Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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8

Drei englische Kriegsschiffe lagen unweit Norderney vor Anker, der »Falke«, der »Nelson« und der »Wellington«. Die Stimmung der Soldaten war eine sehr gereizte; sie hatten bisher gehofft, noch rechtzeitig genug zu erscheinen, um ihre gefangenen Landsleute aus den Händen der Franzosen befreien zu können, jetzt aber, als die Kunde des Geschehenen sie erreichte, drängte alles zum Kampfe, zum blutigen Waffentanz, in dem der kecke Gegner wie bei Trafalgar erfahren sollte, daß es noch Mächte gab, welche seiner unerhörten Willkür Schranken ziehen konnten.

Uve Mensinga und der Befehlshaber des »Falken«, Kapitän Sounders, standen in ununterbrochenem Verkehr. Es wurde ein Plan verabredet, der nur langsam seiner Vollendung entgegenreifte, dafür aber auch sicheres Gelingen versprach – die Franzosen mußten sich allmählich als Herren der Lage betrachten lernen, mußten jeden Gedanken an einen Handstreich der Eingeborenen aufgeben und in ihrer Wachsamkeit erlahmen; so allein konnte man sie fangen.

Keine Schaluppe, kein Boot lief mehr aus, ohne ein paar französische Soldaten an Bord zu haben, keine Forderung des nimmersatten Obersten stieß auf Widerstand; überall begegneten scheue Blicke oder eiliges Ausweichen den Machthabern – sie begannen bereits zu triumphieren und sich den gewohnten Einflüsterungen ihrer Eitelkeit recht behaglich hinzugeben. Die Insulaner hatten jetzt die Peitsche gefühlt, sie küßten willig die Hände, von denen der Streich kam – das zu denken war so sehr angenehm. Vom Obersten bis zum Gemeinen ließ sich's jeder einzelne angelegen sein, nach Möglichkeit die Fischer zu brandschatzen und, während diese oft kaum einen Bissen Brot besaßen, selbst im Wohlleben zu schwelgen. Es war ja im Dorfe alles todesstill, kein Gedanke erhob sich gegen die Tyrannen, niemand gab ihnen Gesetze oder leistete Widerstand; stolz wie die Pfauen gingen sie einher. »Le jour de gloire est arrivé.« Jeder Offizier und jeder Soldat fühlte sich in seinem Übermut durch das veränderte Benehmen der Einwohner auf das angenehmste geschmeichelt, jeder trug die Nase so hoch wie möglich und dachte je länger, desto mehr an das Vergnügen, den Genuß des Lebens in jeglicher Gestalt. Die Offiziere verbrachten ihre Zeit fast gänzlich auf dem Festlande, die Soldaten spielten und rauchten – es war ja ringsumher alles ruhig wie im tiefsten Frieden.

Unter der äußeren Hülle glühte das Feuer. Uve Mensinga war viel in Norden, er hatte dort die ausgedehntesten Bekanntschaften und brauchte sie alle, um seinen Plan zur Ausführung zu bringen. Es kam ein Abend, wo gleichsam zufällig ein großer Ball gegeben wurde, während anderseits der Jahrmarkt mit seinen lustigen Possen und verlockenden Schaubuden das Volk aus allen umliegenden Dörfern herbeizog, ebenso die Soldaten, welche mit den Bauernmädchen tanzten und die geräucherten Aale verspeisten, als sei dieser volkstümliche Leckerbissen für sie etwas ganz Gewohntes. Der Branntwein war außergewöhnlich billig, er wurde an jeder Straßenecke feilgeboten, ja, die Franzosen erhielten ihn sogar, wenn es ihnen an Geld fehlte, ganz umsonst, kein Wunder also, daß die Heiterkeit schon am Nachmittag in ein wüstes Toben überging. Der ganze große Platz vor dem Dome von St. Ludger war mit Verkaufs- und Schaubuden angefüllt, unter den Doppelreihen uralter Bäume wogte eine lebensfrohe Menge, Musik erschallte überall, Bajazzo hatte sich sogar aus Gefälligkeit gegen die fremden Gäste bis zu französischen Witzen verstiegen und selbst der Schankwirt mit seiner Karre rief, die Flasche hoch empor haltend, immer einmal über das andere: »Voulez-vous, Kinners? Langt man to! toujours hierher! toujours hierher, ji Deubelstüg, fix watt up't Fell schöllt ji hemmen!«

Die Soldaten nahmen das ihnen Unverständliche für eine liebenswürdige Schmeichelei, sie tranken und tranken, bis alle Überlegung auf den Fluten des Branntweins davontrieb und Uve Mensinga ganz ohne Hehl dem Wirte ein: »Ich danke dir, Landsmann, du machst deine Sache gut!« lächelnd zuflüstern konnte.

Und der andre nickte. »Zur Rache für unsere Gemordeten!« gab er zurück. »Geht's los heute abend?«

Der Wattführer nickte. »Heute abend!« bestätigte er. »Gott und gute Freunde mögen uns den Sieg geben.«

Die Violine kreischte und der Baß brummte; Hanswurst balgte sich mit dem Teufel und mehreren Bären zugleich – langsam ging Uve Mensinga durch das Getümmel, hier einen Blick tauschend, dort einen Händedruck oder ein Flüsterwort, bis er in eine Nebenstraße gelangte wo Wagen an Wagen den Weg versperrte. Hierher kamen die Offiziere, es war für alles gesorgt; der »Tanz« konnte losgehen. So rasch es ihm möglich war, eilte der Wattführer nach Norderney zurück.

Man befand sich in den letzten Tagen des Monats Mai; der Frühling ging über in den Sommer, eine milde, warme Luft wehte zwischen den Dünen, tausend und abertausend kleine zierliche Blüten bedeckten den Boden. Uve Mensinga seufzte. Seit Anfang April waren die Franzosen eingerückt – und wieviel bitteres Leid hatten sie während dieser wenigen Wochen über die Insel und ihre friedlichen Bewohner gebracht!

Das große Grab im Schatten der Kirche sprach beredter als alle Worte; die verödeten Häuser des Kapitäns und der Familie Wessel gaben Zeugnis von der brutalen Gewalt, mit welcher Napoleons Söldlinge alles an sich rissen, was unter irgendeinem Vorwande geraubt werden konnte. Jedes Einrichtungsstück aus beiden Haushaltungen wie aus der des erschossenen Wattführers wanderte entweder in die Kaserne oder nach Norden, um unter der Hand verkauft zu werden; die Wohnungen standen leer, weil niemand darauf bot.

Nach und nach zerschlugen die Franzosen im Ärger die Scheiben und die Türen, Regen und Wind fegten hindurch, Sperlinge bauten in den öden Räumen ihre Nester – dann kümmerte sich keine Seele mehr um das Hab und Gut der gemordeten Männer.

Nur die heimlich Verschworenen wurden täglich neu durch den Anblick der geschändeten Stätten an ihren Schwur erinnert – heute abend sollte er ausgeführt werden.

Der Wattführer, Georg Wessel und Onnen standen miteinander auf der jetzigen Georgshöhe neben dem schwarzen Kap. Blau und silbern schimmerte das Wasser, Möwen schossen in eiligem Fluge darüber hin; es war ein wundervoller Abend, dessen stiller Friede das Herz unwillkürlich zu ergreifen schien – und dennoch flammte Kampfbegier aus den Blicken der drei Männer, dennoch suchten ihre Augen in der abendlichen Umgebung nur einen einzigen Gegenstand, die dunklen Umrisse des »Falken«, der ganz nahe an die Küste herangekommen war und dem sie jetzt ein Zeichen zu geben beabsichtigten.

»Laßt mich hinaufsteigen, Mensinga«, sagte Onnen. »Ich bin oft oben gewesen.«

Der Wattführer reichte ihm eine Laterne mit roten Gläsern. »Du mußt sie nun im ausgestreckten Arm so lange festhalten, bis ich dich rufe«, ermahnte er.

Onnen kletterte wie eine Katze an dem Holzgerüst empor, während Uve Mensinga und Georg das englische Schiff beobachteten. Nur wenige Minuten vergingen, dann glühte die rote Laterne auf dem Topp des »Falken« als Antwort für die, welche Onnen emporhielt. Ebenso schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder.

»Alles gut!« rief Georg. »Hurra, unsere Freunde sind an Bord – sie kommen, sie kommen – wir werden in dieser Nacht den Franzosen heimzahlen, was sie uns Bitteres, Schreckliches zugefügt haben!«

Er sprang den steilen Weg voraus, Onnen und der Wattführer folgten ihm nach, dann bestiegen alle drei ein bereitgehaltenes Boot, und während die Finsternis tiefer und tiefer herabsank, glitt das weiße Segel über die Wellen, einer Gruppe von Fahrzeugen entgegen, die miteinander eine förmliche kleine Flotte bildeten.

Es waren dies die gefürchteten Langboote der Engländer, schnelle Segler, schlank gebaut und jedes mit zwei Geschützen versehen, elf an der Zahl. Die Kriegsschiffe hatten für den geplanten Handstreich, an dem sie selbst ihres Tiefganges wegen nicht teilnehmen konnten, alle vorhandenen Langboote bemannt und reichlich mit Waffen und Schießbedarf versehen; dann aber stellten auch die Insulaner wenigstens zwanzig Schaluppen und Segelboote, in denen die Männer von Norderney, Baltrum, Juist und Borkum mit vor Ungeduld schlagenden Herzen der Dinge harrten, die da kommen würden.

Wie Glühwürmer blitzten halbverdeckt auf allen diesen Fahrzeugen die Laternen, leise Zurufe und Fragen begrüßten die Kommenden, endlich setzte sich die ganze Flotte in Bewegung, um das Ostende der Insel zu umschiffen und so in die Nähe der französischen Kanonenboote zu gelangen.

Seit Erbauung der Schanze mit ihren weittragenden Geschützen war ja der Schmuggelhandel zum Festlande hinüber gelähmt; die Kanonenboote kamen daher aus Scheu vor den englischen Kriegsschiffen nie mehr in das offene Fahrwasser hinaus, sondern lagen auf der Reede, während die Besatzung sich's wohl sein ließ, soviel Ort und Zeit es erlaubten.

An diesem Tage war nur die Hälfte der Mannschaft zugegen. Unter vollen Segeln steuerte die kleine Flotte, über dreißig Fahrzeuge stark, um die äußerste Landspitze der Insel herum und in vorsichtiger Entfernung an der Schanze vorüber. Auf Norderney waren alle Lichter erloschen, tiefe Dunkelheit umgab das Meer und die Ufer – geräuschlos näherten sich die Engländer mit ihren Verbündeten den in träger Ruhe vor Anker liegenden französischen Kanonenbooten.

Die Leute vom »Falken«, die Kameraden der erschossenen Soldaten, wollten unter jeder Bedingung das Schiff, auf welchem man jene gefangengehalten hatte, mit dem Säbel in der Faust entern; auch die Eingeborenen dachten mehr an eine Überrumpelung der »Hortense« als der beiden anderen Schiffe. Der Gedanke an die gemordeten Freunde drängte in diesem Augenblick jeden anderen in den Hintergrund.

Onnen war bleich wie ein Toter, sein Auge glühte. Die erste Schlacht, welche er mitmachen würde, sollte gerade jetzt beginnen – Kapitän Sounders ließ schon die Langboote ausschwärmen, um mit ihren verheerenden Geschützen den Feind von allen vier Seiten zugleich anzugreifen; leise gingen von Mund zu Mund die Kommandoworte, unhörbar trennten sich von den übrigen zwei Boote und glitten vorsichtig, wie schleichende Indianer auf dem Kriegspfade, zwischen die Franzosen und das Ufer.

Vier kleine Ruderboote, welche dort lagen, wurden von den Ketten gelöst und trieben in der Dunkelheit weg. Die Verbindung zwischen dem Lande und den Schiffen war hierdurch vollständig abgeschnitten.

Die Franzosen hatten immer noch nichts bemerkt.

Kapitän Sounders lächelte verächtlich. »Das kann nur der grande nation passieren«, sagte er. »Solchen elenden Sicherheitsdienst hat kein anderes Volk.«

»An Bord der ›Hortense‹ wird gesungen oder gespielt«, flüsterte Georg. »Horch! Da war es eben wieder!«

Uve Mensinga nickte. »Es ist eine Gitarre!« bestätigte er. »Hübsche Mannszucht bei den guten Leuten!«

»Die Offiziere sind sämtlich in Norden, der Sold soll schon seit Monaten rückständig sein – da glauben sie eben nicht sonderlich viele Verpflichtungen zu haben.«

»Nun, denke ich, können wir die Unterhaltung eröffnen!« sagte der Kapitän. »Aber glaubt nicht, daß sie um Gnade bitten werden, Kinder! – Der da jetzt die Laute schlägt, weiß ohne Zweifel den Degen und die Pistolen ebenso sicher zu handhaben!«

Und dann befahl er mit lauter Stimme: »Feuer!« Zweiundzwanzig Geschütze öffneten ihre todbringenden Schlünde; ein Donner, der die Erde erzittern ließ, rollte langhallend dahin über das Watt, Pulverdampf umhüllte Freund und Feind, Pulverblitze erhellten weithin die Nacht. – Und hinein in das Toben, in das Brüllen und Krachen mischten sich, endlich vom Zwange erlöst, die Stimmen der Eingeborenen. Aller Groll und aller Gram, alle Verzweiflung wurde laut herausgeschrien aus übervoller, gepreßter Brust, aller Haß glühte lodernd auf in dem Jubelruf aus Hunderten von Kehlen.

»Auf sie! Auf sie!«

Jäh abgerissen endete die Melodie des Gitarrespielers, dem das Geschoß bedenklich nahe am Kopfe vorüberflog, er taumelte, er schrie: »Jesus Maria!« und stürmte dann wie elektrisiert in die Batterie, um seine Genossen zu versammeln, um die glatte Lage der englischen Geschütze mit gleichem Gruße zu erwidern.

Auf allen drei Schiffen wurde es lebendig. Halb angekleidet, führerlos, aufs äußerste erschreckt, liefen die Soldaten durcheinander, Kommandoworte erschallten, das Schmerzensgeschrei Sterbender erfüllte die Luft, einzelne Gewehrschüsse wurden zwecklos abgefeuert, Flüche und Geschrei erklangen überall.

Inzwischen hatten die Langboote, dem Steuer gehorchend wie ein gut geschulter Renner dem Zungenschlag seines Reiters, ein prächtiges Segelmanöver ausgeführt, sie waren gewendet worden und gaben jetzt die zweite Salve. Überall zerrissen die Vierundzwanzigpfünder das Takelwerk und die Schanzkleidung der Franzosen, allein jetzt waren auch diese zur Besinnung gekommen. Die Ankerketten rasselten dröhnend empor, eine volle Ladung spie ihre eisernen Grüße über das Geschwader der Verbündeten dahin. Zwei Schaluppen verloren den Mast, ein Borkumer Fischer rief mit ersterbender Stimme noch einmal sein »Hurra für Ostfriesland!« – dann taumelte er und stürzte über Bord, um unter den Wellen zu verschwinden.

Das erste Opfer war gefallen.

»Vive la France!« schallte es von drüben. »Vive l'empereur!« Auch am Lande hatten die Kanonen alles Lebende aus dem Schlaf erweckt. Im Laufschritt kam das Bataillon des Obersten an den Strand, ein Hagel von Büchsenkugeln schlug schon aus weiter Entfernung in die Reihen der Deutschen und Engländer, hie und da einen tapferen Mann und guten Patrioten aus der Mitte seiner Freunde reißend, meistens aber unschädlich zerstäubend im Wasser, das schaumbedeckt, weiß und unruhig die Kiele der Langboote umflutete.

Ein Hurra der Verbündeten antwortete den Landtruppen. Sie hatten keine Fahrzeuge, um herankommen zu können – ihrer brauchte man nicht sonderlich zu achten.

Immer neue Breitseiten, immer neues Kleingewehrfeuer zerriß die Luft. Arg zugerichtet versuchte es die »Marion«, die Linie der Langboote zu durchbrechen und an das Ufer zu gelangen, höchstwahrscheinlich, um eine Verbindung mit den dort aufgestellten Soldaten zu ermöglichen, aber Kapitän Sounders durchschaute sogleich den Plan, er gab mit lauter Stimme den Befehl zum Entern.

Und nun entwickelte sich eine Szene voll schrecklicher, erbitterter Einzelkämpfe, nun kam es zum Handgemenge, wobei die Franzosen heldenmütig fochten, aber bei aller Tapferkeit dennoch den kürzern zogen. Das Geschütz der »Marion« konnte den Angreifern keinen wirksamen Widerstand entgegensetzen, weil alle Kugeln über die nahe unter dem Bug dahingleitenden Boote weg ins Wasser fielen, während Beile und Enterhaken, von kräftigen Armen geschwungen, das Schiff auf allen Seiten zugleich belagerten.

Oberst Jouffrin stellte seine Soldaten so auf, daß sich das Feuer ihrer Gewehre gegen die enternden Insulaner kehrte, aber obwohl viele derselben den Tod fanden, blieb doch der Sieg auf ihrer Seite. Jede Salve rief ein höhnisches »Hurra!« hervor, in jede Lücke traten sogleich neue Kräfte und nach einem Kampfe von höchstens zehn Minuten war die »Marion« in den Händen der Deutschen. Das Verdeck triefte von Blut, Tote und Verwundete lagen umher, schrecklich mischte sich in das Ächzen der Sterbenden die Siegesfreude mit ihrem lauten jubelvollen Hurra, das brausende, donnernde: »Ostfriesland für immer!«

Die Besatzung der »Marion« flüchtete vor dem Andrängen dieser entschlossenen, in ihrem langgenährten und gerechten Groll erbarmungslosen Widersacher, wohin es eben ging, in die unteren Räume des Schiffes, hinüber auf die »Hortense« oder gar in das schäumende Meer, überallhin verfolgt von den Feinden, überall entdeckt und hervorgezogen, um gefangen mit gebundenen Händen in die Schaluppen geworfen zu werden.

»Bedankt euch, Kerle!« rief der riesige Borkumer, »bedankt euch, daß wir nicht solche Bestien sind wie euer Kaiser, der unsere braven Männer wie Hunde niederschießen ließ! – wir lassen euch wenigstens leben!«

Und dabei schnürte er einem nach dem andern die Hände auf den Rücken und warf sie wie ebensoviele Bündel in die Schaluppen hinab.

Die Geschütze der »Marion« wurden wieder geladen, diesmal aber spien sie ihren Inhalt den Landtruppen entgegen und verhinderten so das weitere Feuer derselben. Von dem prasselnden Kugelregen vertrieben, zog sich der Oberst tiefer in das Dorf zurück und erleichterte auf diese Weise den Insulanern das Vordringen gegen die »Hortense« und den »Empereur«, welche Seite an Seite der Übermacht einen verzweifelten Widerstand entgegensetzten.

Kapitän Sounders gab von dem vordersten Langboot aus, kaltblütig im Kugelregen stehend, seine Befehle. Neben ihm kämpften Georg und Uve Mensinga, während sich Onnen unter den Enterern befand.

Die französischen Geschütze schwiegen gänzlich; jeder Mann focht mit Gewehr und Säbel, mit dem ersten besten Messer oder Holzstück, das er finden konnte. Brust an Brust, Auge in Auge wurde hier ein Vorspiel von dem geliefert, was später in den heißen Schlachten auf französischem Boden zum siegreichen Ziel führte, der Kampf des niedergetretenen deutschen Nationalgefühls gegen die schmachvolle Fremdherrschaft.

Ein Keil von Langbooten schob sich zwischen die beiden französischen Schiffe und drängte sie auseinander. Jetzt war die »Hortense« verloren – mit dröhnendem Hurra bemächtigten sich Briten und Insulaner des schwimmenden Gefängnisses, in welchem sieben brave Männer ihre letzten Tage in trostloser Einsamkeit verbracht hatten. Über Bord mit den Franzosen, über Bord mit allem, was sich widersetzt – nie wieder soll von diesen Planken ein französischer Kommandoruf erschallen – nie wieder!

Kapitän Sounders ließ im Toben des erbitterten Kampfes die englische Flagge am Hauptmast aufziehen. Mit vom Pulverdampf geschwärzten Gesichtern umstanden ihn die Getreuen – auch der »Empereur« war gefallen, aber doch mischte sich bei den Eingeborenen selbst in den lebhaftesten Siegesjubel eine tiefe Wehmut; es lag auf der Freude des Errungenen ein Schatten, der sich nicht bannen ließ.

»Hätten wir so die Schiffe erobern können, als es für unsere armen gemordeten Freunde noch früh genug war!«

»Gott wollte es anders!« seufzte Uve Mensinga, dem ein Kolbenschlag die Schulter getroffen hatte, daß der linke Arm wie leblos herabhing. »Aber wenigstens sind sie gerächt!«

»Auf!« rief Georg Wessel. »Auf! Laßt uns auch auf der Insel reinen Tisch machen! Wir wollen die paar Soldaten niedermetzeln oder mindestens gefangennehmen.«

»Auf! Auf!« rief auch Onnen.

Aber der Kapitän vom »Falken« schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Kinder, es wäre ein vollkommen nutzloses Blutvergießen. Drei stattliche Kriegsschiffe sind übrigens auch genug der Beute für ein einziges Treffen!«

Er sah befriedigt nach allen Seiten. In Fetzen trieben die französischen Flaggen blutgetränkt und von Kugeln durchlöchert auf dem Wasser; an ihrer Stelle flatterten Englands Farben lustig im Morgenwind. Die ersten Sonnenstrahlen schossen herauf, rötliche Lichter huschten über Meer und Land – sie beleuchteten ein Bild der Verwüstung.

Mehrere Schaluppen waren beschäftigt, überall die Verwundeten und Toten zusammenzulesen; der Arzt des »Falken« verband die schwersten Blessuren, Freundesworte trösteten diejenigen, welche im letzten irdischen Ringen die Augen schon halb geschlossen hielten; überall wurde nach dem Streit der verflossenen Stunden gesäubert, ausgebessert, geholfen und geschlichtet, soviel nur möglich war.

Die Langboote hielten dabei getreulich Wacht. Ihre toddrohenden Kanonenmündungen gegen das Ufer gekehrt, verhinderten sie die Landtruppen, irgendwelche neuen Feindseligkeiten zu beginnen. Kein Franzose schien mehr zu entdecken zu sein, und als auf den Schiffen alles Notwendige geordnet war, konnte die ganze kleine Flotte zum »Falken« zurückkehren, um dort die Verwundeten im Lazarett unterzubringen und ihnen jede mögliche Hilfe angedeihen zu lassen.

Arg verändert war der Zustand der Dinge aber doch. Zwei Schaluppen hatte man auf der Reede als gesunken zurücklassen müssen – viele treue Freunde deckte das Meer mit seinen blauen Fluten zum ewigen Schlafe.

Es ging diesmal, der Schanze und ihrer Kanonen wegen, um den Kopf der Insel herum, in das offene Meer hinaus; unter dem goldigen Schimmer des jungen Tages wurden die drei französischen Schiffe als Kriegsbeute im Schlepptau der Langboote entführt, und wo am Ufer ein Mensch das Schauspiel mit ansah, da tönte Frohlocken und lauter Jubel. Auf den Spitzen der Dünen standen Frauen und Kinder; sie streckten die Arme aus, sie schwenkten Hüte und Tücher, sie riefen Hurra, als die französischen Kanonenboote in Sicht kamen.

Und doch wußte jedes einzelne, daß der erfochtene Sieg im großen ganzen ohne Folgen sei, ja, daß jedenfalls die französische Rachsucht den Norderneyern gegenüber nur neue Qualen ersinnen, neue Erpressungen vornehmen werde, aber für den Augenblick war doch das Bedürfnis gestillt, der Feind, dessen Grausamkeit seit Jahren das Land bedrückte, war gedemütigt, besiegt, er hatte die Macht des Stärkeren kennengelernt und auch das erfüllte die Herzen mit hoher Freude.

Unter der heutigen Georgshöhe begegneten die englischen Kriegsschiffe in ziemlicher Entfernung vom Lande der siegreichen Flotte. Drei mächtige langhallende Cheers begrüßten die Kameraden; man brachte in mehreren Booten die Leichen der gefallenen Franzosen an Land, um sie von ihren eigenen Genossen begraben zu lassen, und dann wurden Gefangene und Freunde auf die Schiffe überführt. Für jetzt schien es den Norderneyern nicht geraten, in ihre Häuser zurückzukehren – die Wut der Soldaten hätte ihnen übel mitspielen können.

Kapitän Sounders landete alle Insulaner, soweit sie nicht der ärztlichen Hilfe bedürftig waren, auf Baltrum, und dann ging es hinaus in die wogende See, an Langeroog, Spikeroog und Cuxhaven vorüber nach Helgoland, um im Triumphe die genommenen französischen Schiffe dem Oberbefehlshaber der englischen Flotte zu überliefern.

Bei der Witwe des erschossenen Wattführers Andreas Fokke verbrachten die Norderneyer den Tag, um dann im Dunkel des nächsten Abends ihre Heimat wieder zu erreichen. Es waren zusammen etwa vierzig Männer – sechs von ihnen hatte der Tod aus der Mitte der übrigen gerissen, mehrere Verwundete befanden sich auf dem »Falken« und noch andere wollten bis zur Beendigung des Krieges nicht wieder in das Vaterland zurückkehren, sondern zogen es vor, lieber unter englischem Schutze in die weite Welt hinauszugehen.

Onnen und Georg waren eifrig bemüht, Uve Mensingas angeschwollene Schulter mit nassen Tüchern zu kühlen und dann sich selbst von den Spuren des nächtlichen Kampfes zu befreien. Sie hatten beide keine Verletzung erlitten, die Furie der Schlacht war gnädig an ihnen vorübergegangen, aber ihre Gesichter zeigten die tiefe Erregung, welche derartigen Stunden unausbleiblich folgen muß – sie waren sehr blaß.

Die kränkliche Frau Fokke bediente an diesem Tage ihre Gäste eigenhändig, sie nahm auch für das Genossene keinerlei Zahlung, sondern bat nur die jungen Leute, einen Kranz aus selbstgezogenen Zimmerblumen auf das Grab ihres Mannes zu legen. Baltrum, die »Sandschüssel«, hat keine wildwachsenden Blüten, es gibt außer dem langhalmigen Dünengras nichts, was dort wüchse, um es für die letzten Ruhestätten geliebter Toten zum Kranze zu winden.

Am Abend fuhren eine Anzahl Schaluppen nach Norderney hinüber, diesmal ganz öffentlich, denn die Franzosen hatten ja keine Fahrzeuge mehr in der Nähe – nur die eigentliche Landung mußte mit großer Vorsicht bewerkstelligt werden.

An dem Punkte der Insel, wo jetzt der Leuchtturm steht, setzten die Schaluppen ihre Insassen ab, und nun schlichen diese einzeln, auf verschiedenen Wegen in das Dorf zurück. Es war alles ruhig, kein Soldat zu sehen, kein Wort zu hören. Georg und Onnen drückten sich die Hände, dann verschwand der erstere zwischen den Häusern und bald nach ihm hatte auch Onnen die Wohnung des Wattführers, in der seine alte Mutter lebte, erreicht. Uve Mensinga war noch nicht da, kam aber einige Minuten später, und nun wurde hinter sorgfältig verschlossenen Türen das Wiedersehen unter Tränen des Dankes gefeiert. Die Franzosen geschlagen, besiegt – welch ein Jubel, welch eine unverhoffte Freude!

Auch ein ganz unerwarteter Gast hatte sich eingefunden, der Onkel aus Hilgenriedersiel, welcher jetzt, nachdem er seinen Neffen begrüßt, zunächst dem Wattführer die Hand drückte. »Ich danke dir, Mensinga«, sagte er treuherzig, »du hast meiner armen Frau beigestanden, während mich die Franzosen gefangenhielten. Das vergelte dir Gott!«

»Sprich nicht davon!« wehrte der redliche Mann. »Wie bist du denn losgekommen, Martin Hansen?«

»Mein Junge hat sich, als er in Hamburg von der Sache hörte, freiwillig gestellt und so mußten mich denn die Schwerenöter, nachdem er in der bunten Jacke saß, natürlich freigeben.«

»Das ist hübsch von Vetter Feiko!« rief Onnen. »Er konnte unmöglich anders handeln.«

»Und nun ist der arme Junge richtig Soldat?«

»Ja, sie haben ihn gleich abgefaßt.«

Frau Douwe seufzte. »Ob er wohl zufällig in Hamburg meinem Bruder begegnet ist?« fragte sie den Schwager aus Hilgenriedersiel.

»Ja, richtig«, rief dieser, »das wollte ich noch erzählen. Geerd Kluin läßt bestens grüßen, er verdient in Hamburg ein hübsches Stück Geld, wie er sagt, und ist wohlauf. Wenn der Krieg zu Ende geht, kommt er mit vollen Taschen nach Norderney!«

»So Gott will!« sagte leise die alte Frau. »Man soll nie für den nächsten Tag vorausrechnen.«

Onnen setzte sich zu ihr und tröstete die Weinende. Er erzählte von dem Kampf und der Demütigung der Franzosen, bis spät in die Nacht hinein herrschte unter den Freunden noch eine lebhafte Unterhaltung, die besonders den Krieg und den Feldzug nach Rußland betraf. Draußen regte sich nichts; auch am anderen Morgen blieb alles ruhig.

Die Franzosen begruben ihre Toten; aus sämtlichen Häusern wurde noch vor Mittag die Einquartierung entfernt und dafür alles Militär in schnellerrichteten Baracken bei der Schanze untergebracht. Es erschien kein neues Kriegsschiff, es geschah durchaus nichts, was auf irgendeine Gereiztheit, eine Wiedervergeltung hindeuten konnte, aber gerade das machte den Wattführer unruhig.

»Wenn nur nicht irgendeine Teufelei im Werke ist!« sagte er einmal.

»Aber was denn, Mensinga?«

»Ja, das ist es eben; man rät ganz vergeblich.«

Eines Tages kam der Amtsvogt und sah auf einen Augenblick bei den Freunden ins Haus. »Die Franzosen treffen allerlei Vorbereitungen«, sagte er, »sie haben die Futtervorräte und die Betten verkauft – der Schuppen ist abgebrochen worden.«

»Ob sie denn die Insel verlassen werden?«

»Der liebe Herrgott mag es wissen. Die Ordonnanzen zwischen hier und Emden fliegen immer hin und her. Man preßt die erste beste Schaluppe und zwingt die Eigentümer, nach Norddeich hinüber zu fahren. Irgend etwas Besonderes geschieht, soviel ist sicher.«

»Aber was? – Man hört ja aus anderen Provinzen haarsträubende Berichte. In Magdeburg haben die Räuber unter Androhung, den Magistrat erschießen zu lassen, über eine halbe Million Taler widerrechtlich erpreßt, in Hamburg und Lübeck, in Bremen und anderen Städten bis jetzt fast vierzig Millionen.«

»Dabei werden Waisenhäuser geplündert, öffentliche und Privatgebäude konfisziert, ganze Straßen in die Luft gesprengt, um Schanzen anzulegen.«

»Und Menschen erschossen wie die Spatzen auf dem Dache. Wir leben wahrhaftig in einer grauenvollen Zeit.«

Der geplagte alte Mann ging seines Weges und der Wattführer verbrachte aus innerer Unruhe, dem nur Vermuteten gegenüber, mehrere Stunden am Strande und in der Umgebung der Schanze, aber ohne irgend etwas Auffälliges entdecken zu können. Die Luft war schwül, am Himmel stand ein Gewitter – ob ihm deshalb das Herz so klopfte?

Er konnte sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Mit der Pfeife im Munde saß er am offenen Fenster, während alle anderen Hausgenossen bereits schliefen.

Hätten doch die Franzosen getobt, Strafen verhängt und gewütet, hätten sie das Oberste zuunterst gekehrt, es wäre ihm lieber gewesen als diese unheimliche Stille.

Er horchte immer – weshalb, das war ihm selbst unklar, aber er konnte es nicht lassen. Die Uhr von der Kirche schlug zwölf; im ganzen Dorfe schien kein Mensch mehr zu wachen.

»Es ist ein Unsinn«, dachte der ehrliche Mann, »ein wahrer Unsinn, aber –«

»Alle Teufel«, unterbrach er sich, »was kommt da?«

Hinter den Vorhängen hervorsehend, beobachtete er mit wachsender Unruhe die Straße. Dunkle Gestalten gingen über den tiefen Sand, wenigstens hundert und noch mehr – bei jedem Hause wurde Halt gemacht und geklopft, einige Männer drangen hinein.

»Die Franzosen«, dachte der Wattführer, »was können sie wollen? Ob sie auch hierherkommen?«

Ein Schrei erklang drüben, wo zwei junge Fischer bei ihrer Mutter lebten, ein schriller Schrei. Was hatte man der armen Alten getan?

Ein Strom von Hitze ergoß sich durch die Adern des Wattführers. Jetzt kam das Unglück, er wußte es, fühlte es.

Und da klopften schon die Soldaten an sein Haus. »Aufgemacht! vite! vite!«

Mensinga eilte hinaus. Den brutalen Zorn der Machthaber gegen sich zu erwecken, konnte nichts nützen, er öffnete also die Tür und sah den Soldaten äußerlich ruhig entgegen.

»Was gibt es?« fragte er.

Ein Unteroffizier ging an ihm vorüber in das Zimmer. »Hierher!« kommandierte er, »ici!«

Der Wattführer folgte ihm ruhig. »Was beliebt den Herren?«

»Onnen Visser!« las der Franzose, den Namen in entsetzlicher Weise verstümmelnd. »Onnan Visère! – Wo er sein?« Uve Mensinga erbleichte. Vor noch nicht acht Tagen hatten dieser Mann und er selbst einander in offenem Kampfe mit den Waffen in der Hand gegenübergestanden und er bewahrte mitten im Toben das kalte Blut, heute dagegen lief es eisig über seinen Rücken herab, nur mit Mühe beherrschte er die Stimme. »Onnen Visser lebt in meinem Hause – was soll's mit ihm?« »Er Soldat! conscription! Ihn herbringen!« »Ihn? – Aber er ist ein Knabe von sechzehn Jahren!« »Nix räsonnieren! Onnan Visère sogleich herkommen.« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Frau Douwe erschien auf der Schwelle. »Was gibt es?« fragte sie erschreckend. »Ach Gott, mir ahnt ein Unglück!«

Der Wattführer wandte sich ab. Es fehlte ihm an Mut, der bedauernswerten Frau die Wahrheit unverhüllt ins Gesicht zu sagen. Von draußen erklang ein Durcheinander verschiedener Stimmen, Schreien, Weinen, Kommandoworte, ein Flüchten und Nachsetzen. Lichter blitzten auf, Pferde wieherten. Es war, als breche plötzlich und unvermutet der jüngste Tag über die ahnungslose Menschheit herein.

»Mensinga«, bat mit gefalteten Händen die unglückliche Frau, »Mensinga, was bedeutet das alles? Sagt mir die Wahrheit!« Ihr vergrämtes Antlitz, ihr eisgraues Haar hätten auch das härteste Herz rühren müssen. Der Franzose zuckte die Achseln. »C'est la mère?« fragte er, »Pauvre femme! Aber nix helfen können, muß alle Soldat sein, auch Sohn! Nix helfen können!« Frau Douwe trat ihm näher, sie zitterte am ganzen Körper, »Mein Sohn? Mein Sohn? – Aber das ist unmöglich!« Er glitt an der Unglücklichen vorüber, um im Nebenzimmer selbst nachzusehen. Sowohl Frau Douwe als auch der Wattführer und dessen gleichfalls herbeigekommene Frau folgten ihm nach, als wollten sie den Knaben beschützen, ihn den Händen seiner Feinde entreißen.

Onnen schlief den festen, gesunden Schlaf der Jugend. Er hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, seine Augen waren geschlossen und um die Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Frau Douwe schluchzte laut, als sie ihn sah.

Das Licht einer kleinen Lampe fiel auf sein Gesicht, er blinzelte und erwachte dann plötzlich. »Was gibt es?« rief er. »Ein Überfall!«

»Ach Mensinga, so helft doch, helft doch! Er ist ein Kind, wie kann man ihn mir entreißen und unter die Soldaten stecken wollen!«

Der Wattführer drängte sich vor. »Wo ist der Befehl?« fragte er.

»Natürlich haben Sie einen solchen! – Es mag immerhin eine Aushebung stattfinden, man denkt dabei aber doch nur an erwachsene Männer!«

Der Unteroffizier hörte ihn nicht an. Er zwang den Knaben, aufzustehen und seine Kleider anzulegen, dann zog er ihn am Arm zur Tür.

Frau Douwe klammerte sich mit beiden Händen an ihr Kind, sie schrie laut. »Ich lasse ihn nicht, ich lasse ihn nicht!«

Der Franzose wiegte den Kopf. »Sagen adieu pauvre mère«, gebot er. »Maken schnell das Sake – nix warten. Aben Bataillon Marschordre pour la Russie!«

»Großer Gott! Großer Gott! Nach Rußland!«

Das Weinen und Wehklagen von der Straße fand hier im Zimmer sein schauerliches Echo. Alles schluchzte, alles rang die Hände, nur Onnen selbst war wie versteinert. Er sollte Soldat werden – er? Und jetzt?

Seine Mutter küßte ihn, Frau Trientje streichelte unter Tränen sein Gesicht, der Wattführer drückte ihm die Hand und sprach Worte, die er nur wie aus weiter Ferne hörte – dann stand er draußen und unter einer zahlreichen Menge, die durcheinanderwogte wie eine aufgeschreckte Herde, wenn der Wolf in die Hürde drang.

Marschordre nach Rußland. – Das fürchterliche Wort lebte in aller Herzen, zerstörte alles Denken und Überlegen, es übte eine geradezu vernichtende Wirkung.

»Draußen auf dem Meer liegt ein großes französisches Kriegsschiff!« sagte eine Stimme. »Sechs Boote schleppen fortwährend die jungen Leute an Bord.«

»So muß man den Engländern ein Zeichen geben!«

»Das ist unmöglich. Überall am Strande stehen Wachen!«

Der Wattführer blieb an Onnens Seite, taub gegen die Fragen und Ausrufe, womit er sogleich auf der Straße empfangen wurde. Es ließ sich gegen die getroffene Verfügung nichts ausrichten, das wußte er nur zu wohl, aber doch drängte es ihn, bei dem unglücklichen Knaben zu bleiben, bis man sie beide gewaltsam auseinanderriß.

Zwei Söhne des Vogtes wurden eben von sechs Franzosen mit Kolbenstößen vorwärtsgetrieben, Georg Wessel stand blaß wie der Tod inmitten einer Gruppe Gefesselter – überall hoben jammernde, wehklagende Menschen die Hände zum Himmel, überall tönte das Schluchzen der Verzweiflung.

Auf einmal hörte man die Stimme eines ganz jungen Menschen. »Ich will aber nicht Soldat werden. Was fällt euch ein, ihr Franzosen – mein Vater war ja immer euer Freund und ist es auch noch!«

Adam Witt strampelte mit Händen und Füßen gegen den Griff des Unteroffiziers, der ihn gepackt hielt. »Vater!« rief er, »Vater, bist du denn ganz täppisch geworden – so sprich doch!«

Aber diese kindliche Anrede blieb ohne Wirkung. Peter Witt, heute seit langem zum erstenmal genötigt, sich wieder unter seinen Landsleuten öffentlich zu zeigen – der geächtete, menschenscheue Verräter stand mit vornübergebeugter Haltung und ängstlichem Blick inmitten der Franzosen, aber er sprach kein Wort, sondern spielte fortwährend mit seinen Fingern, wie kleine Kinder, wenn sie gescholten werden. Dann winkte er stumm dem Knaben.

»Dummes Zeug!« rief dieser. »Du mußt den Obersten aufsuchen, Vater.«

Noch während er sprach, riß ihn der Soldat gewaltsam mit sich. Ein Schreckensschrei brach über die Lippen des Knaben. »Vater! – Vater!«

Auch Onnen und Georg Wessel mußten das Boot besteigen. Noch einmal drückte ihnen der Wattführer die Hand, noch einmal sah er ihnen zum Abschied ins Auge. »Geht mit Gott, Kinder, baut auf ihn in aller Not!«

»Lebt wohl! Lebt wohl!«

»Vater«, schrie Adam Witt, »warum hilfst du mir nicht?«

Die Riemen fielen in das Wasser und die Boote schossen auf das dunkle Meer hinaus. Noch Sekunden, dann waren die Zurückgebliebenen, die beraubten Eltern und Geschwister allein. Nur ein Trupp von Zollbeamten hielt die Insel besetzt, alles Militär hatte dieselbe verlassen, um den russischen Eisfeldern, der Vernichtung in ihrer schrecklichsten Gestalt, entgegen zu gehen.

Einsam unter den Trauernden stand Peter Witt. Niemand nahm von ihm die mindeste Notiz, niemand schien den Unseligen zu sehen, den Mann, dessen Verrat die kühnen Patrioten von Norderney ins Verderben stürzte.


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