Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Siebentes Kapitel.

Leben im Freien.

Eine frühe Dämmerung sank herab und verbreitete ein fast nächtliches Dunkel zwischen den Felsen. Es war eine schlimme, von Gefahren umdrohte Reise, die Reise durch das eisige, zerklüftete Gebirge – man konnte es nicht wagen, sein Leben und seine gesunden Glieder dem Fuhrwerk anzuvertrauen; das junge Mädchen und der Knabe gingen zu Fuß, während sämtliche Männer die Pferde Schritt für Schritt durch den Paß leiteten und entweder nachschiebend oder hemmend den Wagen hüteten. Alle Laternen brannten, selbst Treu trug eine solche auf dem Nacken; er hielt sich dicht an Emmas Seite, als sei ihm doch die Sache höchst ungemütlich.

Herr Bochner hatte die Violine aus der Brusttasche genommen und sie in den Wagenkasten gesteckt – Spiel und Tanz waren ja vorüber.

Sonderbar – er sollte nicht mehr tanzen, keinen Birkenchampagner bereiten, keine Pelze einkaufen oder Seltenheiten sammeln. Das alles war mit einem Schlage zu Ende; das begangene Verbrechen hatte ihn gleichsam zu einem ganz anderen Menschen gemacht.

64 Freilich besaß er ein schönes Vermögen; es waren jährlich Tausende von Rubeln nach Wien gewandert, er konnte auch ohne Arbeit ruhig und behaglich leben, wenn nicht gerade die letzten Ereignisse seinem ganzen Dasein eine veränderte Richtung gegeben hätten. Seitdem der Felsblock zersplitternd in das Thal stürzte, glaubte der arme, gutmütige Herr Bochner nie mehr eine ruhige Stunde erleben zu können.

Hundertmal, tausendmal fragte er sich: »Bin ich wirklich ein Mörder?«

Und dann brach wieder der Schweiß aus allen Poren.

Zuweilen stand er still. Er wollte umkehren und sich überzeugen, ob der Polizeimeister erschlagen sei oder nicht – die Ungewißheit tötete ihn.

Aber dann kam ein anderer Gedanke: er würde den Flüchtigen schaden. Er würde es verschulden, daß sie ohne ihn in den Gebirgspässen elend umkämen.

Und bei dieser Vorstellung machte er Kehrt, lief sich außer Atem, bis er den kleinen Zug wieder erreicht hatte. Nein, nein, der Mord war einmal geschehen, in halbem Wahnsinn, wie er jetzt dachte; wenigstens sollten also die Verbannten daraus ihren Nutzen ziehen. Ganz umsonst durfte kein Menschenleben zerstört sein.

Hermann und Emma sahen ihn in solchen Fällen ängstlich an. »Was giebt es?« fragten beide. »Hörten Sie etwas, Herr Bochner?«

Er trocknete sich die Stirn. »Nichts, gar nichts meine Freunde! – Es war eine Stimme, die ich zu hören glaubte – eine Einbildung.«

Hermann erstickte einen Seufzer, und der schweigsame Zug bewegte sich weiter. Nach langen, mühevollen Stunden kam der Ausgang des endlos scheinenden Felsenpasses. Zwischen den Zweigen der Lärchen spielten gaukelnd weiße Mondstrahlen und schlanke, glatte Birkenstämme, die wie silberne Säulen am Wege standen. Wenigstens war jetzt der Blick frei; die düsteren, beengenden Mauern hatten aufgehört.

Der Wagen konnte wieder benutzt werden; unter einem hellen, sternenbesäeten Himmel fuhren die Flüchtlinge über ein freies Hügelland, während in weiterer Ferne das Gebirge rechts und links den Blick begrenzte.

Im Morgengrauen war die bewaldete Tiefebene hinter der Werchojanskischen Gebirgskette erreicht – der Burukanwald, wo sich die Flüchtigen mehrere Wochen lang verborgen halten wollten, bis Tekel mit einigen Renntieren aus Zaschinersk zurückgekehrt sein würde.

In der Tiefe der Ebene brauste ein bedeutender Strom; Gebirgszüge umfaßten von allen Seiten den Wald – hier war man vor aller Verfolgung gesichert, namentlich da auch ein größerer Reitertrupp schwerlich eindringen konnte.

66 Nur mit vieler Geduld und Mühe gelang es den vereinten Kräften, erst einmal die Kibitka in ein sicheres Versteck zu bringen. Alle Spuren des Einzuges wurden sorgfältig verwischt, einige Stunden Ruhe gehalten und dann der Marsch wieder angetreten, bis die innerste Mitte des Burukanwaldes erreicht war. Die Flüchtlinge nahmen auf den Schultern und den Rücken der Pferde alle ihre Habseligkeiten mit; denn den Wagen konnten sie nicht mehr von der Stelle bringen – er mußte stehen bleiben, bis die Weiterreise vor sich ging.

In der Mitte des Waldes floß ein schmaler Wasserarm jenes größeren Stromes; am Ufer befand sich eine kleine Lichtung hinter einem undurchdringlichen Tannendickicht; hier beschlossen unsere Freunde, ihr Heim aufzuschlagen.

Seit fast vierundzwanzig Stunden hatten sie weder gegessen noch geschlafen; das Gefühl einer verhältnismäßigen Sicherheit ließ sie jetzt daran denken.

Während die Männer das Zelt aufschlugen und diesmal seine Stangen tief in den Boden hinein rammten, während sie die äußere Umfassung durch große Steine und Baumstämme beschwerten, bereiteten Emma und Otto eine Mahlzeit.

Der Jakute schlug mit dem Beil eine Menge von dünnen, biegsamen Stäben ab; dann begann er das ganze Zelt von außen zu umflechten und stopfte welke Blätter in die Zwischenräume. Auf diese Weise entstand eine sichere, wärmende Wand, die vollkommen fähig war, den Einflüssen der rauhen Witterung Trotz zu bieten.

Herr Bochner ordnete drinnen seine Pelze, die besten für Emmas Lagerstätte auswählend. Wie sanft würde es sich nach so langer, mühevoller Reise in dieser Nacht schlafen! –

Das Zelt war sehr geräumig, sogar mit mehreren Fenstern aus aufgespannten Fischblasen nach Art der jakutischen Jurten versehen; wenn am Morgen die Pelze zusammengerollt wurden, so bot es Platz für ein gemütliches Beieinander und konnte auch, sobald erst Tisch und Stühle gezimmert waren, sehr wohl als Speiseraum dienen.

Mehrere Reisbesen befreiten Haus und Umgebung von Insekten, wie von dem spärlichen Pflanzenwuchs, die mitgebrachte Hängelampe wurde in Stand gesetzt und aus doppelten Fellen eine verschließbare Thür hergestellt.

Für die Pferde brauchte nicht gesorgt zu werden; denn Tekel sollte sie schon am nächsten Tage mitnehmen nach Zaschinersk.

Treu lag vor dem Eingang – Menschen und Tiere schliefen in dieser Nacht den Schlaf der äußersten Erschöpfung.

Früh am folgenden Morgen gab Hermann dem Jakuten seine 67 Anweisungen. Es war doch besser, wenn Tekel einen großen Schlitten mitbrachte; dann wurde es überflüssig, erst den weiten Weg bis zu der versteckten Kibitka nochmals zurückzulegen; man konnte sich auch bequemer einrichten, da Herr Bochner die Reise mitmachen wollte, während früher für ihn kein Platz berechnet war. Das Geld zu diesen beträchtlichen Einkäufen erhielt der Eingeborene in Rubelscheinen ausgehändigt; Herr Bochner wußte, daß der arme, unwissende Mensch eher sein Leben lassen, als ihn betrügen werde, und so reiste denn Tekel ab, alle Hoffnungen der Flüchtlinge mit sich nehmend, begleitet von ihren Sorgen, ihren inbrünstigen Gebeten.

Der Erfolg oder Nichterfolg seiner Sendung mußte über das Geschick der vier im winterlichen Walde Zurückgebliebenen endgültig entscheiden.

Hermann gab dem Fortziehenden das Geleite längs des Flusses, der sich auf der Thalsohle zwischen Gestrüpp und Steinen ein krummes Bette ausgehöhlt hatte, und wie die verirrten Kinder des deutschen Märchens zeichnete er mit der Axt viele der Bäume, an denen er vorüberging, um dem Jakuten das Wiederauffinden des Versteckes tief im Walde zu erleichtern.

Vielleicht war ja zur Zeit der Rückkehr das Wasser noch nicht gefroren, Tekel mußte den Schlitten und die Renntiere draußen verbergen, selbst aber den Flüchtigen das Zeichen zum Aufbruch geben – daher diese Fürsorge.

Der Jakute nickte. »In vierzehn Tagen ist alles Wasser hier in diesem seichten Bette bis auf den Grund gefroren«, antwortete er. »Ich kann mit klingenden Schellen vor die Thür des Zeltes fahren.«

Hermann reichte ihm zum Abschied die Hand. »Wenn es Gottes Wille ist«, fügte er im Herzen hinzu.

Solange der Jakute sichtbar war, stand er und sah ihm nach, dann – mit einem Gefühl, als sei die Luft plötzlich kälter geworden – wandte er sich zum Heimwege. Treu lief wedelnd und lustig bellend voraus.

Plötzlich aber stand das Tier still und hob einen Fuß vom Boden, als wolle er horchen. Ein halblautes Winseln zeigte, daß es irgend etwas Befremdliches gehört oder gesehen haben müsse.

Hermann faßte die Kugelbüchse schußgerecht, er lauschte mit aussetzendem Herzschlag. Es regte sich in seiner Nähe kein lebendes Wesen.

Der Hund war verschwunden, Hermann hörte aus einiger Entfernung ein lebhaftes Gebell zwischen den dichtstehenden Stämmen, dann kam das Tier plötzlich hervorgesprungen, sah ihn an, wedelte, lief voraus und zurück, als wolle es ihn bitten: geh doch mit mir! Zuletzt schoß es wieder in das Dickicht hinein, dabei immerfort bellend.

Hermann hing das Gewehr um, nahm die Axt in die rechte Hand und begann kriechend dem Hunde zu folgen. Das Gewirre von buschartiger 68 Heide mit schwarzen, saueren Beeren war oft kaum zu durchdringen; später folgte, die Nähe eines Tümpels verratend, Stechginster mit dünnen, biegsamen Stäben, ebenso Stachelbeeren, deren halbreife Früchte, vom Nachtfrost überrascht, gelb und verdorrt an den blätterlosen Stengeln hingen.

Nach etwa fünf Minuten, während welcher sich Hermann das Gesicht und die Hände an den Dornen zerrissen hatte, nach langen, mühevollen fünf Minuten traf er den winselnden Hund, wie er vor einem schlammigen Gewässer stand und immer hin- und herstürzte, ohne sich hinzuwagen. Das Tier schien ängstlich zu sein.

»Da steckt ein Bär!« dachte Hermann. »Treu möchte ihn angreifen und wagt es doch auch wieder nicht – vielleicht erwische ich einen guten Braten.«

Er nahm die Büchse zur Hand und schlich unter dem Schutze der Ufergewächse näher an den Teich heran. Es war ihm, als höre er das Ächzen einer menschlichen Stimme, einen halberstickten Schrei. Erschrocken stand er still, um zu horchen.

Da klang der frühere Ton nochmals herüber. »Jesus, Jesus«, sagte die Stimme, »ich muß hier elend umkommen!«

Mit einem einzigen Satz sprang Hermann vor. »Herr Bochner«, rief er, »wo sind Sie?«

»Ach! – Ach! – Kommen Sie schnell, mein Freund!«

Bis zum Gürtel im zähen Schlamme steckend, zappelte der Tanzlehrer wie der Fisch an der Angel. Seine beiden Hände hielten krampfhaft eine Baumwurzel umklammert, der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, er schien nichts mehr zu hören oder zu sehen, sondern ächzte nur immer im halben Murmeln vor sich hin.

»Herr Bochner«, rief Hermann, »Herr Bochner, ich bin hier!«

Der laute Zuruf ermutigte den Versinkenden. »Hermann«, stammelte er, »o – helfen Sie mir!«

Das war nun freilich schneller ausgesprochen als bewerkstelligt, aber die frischen Kräfte des jungen Deutschen behielten dennoch den Sieg. Schwebend, mit einer Fußspitze auf dem Uferrand, gehalten von seinem linken, einen Baumstamm umklammernden Arme, brachte er es fertig, mit dem rechten den unglücklichen Wiener aus dem Schlamm hervorzuziehen und auf das Trockene zu bringen.

»So«, rief er, »das wäre geschehen! Jetzt nehmen Sie einen Schluck Branntwein, Herr Bochner – dann wollen wir uns rasch nach Hause begeben, damit Sie sich umkleiden können. Fühlen Sie Schmerzen, mein armer Freund?«

Der Tanzlehrer trank, und dazwischen stieß er abgebrochene Laute hervor. »Ich wollte Ihrer Fräulein Schwester ein paar Schlehen für 69 die Küche besorgen – zum Kompott – die Dinger können ja den Frost gut vertragen, und dabei – bin ich hineingerutscht!«

Dann fügte er im kläglichsten Tone hinzu: »Meine Schuhe, meine Schuhe – lieber Himmel, sie sind stecken geblieben!«

Hermann lachte. »Besser die Schuhe als Sie selbst, Herr Bochner! Trösten Sie sich, die Sache ist nicht so schlimm!«

»Nicht? Nicht? Aber ich muß jetzt in Strümpfen gehen!«

»Das sollen Sie keinesweges, oder doch nur für den Augenblick – ich werde schon Rat schaffen. Aber jetzt«, fügte er hinzu, »machen Sie, daß Sie nach Hause kommen, oder Sie werden krank.«

Der Wiener sandte einen kläglichen Blick an seiner schlammüberzogenen Person herab. »So vor Fräulein Emmas Blicken zu erscheinen«, murmelte er. »Ach mein Gott, es ist zum Totärgern!«

Dabei sprang er fast wie ein Hase, immer nur mit den Zehenspitzen den eiskalten Boden berührend. Hermann lachte ihm nach – der alte Herr sah zu komisch aus.

Dann suchte er eine recht schlank aufgeschossene Birke und schnitt zwei große, halbrund nach dem Stamm gebogene Stücke ihrer Rinde heraus, um diesen Stoff als Leder zu benutzen und daraus solche Schuhe zu verfertigen, wie sie von den sibirischen Bauern viel getragen werden und »Laptis« heißen.

Als er den Stoff gefunden hatte, begab er sich nach Hause und sah hier den Wiener schon beschäftigt, im Flusse seine geschwärzten Kleidungsstücke zu säubern. Emma hatte Thee und gebratenes Geflügel bereits fertig. Otto trug Rasenstücke herbei die er mit Hilfe mehrerer Felle zu ganz erträglichen Sesseln formte, und baute dann aus den übereinander gepackten Vorratskisten einen Tisch, kurz, die kleine Niederlassung, behaglich erwärmt durch ein großes Feuer, sah sehr anheimelnd und gemütlich aus – man verbrachte einen Tag, wie ihn die letzte Vergangenheit nicht mehr aufzuweisen hatte. 70

 


 


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