannten Kontribution nicht eine einzige Kopeke.«

»Ah – das ist Ihr unwiderruflicher Entschluß, Hochwürdigster Herr?«

»Völlig unwiderruflich, ja.«

»Gut. Ich sehe mich in diesem Falle genötigt, das Geld zwangsweise beizutreiben. Meine Leute stehen vor der Pforte des Klosters.«

Er ging mit hallenden Schritten hinaus zu den Offizieren, welche ihn im Hofe schon erwarteten. Bereits innerhalb der heiligen Mauern entspann sich ein Handgemenge zwischen mehreren Franzosen und dem plötzlich überrumpelten Bruder Pförtner, dem der Schlüssel gewaltsam entrissen wurde. Einer der Leutnants erkannte ihn zufällig, vereinte Kräfte überwältigten spielend seinen Widerstand und das Tor flog auf.

Mehrere Bauern, die sich mit Peitschen, Messern und Stöcken den Franzosen entgegenwarfen, wurden durch die Degen der Offiziere verwundet; es floß schon Blut, ehe noch ein Befehl erfolgt war.

Die Russen kamen im Laufschritt, empfangen von einem Kugelregen der Franzosen. Ihre weit schlechteren Schießwaffen antworteten nur ungenügend, zehn oder zwölf Franzosen stürzten, während wenigstens sechzig Russen gefallen waren. Mit lautem Siegesjubel ergoß sich der Strom der Angreifer in den Klosterhof.

»Vorwärts, meine Jungen!« rief der Oberst. »Mir nach!«

Er stürmte dem Gebäude zu, wild die geschlossenen Glieder der Bauern durchbrechend; ein allgemeines Getümmel, ein Durcheinander von Soldaten wogte überall. Draußen kämpften die russischen Infantristen mit der Nachhut der Franzosen, drinnen der Vortrab derselben mit den erbitterten Bauern.

Trommeln und Hörner gaben ihre schallenden, schmetternden Signale, Blut floß in Strömen, Kampfrufe und Todesröcheln mischten sich im schauerlichen Verein. Immer weiter und weiter rückten die Franzosen vor.

»Nehmt das Kloster, meine Jungen, nehmt es! Ihr sollt den Löwenanteil der Beute erhalten!«

Der Bau war umzingelt; mit den Kolben ihrer Büchsen zerschlugen die Franzosen eine Seitentür, um von dort in die Sakristei einzudringen und an dem vorderen Hauptportal den Bauern, welche dasselbe besetzt hielten, in den Rücken zu fallen.

Schon wankte das eiserne Tor, als sich plötzlich die Szene in unerwarteter Weise veränderte.

Ein donnerndes Krachen erfüllte die Luft, eine Kanonenkugel schlug zischend in die Reihen der stürmenden Franzosen und ließ hinter sich eine breite blutrote Spur zurück. Oberst Jouffrin taumelte – was war das?

Ein zweiter Schuß folgte dem ersten – durch den Klostergarten nahten russische Soldaten in unübersehbarer Menge.

»Verrat!« rief der Oberst. »Zurück! Zurück!«

Schuß folgte auf Schuß, die Kirchtür sprang plötzlich auf und auch von innen heraus drangen russische Bajonette. In regelloser Flucht suchten die Franzosen den Ausgang.

Eine kleine Pforte in der Umfassungsmauer öffnete sich, die russischen Infantristen wurden hineingelassen und dann der Querbalken wieder vorgelegt – tiefe Stille folgte auf das eben noch so laute, erbitterte Toben.

Welch einen Anblick bot die Straße! Russen und Franzosen, Tote und Sterbende lagen untereinander, Blut sickerte durch den ausgedörrten Sand, Wehklagen erfüllte die Luft. Die Bauern hatten das große Tor verrammelt, kein Feind war mehr zu sehen, kein Schuß zu hören.

Der Oberst blutete aus einer tiefen Schramme an der Stirn. Die russische Kanonenkugel hatte einen Stein aus dem Sand des Klosterhofes aufgewirbelt und dieser traf ihn, als er eben den Sieg in der Hand zu halten glaubte. Die roten Tropfen rannen einzeln und schwer über sein todbleiches Gesicht.

Drinnen tönte das Sterbeglöckchen. Der Gesang der Klosterbrüder, feierlich und gehalten, drang durch die stille Morgenluft deutlich herüber zu den Soldaten – er ließ sie schauern, ließ die Herzen höher schlagen.

Viele, viele, die vor einer kurzen Stunde noch lachend und lebensfroh in ihrer Mitte standen, viele junge kräftige Männer waren nun dahin auf immer, starr und tot lagen ihre Leichen, von den frommen Klosterbrüdern in die Kirche getragen, um morgen schon unter den uralten Bäumen tief hinten im Garten zur ewigen Ruhe gebettet zu werden.

Ein paar Schaufeln voll Erde, ein Gebet und eine Seelenmesse – dann war alles vorüber, ein neues Grab zur Reihe der früheren gekommen, ein junges Leben geknickt und vielleicht daheim in Frankreich oder Deutschland ein Mutterherz gebrochen in tiefem, unnennbarem Weh.

Eisern fallen die Würfel.

»Uns bleibt keine Zeit«, sagte, sich aufraffend, der Oberst. »Laßt die Toten und Verwundeten auf die Wagen bringen! – Mein Pferd her!«

Seine Befehle wurden schleunigst ausgeführt, aber als man auch die russischen Verwundeten mit aufpacken wollte, da schüttelte er den Kopf. »Wir haben keine Zeit, die barmherzigen Samariter zu spielen – laßt sie liegen. Ihre Genossen mögen ihnen helfen.«

Dann war alles zum Weitermarsche bereit. Im glühenden Sonnenbrande zog das Regiment des Weges, schweigend und unruhig. Kundschafter ritten voraus, jeden Augenblick kamen und gingen Ordonnanzen; es galt, die Straße des großen russischen Heereszuges zu vermeiden.

»Morgen abend haben wir die Armee erreicht«, tröstete der Oberst. »Den Kopf hoch, Kinder! Frankreichs Sterne können nicht untergehen!«

Aber der Ruf, welcher seinen Worten folgte, klang matt und vereinzelt; ein abergläubischer Schrecken hatte sich der Herzen bemächtigt, nur die Deutschen frohlockten im Herzen – Feiko Hansen pfiff immer vor sich hin.

»Es wird noch alles gut, Vetter«, sagte er zuversichtlich. »Von uns ist kein einziger tot oder verwundet.«

»Weil wir immer in der Mitte marschieren.«

»Das ist ja gut. Hier können wir doch nicht flüchten; dazu muß erst eine große Stadt erreicht sein, Winkelgassen, käufliche Menschen, irgendwelche Verhältnisse, in denen anderes zu Gebote steht als nur Felder und Moräste.«

»Sieh«, fügte er hinzu, »es kommt wieder eine Ordonnanz!«

Ein Reiter sprengte heran und überbrachte dem Obersten eine Meldung, aber diesmal eine gute, wie es schien. »Kinder«, rief der Offizier, »wir haben nun das Ärgste ertragen! Die russische Armee ist vorübergezogen – gestern schon. In Witebsk lagert unser Kaiser!«

»Dann war auch jede Anordnung der Mönche schlau berechnet!« flüsterte Onnen. »Sie erbaten sich Schutz bei der unfern die Straße kreuzenden Armee und behielten sämtliche Offiziere hinter den Mauern des Klosters, um sie von uns abzuschneiden. Hätte der Oberst kein Lösegeld verlangt, so wäre nichts geschehen.«

»Und hätte er den Russen Stand gehalten, so wären wir bis auf den letzten Mann vernichtet worden!«

»Das sah er wohl, der Schlauberger! In solchen Fällen heißt dann das Reißausnehmen die Taktik des gewiegten Feldherrn.«

Feiko lachte. »Vorläufig möchte ich ausruhen«, sagte er, »und zwar im Schatten, in der Nähe einer Quelle. Wir marschieren nun seit sechs Stunden!«

»Und hier ist der Weg, den die russischen Heeresmassen genommen haben!«

Eine breite, zerstampfte und zerfahrene Straße zog sich von links nach rechts vor den Franzosen dahin, Hufspuren und Geleise bedeckten den Boden, allerlei fahrendes Gesindel, wie man es im Rücken jeder großen Armee findet, Vagabunden, zerlumpte Weiber, Zigeuner und Plünderer trieben sich zwecklos auf dem Wege umher. Lüsterne Augen blickten auf die Gepäckwagen, dreiste Räuber fragten sich, ob der Angriff möglich sei.

Berittene Soldaten sprengten unschwer den Haufen von Spitzbuben und Lungerern auseinander; in den Reihen der Nationalgarde war so mancher, der irgendeinen Klepper besaß, und diesen ließ man mitreiten wie die andern mitliefen – Oberst Jouffrin benutzte das Häuflein Kavallerie gewöhnlich zu allerlei Botendiensten.

Auch jetzt kam wieder einer gesprengt und hatte in der Nähe ein Dorf entdeckt, armselige Holzhütten mit windschiefen Giebeln und blinden Fenstern. »Es sieht da schlecht genug aus, Herr Oberst, kein Stück Vieh steht in den Ställen, kein Baum, keine Blume bei den Häusern, aber am Wege springt ein lustiger Quell.«

Der Oberst nickte ingrimmig. »Wir müssen die Toten begraben«, sagte er. »Einen Gottesacker wird doch das Nest hoffentlich besitzen?«

»Ja, Herr Oberst!«

»Nun gut, dann führen Sie das Regiment, Scharkoff!«

Der junge Nationalgardist lenkte sein fragwürdiges Roß an die Spitze des Zuges und dieser bog ein wenig nach links in eine Niederung, die von elenden Hütten bedeckt war. Ein Schindeldach schmückte das Kirchlein aus Feldsteinen, ein Heiligenbild mit greulich verzerrten Zügen, plump aus Holz geschnitzt, hing unter einem Wetterdache am Eingang des Dorfes, und vor den Wohnungen im Schmutze wälzten sich magere, halbverhungerte Schweine – Menschen waren vorläufig nicht zu entdecken.

Erst als sich die Franzosen näherten, erschien hier oder dort hinter den Scheiben ein Gesicht, huschte jemand von Hütte zu Hütte, oder bildeten sich Gruppen auf den Straßen. Man deutete auf die Soldaten und sprach lebhaft miteinander.

»Du«, sagte Onnen, »es sieht aus, als würden wir äußerst freudig empfangen!«

»Dasselbe dachte auch ich, aber – wie wäre es nur möglich?«

Das Rätsel sollte sich sehr bald lösen. Ein ganzer Menschenhaufen, Männer und Frauen, kam dem Obersten entgegen; alle sprachen zugleich, alle schienen um irgendeine Vergünstigung zu bitten, eine Klage anbringen zu wollen. Es entstand ein Getöse, dem erst die Trommel Halt gebieten mußte.

»Kommen Sie her, Scharkoff!« rief der Oberst. »Was wollen diese Leute?«

Der Nationalgardist mit seinem phantastischen Anzuge und den langen, höchst unsoldatisch flatternden Haaren ritt herbei, um den Dolmetscher zu spielen. Weinende Frauen, erbitterte Männer umringten sein Tier – stolz wie ein Spanier saß er mit der Hand in der Hüfte und ließ sich erzählen, was die Gemüter so sehr aufregte.

Eine Schar von Nachzüglern des russischen Heeres, Marodeurs der schlimmsten Art, hatten sich in den Dorfhütten festgesetzt, alle Lebensmittel an sich genommen und die Bewohner einfach zur Tür hinausgeworfen. Jedes Haus beherbergte sechs bis zehn dieser Unholde, während dagegen die rechtmäßigen Eigentümer vollkommen heimatlos geworden waren.

Scharkoff übersetzte und der Oberst war wütend. »Da sollen wir uns also mit Dieben und Zigeunern herumbalgen? – Wahrhaftig eine nette Aussicht!«

»Nun, Kinder«, setzte er dann hinzu, »macht es rasch. Gesunde und Kranke müssen in diesem Sonnenbrand zugrunde gehen.«

Der Zug näherte sich dem Dorfe, und nun begann bei der ersten Hütte die »Austreibung der bösen Geister«, wie Scharkoff sagte. Zwölf bis zwanzig Soldaten drangen mit gefälltem Bajonett in die Tür, deren Bretterverkleidung häufig erst mit dem Kolben eingeschlagen werden mußte, und schoben ohne Umstände das Gesindel hinaus. Ihre wenigen Lumpen oder Kochgeschirre warf man ihnen nach, die Widersetzlichen erhielten Püffe und Schläge, die schimpfenden Weiber wurden ausgelacht und dann der ganze Trupp von dem Kavalleriehäuflein des Regimentes aus dem Dorfe geführt. Zigeuner in Menge, Bettelmusikanten, Scherenschleifer, Wahrsagerinnen und Kesselflicker, alles stob vor den nachrückenden Pferden auseinander und war verjagt, ehe wenige Viertelstunden dahingingen. Dann kam ein ernsteres, trauriges Geschäft – man mußte seine Toten beerdigen, den wimmernden, ächzenden Kranken Linderung gewähren.

Schonend wurden die Leichen verhüllten Antlitzes in die Kirche getragen und dort niedergelegt, bis das große gemeinschaftliche Grab ausgeworfen war, die Verwundeten dagegen der Obhut der Frauen übergeben. Selbst arm und ohne Hilfsmittel, versorgten die dankbaren Bäuerinnen dennoch in dem einsamen nordischen Dorfe die Söhne Frankreichs, so gut es eben ging; ja, der Oberst wurde sogar gebeten, doch noch einige Tage zu bleiben und Schutz gegen die umherstreifenden Vagabunden zu gewähren, aber das konnte er unmöglich bewilligen; schon folgenden Morgens sollte der Weitermarsch auf Witebsk stattfinden.

Am Nachmittag klang gedämpfter Trommelschall durch die Dorfstraßen. Das Regiment zog hinter den beiden Gepäckwagen, auf denen die Toten lagen, zum Kirchhofe und gab so den Kameraden das letzte irdische Geleite.

Särge hatte man nicht herbeischaffen können, aber die mitleidigen Frauen schenkten weiße Tücher, so daß wenigstens die Erde keins dieser blassen, schmerzverzogenen Gesichter unmittelbar berührte.

In russischer Sprache gab der greise Dorfpope den Heimgegangenen als Christ den Sterbesegen der christlichen Kirche, obwohl im Leben ihr und sein Bekenntnis weit auseinandergingen, obwohl sie keines seiner Worte verstanden haben würden.

Dann folgten die drei Salven. Mit den Mützen in den Händen standen die Bauern; weinend in unbestimmter Furcht und Sorge die Frauen. Es war der Feind, dem sie hier ein Obdach gewährten, der Feind, dessen Wüten in dem benachbarten Witebsk so schrecklich gewesen sein sollte, der keine Menschlichkeit, kein Erbarmen kannte und der doch heute das Dorf aus den Händen von Räuberhorden befreite.

Hinter den nächsten Hecken lauerte das Gesindel; freche Lästerungen klangen herüber, Drohworte, die eine gründliche Rache verhießen.

»Wartet, ihr Bauern«, riefen die Zigeuner, »wartet, bis auf euren Dächern der rote Hahn kräht, dann werdet ihr schon die Lust verlieren, fremde Soldaten gegen eure Landsleute zu hetzen!«

Dergleichen wilde Drohungen schienen aus der Luft zu kommen; wenn die Bauern hinzusprangen, um den dreisten Burschen zu erfassen, dann war gewiß die Stelle leer und niemand zu entdecken, aber im nächsten Augenblick erscholl die Stimme von einer anderen Seite her. Einige der mageren Schweine mußten an diesem Abend ihr Dasein beschließen, Hühner und Enten wurden gebraten, der Mehlvorrat verzehrt und die wenigen Kartoffeln zum Fleische gegessen. Dann versuchte in der öden, reizlosen Umgebung jeder, so gut es ging, zu schlafen.

Die Nacht sank herab, der Mond kämpfte mit den schnell dahinsegelnden Wolken um die Oberherrschaft und drückend lastete trotz der späten Stunde immer noch die herrschende Schwüle – da schlichen dunkle Gestalten durch die Reihen der Wachtposten, katzengleich, vorsichtig, auf leisen Sohlen. In ihren Händen glimmte Zunder, Lumpen bedeckten die verhungerten Leiber, ein freches, teuflisches Lächeln kräuselte die Lippen.

Hinter der nächsten Holzhütte stieg leichter Rauch aus einem Strohhaufen hervor, dann knisterte es – rote Flammen leckten gierig an den ausgedörrten Brettern hinauf.

Hie und da wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Ein herber Geruch, wie von Harz, durchdrang die Luft, jemand rief: »Feuer!«

»Holt die Franzosen, um es zu löschen!« sagte eine andere Stimme.

»Ha, ha, ha –«

Das freche Lachen weckte die Schlafenden, alarmierte die Wachtposten. Feuer! Feuer! Ein schreckliches Wort.

»Rettet die Kranken!« übertönte des Obersten Stimme jeden anderen Laut.

Hunderte von Händen streckten sich aus, um die Bedrohten zu schützen. Eine Anzahl der kecksten ostfriesischen Seeleute, Männer, die es gewohnt waren, im tosenden Sturm die Masten des Schiffes zu erklettern, furchtlose deutsche Männer stiegen auf das Kirchendach und hielten die Flammen dem alten Baue fern, indes wieder andere die Verwundeten, überhaupt alles, was schwach und krank war, in die schirmenden Steinmauern brachten. Alle Habe der Einwohner warfen die Soldaten beizeiten hinaus, aber die Hütten selbst konnten sie nicht retten – als der Morgen dämmerte, bezeichneten Aschenhaufen die Stelle, an der früher das Dorf gestanden.

Betend und schluchzend lagen die Bauern vor dem Heiligenbilde auf ihren Knien; zornig, erbost wie nie, befahl der Oberst den Aufbruch. In sechs bis acht Stunden mußte Witebsk und mit dieser Stadt zugleich das augenblickliche Hauptquartier des Kaisers erreicht sein – in welchem Zustande sollte er das Regiment dem kommandierenden General zuführen?

Mehrere Säcke voll Silber und Gold lagen auf den Gepäckwagen, aber die Soldaten tragen zerfetzte Kleider und Stiefel, sie waren ungenügend mit Waffen versehen und präsentierten sich, was die Nationalgarde betraf, wie wahre Harlekine. Oberst Jouffrin rückte die Mütze in die Stirne. »Vorwärts!« befahl er.

Der Weg über die trostlos unwirtliche Gegend wurde wieder aufgenommen, obwohl die Soldaten an diesem Morgen nur Wasser gefrühstückt hatten, sonst nichts. Ärmer noch als sie, des Letzten beraubt, sahen ihnen die Bauern nach – fern in den Hecken und Gebüschen der Landstraße frohlockte das Raubgesindel.

Gibt es auch etwas Schrecklicheres als den Krieg? Und wieder, gibt es eine heiligere, unveräußerlichere Pflicht, als mit dem Schwert in der Hand das Vaterland, das teure, geliebte, gegen den Frevelmut des Eroberers zu schützen?


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