Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Zehntes Kapitel.

Kampf mit Wölfen.

Herr Bochners freudige Stimmung trieb ihn hinweg, noch einige Schritte allein mit seinen Gedanken zu machen.

Lange blieb er aus, so daß Hermann mit seinem getreuen Hunde sich aufmachte, ihn zu suchen. Bald hatte er denn auch des Vermißten Spur gefunden, als Hilferufe ihn trieben, seine Schritte zu beschleunigen.

Um ein Gebüsch biegend, fand er unseren biederen Wiener eingesunken im Schnee, kaum imstande, seinen Kopf noch frei zu halten. Hermanns kräftige Arme erlösten Herrn Bochner schnell aus seiner gefährlichen Lage, und gemeinsam eilten sie zu den anderen Leidensgefährten zurück.

Die wenigen Stunden der Tageshelle waren bald vorüber, und nun mußte das Nachtlager errichtet werden. Unter beginnendem Schneefall, vom eisigen Wind umtobt, bauten Hermann und Herr Bochner das Zelt, dessen innerer Raum für Emma als Schlafgemach diente, während der äußere, größere, den Männern überlassen blieb. Die Stangen und Eisenhaken, welche früher diese Arbeit erleichterten, waren dahin und selbst von dem Segeltuch nur die Hälfte gerettet, aber ein natürlicher Felsvorsprung half einigermaßen über diese Schwierigkeit hinweg, wie denn auch Herr Bochner alle seine Pelze hergab, um das Dach 97 einigermaßen gegen Sturm und Nässe zu schützen. Was man vor der Wut des Feuers geborgen hatte, das wurde zusammengebunden und -geschoben, um wenigstens ein erträgliches Obdach zu erlangen.

Dann folgte die Abendmahlzeit, welche mehr als spärlich ausfiel. Etwas gebackenes Mehl, in kaltem Wasser verrührt, bildete den ganzen Speisevorrat, von dem jedes Mitglied der kleinen Gesellschaft seinen Anteil erhielt.

Dann wickelten sich alle in die noch übrig gebliebenen Pelze, und während Treu das Zelt bewachte, schliefen sie ruhig trotz aller Aufregungen und Mühsale der letztvergangenen vierundzwanzig Stunden.

Der erste, welcher am folgenden Morgen schon im Dämmergrau erwachte, war Jermak; er suchte seine Genossen, gewissermaßen sogar den unteren Teil seiner eigenen Person, ohne vorläufig etwas anderes entdecken zu können als nur ein riesiges weißes Laken, von dem alles überspannt und verhüllt war. Die rieselnden, sechseckigen Flocken hatten ihren Weg durch so manchen klaffenden Riß, manche unbeschützte Stelle gefunden – unsere Freunde waren eingeschneit.

Herr Bochner erwachte, sobald sich der Polizeimeister nur bewegte. Seine große, wie ein Karfunkel glänzende Nase, seine klugen Augen kamen unter der riesigen Pelzkappe zum Vorschein, er sah erstaunt umher. »Alle Heiligen, was ist denn das?« rief er.

Der Polizeimeister würdigte ihn keiner Antwort.

Herr Bochner befreite mit einiger Mühe seinen Körper von der darauf ruhenden Schneelast und suchte jetzt auch die beiden jungen Deutschen zu ermuntern, was freilich keine ganz leichte Aufgabe war. Sie schliefen wie die Bären im Winter, und auch Emma gab drinnen im Inneren des sonderbaren Baues noch kein Lebenszeichen von sich, nach und nach aber erschienen doch alle, und nun suchte der gutmütige Wiener die Sache ins Spaßhafte zu ziehen, namentlich aber den blassen kummervollen Mann, der so schweigend, so todestraurig zwischen den übrigen dastand, ein wenig zu erheitern.

»Eins ist gut«, sagte er, über dem schnell entzündeten Reisigfeuer die Hände reibend, »daß wir nämlich in keinem civilisierten Lande sind. Die ›eingeschneiten Landstreicher‹ würden sonst gleich von der Polizei ergriffen und in Nummer Sicher gesetzt werden.«

Er blinzelte und nickte, der alte Herr, er wollte so gern den armen Jermak etwas erheitern, aber ebenso gut hätte er glauben können, die Zeltstangen würden auf seinen Scherz eingehen wie der starre, in seiner übertriebenen Beamtenwürde aufs äußerste beleidigte Mann.

Jermaks Gesicht blieb kalt und unbeweglich, auch als Herr Bochner 98 seine Wunde verband, ließ er das geschehen, ohne sich dagegen zu sträuben oder ohne ein Wort des Dankes zu sprechen.

An den jungen Deutschen dagegen wandte er sich in höflichem Tone mit der Frage, wie lange man hier zu bleiben gedenke.

»Hoffentlich nur noch ganz kurze Zeit«, antwortete Hermann, »etwa vier oder fünf Tage. Wir erwarteten einen Eingeborenen, welchen wir nach Zaschinersk geschickt haben und der uns von dort zwei mit Renntieren bespannte Noorten (Schlitten) hierherbringen soll.«

»Und das sagen Sie mir?« rief Jermak. »Wahrhaftig, es scheint, Sie wollen mich zum Vertrauten Ihrer –«

»Fluchtpläne machen!« ergänzte Hermann. »Weshalb nicht, Herr Jermak? Daraus kann jetzt kein Schade mehr erwachsen. Überdies aber gewährt mir Ihre tadellose Rechtschaffenheit die vollkommenste Verschwiegenheit nicht wahr? Was dem Menschen gesagt worden ist, das wird der Beamte niemals zu wissen scheinen.«

Jermak wechselte die Farbe. »Sind Sie dessen so gewiß?« fragte er, offenbar nur, um etwas zu sagen.

»Durchaus«, lächelte Hermann.

Auf dem Gesichte des Wieners erschien ein kleiner boshafter Triumph, den der brave Mann nicht unterdrücken konnte. »Dies Vertrauen meines Freundes ist vollständig gerechtfertigt«, sagte er, »denn – Verzeihung! – Sie wissen, daß ohne unsere Dazwischenkunft Ihr Körper jetzt neben jenem anderen liegen würde, den wir an der Unglücksstätte fanden.«

Zum erstenmal antwortete ihm Jermak. »Ja«, sagte er, »ich weiß es. Sie halten mich durch die natürliche Erkenntlichkeit des Herzens für gebunden.«

Hermann beeilte sich, den Gesprächsgegenstand zu wechseln. »Wir müssen aus dem Grunde, welchen ich Ihnen nannte, in dieser Gegend bleiben«, sagte er, »hier, wo der Wald stand und wo uns Tekel verließ. Können Sie sich übrigens erklären, Herr Jermak, durch welches Unglück das Feuer entstand?«

»Ja!« entgegnete ruhig der Polizeimeister. »Ich habe es angelegt!«

»Sie?« riefen wie aus einem Munde die Flüchtlinge.

»Um Sie zu vertreiben, ja. Ich durfte auf keine gütliche Unterwerfung Ihrerseits zählen, wie ich glaube.«

»Aber, Unglücklicher«, rief Hermann, »Sie hätten uns ja beinahe gebraten!«

»Ich wußte, daß ich Sie dem aussetzte – allerdings.«.

Emma sah ihn an. »Und vor einer so furchtbaren Möglichkeit sind Sie nicht zurückgeschreckt, Herr Jermak?«

»Ich befand mich im Dienste Seiner Majestät des Kaisers, mein 99 Fräulein, und konnte infolge dessen auch vor dem Ärgsten nicht zurückschrecken.«

»Nun wohl, Herr Jermak«, nickte lächelnd der Wiener, »ich denke, wir sind miteinander vollständig quitt! Wir waren es schon vor unserer letzten Begegnung. Der Felsblock in den Pässen ist ein Nasenstüber im Vergleich zu den Mitteln, welche Sie anwandten.«

Der Polizeimeister zuckte die Achseln. »Und jener Angriff in den Tundren?« fragte er mit einem bedeutsamen Blick auf den jungen Deutschen.

»Wir sind quitt!« bestätigte auch dieser. »Sie kamen zweimal nur mit knapper Not davon, das ist wahr, aber immerhin nur Sie allein, wir dagegen waren unserer vier. Rechnen Sie also nach, Herr Jermak, Sie schulden uns, was wir kürzlich – mit Vergnügen, wie ich hinzufüge! – für Sie gethan haben,«

»Ist das nicht sehr – geizig berechnet?«

»Keineswegs. Die wunderbare Auferstehung aus dem Grabe ist und bleibt als ›Haben‹ für uns gutgeschrieben.«

»So! so! – Und Herrn Bochners ärztliche Bemühungen?«

»Die gebe ich vollkommen umsonst!« versetzte mit eleganter Bewegung der Wiener.

Dann schlug er die Arme taktmäßig in die Seiten, um sich zu erwärmen. »Unser Frühstück, Fräulein Emma«, sagte er; »hoffentlich ist noch Mehl vorhanden?«

»Noch für mehrere Tage, Herr Bochner, aber ich denke doch, Sie werden uns einige Rehe oder Hasen zu schießen suchen?«

»Ohne Zweifel. Zuvörderst müssen wir uns indessen mit dem Hausbau beschäftigen – vor Abend soll dieser Eispalast eine etwas solidere Bedachung erhalten.«

Als das Frühstück eingenommen, oder besser gesagt, hinabgewürgt war, da verteilte Herr Bochner die Arbeit des Tages an alle Beteiligten. Er selbst und Hermann wollten aus dürren Binsen ein Geflecht herstellen, und Otto sollte aus dem inneren Raume der Hütte den eingedrungenen Schnee entfernen.

»Und ich?« fragte Jermak.

»Sie sind unser Gast, mein Herr. Plaudern Sie mit dem Fräulein!«

»Ich würde es indessen vorziehen, meinerseits zu arbeiten wie Sie!«

»Dann begleiten Sie uns zu den Binsen.«

Alle drei Männer gingen an den Fluß, um die hohen, trockenen Halme zu sammeln und in die Umgebung der Hütte zu befördern. Jermak arbeitete eifrig, er befestigte neue Stangen neben den früheren, flocht unter Herrn Bochners Leitung Matten und band mit den beiden anderen jedes Stück an die besonders gefährdeten Stellen, aber er sprach 100 nicht, er ließ eine gewisse Grenze zwischen sich selbst und den Flüchtlingen immer unberührt, als wolle er zeigen, daß zwar seine Arme mit ihnen schafften, eben um der unabweislichen äußeren Notwendigkeit willen, daß er aber ihr Freund und Genosse weder sei, noch werden könne.

Otto hatte sich unter Emmas Beistand einen mächtigen Reiserbesen angefertigt und sehr bald das Innere des Hauses von allem Ungehörigen gesäubert; jetzt machte er sich auch an die Umgebung, wo ein kleiner überdachter Herd errichtet werden sollte. Herrn Bochners Gewohnheit, jeden Stein aufzuheben und ihn im Interesse seiner Sammlung zu prüfen, nachahmend, bemerkte der Knabe hier und da unter dem Schnee kleine runde oder längliche Steine, die von grüner Farbe waren und wie Glas aussahen. Er brachte eine Hand voll seiner Schwester und diese zeigte sie Herrn Bochner. »Was mag das sein?« fragte sie den freundlichen alten Herrn.

Der Tanzlehrer prüfte nur ganz flüchtig die Steine, dann lockten seine Jubelrufe die übrigen von allen Seiten herbei.

»Das sind Smaragde! – So helle, kostbare Smaragde, wie sie in Europa vielleicht nur die Fürstenschlösser besitzen!«

»O, Herr Bochner – dann hätten wir hier unter dem Schnee Tausende von Rubeln gefunden?«

»Hunderttausende! Ich bin Kenner!«

»Sehen Sie, Herr Jermak«, fuhr er fort, als artiger Mann dem Polizeimeister einen der Steine darbietend, »welche Pracht! Diese Längsstreifen wie Säulen, dieser zackige Bruch kennzeichnen den echten Stein! – Das ist ein Schatz, Otto! Du hast da einen Fund gethan, der Dich und die Deinigen zu reichen Leuten macht.«

Jermak betrachtete den Stein. »Das sind wirklich Smaragde«, gestand er, »aber, mein Herr Bochner, was Sie da soeben bemerkten, das war doch wohl nur im Scherz gesprochen? Dem Finder können diese Edelsteine natürlich niemals gehören.«

»Ach!« rief erschreckend der Knabe, »weshalb nicht, Herr Jermak?«

»Weil sie das alleinige Eigentum des Kaisers sind, mein lieber Junge!«

»Dem wir sie eigentlich überbringen müßten, nicht wahr, Herr Jermak?«

»Ich übernehme die Sache!« rief dieser.

»Das glaube ich wohl, allein unglücklicherweise beauftragen wir Sie keineswegs, mein werter Herr Polizeimeister. Mein armer alter Vater ist von den Machthabern in den Tod getrieben, sein Vermögen und das seiner Kinder einfach eingezogen worden, ohne daß wir gegen die bestehenden Gesetze eine Hand, ja nur eine Absicht erhoben hätten – sollten 101 wir also zögern, das, was uns die Vorsehung selbst in den Schoß legt, als Ersatz zu nehmen und so unseren Schaden einigermaßen auszugleichen?«

Der Polizeimeister zuckte die Achsel. »Ich bin in Ihrer Gewalt«, versetzte er, »und somit aller Verantwortung überhoben. Indessen halte ich es für ganz unerläßlich, über das Geschehene ein Protokoll aufzunehmen – Sie werden es unterzeichnen.«

Die Flüchtlinge lachten. »Das findet sich später«, meinte Herr Bochner. »Für den Augenblick muß das Dach vorangehen – dann die Wände.«

Diese letzteren wurden aus Schnee hergestellt, und während der zweiten Nacht schliefen die Flüchtlinge in einem festverschlossenen, sogar warmen Hause. Die Wunde am Arme des Polizeimeisters hinderte ihn nicht, tüchtig mitzuarbeiten, er fing nach Herrn Bochners Anweisung frische Lachse und Vögel in Schlingen, er sammelte Brennholz und half dem jungen Mädchen die weißen Hasen, die Hermann schoß, für den Tisch zuzubereiten. Herr Bochner hatte einen fetten Schafbock erlegt, und so gab es denn auf diese Weise Lebensmittel in Hülle und Fülle.

Draußen vor der Thür der Hütte brannte ein immer unterhaltenes Feuer, das dazu diente, die umherstreifenden Wölfe zu verscheuchen und nebenbei seine Wärme dem Inneren des Schneehauses mitzuteilen. –

Eines Abends bewegte sich draußen ein leise schleichender Schatten, ein Paar Augen sahen unter brauner Pelzbedeckung hervor in das Zelt hinein, und als Hermann die Kugelbüchse ergriff, um den Eindringling zu verscheuchen, da ertönte ein Schreckensschrei von weiblichen Lippen. Draußen befand sich eine Frau – was bedeutete das?

Vielleicht noch eine Entflohene! Jermak wollte allen voran hinausstürzen, um sich über die Person der Fremden Gewißheit zu verschaffen, aber Hermann und der Tanzlehrer warfen sich ihm in den Weg, und dann ging ersterer hinaus, um nachzusehen.

Schon nach einer Minute kam er zurück in Begleitung einer Eingeborenen, die, halbverhungert und erfroren, vom rechten Wege verirrt war, einer jungen, ganz in Pelz gekleideten Frau, die unter ihrem Mantel offenbar ein lebendes Geschöpf trug, sicherlich ihr kleines Kind, für das sie einen Platz neben dem Feuer erbat.

Emma holte sie in die Hütte hinein und versuchte mit ihr zu sprechen, aber das war unmöglich, sie verstand kein Wort, sondern deutete nur mit bebender Hand auf die Lebensmittel, als wolle sie sagen: »Ich bin im Begriff, zu verhungern!«

Mitleidig häufte ihr das junge Mädchen ein Stück Fleisch nach dem anderen auf den Blechteller; die Jakutin verschlang alles wie ein 102 Tier, dem man Speise zuwirft, und als sie ihren ungeheuren Appetit gestillt hatte, da wollte sie sich erheben, um weiterzugehen, was natürlich unsere Freunde aus Gutmütigkeit verhinderten.

»Jetzt geben Sie einmal acht«, lächelte Herr Bochner, »Sie sollen sehen, was das Weib unter dem Gewande trägt!«

»Ihr Kind natürlich!« rief Emma, und auch die übrigen neigten sich zu dieser Ansicht, allein der Tanzlehrer schüttelte den Kopf. »Passen Sie nur auf!« sagte er.

Einige jakutische Worte, verbunden mit deutlichen Gebärden, zeigten dem braunen Weibe, was der alte Herr wünschte – der Mantel aus Renntierfell sank langsam von den Schultern, und nun sahen die Flüchtlinge vier kleine blaue Füchse, welche sich in dem warmen Nest sehr wohl zu befinden schienen und einander drängten, um an der Brust ihrer menschlichen Amme die ernährende Milch zu trinken.

»Nicht möglich!« rief Hermann.

»Sehr gewöhnlich sogar, mein werter Herr Brandt. Die Pelzjäger stellen sehr eifrig den Gruben der blauen Füchse nach, um sie ihrer Jungen berauben und diese von den Frauen aufziehen zu lassen. – Das Fell wird so teuer bezahlt, daß selbst diese Mühe nicht zu groß erscheint.«

Das wußte auch der Polizeimeister. »Nur die vier Pfoten kommen in den Handel«, erzählte er, »eben daher wird ein Mantel aus dem Pelze des blauen Fuchses so teuer. In Moskau und Petersburg kostet ein solches Kleidungsstück oft bis zu vierzigtausend Franks.«

»Dann sind natürlich alle, die in fremde Länder kommen, Nachahmungen?«

»Alle ohne Ausnahme. Der blaue Fuchs ist ein so scheues Tier, daß ihm nur die geschicktesten Jäger beikommen können, und auch wieder so schädlich, daß er zu Zeiten, wo sein Pelz keinen Wert besitzt, rücksichtslos getötet wird. Gräbt man das Fleisch, um es vor ihm zu schützen, in die Erde und bedeckt es mit großen Steinen, so höhlt er sich einen Gang, der unter denselben hinführt; verwahrt man es auf der obersten Spitze einer langen, in die Erde gesteckten Stange, so erscheint Freund Reinecke mit seiner ganzen Sippe und scharrt und scharrt, bis der Stamm fällt, worauf die Familie schleunigst das erbeutete Fleisch davonschleppt.«

Herr Bochner nickte. »Es ist so«, versicherte er, »es ist wirklich so. Dies kleine, schüchterne Tier besitzt in der Stunde der Gefahr einen geradezu tollkühnen Mut.«

Otto hatte mit der lebhaftesten Spannung zugehört und dabei immer die jungen Füchse bewundert; jetzt wollte er einen derselben in die Hand nehmen, um ihn genauer zu besehen, aber die Jakutin zog schnell 104 ihren Mantel zusammen, so daß die Tierchen sicher im Versteck saßen. Nachdem sie erfahren hatte, daß man ihr ein Lager für die Nacht bewilligen würde, brachte die braune Frau eine Pfeife und einen ledernen Tabaksbeutel zum Vorschein, dann begann sie, stumpfsinnig am Boden hockend, große Rauchwolken um sich zu verbreiten.

Emma bereitete ihr, so gut es ging, in der inneren Abteilung der Hütte ein Lager, dann begaben sich alle zur Ruhe, aber nur für kurze Zeit, weil die herumschweifenden Wölfe immer neue Störungen verursachten. Herr Bochner mußte sich, von Treu bewacht, mehr als einmal vor die Thür begeben, um den anrückenden Haufen durch ein paar wohlgezielte Schüsse in die Flucht zu schlagen.

Gegen Morgen drangen indessen die Bestien so zahlreich von allen Seiten herbei, daß der Tanzlehrer seine Genossen zur Hilfe herbeirufen mußte. Sie kamen sämtlich vor die Hütte heraus, auch der Polizeimeister, welcher mit Feuerbränden zwischen die beutegierigen Wölfe warf, Hermann, Otto und Emma – nur die Jakutin bekümmerte sich um nichts.

Schüsse krachten, und wildes Schmerzgeheul zerriß die Stille der Nacht; trotz dieser eifrigen Verfolgung, trotz zahlreicher Opfer aber konnten die Flüchtigen nicht verhindern, daß ihnen ihre Fleischvorräte von den hungernden Bestien gestohlen wurden – nur durch beständigen Kampf hielten sie sich die Hütte von den lästigen Gästen frei.

Ganze Blutlachen umgaben das Schlachtfeld; unsere Freunde erwarteten bei Tagesanbruch Berge von Leichen zu sehen, aber auch nicht ein einziges gefallenes Tier lag auf dem Schnee. Unter sich hatte die widerwärtige Rotte jeden von den tödlichen Bleikugeln erreichten Kameraden sofort begraben, nämlich – in den Magen der Überlebenden.

Es war von den Wölfen nichts mehr zu erblicken, und Hermann glaubte schon alle Gefahr vorüber, als ihn Herr Bochner plötzlich vom weiteren Vordringen zurückhielt. »Hörten Sie eben das Schnaufen?« fragte er, »das dumpfe Brummen?«

»Sollte es ein Bär sein?«

»Ein grauer sogar, einer von der allergefährlichsten Art. Wir werden ohne Zweifel sogleich mehr hören und, wenn erst die Sonne hoch am Himmel steht, auch sehen.«

Das Brummen wiederholte sich bald darauf, stärker und immer stärker, dann zeigten die Sonnenstrahlen ein seltsames, beinahe ergötzliches Bild.

An einem der Hütte gegenüberliegenden Felsen hockte auf den Hinterpfoten ein großer Bär. Er hielt die gewaltigen Vordertatzen auf seiner Brust gekreuzt und riß den Rachen weit auf, als wollte er sagen: »Ich verschlinge alles, was mir in den Weg tritt!«

105 Im Halbkreise um ihn herum, in achtungsvoller Entfernung, standen einige fünfzig Wölfe und beobachteten den gefährlichen Gegner. Sie wußten genau, daß ihnen ein etwaiger Fluchtversuch das Leben kosten müsse, daher sahen ihre funkelnden Augen unablässig in die des Bären, der sich seinerseits wohl hütete, den schützenden Felsen zu verlassen, sondern nur von Zeit zu Zeit brummte, als wollte er die Meute herausfordern.

»Keinen Schuß!« gebot Herr Bochner. »Lassen wir die Bestien einander zerfleischen und schonen wir dabei unsere Pulvervorräte.«

»Besonders Du, Otto«, fügte er hinzu, »Deine Pistolen habe ich wohl zwanzigmal knallen hören.«

»Und jedesmal ist ein Wolf gefallen!« rief stolz der Knabe.

Jermak wandte sich ab; die Flut der bittersten Erinnerungen brach zu plötzlich über ihn herein. Sein unglücklicher Sohn – wo mochte er sich jetzt befinden?

Und zu Hause seine Vorgesetzten, sein Weib und die jüngeren Kinder – was dachten sie alle wohl? Er war spurlos verschwunden, er konnte ihnen sogar keinerlei Nachrichten, keinerlei Botschaft zugehen lassen.

Drinnen stützte der unglückliche Mann den Kopf in die Hand. Mochte alles gehen, wie es wollte, er kümmerte sich kaum noch darum.

Draußen begannen die Wölfe den Bären anzugreifen, wenigstens knurrten sie und sprangen umher, aber Petz ließ sich nicht beirren, er hoffte vielleicht, daß der Eifer seiner Gegner bald erschöpft sein werde; die graue Masse wich und wankte nicht.

Plötzlich stürzten sich, wie auf Verabredung, sechs oder zehn der kräftigsten Wölfe über ihn her und bohrten ihre Zähne in sein zottiges Fell, dabei kläffte die ganze Meute in ohrenzerreißender Weise. Mochte jetzt der Bär sehen, wie er sich verteidigte.

Petz bewegte den ungeheuren Kopf und schüttelte seine Widersacher ab wie Fliegen. Sobald er mit den Tatzen um sich schlug, lagen zwei Wölfe mit zerschmettertem Schädel am Boden.

Hermann wandte sich zu seinem aufmerksam beobachtenden Genossen. »Wie wäre es, wenn wir jetzt dem Bären zu Hilfe kämen, Herr Bochner?« flüsterte er.

»Ich dachte auch schon daran – die Bestien sind zu zahlreich. Ja, ja, lassen Sie uns noch einige derselben erlegen.«

»Aber wir müssen uns zu diesem Zweck in die Nähe des Bären begeben!«

»Natürlich!«

Sie drängten sich, mit Kolbenschlägen den Weg bahnend, bis zum Felsen durch und erschossen diejenigen beiden Wölfe, welche gerade den 106 Meister Petz am stärksten bedrohten, dann trieben einige in den dichten Haufen hineingesandte Kugeln die Schar der Anstürmenden ein wenig zurück.

Der Bär schien im Anfang etwas erschrocken, aber offenbar erkannte er schon sehr bald, daß die Menschen zu seinem Beistande gekommen waren, und schlug und biß tapfer in die Reihen seiner Angreifer hinein.

Immer dichter scharten sich die Wölfe, immer wütender schossen sie mit wahrer Todesverachtung vorwärts, zuweilen im offenen Sprunge, um den Hals des Bären zu zerfleischen, dann wieder kriechend, um ihn am Bauche, der wenigst beschützten Stelle, zu packen, aber jedesmal vergeblich, da die schweren Tatzen oder die Bleikugeln alle trafen, welche sich näherten, und alle so, daß sie nie wieder aufstanden.

Das Blutbad wurde wahrhaft entsetzlich.

Der Bär warf jetzt seine Angreifer in die Luft, so daß sie das Genick brachen oder mit geknickten Knochen davonzukriechen versuchten, er sah seinen Sieg und verteilte immer schwerere Hiebe, bis endlich die Wölfe heulend davonliefen, sogar ohne sich um die Überreste ihrer gefallenen Kameraden zu bekümmern.

Hermann, Otto und Herr Bochner wateten buchstäblich im Blute.

Meister Petz blieb ruhig in der Nähe der Männer sitzen und säuberte mit der Zunge seine Krallen von den herausgerissenen Haaren der Wölfe. Vielleicht nahm er an, daß diese doch noch wieder zurückkommen würden.

»Was meinen Sie?« fragte Hermann. »Sollen wir nun ihn angreifen?«

»Natürlich. Uns auf seine Großmut zu verlassen, wäre etwas gewagt!«

»Das glaube ich auch!«

Und so bekam denn der Graue die tödliche Kugel aus nächster Nähe mitten ins Herz. Er starb, von Hermanns sicherer Hand getroffen, schnell und plötzlich. Der junge Deutsche bat den Tanzlehrer, ihm bei der Abhäutung des riesigen Tieres hilfreichen Beistand zu leisten. »Ein prachtvoller Kerl!« sagte er.

»Aber sehen Sie doch, Herr Bochner, ganze Wolken von Raben lassen sich auf die Überreste der getöteten Wölfe herab!«

»Leider! Wir können an diesem Platze nicht mehr bleiben, sondern müssen unsere Zelte abbrechen und weiterziehen – nicht immer dürfte sich ein grauer Bär zur Verteidigung bereit finden, die Wölfe dagegen kehren unter allen Umständen zurück. Sie sind zu zahlreich, um sich mit Erfolg verscheuchen zu lassen.«

»Das ist eine böse Botschaft – wahrhaftig!«

107 Auch der Polizeimeister erschrak, als er hörte, daß die Wanderung von neuem beginnen müsse. In trüber, beklommener Stimmung wurden die Wände des Schneehauses eingerissen, die Decken und Stangen den Pferden aufgeladen und das übrige Gepäck in die Hand genommen, dann ging es vorwärts, dem Laufe des festgefrorenen Flusses nach, während die Jakutin in entgegengesetzter Richtung davontrabte. Dichter Schnee fiel herab, die Sonne verschwand hinter grauen, undurchdringlichen Schleiern, Dämmerung umhüllte den Weg, Todesschweigen herrschte in der Natur.

Oben im bleifarbenen Wolkenzuge das Schreien heiserer Raben, unten am Boden die Spuren von Wölfen und Bären, das war alles Leben, was den Verbannten begegnete.

»Ein trauriger Tag!« flüsterte Emma, kaum ihren Thränen noch gebietend.

Hermann stand still. »Ich höre etwas!« rief er.

Der Polizeimeister wechselte die Farbe. »Das sind Schlitten – vielleicht eine Wachtpatrouille von Kosaken!«

Hermann nahm die Büchse von der Schulter. »Wie viele Männer würden das sein?« fragte er im Tone eines Menschen, der zum Äußersten entschlossen ist. »Mehr als wir?«

Jermak schwieg, statt seiner gab Herr Bochner die gewünschte Auskunft. »Zwei!« sagte er; »wir haben nichts zu fürchten, mein lieber Hermann!«

Der Polizeimeister und er wechselten einen langen Blick. Jermaks Augen zeigten Groll und Unruhe, diejenigen des Tanzlehrers offene Siegesfreude. Der Wiener lächelte, als wolle er sagen: »Ich bin ein alter Fuchs, mich fängst Du so bald nicht.«

Er und Hermann blieben im Anschlag, Otto hielt seine Pistolen in beiden Händen, während Jermak beobachtend, mit fliegenden Pulsen neben ihnen stand.

Im schnellen Schritt näherten sich zwei Gespanne, die Renntiere flogen über den festen Boden dahin, ein lauter Zuruf des Führers begrüßte die Wartenden – wie unsinnig stürzte sich Treu, bellend und wedelnd vor Freude, den Schlitten entgegen.

»Tekel! Es ist Tekel!«

Auf die vorherige Angst folgte ein unermeßlicher Jubel. Es war den Unglücklichen, als sei nun alles gewonnen, als habe alle Unruhe, aller Zweifel ein Ende genommen. Sie eilten dem Jakuten entgegen wie einem lieben, langentbehrten Freunde.

Nur Jermak wandte sich ab, um seine Mißstimmung zu verbergen. Er war als moskowitischer Beamter in einer ebenso gefährlichen wie 108 seltsamen Lage – was konnte er thun, um diese Flucht zu verhindern, um nicht selbst mit den Verbannten ziehen zu müssen?

Für ihn, den Beamten von zwanzigjähriger Amtsführung, gab es nur eine Richtschnur, das Gesetz.

Er kannte neben demselben keine andere Stimme, keine andere Berechtigung, er wußte nur, was für jeden einzelnen Fall die strafrechtlichen Paragraphen vorschrieben, und das war diesem Manne von eiserner Beharrlichkeit völlig genug.

Jetzt war er in der Lage, Verbrechern Vorschub leisten zu müssen. Es gab kein Mittel, um diesem Zwange zu entgehen.

Hätte ihn doch die Hand des Tanzlehrers am Felsen zerschmettert – heute wünschte er es.

Der Jakute stand mit offenem Munde da. Wo war der Wald? – Er erkannte seine Gebieter, er sah sie alle, aber doch glaubte er an einen Spuk. – Wo war der Wald?

Hermann gab ihm eine kurze Erklärung, dann ließ er sich den neuangeworbenen Jakuten vorstellen und sagte in betreff des Polizeimeisters nur, daß Herr Jermak die Reise mitzumachen beabsichtige – nach diesen nötigsten Einleitungen kam das Gepäck der Flüchtigen in die mit Mundvorrat reichlich versehenen Schlittenkasten, und die weitere Fahrt konnte vor sich gehen.

Tekel hatte zwei Zelte aus Filz mitgebracht, sehr praktische Einrichtungsstücke, die während des Tages mit leichter Mühe zu Sitzkissen zusammenzulegen waren, ferner einige Flaschen guten, alten Weines und reichliche Mengen von Schießbedarf, sowie eine zerlegbare Spirituslampe mit Kessel, eine Metallflasche voll Spiritus und einen Sack mit getrockneten Früchten.

Der zweite Jakute war ein ganz junger Mensch von gutmütigem Aussehen, er hieß Khort und trug, wie Tekel, den grauen Pelzmantel und die lederfarbenen Beinkleider der Eingeborenen, daneben eine hohe spitze Mütze und Pelzstiefeln, die bis zu den Knieen gingen.

Was die Narten betraf, so waren es lange, schmale, sibirische Schlitten, in denen außer dem Kutscher noch zwei oder höchstens drei Personen sitzen können. Der Führer eines derartigen Gefährts muß sich des unebenen Bodens wegen in jedem Augenblick bereit halten, herabzuspringen, daher sitzt er sehr schlecht.

Drei Renntiere ziehen eine solche Narte und beanspruchen dafür bei sechsstündiger Arbeit nur die getrockneten Flechten, welche ihnen als Nahrung dienen. Ohne diese Tiergattung könnten die Völker des äußersten Nordens nicht fortbestehen; sie erhalten durch das genügsame 109 und ausdauernde Renntier fast alles, was ihnen im Hause und zur Jagd notwendig ist.

Was Pferd und Rind für uns, was das Kamel für den Araber ist, das ersetzt das Renntier dem Bewohner der kalten Zone – es erhält ihn.

An diesem Abend war die Mahlzeit, obwohl sie unter freiem Himmel verzehrt wurde, doch ausnahmsweise üppig. Es gab jakutisches Brot mit Butter, »Strugamina« oder zu Gallert gewordenen Fisch, gefrorenes Renntiergehirn, einen beliebten Leckerbissen der Eingeborenen und endlich ein Glas Wein – dann, nachdem man gegessen hatte, stellten die Jakuten beide Zelte auf, entzündeten ein Wachtfeuer und legten sich mit der Büchse im Arm neben dasselbe. Unsere Freunde konnten nachholen, was sie während der vorigen Nacht an Schlaf eingebüßt hatten. 110

 


 


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