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Man hat Andrea del Sarto oberflächlich und seelenlos genannt und es ist wahr, es giebt gleichgültige Bilder von ihm und er hat in seinen späteren Jahren sich gern auf die blosse Routine verlassen; unter den Talenten erster Ordnung ist er der einzige, der in seiner moralischen Konstitution einen Defekt gehabt zu haben scheint. Aber von Hause aus ist er der feine Florentiner aus dem Geschlechte der Filippinos und Lionardos, höchst wählerisch in seinem Geschmack, ein Maler des Vornehmen, der lässig-weichen Haltung und der edeln Handbewegung. Er ist ein Weltkind, auch seine Madonnen haben eine weltliche Eleganz. Die starke Bewegung und der Affekt sind nicht seine Sache, über das ruhige Stehen und Wandeln geht er kaum hinaus. Hier aber entwickelt er ein entzückendes Schönheitsgefühl. Vasari macht ihm den Vorwurf, er sei zu zahm und schüchtern gewesen, es habe ihm die rechte Keckheit gefehlt und man braucht allerdings von den grossen »Maschinen«, wie sie Vasari zu malen pflegte, nur eine gesehen zu haben, um das Urteil zu verstehen. Aber auch neben den mächtigen Konstruktionen Fra Bartolommeos oder der römischen Schule sieht er still und schlicht aus.
Und doch war er vielseitig und glänzend begabt. In der Bewunderung Michelangelos aufgewachsen, konnte er eine Zeitlang als der beste Zeichner in Florenz gelten. Er behandelt die Gelenke mit einer Schneidigkeit (man verzeihe das triviale Wort) und bringt die Funktionen mit einer Energie und Klarheit zur Erscheinung, die seinen Bildern eine volle Bewunderung sichern müsste, auch wenn das florentinische Erbteil der guten Zeichnung sich hier nicht mit einer malerischen Begabung verbunden hätte, wie sie in Toskana kaum mehr vorgekommen ist. Er beobachtet nicht viele malerische Phänomene und lässt sich z. B. in die stoffliche Charakteristik verschiedener Dinge nicht ein, aber das milde Flimmern seiner Karnation und die weiche Atmosphäre, in die seine Figuren eingebettet sind, haben einen grossen Reiz. In seiner 153 koloristischen Empfindung hat er wie in seiner Linienempfindung dieselbe weiche, fast müde Schönheit, die ihn moderner als irgend einen anderen erscheinen lässt.
Ohne Andrea del Sarto würde das cinquecentistische Florenz seines Festmalers entbehren. Das grosse Fresko der Geburt Mariä im Vorhof der Annunziata giebt uns etwas, was uns Raffael und Bartolommeo nicht geben: das schöne geniessende Dasein der Menschen im Augenblick, da die Renaissance ihre Sonnenhöhe erreicht hatte. Man möchte von Andrea noch viel mehr derartige Existenzbilder haben, er hätte nichts anderes malen sollen. Dass er nicht der Paolo Veronese von Florenz geworden ist, lag freilich nicht an ihm allein.
In der Vorhalle der Annunziata pflegt der Reisende gewöhnlich den ersten grossen Eindruck von Andrea zu bekommen. Es sind lauter frühe und ernsthafte Sachen. Fünf Szenen aus dem Leben des heiligen Filippo Benizzi mit dem Schlussdatum 1511 und dann die Geburt der Maria und der Zug der drei Könige von 1514. Die Bilder sind in einem schönen lichten Ton gehalten, anfänglich noch etwas trocken in dem Nebeneinander der Farben, in dem Geburtsbild aber ist die reiche harmonische Modulierung Andreas schon vollkommen vorhanden. In der Komposition sind die ersten zwei Bilder noch locker und lose behandelt, mit dem dritten aber wird er streng und giebt eine Fügung mit accentuierter Mitte und symmetrisch entwickelten Seitengliedern. Er treibt einen Keil in die Menge hinein, dass die Zentralfiguren zurücktreten müssen und das Bild Tiefe bekommt, im Gegensatz zu der Linien-Aufstellung dem vorderen Bildrand entlang, wie sie noch Ghirlandajo fast ausschliesslich hat. Das Zentralschema an sich ist im Historienbild nicht neu, aber neu ist es, wie sich die Figuren die Hände reichen. Es sind nicht einzelne Reihen hintereinander aufgestellt, sondern es entwickeln sich die Glieder in übersichtlicher und ununterbrochener Verbindung aus der Tiefe heraus. Es ist das gleiche Problem, was zur selben Zeit, nur in viel grösserem Massstabe, Raffael in der Disputa und der Schule von Athen sich stellte.
Mit dem letzten Bilde, der Geburt Mariä, geht dann Sarto aus dem tektonisch-strengen in den frei-rhythmischen Stil über. In prachtvoller Kurve schwillt die Komposition an: von links her, mit den Weibern am Kamin beginnend, gewinnt die Bewegung in den wandelnden Frauen ihren Höhepunkt und verklingt in der Gruppe am Bette der Wöchnerin. 154 Die Freiheit dieser rhythmischen Anordnung ist freilich etwas ganz anderes als die Regellosigkeit des älteren ungebundenen Stiles: hier ist Gesetz, und wie die stehenden Frauen das Ganze beherrschen und zusammenfassen, ist als Motiv erst im 16. Jahrhundert denkbar.
Sobald Sarto von dem anfänglichen lockeren Nebeneinander zur strengen Komposition überging, hatte er das Bedürfnis, die Architektur zur Mithilfe heranzuziehen. Sie soll sammelnd wirken und den Figuren Halt geben. Es beginnt jenes Zusammenempfinden von Raum und Menschen, das dem Quattrocento, wo das Bauliche mehr die Rolle einer zufälligen Begleitung und Bereicherung spielte, im ganzen noch fremd gewesen war. Sarto ist noch Anfänger und man wird nirgends sagen können, dass das Verhältnis zur Architektur ein glückliches sei. Man merkt seine Verlegenheit, mit dem übergrossen Raum zurechtzukommen. Der architektonische Hintergrund ist wohl durchweg zu schwer; wo er eine Öffnung in der Mitte giebt, wirkt sie mehr verengend als erweiternd und wo er den Blick seitlich in die Landschaft entlässt, zerstreut er den Beschauer. Überall sehen die Figuren noch etwas verloren aus. Erst das Interieur des Geburtsbildes bringt auch hier die reine Lösung des Problems.
Wie wenig Andrea dem dramatischen Gehalt der Szenen gewachsen war, macht jeder Vergleich mit Raffael klar. Die Gebärde des 155 wunderwirkenden Heiligen ist weder gross noch überzeugend und das Publikum gefällt sich durchweg in einem blossen lässigen Dabeistehen mit ganz leisen Äusserungen des Erstaunens. Wo es sich einmal um eine starke Bewegung handelt, wo der Blitz die Spieler und Spötter auseinanderschreckt, da zeigt er diese Figuren nur klein im Mittelgrunde, obwohl gerade das ein Anlass gewesen wäre, von den Studien vor Michelangelos Karton der badenden Soldaten eine Probe abzulegen. Die Hauptmotive sind alle von ruhiger Art, aber es lohnt sich doch der Mühe, den Gedanken des Künstlers im einzelnen nachzugehen und gerade da, wo er dreimal hintereinander die Aufgabe hatte, mit stehenden, kommenden, sitzenden Figuren die Glieder von der Mitte aus im ganzen symmetrisch, im einzelnen unsymmetrisch zu entwickeln, wird man auf sehr schöne, jugendlich-weich empfundene Motive treffen. Die Schlichtheit wirkt ja manchmal fast als Befangenheit, allein man verzichtet so gerne einen Augenblick auf die durch Kontraposto interessant gemachten Körper.
Völlig frei ist Andrea im Geburtsbilde. Die vornehme Nonchalance, das lässige Sich-Geben hat keinen berufeneren Interpreten gefunden als ihn. In den zwei wandelnden Frauen lebt der volle Rhythmus des Cinquecento. Die Wöchnerin in ihrem Bett wird gleichzeitig auch zu reicherer Präsentation aufgerufen. Das flache Liegen und der steife Rücken bei Ghirlandajo erschien jetzt wohl ebenso philiströs-altertümlich wie das Liegen auf dem Bauch bei MasaccioRundbild in der Berliner Galerie. den vornehmen Florentinern gemein vorkommen musste. Die Wöchnerin im Bett macht eine ähnliche Entwicklung durch wie die liegende Grabfigur: beiderseits giebt es jetzt viel Drehung und Differenzierung der Glieder.
Das dankbarste Motiv einer Wochenstube im Sinne der reichen Bewegung ist der Kreis der Frauen, die sich mit dem Kinde abgeben. Hier kann man prachtvoll sein in vielfältigen Kurven und aus Sitz- und Beugefiguren einen dichten Bewegungs-Knäuel bilden. Sarto ist noch zurückhaltend in der Ausbeutung des Themas, spätere aber machen daraus überhaupt den Inhalt eines Geburtsbildes. Man nimmt die Frauengruppe ganz in den Vordergrund und schiebt das Bett mit der Wöchnerin zurück, wodurch dann von selbst das Besuch-Motiv in Wegfall kommt. Sebastiano del Piombo giebt in einem grossartigen Bild in S. M. del Popolo (Rom) die Szene zum erstenmal in dieser Art, die für das 17. Jahrhundert allgemein gültig wird.
Im Oberteil des Bildes sieht man einen Engel das Weihrauchfass schwingen. So sehr die Wolkenentfaltung an dieser Stelle aus seicentistischen Beispielen bekannt ist, so sehr ist man überrascht, das Motiv 156 hier bei Sarto zu finden. Man ist noch zu sehr an die helle klare Wirklichkeit des Quattrocento gewöhnt, um solche Wundererscheinungen als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Offenbar ist ein Wechsel der Stimmung vor sich gegangen: man denkt wieder ideal und giebt dem Wunder Raum. Bei der Verkündigung werden wir auf ein gleiches Symptom treffen.Andrea hat Dürer gekannt und benutzt. Man weiss das aus anderen Fällen. Es ist möglich, dass auch hier der Engel auf die Anregung von Dürers »Marienleben« zurückgeht. An sich musste der Künstler froh sein, überhaupt irgendwie den überflüssigen Oberraum füllen zu können.
Unbeschadet dieser Idealität verlässt Andrea im Kostüm der Frauen und in der Ausstattung des Raumes nicht die florentinische Gegenwart: es ist ein florentinisches Zimmer des modernen Stiles und die Kostüme sind – wie Vasari ausdrücklich angiebt – die damals (1514) getragenen.
Wenn Sarto in diesem Geburtsbilde zu dem frei-rhythmischen Stil gegriffen hat, so will das nicht heissen, dass er die strengere, tektonische 157 Komposition als eine überwundene Vorstufe betrachtete; er kommt an anderer Stelle, im Kreuzgang des Scalzo, wieder darauf zurück. Der Vorhof der Annunziata selbst aber enthält noch ein Prachtbeispiel der Art, die unmittelbar nachher entstandene Heimsuchung des Pontormo. Vasari hat wohl recht: wer neben Andrea del Sarto hier sich zeigen wollte, musste schon etwas aussergewöhnlich Schönes machen. Pontormo hat es gethan. Die Heimsuchung wirkt nicht nur imposant durch die gesteigerte Grösse der Figuren, es ist eine innerlich grosse Komposition. Das Zentralschema, wie es Andrea fünf Jahre früher durchprobiert hatte, ist hier erst auf die Höhe einer architektonischen Wirkung gebracht. Die Umarmung der Frauen geschieht auf einer stufenerhöhten Plattform, vor einer Nische. Durch die (weitvorgezogenen) Stufen ist für die Begleitfiguren eine ausgiebige Höhendifferenz erreicht und es giebt ein lebhaftes Gewoge der Linien. Aus all dieser Bewegung tönen aber siegreich die grossen gliedernden Accente heraus: die Vertikalen am Rand und dazwischen eine steigende und fallende Linie, ein Dreieck, dessen Spitze durch die geneigten Figuren der Maria und Elisabeth gebildet wird und das in der sitzenden Frau links und dem Knaben rechts seine Basis hat. Das Dreieck ist nicht gleichschenkelig, die steilere Linie liegt auf der Seite der Maria, die flachere bei Elisabeth und der nackte Bube unten dran hat sein Bein nicht zufällig so ausgestreckt: er muss eben diese Linie in ihrer Richtung weiterleiten. Alles greift hier zusammen und jede Einzelfigur nimmt Teil an der Würde und Feierlichkeit des grossen durchgehenden rhythmischen Themas. Die Abhängigkeit von den Altarkompositionen Fra Bartolommeos ist offenkundig. Ein Künstler zweiten Ranges hat hier, getragen durch die grosse Zeit, ein wirklich bedeutend wirkendes Bild hingesetzt.
Franciabigios Sposalizio nebendran sieht im Vergleich dazu etwas dünn und ärmlich aus, so fein die Einzelheiten sein mögen. Wir überschlagen es.
In bescheidenen Dimensionen, nicht farbig, sondern grau in grau, hat Andrea del Sarto bei den Barfüssern (Scalzi) ein kleines Säulenhöfchen mit der Geschichte Johannes des Täufers ausgemalt. Zwei Bilder nur sind von Franciabigio, die anderen zehn und die vier allegorischen Figuren sind ganz von seiner Hand. Aber doch nicht in einheitlichem Stil, denn die Arbeit schleppte sich mit vielen Unterbrechungen durch fünfzehn Jahre hindurch, so dass man fast die ganze Entwicklung des Künstlers hier verfolgen kann.
158 Das Grauingraumalen war lange üblich. Cennino Cennini sagt, man wende es an Orten an, die dem Wetter ausgesetzt seien. Auch an Stellen von minderer Wichtigkeit, an Brüstungen, dunkeln Fensterwänden kommt es neben der farbigen Malerei vor. Im 16. Jahrhundert aber wird es mit einer gewissen Liebhaberei gepflegt, was man im Zusammenhang des neuen Stiles verstehen kann.
Das Höfchen macht einen höchst angenehmen Eindruck von Ruhe. Die Einheit der Farbe, der Zusammenhang mit der Architektur, die Art der Einrahmung, alles wirkt zusammmen, die Bilder als besonders wohl gebettet erscheinen zu lassen. Wer Sarto kennt, wird die Bedeutung der Fresken nicht in den psychischen Momenten suchen. Johannes ist ein matter Bussprediger, die Schreckensszenen sind mässig im dramatischen Effekt, Charaktere darf man nicht erwarten, aber er ist immer klar und voll schöner Bewegung und man lernt hier sehr gut verstehen, wie das Interesse der Zeit mehr und mehr auf die formalen Qualitäten übersprang und der Wert einer Historie nach der blossen räumlichen Anordnung abgeschätzt wurde.
Wir besprechen die Bilder nach der Folge ihrer Entstehung.
1. Die Taufe Christi (1511). Das Bild lässt sich gleich als 159 frühestes erkennen durch die Art, wie die Figuren den Raum nicht füllen, sondern zerstreut herumstehen. Es ist zu viel Platz vorhanden. Das feinste ist die Figur Christi, ausserordentlich zart empfunden in der Bewegung und von leichtester Wirkung. Das rechte Bein ist das entlastete, aber bescheiden bleibt Ferse an Ferse. Die Beine decken sich teilweise und das Einziehen der Silhuette in der Kniegegend wirkt ungemein elastisch. Beachtenswert ist, dass die Füsse nicht ins Wasser tauchen, sondern sichtbar bleiben. Einige ideale Nebenschulen hatten es immer so gehalten, jetzt geschah es im Interesse der plastischen Klarheit. Gleicherweise dient die Entblössung der Hüfte dem Bedürfnis einer klareren Vorstellung. Das alte horizontal gebundene Schamtuch unterbrach den Körper gerade an der Stelle, wo die wichtigsten Aufklärungen zu geben sind. Hier ist mit dem schrägfallenden Schurz nicht nur die Deutlichkeit gewahrt, sondern es ergiebt sich von selbst auch noch eine angenehme Kontrastlinie. Die Hände des Täuflings sind über der Brust gekreuzt, nicht betend zusammengelegt wie früher.
Nicht die gleiche Feinheit wird man bei Johannes finden. Der eckig gebrochenen Figur haftet noch einige Ängstlichkeit an. Ein Fortschritt ist nur das Stillestehn, Ghirlandajo und Verrocchio gaben 160 ihn im Moment des Hinzutretens. Die Engel sind die kenntlichen Geschwister des noch schöneren Paares auf dem Verkündigungsbilde von 1512.
2. Die Predigt Johannis (ca. 1515). Die Figuren besitzen hier einen beträchtlicheren Grössenwert innerhalb des Rahmens und die massigere Füllung der Fläche giebt dem Bilde von vornherein ein anderes Aussehen. Das Kompositionsschema weist auf Ghirlandajos Fresko in S. M. Novella. Die erhöhte Figur in der Mitte, die Disposition des Hörerkreises mit den stehenden Randfiguren stimmt überein. Auch die Wendung des Predigers nach rechts ist identisch. Umsomehr wird sich eine Untersuchung der Abweichungen im einzelnen rechtfertigen.
Ghirlandajo sucht seinem Redner mit einer Schrittbewegung Dringlichkeit zu geben, Sarto legt die ganze Bewegung in eine Drehung der Figur um ihre eigene Achse. Sie ist ruhiger und doch reicher an Bewegungsinhalt. Ganz besonders wirksam ist auch hier die starke Einziehung der Silhuette bei den Knien. Die altertümliche Redegebärde mit dem einzeln hochgestreckten Zeigefinger erscheint jetzt kleinlich und dünn, man sucht die Hand als Masse wirken zu lassen, und während dort der Arm steif in einer Ebene gehalten ist, gewinnt er hier, freier ausgreifend, schon durch die Verkürzung ein anderes Leben. Wie die Gelenke ausdrucksvoll gemacht sind und die ganze Figur klar sich gliedert, ist ein schönes Beispiel der cinquecentistischen Zeichnung.
Sarto hat weniger Raum, sein Publikum zu entfalten; er weiss aber den Eindruck der Menge überzeugender zu geben als Ghirlandajo, der mit zwei Dutzend Köpfen, wo jeder einzeln gesehen sein will, doch nur zerstreut. Die festschliessenden Randfiguren wirken an sich massig.Bekanntlich ist der Mann mit der Kutte rechts ebenso wie die sitzende Frau, die ihr Kind hochnimmt, eine Entlehnung von Dürer. Es ist auch vorteilhaft, dass der Redner zu denen spricht, die nicht im Bilde sichtbar sind.
Dass die Hauptfigur bei Sarto so gross wirkt, möge man nicht nur aus dem relativen Grössenverhältnis erklären, von allen Seiten ist darauf hingearbeitet, ihr den Hauptaccent zuzuleiten. Auch die Landschaft ist in Bezug darauf erfunden. Sie giebt dem Redner Halt im Rücken und Luft nach vorn und er erhebt sich als freie fassbare Silhuette, während er bei Ghirlandajo nicht nur in der Menge drinsteckt, sondern auch mit den Hintergrundlinien in üblen Konflikt kommt.
3. Die Taufe des Volkes (1517). Der Stil fängt an, unruhig zu werden. Die Gewänder sind zackig und zerrissen, die Bewegungen überlaut. Die sekundären Figuren, die das strenge Schema mit dem 161 Reiz des Zufälligen umkleiden sollen, thun das im Unmass. Ein echter Sarto ist noch die schöne Rückenfigur eines nackten Jünglings, der lässig niederblickt.
4. Die Gefangennahme (1517). Auch diese Szene, die so wenig dazu sich eignet, ist als Zentralkomposition gegeben. Es sind nicht Herodes und Johannes einander gegenübergestellt, Profil gegen Profil, sondern der Fürst sitzt in der Mitte, schräg vor ihm rechts der Täufer und zur Herstellung der Symmetrie links die gewichtige Rückfigur eines Zuschauers. Da nun aber Johannes von zwei Schergen umringt ist, so verlangt das Bild noch eine Ausgleichung und diese erfolgt in der (unsymmetrisch) links aus der Tiefe kommenden Figur des Hauptmanns der Wache. Die reiche Gruppe der Gefangennahme wirkt sehr lebhaft gegenüber der ruhigen Masse der einen, stehenden Rückfigur. Dass diese nicht mehr als ein Kleiderstock ist, kann man zugeben; nichtsdestoweniger sind solche Kontrastrechnungen für Florenz ein Fortschritt. Früher pflegte man alles gleichmässig zu füllen und gleichmässig in Bewegung zu setzen. Ausserdem ist die Figur des Johannes, der Mühe hat, mit dem Blick den Fürsten zu treffen, sehr schön und wenn die Schergen in der Bewegung vielleicht noch kräftiger sein könnten, so ist doch der Fehler vermieden, in den andere verfallen sind, dass neben ihrer Ungebärdigkeit die Hauptfigur gar nicht mehr zu Worte kommt.
5. Der Tanz der Salome (1522). Die Tanzszene, die sonst in ungehöriger Weise mit der Überreichung des Johanneskopfes zusammengenommen wurde, ist hier in einem gesonderten Bilde behandelt. Andrea mochte an dem Stoffe seine besondere Freude gehabt haben und die tanzende Salome ist in der That eine seiner schönsten Erfindungen, von einem hinreissenden Wohllaut der Bewegung. Die Figur ist sehr ruhig gehalten, die Bewegung liegt hauptsächlich im Oberkörper. Der Tänzerin ist als Kontrast eine Rückfigur gegenübergestellt, der Diener, der eine Platte hereinbringt. Man wird genötigt, die zwei Figuren aufeinander zu beziehen, sie ergänzen sich und erst dadurch, dass der Diener räumlich weiter vorgeschoben ist, kommt die momentane Zurückhaltung der Salome, die so spannend wirkt, zur Geltung. Der Stil hat sich wieder beruhigt, die Linien sind fliessender behandelt. Für die ideale Vereinfachung der Szenerie und das Weglassen aller irgendwie entbehrlichen Details ist das Bild ein Hauptbeispiel.
6. Die Enthauptung (1523). Man sollte meinen, hier wenigstens sei es für Sarto unmöglich, der Darstellung einer starken physischen Aktion aus dem Wege zu gehen: der schwertschwingende Henker ist eine Lieblingsfigur der Künstler, die die Bewegung um ihrer selbstwillen aufgesucht haben. Allein Sarto ist der Verpflichtung doch 162 entkommen. Er giebt nicht die Enthauptung, sondern den ruhigen Moment, wie der Scherge der Salome den Kopf in die hingehaltene Schüssel legt. Er als Rückfigur mit gespreizten Beinen in der Mitte, sie links und auf der anderen Seite ein Hauptmann, also wieder eine Zentralkomposition. Das Opfer ist dem Blicke gütig verdeckt.
7. Die Darreichung (1523). Noch einmal die Tischgesellschaft. Diesmal die Figuren mehr zusammengerückt, es ist ein engeres Bild. Die Trägerin des Hauptes ist so anmutig wie im Tanz, den Gegensatz zu ihrer eleganten Wendung bildet das starre Dastehen der Zuschauer gegenüber. Alle lebhaftere Bewegung ist in die Mitte geschoben. Die Ränder sind mit doppelten Figuren besetzt.
8. Die Verkündigung an Zacharias (1523). Der Künstler ist nun seiner Sache sicher. Er hat seine Rezepte, mit denen er eine gewisse Wirkung unter allen Umständen erreicht und erlaubt sich im Vertrauen darauf immer grössere Flüchtigkeit. Die Schablone der Randfiguren wird wieder aufgelegt; die Erscheinung des Engels geht hinten vor sich, er neigt sich stumm mit gekreuzten Armen vor dem zurückstaunenden Priester. Alles ist nur oberfächlich angedeutet, aber die absolut sichere Ökonomie der Wirkungen und die stille Feierlichkeit der architektonischen Disposition giebt der Darstellung doch eine Würde, 163 neben der selbst Giotto, der es soviel ernster meint, Mühe hat, sich zu behaupten.
9. Die Heimsuchung (1524). Die symmetrischen Randfiguren sind aufgegeben. Die Hauptgruppe der sich umarmenden Frauen ist diagonal gestellt und diese Diagonale wird massgebend für die ganze Komposition. Die Figuren stehen in der quincunx, d. h. nach Art der fünf Augen des Würfels. Beruhigend tritt eine gerade orientierte Hintergrundarchitektur dazu.
10. Namengebung (1526). Noch einmal ein neues Schema. Die Magd mit dem Neugeborenen steht zentral in der ersten Zone, dem am Rande sitzenden Joachim zugewandt. In genauer Entsprechung am anderen Rand eine sitzende Frau. Die Mutter im Bett und eine Dienerin schieben sich in der zweiten Zone symmetrisch zwischen die Vordergrundfiguren ein. Vasari spricht hier von einem ringrandimento della maniera und lobt das Bild sehr. Soviel ich sehe, ist kein besonderer neuer Stil da, es ist alles vorbereitet und das besonders schlecht erhaltene Fresko lässt nicht einmal den Wunsch aufkommen, mehr zu sehen. Man sieht alles, was Sarto in dieser späten Zeit noch zu geben für gut fand.
Die zwei Bilder, die Franciabigio zu diesem Cyklus beigesteuert hat, tragen beide frühe Daten. Neben Sarto kommt er wieder als das kleinere Talent nicht günstig zum Vorschein. Um nur von dem einen zu reden, wo der kleine Johannes den väterlichen Segen empfängt (1518) so wirkt in der Figur des segnenden Vaters die Heftigkeit der Bewegung noch ganz altertümlich. Nebenfiguren, die an sich sehr hübsch sind, wie die Knaben am Treppengeländer, treten zu stark vor und ein feinerer Künstler hätte die grosse Treppe überhaupt nicht in diesen Zusammenhang gebracht. Sie ist das einzige Motiv in dem Scalzo-Höfchen, wo das Auge stutzt. Das Fresko stösst unmittelbar an die früheste Arbeit Andreas, die Taufe Christi; es überbietet sie an Grösse, aber nicht an Schönheit.
Die Reihe der Historienbilder unterbrechen – wie gesagt – vier allegorische Figuren, die alle Sarto gemalt hat. Sie sollen Statuen imitieren, die in Nischen stehen. Die Künste fangen wieder an zusammenzugreifen. Man wird in dieser Zeit kaum mehr ein grösseres malerisches Ensemble ohne Zuziehung wirklicher oder imitierter Plastik finden. Die beste unter den Figuren hier mag die Caritas sein, die, ein Kind auf dem Arm, nach einem zweiten am Boden greift, wobei sie zweckmässig ohne den Rücken zu beugen sich nur im Knie niederlässt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren (ähnliche Gruppe an der Decke des Heliodorzimmers in dem Noahbilde). Die Justitia ist 164 eine offenbare Anlehnung an die gleiche Figur des Sansovino in Rom (S. M. del Popolo). Nur ist der eine Fuss hochgesetzt, um mehr Bewegung zu gewinnen.Nach quattrocentistischem Geschmack wird das Schwert aufwärts gehalten, nach cinquecentistischem gesenkt. Sansovino vertritt hier den alten Stil, Sarto den neuen. Auch von Paulus mit seinem Schwert ist das gleiche zu sagen. Eine grosse Skulptur, wie der Paulus des P. Romano an der Engelsbrücke, repräsentiert noch den altertümlichen Typus. Die Figur lebt dann noch einmal auf in der Madonna delle arpie.
Das Nachlassen im Ernst der Auffassung und Durchführung, das sich in den Scalzofresken etwa vom Jahre 1523 an fühlbar macht, bedeutet nicht, dass dem Künstler diese besondere Aufgabe verleidet gewesen wäre: in den Tafelbildern stellen sich zur selben Zeit dieselben Symptome ein. Andrea wird gleichgültig, ein Routinier, der auf seine glänzenden Kunstmittel sich verlässt. Selbst da, wo er sich offenbar zusammennimmt, spürt man in dem Werk nicht mehr die seelische Wärme. Der Biograph wird sagen, warum die Dinge so kamen. Die Jugendwerke lassen die Wendung nicht ahnen und man kann an keinem besseren Beispiel erkennen, was ursprünglich in dieser Seele beschlossen lag, als in dem grossen Verkündigungsbild des Palazzo Pitti, das Andrea in seinem 25. oder 26. Jahre gemalt haben muss.
Maria vornehm und streng wie bei Albertinelli, aber in der Bewegung feiner durchgefühlt, und der Engel so schön wie ihn nur Lionardo hätte machen können mit allem Reiz jugendlicher Schwärmerei in dem vorgebeugten und leise geneigten Kopfe. Er spricht seinen Gruss und streckt den Arm gegen die Erstaunende, indem er das Knie beugt. Es ist eine ehrfurchtsvolle Begrüssung von ferne, nicht mehr das stürmische Hereinrennen eines Schulmädchens wie bei Ghirlandajo oder Lorenzo di Credi. Und zum erstenmal wieder seit dem gotischen 165 Jahrhundert kommt der Engel auf Wolken. Das Wunderbare ist im heiligen Bilde wieder zugelassen. In zwei begleitenden Engelfiguren mit lockigem Haar und weich beschattetem Auge ist der angeschlagene schwärmerische Ton aufgenommen und weitergeführt.
Der herkömmlichen Anordnung entgegen steht Maria links und der Engel kommt von rechts. Vielleicht wollte Andrea, dass der vorgestreckte (rechte) Arm den Körper nicht decke. Die Figur bekommt dadurch erst ihre ganze ausdrucksvolle Klarheit. Der Arm ist nackt – ebenso wie die Beine der begleitenden Engel – und die Zeichnung verrät wohl den Schüler des Michelangelo. Wie die linke Hand den Lilienstengel fasst, ist ganz michelangelesk.
Das Bild ist noch nicht völlig frei von zerstreuendem Detail, allein die Hintergrundarchitektur ist in ihrer Art vortrefflich und neu. Sie festigt die Figuren und verbindet sie. Auch die landschaftlichen Linien gehen mit der Hauptbewegung zusammen.
Der Palazzo Pitti enthält noch eine zweite Verkündigung aus der Spätzeit Andreas (1528), ursprünglich in eine Lünette gemalt und jetzt zum Rechteck ergänzt. Sie giebt den Gegensatz von Anfang und Ende in erschöpfender Deutlichkeit. An malerischer Bravour der ersten weit überlegen, zeigt diese zweite Darstellung doch eine Leere des Ausdrucks, über die uns aller Zauber der Luft- und Gewandbehandlung nicht hinwegtäuschen kann.
In der Madonna delle arpie erscheint Maria als die reife Frau und Andrea als der reife Künstler. Es ist die vornehmste Madonna in Florenz, königlich in ihrer Präsentation und selbstbewusst, und dadurch ganz anders als Raffaels Sixtina, die nicht an sich denkt.
Statuengleich steht sie auf einem Postament und blickt herab. Der Knabe hängt an ihrem Hals, und sie trägt mühelos die grosse Last auf einem Arm. Der andere greift abwärts und hält ein Buch gegen den Schenkel gestemmt. Auch das ein Motiv des monumentalen Stils. Nichts Mütterliches und Intimes, kein genrehaftes Spielen mit dem Buche, 166 sondern die ideale Pose. Sie kann so gar nicht gelesen haben oder lesen wollen. Wie die Hand sich breit über die Kante des Buches legt, ist ein besonders schönes Beispiel der cinquecentistischen grossen Gebärde.Nach dem Vorbild des Petrus auf Raffaels Madonna del baldacchino.
Die beigeordneten Heiligen, Franz und Johannes der Evangelist, beide reich ausgestattet mit Bewegung, sind der Madonna doch untergeordnet schon dadurch, dass sie nur in Profilstellung erscheinen. Eng zusammengeschoben bilden die Figuren einen einheitlichen Komplex Und die inhaltreiche Gruppe gewinnt noch an Kraft durch ihr räumliches Verhältnis: kein Stückchen überflüssigen Raumes, überall rühren die Körper an den Bildrand. Merkwürdig, dass trotzdem kein Gefühl von Enge entsteht. Eines der gegenwirkenden Mittel ist das nach oben weiterführende Pilasterpaar.
Zu dem plastischen Reichtum kommt der malerische Reichtum der Erscheinung. Andrea sucht dem Auge die Silhuetten, an denen es entlang gehen kann, zu nehmen, und statt der zusammenhängenden Linie ihm nur einzelne helle Wölbungsflächen zu bieten. Da und dort taucht ein beleuchteter Teil aus dem Dämmerlicht auf, um gleich wieder im Schatten zu verschwinden. Die gleichmässig klare Ausbreitung der Formen im Licht hört auf. Das Auge wird in beständiger reizvoller Bewegung erhalten und es resultiert eine räumlich leibhaftige Wirkung der Körper, die dann natürlich über allen früheren Reichtum des Flächenstils triumphiert.
Eine malerisch noch höhere Stufe ist bezeichnet durch das Bild der Disputa im Palazzo Pitti. Vier Männer, stehend, in Wechselrede. Man denkt unwillkürlich an die Gruppe des Nanni di Banco, an Orsanmichele. 167 Allein hier ist es nicht nur ein quattrocentistisch gleichgültiges Zusammenstehen, sondern eine wirkliche Disputation, wo die Rollen deutlich verteilt sind. Ein Bischof (Augustin?) spricht und der Angeredete ist Petrus Martyr, der Dominikaner, ein feiner geistvoller Kopf, neben dem alle Typen Bartolommeos roh erscheinen. Er hört gespannt zu. Der heilige Franz dagegen legt die Hand aufs Herz und schüttelt den Kopf: er ist kein Mann der Dialektik. Lorenz, als der Jüngste, enthält sich der Äusserung. Er ist die neutrale Folie und spielt hier die gleiche Rolle, wie auf Raffaels Cäcilienbild die Magdalena, mit der er auch die betonte Vertikale gemein hat.
Die Starrheit einer Gruppe von vier reinen Stehfiguren ist gemildert durch Zufügung von zwei Knienden im Vordergrund (eine Stufe tiefer), es sind Sebastian und Magdalena, die an der Wechselrede ganz unbeteiligt sind, aber dafür koloristisch den Hauptaccent haben. Hier giebt Sarto Farbe und Fleisch, während die Männer ernst gehalten sind: viel grau, schwarz und braun, nur ganz hinten glüht ein verhaltenes Karmin (Lorenz). Der Hintergrund ist ganz dunkel.
Malerisch und zeichnerisch steht das Bild auf der Höhe von Andreas Kunst. Der nackte Rücken des Sebastian und der emporgewandte Kopf der Magdalena sind wunderbare Interpretationen der menschlichen Form. Und dann die Hände! Das weiblich feine Fassen bei Magdalena und die ausdrucksgesättigten Formen bei den Disputierenden! Man darf sagen, dass neben Lionardo keiner diese Organe so behandelt hat wie Andrea.
In der Akademie findet man ein zweites Bild von vier Stehfiguren, was etwa zehn Jahre später gemalt wurde (1528) und die Fortbildung und Auflösung von Andreas Stil kennzeichnet. Es ist von einer hellen Buntheit wie alles spätere, locker in den Köpfen, aber geschickt und 168 geistreich in der malerischen Entwicklung und Zusammenstellung der Figuren.Ursprünglich standen zwei Putten in der Mitte, die jetzt herausgenommen und einzeln aufgehängt sind. Man merkt, wie leicht es ihm gewesen ist, solche reichwirkende Kompositionen hervorzubringen, aber der Eindruck bleibt denn auch ein äusserlicher.
Auch die Madonna delle arpie hat keine vollkommene Nachfolge mehr gefunden.
Das neuerdings modisch gewordene Thema der Madonna in der Glorie oder vielmehr in Wolken musste Andreas Geschmack besonders gut gelegen sein. Er öffnet den Himmel und lässt eine grosse Helligkeit erscheinen und, wie es der Zeitstil mit sich brachte, zieht er die Madonna mit ihren Wolken tief herunter, mitten hinein in die Versammlung der sie kreisförmig umstehenden Heiligen. Die Abwechslung von Steh- und Kniefiguren ist schon selbstverständlich, ebenso wie das systematische Wirtschaften mit den Kontrasten der Auswärts- und Einwärtswendung, des Hinauf- und Hinabblickens u. s. w. Sarto fügt noch hinzu die Kontraste ganz heller und ganz dunkler Köpfe und bei der Austeilung dieser Accente wird gar keine Rücksicht auf das Woher von Licht und Schatten genommen. Es ist auf ein allgemeines starkes Auf- und Abwogen im Bilde abgesehen. Dass bestimmte Rezepte äusserlich angewendet sind, merkt man sehr bald, aber eine gewisse Notwendigkeit, die aus dem Temperament Andreas stammt, ist dem Eindruck dieser Bilder doch nicht abzusprechen.
Als Beispiel möge hier die Madonna von 1524 (Pitti, s. Abb.) figurieren. Nach Charakteren darf man nicht fragen, die Madonna ist sogar schon recht trivial. Die zwei Knienden sind Wiederholungen aus dem Bilde der Disputa, mit den charakteristischen Verschärfungen der routinierteren Hand. Der Sebastian möchte auf das gleiche Modell zurückgehen wie die bekannte Halbfigur des jugendlichen Johannes (siehe unten), in malerischem Geschmack ist er hier so behandelt, dass der Kontur fast gar nichts zu sagen hat, sondern nur die helle Fläche der offenen Brust zu Worte kommt.
Alle Register sind schliesslich gezogen in dem grossen Berliner Bilde von 1528. Wie es bei Bartolommeo schon vorkommt, sind hier die Wolken in einen geschlossenen architektonischen Raum hereingenommen. Dazu eine Nische, vom Rahmen überschnitten; das Treppenmotiv und auf den Stufen die Heiligen, die so nun auch räumlich stark differenziert werden können. Die vordersten Figuren erscheinen nur als Halbfiguren, ein Motiv, das die hohe Kunst bisher absichtlich vermieden hatte.
169 Von den heiligen Familien wäre dasselbe zu sagen, was schon bei Raffael zu dem Thema gesagt wurde. Es war auch für Andrea das künstlerische Ziel, auf kleiner Fläche reich zu sein. Er bringt darum seine Figuren als hockende und kniende nah an den Boden und ballt dann drei, vier bis fünf Personen zu einem Knäuel zusammen. Der Grund pflegt schwarz zu sein. Es giebt eine Reihe von Bildern dieser Art. Die guten werden die sein, wo man zuerst unter den Eindruck der natürlichen Gebärde kommt und erst nachher an das Formproblem denkt.
Eine Sonderstellung, auch Raffael gegenüber, behauptet die Madonna del Sacco von 1525 (Kreuzgang der Annunziata, s. Abb.). Ein Hauptbeispiel für den vollendet weichen Freskovortrag im allgemeinen und die malerische Faltengebung im besonderen, besitzt das Bild vor allem den Vorzug eines nicht wieder erreichten kecken Wurfes in der Anordnung der Figuren. Maria sitzt nicht zentral, sondern seitlich, die Gleichgewichtsstörung wird aber aufgehoben durch den gegenüber gelagerten Joseph, der, tiefer in den Raum hineingerückt, als Masse zwar kleiner erscheint, aber wegen der grösseren Entfernung von der Mittelachse in der Gewichtsabrechnung ebensoviel bedeutet. Wenige klare Hauptrichtungen sorgen für die monumentale Fernwirkung. Sehr einfacher Kontur bei grossem Reichtum im Innern. Das pompöse breite Motiv der Madonna ist gewonnen durch den tiefen Sitz. Der aufblickende Kopf wird seine Wirkung nie versagen, auch wenn man sich eingesteht, dass es ein äusserlicher Effekt ist. Der Augenpunkt liegt tief, entsprechend der wirklichen Situation: das Fresko befindet sich über einer Thür.
Unter den Einzelheiligen Andreas hat der jugendliche Johannes der Täufer (Pitti, s. Abb.) einen Weltruhm. Er gehört zu dem halben Dutzend 170 von Bildern, die während der Reisesaison in Italien im Schaufenster keiner Photographiehandlung fehlen dürfen. Es wäre nicht uninteressant, zu fragen, seit wann er diese Stellung besitzt und welchen Modeströmungen auch diese erklärten Lieblinge des Publikums unterworfen sind. Die strenge leidenschaftliche Schönheit, die man ihm nachrühmt (Cicerone), verflüchtigt sich sofort, wenn man Raffaels Johannesknaben in der Tribuna vergleicht, aber es bleibt immer ein hübscher Bursche.Sarto hat dasselbe Modell benutzt in dem Isaak der Opferung (Dresden), die bald nach 1520 gemalt wurde. Auch in der Madonna von 1524 habe ich es noch einmal zu erkennen geglaubt. Leider hat das Bild sehr gelitten, so dass die beabsichtigte malerische Wirkung, wie das helle Fleisch aus dem Dunkel herauskommt, nur noch erraten werden kann. Die fassende Hand mit der Drehung im Gelenk ist von der guten Art Andreas. Charakteristisch ist, wie er überall für Überschneidungen der Silhuette sorgt und die eine Seite des Körpers ganz verschwinden lässt. Der Gewandschwall, der die Gegenrichtung zu der dominierenden Vertikale abgeben soll, erinnert schon an die Extravaganzen des 17. Jahrhunderts. Zu der seitlichen Schiebung der Figur (mit dem leeren Raum rechts) wäre der Violinspieler Sebastianos zu vergleichen.
Eine Schwester besitzt dieser Johannes in der sitzenden Agnes des Domes von Pisa, eines der reizendsten Bilder des Meisters, wo er auch einmal an den ekstatischen Ausdruck zu streifen scheint. Doch bleibt 171 es bei einem halbscheuen Emporblicken der Heiligen. Jene höchsten Zustände der Empfindung waren ihm ganz unzugänglich und es war ein Fehler, ihm die Assunta in Auftrag zu geben. Er hat sie zweimal gemalt. Die Bilder hängen im Palazzo Pitti. Weder im Ausdruck ist er hier zureichend, noch in der Bewegung und auch das war vorauszusehen. Was soll man sagen, wenn man hier – nach 1520 – bei einer Himmelfahrt der Maria noch die blosse Sitzfigur findet! Freilich wäre auch so immer noch eine würdigere Lösung zu finden gewesen. Das Beten bei Sarto ist aber ebenso nichtssagend wie die lächerliche Verlegenheitsgebärde, dass Maria den Mantel auf dem Schoss festnimmt. Bei den Aposteln am Grabe hat er beidemal Johannes als Hauptfigur herausgenommen und ihm die feine Bewegung der Hände gegeben, wie man sie auf Jugendbildern findet. Doch wird man den Eindruck bewusster Eleganz nicht völlig los und die Empfindung bei den überraschten Aposteln hat überhaupt keine hohe Temperatur. Immerhin, wie viel angenehmer ist diese Stille als das Lärmen der römischen Schule in der Gefolgschaft Raffaels.
Die Lichtrechnung geht dahin, dass der Glanz des Himmels in der dunklen irdischen Szene seinen Kontrast haben soll. Bei dem zweiten, späteren Bilde hat er dann aber doch schon von unten an einen hellen Schlitz offen gelassen und ein grösserer Maler der Bewegung, Rubens, ist ihm darin nachgefolgt, weil es nicht gut ist, mit einer so stark betonten Horizontale das Bild einer Himmelfahrt auseinanderzulegen.
Die zwei knienden Heiligen in der ersten Assunta stammen von Fra Bartolommeo; bei der zweiten Redaktion wurde das Motiv der Kniefiguren im Vordergrunde beibehalten und dem Kontrast zuliebe ist auch die Trivialität nicht vermieden, dass der eine der Männer – und hier ist es ein Apostel – während des feierlichen Aktes aus dem Bilde heraus den Beschauer ansieht. Hier liegt der Anfang zu den gleichgültigen Vordergrundfiguren des 17. Jahrhunderts; die Formen der Kunst sind schon deutlich als ausdruckslose Formeln gemissbraucht.
Von der Pietà im Palazzo Pitti wollen wir ganz schweigen. 172
Andrea hat nicht viele Porträts gemalt und man wird ihm von vornherein keine besondere Disposition zum Porträtmaler zutrauen; allein es giebt einige jugendliche Bildnisse von ihm, Männerbildnisse, die mit einem geheimnisvollen Reiz den Beschauer fesseln. Es sind die bekannten zwei Köpfe in den Uffizien und im Pitti und die Halbfigur in der Nationalgalerie in London. Sie besitzen die ganze Noblesse von Andreas bester Art und man fühlt, der Maler habe hier etwas Besonderes sagen wollen. Es ist nicht zu verwundern, dass sie als Selbstbildnisse aufgefasst worden sind. Und doch lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass sie das nicht sein können.
Wir haben hier den gleichen Fall wie bei Hans Holbein d. J., wo sich zu Gunsten des schönen Anonymen schon früh ein Vorurteil gebildet hat, das schwer auszurotten ist; man hat das echte Bildnis Holbeins (Zeichnung in der Sammlung der Malerbildnisse in Florenz), aber man will nicht die Konsequenz ziehen, dass es andere ausschliesse, weil sich die Vorstellung ungern von dem schöneren Typus trennt.
Das echte Porträt des jungen Andrea findet sich auf dem Fresko des Zuges der Könige im Hofe der Annunziata und das des älteren Mannes in der Sammlung der Malerbildnisse (Uffizien). Sie sind vollkommen sicher zu bestimmen, Vasari spricht von beiden. Die erstgenannten Bilder lassen sich mit diesen Zügen nicht vereinigen, ja, selbst unter sich scheinen sie sich nicht zu vertragen, das Londoner Bild möchte doch einen anderen Mann darstellen als die Florentiner. Diese zwei aber reduzieren sich auf eines, insofern sie sich Linie für Linie entsprechen bis in die Details der Falten. Das Exemplar der Uffizien ist offenbar die Kopie, und das Urbild ist das Gemälde im Pitti, das, obwohl nicht intakt, noch immer die feinere Hand offenbart. Von ihm allein soll hier die Rede sein.
Der Kopf taucht aus dunkelm Grunde hervor. Er ist nicht knallig auf schwarzer Folie herausmodelliert, wie man das etwa bei Perugino findet, sondern er bleibt wie befangen in der grünlichen Dämmerung. Das höchste Licht liegt nicht auf dem Gesicht, sondern auf einem zufällig sichtbar werdenden Stückchen des Hemdes am Halse. Kutte und Kragen sind stumpffarbig, grau und braun. Die Augen blicken gross und ruhig aus ihren Höhlen hervor. Bei allem malerisch-lebendigen Vibrieren besitzt die Erscheinung die höchste Festigkeit durch die Vertikale der Kopfhaltung, die reine Faceansicht und die ganz ruhige Lichtführung, die gerade die Hälfte des Kopfes hervorholt und gerade die notwendigen Punkte aufhellt. Mit einer plötzlichen Wendung scheint 174 sich der Kopf für einen Moment in diese Ansicht eingestellt zu haben, wo die Vertikal- und Horizontalachsen in absoluter Reinheit erscheinen. Die Vertikale geht durch bis in die Spitze des Baretts. Die Einfalt der Linien und die Ruhe der grossen Licht- und Schattenmassen verbindet sich mit der klaren Formenbezeichnung von Andreas Meisterstil. Überall ist das Feste durchzuspüren. Wie der Augen-Nasenwinkel herauskommt, wie das Kinn sich modelliert oder ein Backenknochen angegeben ist, erinnert durchaus an den Stil des Disputabildes, das offenbar ungefähr gleichzeitig entstanden ist.Schon darum kann das Bild unmöglich Selbstporträt sein: als Andrea so malte war er nicht mehr der junge Mensch, der hier sich zeigt.
Man darf diesen feinen und geistvollen Kopf wohl als einen Idealtypus im Sinne des 16. Jahrhunderts auffassen. Gerne möchte man ihn mit dem Violinspieler zusammen, dem er innerlich und äusserlich verwandt ist, in die Reihe der Künstlerbildnisse stellen. In jedem Falle ist es eines der schönsten Beispiele der hochaufgefassten Menschenform des Cinquecento, deren gemeinsame Grundlage bei Michelangelo zu suchen sein möchte. Den Eindruck des Geistes, der die Delphica geschaffen, wird man auch hier nicht verkennen können.
Als ein mehr lionardeskes Gegenstück zu diesem Bildnis des Andrea darf man den sinnenden Jüngling im Salon Carré des Louvre nennen (s. Abb.), ein vorzügliches Bild, das schon die verschiedensten Namen gehabt hat, jetzt aber, wie mir scheint mit Recht, dem Franciabigio zugeschrieben wird, ebenso wie jener ganz beschattete Jünglingskopf von 1514 im Palazzo Pitti, wo die linke Hand auf der Brüstung mit einer noch etwas altertümlich-steifen Gebärde des Sprechens sich aufrichtet.Die Handbewegung kommt genau so wieder vor bei der Hauptfigur auf Franciabigios Abendmahl (Calza, Florenz) und möchte in letzter Instanz auf den Christus in Lionardos Cenacolo zurückgehen, das Franciabigio gekannt und benutzt hat. Das Pariser Bild ist später gemalt als dieses (um 1520) und die letzten Spuren von Steifheit oder Befangenheit sind getilgt. Der Jüngling, dem etwas Schmerzliches die Seele bewegt, sieht mit gesenktem Blick vor sich hin, wobei die leichte Wendung und Neigung des Kopfes ausserordentlich charakteristisch wirkt. Der eine Arm liegt auf einer Brüstung und die rechte Hand legt sich darüber, und auch diese Bewegung hat in ihrer Weichheit etwas ganz Persönliches. Das Motiv ist nicht ungleich dem der Mona Lisa, aber wie sehr ist hier doch alles aufgelöst in momentanen Ausdruck und das anspruchsvolle Präsentationsbild in ein Stimmungsbild von genrehaftem Reiz umgewandelt. Man fragt nicht gleich: wer ist das? sondern interessiert sich zunächst für den dargestellten Moment. Die tiefe Beschattung der Augen dient hier im besonderen dazu, den trübblickenden 176 Melancholiker zu charakterisieren. Auch der Horizont in seiner besonderen Art wird ein Ausdrucksfaktor. Falsch wirkt nur der Raum, der beim Original nach allen Seiten vergrössert worden ist. Unsere Abbildung versucht die ursprüngliche Ansicht herzustellen.
Eigentümlich moderne Töne klingen in diesem träumerischen Bildnis an. Wie viel feiner ist es empfunden als etwa Raffaels jugendliches Selbstporträt in den Uffizien. Das Sentimento des 15. Jahrhunderts hat immer etwas Aufdringliches gegenüber dem mehr verhaltenen Stimmungsausdruck des klassischen Zeitalters. 177